Alt und geistig behindert

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Alt und geistig behindert
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Mag. Dr. Gabriele Ruis
Alt und geistig behindert
Neue Herausforderungen in der Begleitung
Alte Menschen mit geistiger Behinderung sind in der Behindertenhilfe und in der Wissenschaft
erst vor wenigen Jahren zum Thema geworden. Dies liegt daran, dass noch vor wenigen Jahrzehnten Menschen mit geistiger Behinderung eine deutlich geringere Lebenserwartung hatten.
Zum einen mag das an medizinischen Gründen gelegen haben, zum anderen haben die Morde in
der Nazizeit wesentlich dazu beigetragen. Nun stehen wir in der Begleitung älterer Menschen
mit Behinderung vielfach vor einer neuen Situation und vor vielen offenen Fragen. Altern sie
anders als die Allgemeinbevölkerung? Welche Bedürfnisse haben sie dann? Was bedeutet das
für die Mitarbeiter in der Betreuung und für die Organisation? Welche Fragen werden sich in
der Zukunft noch stellen?
1 Altern – was ist das?
1.1 Altern als Prozess
Den alten Menschen gibt es nicht, altern ist immer ein individueller Prozess. Alt ist man nicht, wenn
man eine bestimmte Anzahl von Jahren gelebt hat, vielmehr wird Alter durch die persönliche Lebensgeschichte sowie durch geschichtliche und gesellschaftliche Ereignisse und damit verbundene Lebensumstände beeinflusst.
Altern ist ein stetiger Entwicklungsvorgang und es gibt auch im Alter Wachstum. Kruse (1992; zitiert
nach Havemann & Stöppler, 2004) sieht Altern als Prozess, wobei es in unterschiedlichen Funktionsbereichen eines Menschen unterschiedliche Verläufe des Alterns gibt. Der Altersprozess verläuft
bei Menschen mit leichter bis mittelgradiger geistiger Behinderung nicht anders als bei nicht behinderten Menschen. Bei schwerstbehinderten Menschen ist allerdings die Sterblichkeit in den ersten
Lebensjahren deutlich höher. Menschen mit Down-Syndrom altern früher als Menschen mit einer anderen Ursache der geistigen Behinderung. So zeigen sich in dieser Gruppe bereits ab 40 Jahren Ausfallserscheinungen in alltagspraktischen Dingen (z.B. körperliche Hygiene, Ankleiden, Kurzzeitge© 2006 Diakoniewerk / Dr. Gabriele Ruis
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dächtnis, Orientierung, Teilnahme an Aktivitäten innerhalb der Wohnung), ab dem 50. Lebensjahr
sind meist auch andere Bereiche betroffen (z.B. Motorik, Kommunikation, Essen, Toilettengebrauch,
psychisches Wohlbefinden, Langzeitgedächtnis, Teilnahme an Aktivitäten außerhalb der Wohnung).
Diese Ausfallserscheinungen müssen allerdings nicht immer der Alzheimerkrankheit zugeschrieben
werden, sondern können möglicherweise auch mit Seh- und Hörstörungen erklärt werden (Haveman &
Stöppler, 2004).
1.2 Dimensionen des Alterns
Nach dem bio-psycho-sozialen Modell lässt sich Altern auf drei Ebenen beschreiben: der biologischen
Ebene (z.B. körperliche Leistungsfähigkeit), der psychologischen Ebene (z.B. kognitive Fähigkeiten)
und der soziologischen Ebene (z.B. soziale Anpassung, Rollen). Nicht zu vergessen sind daneben der
sozio-kulturelle und der ökologische Kontext, also die Gesellschaft und die Umweltbedingungen
sowie der historische Hintergrund.
1.2.1 Biologische Ebene
Altern ist ein biologischer Prozess, der bei der Geburt beginnt. Dennoch ist das Lebensalter eines
Menschen nicht das Gleiche wie sein biologisches Alter, das die gesundheitliche Situation sowie die
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen beschreibt. Einfluss darauf haben genetische Faktoren, die Umgebung (z.B. Umweltgifte, Verkehr, kulturelle Einflüsse), der Lebensstil (z.B.
Ernährung, Bewegung, Genuss- und Suchtmittel, wie Alkohol, Tabak) und die medizinische Versorgung. Körperliche Veränderungen sind während des ganzen Lebens zu beobachten und können
verschiedene Bereiche betreffen:
• Stütz- und Bewegungsapparat (z.B. Abnahme der Muskelmasse, Osteoporose, Arthrose, ...)
• Motorik (z.B. werden Gehhilfen nötig, ...)
• Haut (z.B. Faltenbildung, Ergrauen der Haare, ...)
• Hören (Abnahme des Hörvermögens)
• Sehen (z.B. grauer oder grüner Star, Altersweitsichtigkeit, ...)
• Herz- und Kreislaufsystem (z.B. Blutdruckerhöhung, geringeres Herzschlagvolumen, ...)
• Atmung (z.B. Leistungsabnahme des Atmungssystems, ...)
• Verdauungssystem (z.B. Verstopfung, ...)
• Niere und Blase (z.B. Inkontinenz1, Verringerung der Nierenfunktion, ...)
1
Urininkontinenz ist nicht Teil des normalen Alterns und hat in den meisten Fällen eine behandelbare Ursache.
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• Geschlechtsorgane (z.B. Menopause bei Frauen, Prostatavergrößerung bei Männern, ...)
In den meisten Bereichen unterscheiden sich Menschen mit Behinderung nicht von der Allgemeinbevölkerung, allerdings treten Krankheiten generell häufiger auf. Auch bleiben bei Menschen mit Behinderung Hör- und Sehprobleme oft unerkannt oder werden zu spät diagnostiziert. Teils werden sie
von den Betroffenen selbst nicht als Veränderung wahrgenommen und daher auch nicht mitgeteilt,
teils werden sie von den Bezugspersonen nicht wahrgenommen oder falsch interpretiert (z.B. als
autistisches Verhalten, als Inaktivität, etc; vgl. Havemann & Stöppler, 2004). Viele Erkrankungen
zeigen sich oft durch allgemeine Symptome und Funktionsverluste, wie z.B. Nahrungsverweigerung,
Antriebsverlust, Sturz, allgemeine Schwäche, Rückzug, Einnässen, Verhaltensauffälligkeiten und
psychische Störungen (vgl. Brucker, 1998; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004). Um diese
Symptome richtig einordnen zu können, ist Empathie und Aufmerksamkeit nötig, genauso wie eine
genaue und vollständige Dokumentation und eine gute Zusammenarbeit mit Angehörigen und Ärzten.
Bei Menschen mit Down-Syndrom treten folgende Veränderungen häufiger auf: Alzheimer-Demenz,
Einschränkungen im Bereich des Sehens und Hörens, Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion, Schlafapnoen, Abschwächung des Immunsystems und Hepatits B. Ein weiteres Problem ist, dass Menschen
mit geistiger Behinderung häufig viele Medikamente einnehmen müssen, was im Alter noch weiter
zunimmt. Problematisch ist dabei, dass sich im Alter der Stoffwechsel verändert und daher Medikamente andere Wirkungen oder Nebenwirkungen haben können.
1.2.2 Psychologische Ebene
Einheitliche psychische Veränderungen im Alter gibt es nicht. Die häufigste Ursache psychischer Veränderungen im Alter sind hirnorganische Erkrankungen (Haveman & Stöppler, 2004). Mit zunehmendem Alter kommt es zu Veränderungen im Gehirn (z.B. nimmt die Anzahl der Nervenzellen ab), zudem verändern sich die Zellen und das Hirngewicht nimmt ab. Diese biologischen Veränderungen
haben Auswirkungen auf die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten eines Menschen. Im Bereich der
intellektuellen Fähigkeiten wird unterschieden zwischen kristalliner Intelligenz (erworbene Fähigkeiten und Wissen) und fluider Intelligenz (Geschwindigkeit von Informationsverarbeitung und Denken).
Während die kristalline Intelligenz im Alter weitgehend unverändert bleibt, nimmt die fluide Intelligenz mit zunehmendem Alter ab (vgl. Horn & Cattell, 1966; Cattell, 1971). Kognitive Leistungen im
Alter werden daher u.a. auch durch Bildung, Anregungsgehalt der Umgebung oder Gesundheit
beeinflusst.
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Die Gedächtnisfunktionen von Menschen mit Behinderung bleiben im Alter stabil, eine Abnahme der
Orientierungsfähigkeit lässt sich erst mit durchschnittlich 70 Jahren beobachten. Menschen mit DownSyndrom zeigen bereits in einem Alter von 40 bis 55 Jahren Beeinträchtigungen in diesem Bereich.
Häufig lässt sich – vor allem bei Menschen mit Down-Syndrom – eine Zunahme von Stereotypen zur
Bewältigung von Alltagssituationen beobachten (Haveman & Stöppler, 2004).
Erfolgreiches Altern hängt damit zusammen, inwieweit sich Menschen neue Herausforderungen und
Aktivitäten suchen, d.h. neue Zukunftsperspektiven entwickeln und nicht an den Verlusten, die mit
dem Alter einhergehen, verzweifeln. Menschen fühlen sich jünger als ihr chronologisches Alter, wenn
sie auch im Alter noch körperlich, geistig und sozial aktiv sein können, wenn sie einen guten
Bekanntschafts- und Freundeskreis haben, wenn sie in einer Wohnumgebung leben können, in der sie
möglichst lange selbstständig agieren können und in der sie wertgeschätzt werden, wenn der Übergang
von Arbeit in andere Formen der Beschäftigung möglichst fließend ist und wenn sie an verschiedenen
Hobbys und Freizeitaktivitäten interessiert sind. Pädagogische Arbeit sollte früh gezielt an diesen
Punkten ansetzen, um Menschen mit Behinderung erfolgreiches Altern zu ermöglichen (vgl. Haveman
& Stöppler, 2004). Pörtner (2005, S. 141), geht davon aus, dass die Art und Weise, „wie jüngere
Menschen mit geistiger Behinderung jetzt betreut werden, ... direkte Auswirkungen darauf [hat], wie
sie sich später mit ihrem Altsein zurechtfinden werden.“
Das Erleben des Älterwerdens ist bei Menschen mit Behinderung genauso individuell geprägt wie in
der Allgemeinbevölkerung. Allerdings hängt das Wahrnehmen des eigenen Alters mit der Schwere der
Behinderung zusammen, die Einfluss hat auf die Fähigkeit, Lebenszeit als Anzahl von Jahren zu verstehen, sich an Ereignisse aus der eigenen Lebensgeschichte zu erinnern und diese sinnvoll miteinander und mit der Gegenwart zu verbinden. Zudem ist die Lebensgeschichte von Menschen mit
Behinderung nicht mit jener von nichtbehinderten Menschen zu vergleichen. Einerseits scheinen ihre
Lebensläufe zwar ähnlich zu sein (Kindergarten, Schule, Arbeit, Pensionierung), andererseits finden
diese immer in Sondersystemen statt. Das Leben ist geprägt von Institutionen, Fremdbestimmung und
Abhängigkeiten (vgl. Drechsel & Neumann, 1994; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004).
Die Einstellung des sozialen Umfelds hat Auswirkungen darauf, wie ein Mensch sein Altern erlebt.
Zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung des Alterns gibt es meist einen deutlichen
Unterschied, wobei die Fremdeinschätzung vielfach wesentlich negativer ausfällt als das Selbsterleben. Die Einschätzung der professionellen Mitarbeiter beruht auf ihren Erfahrungen, auf ihrer Ausbildung, auf ihren generellen Einstellungen und Werten sowie auf ihrer persönlichen Lebensgeschichte
und ihrem Lebensalter. Alter kann also nie wertneutral gesehen werden und es ist sehr gut möglich,
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dass der ältere Mensch mit Behinderung sein Alter wesentlich anders erlebt als seine Begleiter
(Groenman, 1991; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004).
In einer qualitativen Untersuchung (Urlings et al., 1994; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004)
zeigte sich, dass sich die befragten Bewohner nicht aufgrund des chronologischen Alters alt fühlten,
sondern aufgrund körperlicher Beeinträchtigungen sowie wegen des Verlustes an Selbstständigkeit.
Die 50- bis 70jährigen sahen das Älterwerden eher als eine Phase mit neuen Gelegenheiten und
bereiteten sich auf neue Aufgaben vor. Die über 70jährigen denken aber viel über den Tod nach, haben
Angst vor weiteren Rückfällen und davor, bettlägrig zu werden. Vielfach haben die Bewohner ein
erhöhtes Ruhebedürfnis und beschweren sich über den Lärm, den die jüngeren Bewohner verursachen.
Wichtig sind ihnen Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Beziehungen zu anderen Menschen. Sie
möchten verstanden werden, Hilfestellungen erhalten und wertgeschätzt werden.
1.2.3 Soziologische Ebene
Aus soziologischer Sicht ist die Generationszugehörigkeit bedeutsam für das Altern. So wird angenommen, dass beispielsweise Kriege, Ernährungsgewohnheiten, Gesundheits- und Erziehungssysteme,
Religion oder Altersbild einer Gesellschaft Einfluss auf den Alterungsprozess haben. Menschen mit
geistiger Behinderung haben in unserer Gesellschaft ein doppeltes Stigma: Sowohl das Alter als auch
die Behinderung werden sozial abgewertet (Wieland, 1991; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004).
2 Andere Bedürfnisse erfordern andere Betreuung
Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse: biologische Bedürfnisse (nach körperlichem Wohlbefinden, nach Nahrung, nach Schlaf und Erholung, nach sexueller Aktivität), biopsychische Bedürfnisse (nach sensorischer Stimulation, nach ästhetischem Erleben, nach Abwechslung und Anregung,
nach Orientierung und Sicherheit, nach sinngebenden Zielen, nach Fertigkeiten, Regeln und Normen
zur Bewältigung von Alltagssituationen), biopsychosoziale Bedürfnisse (nach emotionaler Zuwendung, nach Hilfe und Unterstützung, nach sozio-kultureller Zugehörigkeit, nach Unverwechselbarkeit,
nach Selbstbestimmung, nach sozialer Anerkennung). Diese Bedürfnisse sind nicht als aufeinander
aufbauend zu verstehen, sondern als gleichwertig (Obrecht, 1998). Wie wir gesehen haben, ändern
sich im Alter viele Wünsche und Bedürfnisse. Daher sind sowohl für die Mitarbeiter als auch für die
Organisation selbst eine Reihe von Veränderungen notwendig, um die neue Situation bewältigen zu
können.
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2.1 Neue Herausforderungen für die Mitarbeiter
Ausbildung und Praxis der pädagogischen Mitarbeiter zielen eher auf Aktivierung sowie Förderung
von den Fähigkeiten und der Selbstständigkeit der Bewohner ab. Pflegetätigkeiten stehen vor allem in
jenen Bereichen, in denen Menschen mit einer leichteren Behinderung leben, vielfach im Hintergrund.
Für den Umgang mit älteren behinderten Menschen, die mehr Pflege und Begleitung brauchen, fehlt
oft die Erfahrung. Die psychische Belastung durch die Konfrontation mit dem Rückgang der Fähigkeiten und dem Abbau im Alter ist nicht zu unterschätzen. Die Auseinandersetzung mit dem Gefühl
der Ohnmacht, des Nichts-Tun-Könnens, kann sehr schwierig sein. Dabei fällt es manchmal schwer,
gerade das Da-Sein, das Aufmerksam-Sein, das Zuhören und Spüren als das zu sehen, was es ist,
nämlich als wertvolle Arbeit. Ein Grund mag sein, dass dies alles schwer sichtbar zu machen ist, während ein Fortschritt in bestimmten Fähigkeiten leichter sichtbar und messbar wäre.
Schwierig wird teilweise erlebt, dass der Zeitaufwand zur Begleitung und Pflege steigt, vor allem,
wenn Ziel ist, den Bewohner im Rahmen seiner Wünsche und Möglichkeiten möglichst vieles selbst
tun zu lassen. Wie viel schneller wäre man doch oft, wenn man es ihm abnehmen würde! Ein weiteres
Problem stellen eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten oder Verständigungsschwierigkeiten
dar, die es erschweren, die Bedürfnisse des Bewohners zu erkennen.
Auch der Umgang mit Sterben und Tod stellt in manchen Bereichen der Behindertenarbeit eine neue
Herausforderung für die Mitarbeiter dar. Dabei ist sowohl der Tod der behinderten Menschen gemeint,
als auch deren Begleitung, wenn ihre Eltern oder Angehörige sterben. Dies ist in jenen Fällen, in
denen ein Mensch mit Behinderung erst nach dem Tod der Eltern ins Heim übersiedeln muss,
besonders problematisch.
Die Mitarbeiter müssen sich viel zusätzliches Fachwissen in Teilbereichen aneignen, sie müssen
einfühlsam und flexibel mit der neuen Situation umgehen können und in der Lage sein, sich selbst und
ihr Tun zu reflektieren.
2.2 Erforderliche Veränderungen in der Organisation
Die Tatsache, dass die BewohnerInnen immer älter werden, fordert nicht nur die Mitarbeiter, sondern
auch die Organisation als ganzes. Eine Veränderung der Betreuungskonzepte und -angebote wird genauso notwendig sein wie entsprechende bauliche Maßnahmen sowie eine adäquate medizinische
Versorgung.
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Wohnen
Vielfach ist das Ziel, die Bewohner im Alter nicht in ein Seniorenheim oder in eine andere Wohnung
zu übersiedeln, sondern sicherzustellen, dass sie in der gewohnten Umgebung bleiben können. In
einem Wohnheim ist dies eher realisierbar als in gemeindeintegrierten Wohnformen, wo oft weder die
baulichen Maßnahmen noch die Betreuungssituation eine adäquate Begleitung älterer Menschen
gewährleisten. In vielen Wohnungen fehlen beispielsweise Lifte, Pflegebäder und -betten. Fünf grundlegende Wohnbedürfnisse, die auch für ältere Menschen mit geistiger Behinderung gelten, sind:
Bedürfnisse nach Sicherheit und Schutz, Geborgenheit und Distanz, Beständigkeit und Vertrautheit,
Kontakt und Kommunikation, Tätigkeit und Selbstdarstellung (Schwarte & Oberste-Ufer, 1997; zitiert
nach Haveman & Stöppler, 2004). Betont wird in der Literatur das Recht auf Verbleib in der bestehenden Wohnung auch im Alter, kontrovers diskutiert werden die Vor- und Nachteile altershomogener
bzw. altersgemischter Wohnformen. Wichtig ist, dass der Bewohner die Wohnsituation nach seinen
Bedürfnissen aktiv mitgestalten und möglichst selbst wählen kann (vgl. Haveman & Stöppler, 2004).
Die Frage, ob ein Bewohner im Alter in seiner Wohnung verbleiben kann oder ob er in eine andere
Wohnung oder in ein Pflegeheim übersiedeln muss, wird nicht eindeutig zu beantworten sein, sondern
muss individuell entschieden werden. Der Versuch, den alternden Menschen zu ermöglichen, dass der
bisherige Lebensstil weitergeführt werden kann, muss nicht immer gleichbedeutend damit sein, dass
der betroffene Mensch in seiner gewohnten Umgebung verbleiben kann, besondere Bedeutung hat
aber die Kontinuität der Beziehungen. Ein Umzug soll also nicht abrupte Beziehungsabbrüche zur
Folge haben.
Arbeit
Strukturierte Arbeitsangebote gibt es vielfach erst seit den 70-Jahren durch Aufbau der Werkstätten
für behinderte Menschen. Vorher arbeiteten viele Menschen mit Behinderung in Garten, Haushalt,
Küche oder Landwirtschaft mit und auch heute erfahren noch manche Menschen mit Behinderung, die
bei den Eltern wohnen und keine Tagesstätte besuchen, nicht, was strukturierte Arbeit bedeutet (vgl.
Haveman & Stöppler, 2004). Offen bleibt die Frage der „Pensionierung“, d.h. wie lange soll ein Bewohner in der Werkstatt oder in der Fördergruppe arbeiten? Ist eine Art „Altersteilzeitmodell“ sinnvoll? Dafür fehlen derzeit noch einheitliche Kriterien, die Vorgangsweise wird im Einzelfall diskutiert
und entschieden. Trotz kaum vorhandener Forschungsergebnisse zur Pensionierung geistig behinderter
Menschen wird davon ausgegangen, dass sich durch das Wegfallen sozialer Kontakte und der
Notwendigkeit einer Neustrukturierung des Tagesablaufs eine belastende Situation für die betroffenen
Menschen ergibt. Daraus ergeben sich Forderungen nach flexibleren Arbeitszeiten, Reduzierung des
Arbeitsumfangs, Pausenverlängerung bzw. zusätzliche Pausen, Veränderung des Arbeitsplatzes, Einrichtung einer Gruppe für ältere Mitarbeiter (Kräling, 1995; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004).
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In einer Befragung von Freese (1999; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004) wünschen sich die Befragten flexiblere Arbeitszeiten, einen reduzierten Arbeitsumfang, eine flexible Ruhestandsgrenze und
alternative Angebote zur Arbeit in der Werkstätte. Als hilfreich für den Übergang in den Ruhestand
wird eine schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit gesehen. Häufig möchten die Befragten die Kontakte zu Kollegen bzw. Betreuern aus der Werkstätte halten. Wichtig werden auch entsprechende
Freizeitangebote, wobei hier beachtet werden muss, dass die Zufriedenheit damit nicht durch die
Anzahl der Angebote, sondern durch deren Qualität bestimmt wird.
Ein besonderes Problem sowohl auf den Wohnungen als auch in den Werkstätten stellt immer wieder
der Mitarbeiterschlüssel dar, d.h. für intensivere Begleitung sind mehr Mitarbeiter nötig. In den Wohnungen müssen die Dienstpläne verändert werden, wenn nun auch untertags Bewohner zu Hause
bleiben und nicht mehr in der Werkstätte oder in der Fördergruppe arbeiten. Neue tagesstrukturierende
Angebote, die sich an den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Bewohner orientieren, müssen geschaffen
werden. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen erfolgt im Diakoniewerk in verschiedenen
Arbeitskreisen. Zudem gibt es für die Mitarbeiter Fort- und Weiterbildungen, Supervision, Begleitung
durch den psychologischen Dienst und Pflegeberatung. Wichtig ist auch die Vernetzung mit anderen
Bereichen (z.B. Hospiz).
3 Begleitung älterer Menschen mit Behinderung
Die Begleitung älterer Menschen mit Behinderung stellt andere Anforderungen an die Mitarbeiter als
die Begleitung jüngerer Menschen. Im folgenden sollen drei verschiedene Ansätze vorgestellt werden:
3.1 Urlings: Begleitung älterer und dementierender Menschen mit geistiger
Behinderung
Urlings (2006) hat spezielle Schulungsprogramme für Begleiter älterer und dementierender Menschen
mit einer geistigen Behinderung entwickelt. Zentral ist dabei sein „Werkzeugkasten des Begleiters“,
der aus vier Elementen besteht:
1. Die Grundlage bildet der phänomenologische Ansatz. Mit einer phänomenologischen Herangehensweise ist hier eine personzentrierte Begleitung der Bewohner gemeint, die auf Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des Individuums abzielt. Dabei ist der Mensch sowohl auf
Beziehungen als auch auf Empathie angewiesen, wobei beide im Gleichgewicht stehen müssen.
Eine förderliche Beziehung muss so gestaltet sein, dass sie auf beide Bedürfnisse des Menschen
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Rücksicht nimmt. Schlüsselbegriffe des personzentrierten Ansatzes sind Wertschätzung, Empathie
und Echtheit (vgl. Rogers, 1973, 1991). Wichtig ist also eine „maßgeschneiderte Hilfe“, bei der
individuelle Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.
2. Verschiedene Begleitungsformen werden den jeweiligen Bedürfnissen und der Situation entsprechend angewandt. Dazu zählen Realitäts-Orientierungs-Training (bietet Orientierungshilfen
bezüglich Zeit, Ort und Personen), Reminiszenz (Arbeit mit Erinnerungen an die Vergangenheit),
warme Begleitung (Versuch, ein Gefühl der Geborgenheit durch vertraute Menschen und vertraute
Umgebung zu vermitteln), Haptonomie (Körperkontakt steht im Vordergrund), Massagen,
Snoezelen (gezielte Stimulierung der Sinne, um angenehme Empfindungen oder Entspannung zu
erreichen) und Validation (Versuch des Begleiters, sich in einen Demenzkranken hineinzuversetzen
und sein Erleben zu verstehen).
3. Die Lebensgeschichte der Bewohner ist bedeutend für das Verstehen, dabei ist nicht nur
Faktenwissen wichtig, sondern auch, wie diese Situationen erlebt wurden.
4. Die Berücksichtigung des aktuellen Erlebens sowie der aktuellen Bedürfnisse und Wünsche
der Bewohner stellt das vierte Element der Begleitung älterer Menschen mit geistiger Behinderung
dar (vgl. Urlings, 2006).
3.2 Pörtner: Personzentrierte Betreuung von alten Menschen
Der Ansatz von Pörtner (2005) basiert ebenfalls auf einer personzentrierten Haltung (vgl. Rogers,
1973, 1991) und auf einem humanistischen Menschenbild, das jeden Menschen als eigenständige, in
sich wertvolle Persönlichkeit sieht. Jeder Mensch strebt nach Weiterentwicklung und versucht, neue
Erfahrungen in sein Selbstkonzept (Rogers, 1973) zu integrieren. Mit Selbstkonzept ist das Bild, das
ein Mensch von sich hat und wie er dieses Bild bewertet, gemeint. Prä-Therapie (vgl. Prouty, Van
Werde & Pörtner, 1998) baut auf der personzentrierten Haltung auf und versucht, Kontaktfunktionen
zu entwickeln und zu festigen. Die Kontaktfunktionen umfassen drei Ebenen des psychischen Kontaktes: Kontakt zur Realität, Kontakt zu sich selbst (emotionaler Kontakt) und Kontakt zu anderen
(kommunikativer Kontakt). Die von Prouty entwickelten Kontaktreflexionen (vgl. Prouty, Van Werde
& Pörtner, 1998) sind ein methodisches Hilfsmittel2, um auf den drei Ebenen Kontakt herzustellen.
2
Zu beachten ist, dass Theorien immer nur Verständnishilfen und keine Wahrheiten sind. Genauso dürfen
Methoden nur als Hilfmittel betrachtet werden, die für die jeweilige Situation und die Person passen müssen:
„Entscheidend ist nicht dass, sondern wie mit einer Methode gearbeitet wird.“ (Pörtner, 2005, S. 123).
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Analog zu den Kontaktebenen gibt es also unterschiedliche Arten von Kontaktreflexionen:
Situationsreflexionen (die momentane Situation wird angesprochen und damit der Kontakt zur Realität
angeregt), Körperreflexionen (regen durch Ansprechen der Körperhaltung den Kontakt zum eigenen
Körper an), Gesichtsreflexionen (über das Ansprechen des Gesichtsausdrucks soll der Kontakt zu sich
selbst auf der Gefühlsebene gefördert werden), Wort-für-Wort-Reflexionen (das wortwörtliche Wiederholen unterstützt den Kontakt zu anderen) und das Prinzip des Wiederaufgreifens (indem
Reflexionen, bei denen ein Kontakt gelungen ist, erneut aufgegriffen werden, soll der Kontakt
verankert und die Kontaktfunktionen gefestigt werden).
„Personzentriert arbeiten heißt: nicht von Vorstellungen ausgehen, wie Menschen sein sollten, sondern
davon, wie sie sind und von den Möglichkeiten, die sie haben; andere Menschen in ihrer ganz
persönlichen Eigenart verstehen und sie dabei unterstützen, eigene Wege zu finden, um – innerhalb
ihrer begrenzten Möglichkeiten – mit der Realität zurechtzukommen; nicht für andere Menschen,
sondern mit ihnen Wege finden und Lösungen suchen; nicht erklären, sondern verstehen; nicht
machen, sondern ermöglichen“ (Pörtner, 2005, S. 40, Hervorhebungen im Original). Für den Umgang
mit alten Menschen stellt Pörtner (2005, S. 41 ff.) sieben Grundsätze auf:
• Klarheit schafft Sicherheit und Vertrauen
• Das Erleben ist der Schlüssel zum Verstehen und Handeln
• Entscheidend ist nicht, was fehlt, sondern was da ist
• Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess
• Selbstverantwortung hat existentielle Bedeutung
• Die Person ist mehr als ihr gegenwärtiger Zustand
• Es gibt nicht nur (m)eine Realität
Aus diesen Grundsätzen lassen sich konkrete Richtlinien ableiten, die für den Alltag einen Rahmen
abgeben, an dem sich das Betreuungspersonal orientieren kann, und zwar:
• Ernstnehmen jedes Menschen in seiner persönlichen Eigenart und Ausdrucksweise
• Zuhören mit allen Sinnen, um das Erleben des Gegenübers verstehen zu können
• Auf das subjektive Erleben des Betreuten eingehen
• „Anklopfen“ – sowohl wörtlich gesehen an der Tür, aber auch Pflegehandlungen, etc. ankündigen
• Eigenständigkeit unterstützen, d.h. Entscheidungen des Betreuten unterstützen und akzeptieren
• Kleine Schritte beachten und ermutigen
• Stützen für selbstständiges Handeln geben
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• Wahlmöglichkeiten bieten
• Konkret bleiben, z.B. welche konkreten Anliegen verbergen sich hinter einem bestimmten Wunsch?
• Die „Sprache“ des anderen Menschen finden (sowohl verstehen als auch „sprechen“)
• Sich nicht von Vorwissen bestimmen lassen
• Den eigenen Anteil erkennen
Die Betreuung von alten Menschen erfordert sowohl fachliche als auch persönliche Kompetenz.
Neben Fachwissen müssen Mitarbeiter kongruent sein, was eine Auseinandersetzung mit sich selbst
und die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu reflektieren, erfordert. Der Rollentausch zwischen den
Generationen erfordert beispielsweise auf Seiten der Betreuer, sich mit den eigenen Erfahrungen mit
Eltern, Lehrern und anderen prägenden Personen aus der älteren Generation auseinandersetzen, damit
sie diese Bilder und die damit verbundenen Gefühle nicht unreflektiert (oder sogar unbewusst) auf die
von ihnen zu begleitenden Menschen übertragen. Weiters ist „Offenheit, Interesse und Toleranz für
das ,andere‘ im anderen Menschen“ (Pörtner, 2005, S. 85) notwendig. Genauso wenig dürfen
Betreuungspersonen aber vergessen, gut für sich selbst zu sorgen und auf ihre eigenen Grenzen zu
achten und diese zu erkennen. In vielen Situationen ist Kreativität gefragt, um die eigentliche
Fachkompetenz in Dienstleistungen integrieren zu können: Hilfeleistungen, die eigentlich nicht zu den
Kernaufgaben gehören, können so genutzt werden, um Kontakt herzustellen. Im Umgang mit anderen
Menschen ist es wichtig, zu akzeptieren, dass es nicht nur meine Wirklichkeit gibt, wie ich sie
wahrnehme, sondern verschiedene Wirklichkeiten (vgl. Watzlawick, 1976) und zu versuchen, sich in
diese anderen Wirklichkeiten einzufühlen.
3.3 Haveman und Michalek: Lehrgang „Selbstbestimmt Älterwerden“
Ausgehend von der Annahme, dass ältere Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur in den Augen
anderer teilweise lebenslang als Kind gesehen werden, sondern sich auch häufig selbst nicht als
Erwachsene betrachten und daher nur langsam eine Vorstellung davon entwickeln, was älter werden
bedeutet, haben Haveman und Michalek (1998; zitiert nach Haveman & Stöppler, 2004) eine deutsche
Fassung des in den USA entstandenen Lehrgangs „Person-centered planning for older adults with a
mental retardation“ erarbeitet. Die Grundprinzipien des Lehrgangs sind Empowerment und Personenzentrierung. Durch Selbstermächtigung sollen die Lehrgangsteilnehmer befähigt werden, eigene Ziele
und Handlungskompetenzen zur Erfüllung ihrer individuellen Wünsche und Bedürfnisse zu
entwickeln. Ziel des Lehrgangs ist, Empowermentprozesse in Gang zu setzen und die Teilnehmer zu
mehr Selbstbestimmung zu befähigen. Zielgruppe des Lehrgangs sind Menschen mit einer leichten bis
mittelgradigen geistigen Behinderung ab 50 Jahren bzw. Menschen mit Down-Syndrom ab 35 Jahren,
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da hier der körperliche Altersprozess früher einsetzt. Der Lehrgang wird von einem Trainer und einem
Co-Trainer geleitet und besteht aus 16 Lektionen und drei Exkursionen. Inhalt der Lektionen sind die
Themenkomplexe Wählen und Entscheiden, Rechte und Pflichten, körperliche Veränderungen,
Gesundheit
und
Wohlbefinden,
Freizeitaktivitäten,
Arbeitsmöglichkeiten
und
Ruhestand,
Freundschaften und soziale Netzwerke, Wohnen und das Erstellen persönlicher Ziele und Handlungspläne. Bedeutend für den Erfolg des Lehrgangs ist der persönliche Begleiter, der jedem
Teilnehmer zur Seite gestellt ist. Beendet wird der Lehrgang mit einem persönlichen Gespräch, zu
dem der Teilnehmer auch seinen persönlichen Begleiter und Verwandte und Freunde einladen darf.
Außerdem findet eine Besprechung mit den Begleitern im Wohnbereich statt, um den Transfer der
Lehrgangsinhalte in den Alltag zu erleichtern.
4 Aus der Praxis: Ältere Menschen im Diakoniewerk
Im folgenden werden zwei Modelle der Begleitung älterer Menschen im Diakoniewerk vorgestellt: das
Wohnhaus Friedenshort und das Wohnhaus Reichenauerstraße.
4.1 Wohnhaus Friedenshort
Im Wohnhaus Friedenshort wohnen derzeit 32 Menschen mit geistiger Behinderung in drei Wohnungen innerhalb des Wohnhauses und fünf Außenwohnungen im Nebengebäude. Davon arbeiten
derzeit vier Bewohner nicht mehr oder nur mehr in sehr geringem Umfang in der Werkstätte oder in
der Sozialgruppe.
Im Friedenshort gilt der Grundsatz, dass die Menschen dort, wo sie ihr bisheriges Leben verbracht
haben, bis zu ihrem Tod wohnen können. Nicht immer können sie aber im gleichen Zimmer bleiben,
sondern müssen in ein anderes Zimmer oder eine andere Wohnung innerhalb des Wohnhauses übersiedeln. Besonders die Bewohner der Außenwohnungen sind davon betroffen, weil dort weder die
baulichen Einrichtungen noch die Betreuungssituation für den vermehrten Pflegebedarf ausgerichtet
sind. Grundsätzlich wird aber so lange wie möglich versucht, die Bewohner in allen drei Wohnungen
und den Außenwohnungen zu begleiten und eine Übersiedlung aus den Außenwohnungen ins Haus
erst dann zu forcieren, wenn es nicht mehr möglich ist, den Pflege- und Betreuungsaufwand dort zu
leisten. Wichtig ist, dass aber in einem solchen Fall weiterhin die vertrauten Bezugspersonen für die
Begleitung und Pflege da sind.
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Organisation der Seniorenbetreuung
Die Seniorentagesbetreuung ist von Montag bis Freitag von jeweils 8.00 bis 15.30 für jene Bewohner
da, die nicht mehr zur Arbeit gehen. Dafür sind zwei Teilzeitmitarbeiterinnen angestellt, die durch
Mitarbeiter aus allen Wohnungen unterstützt werden. In der Tagesbetreuung werden drei bis vier Bewohner aus allen drei Wohnungen begleitet, man rechnet aber damit, dass es in Zukunft einige Bewohner mehr sein werden. Zusätzlich gibt es von 15 bis 21 Uhr auch spezielle Pflege und Begleitung
für die Bewohner der Außenwohnungen.
Tagesablauf
Nach der Dienstübergabe um 8.00 Uhr macht ein Bewohner mit einer Mitarbeiterin seine Turnübungen, anschließend geht ein Bewohner baden, was aber nicht nur als Pflegeprogramm, sondern
auch als Möglichkeit der Beziehungsgestaltung und Beschäftigung gesehen und gelebt wird. Nach der
Jause richtet sich das Angebot nach den aktuelle Wünschen und Bedürfnissen der Bewohner, z.B.
spazieren gehen, vorlesen, etc. Nach dem Mittagessen im Wohnhaus ruht sich einer der Bewohner bei
seinem Mittagsschlaf aus, ein anderer geht nachmittags zur Arbeit. Einmal pro Woche findet nachmittags ein spezielles Seniorenturnen statt. Mittags wird ein Bewohner aus den Außenwohnungen mitbetreut, der im Wohnhaus heimisch werden soll, weil er heuer im Herbst in Pension gehen und dann in
die Tagesstruktur im Wohnhaus eingebunden wird. Daher wird für ihn ein fließender Übergang gestaltet, um ihm Sicherheit zu geben. Auf langsame, schrittweise Übergänge wird generell viel Wert
gelegt.
Probleme und Chancen
Die Seniorentagesbetreuung findet schwerpunktmäßig in der Wohnung 2 statt, sie ist aber für alle
Wohnungen zuständig. Es ist ihr ein Anliegen, dass die Bewohner in der vertrauten Umgebung im Bad
der jeweiligen Wohnung bei ihrer Körperpflege begleitet werden. Problematisch ist, dass die Seniorenbetreuung keinen eigenen Platz bzw. Bereich im Haus hat, sondern die Räume und Infrastruktur der
Wohnungen mitbenützt. Für die Mitarbeiterinnen wäre es angenehmer, ein „eigenes Reich“ zu haben,
wo sie z.B. ihre Utensilien, etc. lagern können. Die enge Zusammenarbeit erfordert immer wieder eine
Kompetenzabklärung zwischen den Wohnungsmitarbeitern und den Seniorenbetreuerinnen. Dazu gibt
es einmal im Monat einen Austausch, aber auch der tägliche Austausch im Rahmen der Dienstübergaben ist wichtig und wird gerne genutzt.
Arbeitsschwerpunkte
Von Bedeutung ist die Zusammenarbeit mit den Werkstätten und Fördergruppen, um die Bewohner in
den Arbeitsprozess einbinden zu können, so lange sie das möchten. So wurde z.B. eine inzwischen
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verstorbene Bewohnerin von einer Seniorenbetreuerin aus dem Friedenshort an zwei Nachmittagen in
der Woche in die Werkstätte begleitet und dort mitbetreut.
In Zusammenarbeit einer der beiden Altenfachbetreuerinnen im Haus, die eine Ausbildung in Kinästhetik speziell für Menschen mit Behinderung hat, und einer Physiotherapeutin wird ab Herbst eine
Bewegungsgruppe für alte Menschen mit Behinderung angeboten.
Allgemeiner Schwerpunkt der Seniorenbetreuung im Friedenshort ist, individuell auf die Bewohner
einzugehen, sich Zeit zu nehmen und ihre Selbstständigkeit möglichst lange aufrecht zu erhalten. Das
hat viel mit Wertschätzung für die Bewohner zu tun, die so erfahren, dass sie durchaus noch selber in
der Lage sind, bestimmte Dinge zu tun. Um die Zeit dafür zu haben, müssen die Mitarbeiterinnen gut
mit ihren Ressourcen umgehen können, immer wieder Prioritäten setzen und sehr flexibel sein.
4.2 Wohnhaus Reichenauerstraße
Im Wohnhaus Reichenauerstraße wohnen derzeit 19 Menschen mit geistiger Behinderung in drei
Wohnungen. Ziel ist, dass die Bewohner auch im Alter im Wohnhaus Reichenauerstraße bleiben
können, allerdings müssen jene Bewohner mit vermehrtem Pflegeaufwand in die Wohnung 2 übersiedeln, wo vorwiegend Senioren wohnen.
Organisation der Seniorenbetreuung
Als Mitte der 90er-Jahre ein Bewohner sehr plötzlich mehr Pflege benötigte, stand das Team der
Reichenauerstraße anfangs vor völlig neuen Schwierigkeiten. Abgesehen von baulichen Problemen
(kein Lift; das Pflegebad war glücklicherweise kurz zuvor eingebaut worden) gab es wenig Erfahrung
im Umgang mit vermehrt pflegebedürftigen Menschen, da in der Reichenauerstraße bisher eher
selbstständige, mobile Menschen wohnten. Mit Unterstützung einer geringfügig angestellten Krankenschwester, die vom Bruder des betroffenen Bewohners bezahlt wurde, konnte das Team jedoch die
Pflege meistern. Damals wurden Erfahrungen gesammelt, die in die Neuorganisation der Seniorenbetreuung eingeflossen sind.
Im Wohnhaus Reichenauerstraße wohnen jene älteren Menschen mit Behinderung, die mehr Pflege
brauchen, gemeinsam in einer Wohnung. Kriterium für die Übersiedlung auf diese Wohnung ist der
Pflegebedarf und weniger das Alter. Derzeit leben dort sieben Menschen mit Behinderung, davon ist
einer 48 Jahre alt, die anderen sechs sind zwischen 62 und 79 Jahre alt. Fünf Bewohner gehen nicht
mehr zur Arbeit, einer arbeitet jeweils zwei Stunden vormittags in der Fördergruppe und ein weiterer
an zwei Vormittagen pro Woche in der Werkstätte. Ein Bewohner ist im fortgeschrittenen Stadium der
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Alzheimer-Demenz und braucht viel Pflege und Betreuung. Aber auch der Unterstützungsbedarf der
anderen Bewohner steigt, was alltagspraktische Tätigkeiten betrifft (An- und Auskleiden, Auswahl der
Bekleidung, Körperhygiene, Gang zur Toilette, etc.).
Die Bewohner werden von einem Team, das derzeit aus vier Mitarbeitern (drei Teilzeit- und einem
Vollzeitmitarbeiter) besteht, betreut. Eine Mitarbeiterin ist ausgebildete Altenfachbetreuerin, eine weitere wird die Ausbildung 2007 beginnen. Auf der Wohnung 1 arbeitet ebenfalls eine Altenfachbetreuerin. Die Mitarbeiter arbeiten wohnungsübergreifend, d.h. wenn in den anderen Wohnungen
tagsüber ein Bewohner (z.B. wegen Krankheit) zu Hause ist, wird er von der Wohnung 2 mitbetreut.
Umgekehrt machen Mitarbeiter aus den anderen Wohnungen auf der Wohnung 2 Nacht- und
Frühdienste sowie Urlaubsvertretungen.
Tagesablauf
Um 6.30 Uhr kommt ein Mitarbeiter in den Frühdienst, der Nachtbereitschaftsdienst ist bis 7.30 Uhr
im Haus. Ab 8.00 Uhr kommt ein Helfer (z.B. Zivildiener, diakonischer Helfer, Implacement) dazu.
Zwischen 6.30 und 7.30 Uhr gehen jene Bewohner, die in einer Werkstätte oder Fördergruppe arbeiten, aus dem Haus. Danach unterstützen die Mitarbeiter zwei Bewohner bei der Körperpflege bzw.
beim Baden (einer dieser beiden Bewohner hat eine PEG-Sonde). Am Vormittag werden die Bewohner, so weit es geht, in hauswirtschaftliche Tätigkeiten (z.B. Jause herrichten, Tisch decken und abräumen, Wäsche zusammenlegen, einkaufen gehen) mit einbezogen. Ab 13 Uhr kommen ein bis zwei
weitere Mitarbeiter in den Dienst, dann ist es möglich, einzelnen Bewohnern Aktivitäten außerhalb der
Wohnung anzubieten (z.B. einkaufen fahren, spazieren gehen).
Probleme und Chancen
Der Mitarbeiterschlüssel ist sehr niedrig3, was es bei intensiverem Pflegebedarf notwendig macht,
Prioritäten zu setzen. Wichtig ist auch die optimale Strukturierung der Dienstzeiten. Aufgrund des
niedrigen Schlüssels müssen auch Betreuer aus anderen Wohnungen auf der Wohnung 2 mitarbeiten.
Besonders bei Bewohnern, die nicht oder nicht mehr in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren,
ist es für Mitarbeiter aus den anderen Wohnungen teilweise schwierig, diese Bedürfnisse und
Wünsche zu erkennen. Besondere Bedeutung hat daher für alle Mitarbeiter der tägliche Austausch bei
den Dienstübergaben.
3
Der niedrige Mitarbeiterschlüssel besteht noch aus der Zeit, in der die Bewohner selbstständiger waren und
weniger Begleitung brauchten. Das höhere Alter und damit der vermehrte Pflegebedarf machen hier eine
Umstellung notwendig.
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Arbeitsschwerpunkte
Am Konzept des Wohnhauses wurde ein Jahr lang intensiv gearbeitet. Hauptthema war, welche
Bewohner in welchen Wohnungen den besten Platz finden könnten. Am Ende des Prozesses wurden
sechs Bewohner hausintern übersiedelt. Selbstständigere Bewohner übersiedelten in die Wohnung 3
(Außenwohnung) und Bewohner mit höherem Bedarf an Begleitung und Pflege übersiedelten in die
beiden Wohnungen im Wohnhaus.
Das Thema Demenz ist immer wieder präsent, nicht zuletzt wegen eines Bewohners, der derzeit viel
Pflege aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums der Demenz benötigt. Generell stehen Pflege und
Begleitung dieses Bewohners momentan im Mittelpunkt, was leider die Bedürfnisse anderer Bewohner etwas in den Hintergrund rücken lässt. Eine entsprechende Begleitung der anderen Bewohner, was
die Krankheit ihres Mitbewohners betrifft, ist dem Team sehr wichtig. Die Bewohner erleben die
Situation hautnah mit und sind sehr betroffen. Eine Auseinandersetzung mit den Themen Tod und
Trauer ist sowohl für die Bewohner als auch für die Mitarbeiter notwendig.
5 Ausblick
Im Grunde können viele Aspekte der Seniorenhilfe auf ältere Menschen mit geistiger Behinderung
übertragen werden. In der Seniorenhilfe im Diakoniewerk gelten die Arbeitsprinzipien Selbstbestimmung, Normalität (d.h. der eigene Lebensstil soll weitergeführt werden können) und Bedürfnisorientierung (d.h. es wird individuell auf den jeweiligen Menschen und seine Bedürfnisse eingegangen). Dies gilt genauso für die Behindertenhilfe. Das bedeutet auch, dass die Orientierung an der
Lebensgeschichte der Bewohner wichtig ist und dass Wohnen vor der Pflege kommen soll. Im Mittelpunkt steht der Bewohner als unverwechselbares Individuum mit seinen Bedürfnissen nach einem
möglichst selbstständigen, unabhängigen Leben, wofür freilich mehr oder weniger Unterstützung erforderlich sein wird. Diese soll den Bewohner aber nicht abhängig machen, sondern vielmehr zu seiner
Unabhängigkeit beitragen. Zur Erfüllung dieser Forderungen wird interdisziplinäre Zusammenarbeit
zwischen Behindertenpädagogen, Altenfachbetreuern, Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Medizinern und Psychologen notwendig sein. Auch die Angehörigen sollen mit
einbezogen werden.
Viele Themen, was ältere und alte Menschen mit geistiger Behinderung betrifft, werden uns aber noch
längere Zeit beschäftigen: Welche Wohnformen sind passend? Wie können wir mit dem erhöhten
Pflegebedarf umgehen? Welche Krankheiten treten im Alter vermehrt auf und welche Therapien sind
sinnvoll? Wie können die Bewohner bei vermehrten Krankenhausaufenthalten sinnvoll begleitet
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werden? Wie gehen wir mit dementen Bewohnern um? Wie gehen wir mit Sterben und Tod um?
Wann und nach welchen Kriterien sollen Menschen mit Behinderung pensioniert werden? Brauchen
wir dann spezielle Angebote für Senioren? Welche Freizeitangebote (z.B. Sport, Kultur, Erwachsenenbildung, ...) wünschen sich alte Menschen mit Behinderung? Wie schaffen wir flexiblere Fahrdienste,
damit diese Angebote auch genutzt werden können? Welche Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen
brauchen Mitarbeiter, um sich mit der neuen Situation auseinandersetzen und ihr gerecht werden zu
können? Wohin entwickeln wir uns in Zukunft?
Literatur
Cattell, Raymond B. (1971). Abilities: their structure, growth, and action. Boston: Houghton Mifflin.
Horn, John L. & Cattell, Raymond B. (1966). Refinement and test of the theory of fluid and
crystallized intelligence. Journal of Educational Psychology, 57, 253–270.
Haveman, Meindert & Stöppler, Reinhilde (2004). Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und
Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation. Stuttgart: Kohlhammer.
Obrecht, Werner (1998). Umrisse einer biopsychosozialen Theorie menschlicher Bedürfnisse. Geschichte, Probleme, Struktur, Funktion (4., überarb. Auflage). Interdisziplinärer Universitätslehrgang für Sozialwirtschaft, Management und Organisation Sozialer Dienste. Wirtschaftsuniversität Wien.
Prouty, Garry, Van Werde, Dion & Pörtner, Marlis (1998). Prä-Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta.
Pörtner, Marlis (2005). Alt sein ist anders. Personzentrierte Betreuung von alten Menschen. Stuttgart:
Klett-Cotta.
Rogers, Carl R. (1991). Entwicklung der Persönlichkeit (8. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. (Original
erschienen 1961, On becoming a person).
Rogers, Carl R. (1973). Die klientenzentrierte Psychotherapie. München: Kindler. (Original erschienen 1951, Client centered therapy).
Urlings, Harry (2006). Respektvolle und methodische Begleitung älterer und dementierender Menschen mit einer geistigen Behinderung. Unveröffentlichte Fortbildungsunterlagen.
Watzlawick, Paul (1976). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München:
Piper.
Dank an Brigitte Gerard, Peter Priesnitz, Erna Krapf, Dieter Zweimüller, Mag. Barbara Klammer und
Mag. Barbara Teibert für die vielfältigen Informationen und Anregungen.
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