KartEn dEr rumtrEibEr
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KartEn dEr rumtrEibEr
LoidL Karten der rumtreiber KartEn dEr rumtrEibEr Vom Erschaffen, Erschließen und Kartographieren phantastischer Welten Sonja Loidl E Realistische Literatur kann in einem übertragenen Sinn in fremde Welten führen, etwa in Regionen mit fremden Sprachen und nicht vertrauten Sitten. „Extra-empirische Literatur“1 (Biesterfeld 75) greift dieses Handlungselement häufig wörtlich auf: Nicht nur Kiril Maximov aus einem Text von Sergej Lukianenko ist ein Weltengänger: In Fantasy und Science Fiction bewegen sich Figuren „nur“ in ein oder mehreren phantastischen Welten, in der Phantastik hingegen überschreiten ProtagonistInnen Grenzen zwischen real-fiktiven und phantastischen Handlungsräumen. Wandschränke, Bahnsteige und Spiegel sind nur einige der unzähligen Möglichkeiten, den realistischen Aktionsradius hinter sich zu lassen. Dem Einfallsreichtum sind kaum Grenzen gesetzt. Aber ob nun eine einzige Welt geschildert wird oder gleich mehrere – der phantastische Raum muss erst einmal aufgebaut werden. rschaffen einer Welt Auch phantastische Literatur, Fantasy und Science Fiction kochen in dieser Hinsicht nur mit Wasser: Ihre Handlungsräume bestehen aus denselben Versatzstücken, die auch in der realistischen Literatur Verwendung finden. Denn bei aller Innovation und Neukombination von Motiven muss eine gewisse Referenzmöglichkeit für LeserInnen erhalten bleiben. So bestehen auch Narnia, Arkan, Alagaësia, Middlearth, die Tintenwelt, Phantásien und Earthsea aus Flüssen, Gebirgen, Tälern, Ebenen, Wüsten und anderen bekannten Elementen der Erdoberfläche. Dass natürlich gewisse Freiheiten gegeben sind, wie z.B. Klimakontrolle in Science Fiction oder magische Eigenschaften bestimmter Gegenden in Fantasy und Phantastik, versteht sich von selbst. Das Wichtigste bei der Gestaltung phantastischer Regionen ist es “a logically cohesive secondary world” (Sullivan 307) zu erschaffen. Denn textim49 intErjuli 01 i 2011 manente Authentizität ist durchaus ein Kriterium, anhand dessen sich ein gelungenes literarisches Werk erkennen lässt. Sie ist sowohl in Bezug auf realistische als auch auf phantastische Texte Bestandteil der Erwartung der LeserInnen. Der Anspruch von Kohärenz bezieht sich dabei sowohl auf das Handlungsgeschehen als auch auf den Handlungsraum. J.R.R. Tolkien, der mit seiner Trilogie The Lord of the Rings aus den 1950er Jahren oft als Vater der modernen Fantasy präsentiert wird, hat sich in seiner theoretischen Abhandlung Tree and Leaf folgendermaßen dazu geäußert: nicht selten ihre Behausungen auf Bäumen oder aus Bäumen bauen. Diese Konstruktion findet man etwa in The Lord of the Rings mit Lothlorien, einem goldenen Wald, in dem die Waldelben leben und in Paolinis Inheritance-Serie in Form des Waldes Du Weldenwarden als magisch abgeschirmte Heimat der Elfen. Ein anderes häufig auftretendes Element ist, dass der jeweilige evil overlord, so es ihn in der Erzählstruktur gibt, oft in einer Form von Land der Finsternis oder Land des Schattens bzw. der Ödnis beheimatet ist. So etwa hat Saurons Geist seinen Sitz in Mordor, was in der von Tolkien kreierten Sprache Sindarin „Schwarzes Land“ bedeutet. Eine abgeschwächte Form dieser Konstruktion findet man z.B. in der Tinten-Trilogie vor, wo der böse Natternkopf auf der Nachtburg zu Hause ist. Immer wieder müssen ProtagonistInnen diese düsteren Gegenden aufsuchen oder andere wüstenartige Landschaften – heiß oder kalt – durchqueren, um ihre Mission erfüllen zu können. So muss Eragon durch die „Hadarac Dessert“ fliehen, Ged aus Ursula LeGuins Earthsea-Serie muss sich durch ein „Waste Land“ schlagen, Lukianenkos Kiril durchquert eine Art Eiswüste und Frodo muss Mordor betreten, um zum so genannten Schicksalsberg, „Mount Doom“, zu gelangen. To make a Secondary World, inside which [for instance] the green sun will be credible, commanding Secondary Belief, will probably require labour and thought, and will certainly demand special skill [… .]. Few attempt such difficult tasks. But when they are attempted and in any way accomplished than we have a rare achievement of Art. (Tolkien, Tree and Leaf, 49) Die Gestaltung von Handlungsräumen ist neben den jeweils unterschiedlichen intratextuellen Regeln und naturalen Gesetzmäßigkeiten immer auch von etablierten Genrekonventionen geprägt: Zum Beispiel sind Elfen generell in Wäldern zu Hause und bilden naturnahe Gemeinschaften, die 50 LoidL respektiven Geschichten, eine friedliche, bäuerliche Umgebung zu verlassen, um in Welten einzutreten, deren Regeln sie nicht kennen: Eragon muss lernen, Magie zu gebrauchen und mit dem Schwert umzugehen, um sich gegen die Schergen des magisch begabten Königs Galbatorix verteidigen zu können. Frodo geht mit schwindendem Begleitschutz ins Herz des Reiches des bösen Magiers Sauron, um den Ring, der dessen Macht aufrechterhält, zu zerstören. Wie Eragon und Frodo kommt auch Ged aus einem kleinen Dorf. Er erlernt sein Können von einer Dorfhexe und setzt es ein, um das Dorf mit Hilfe einesvon Nebels vor einer angreifenden Soldatentruppe zu schützen. Als Folge dieser Handlung wird er vom Magier Ogion als Schüler angenommen. Was in jedem dieser Fälle eintritt, ist der Aufbruch aus einem abgeschlossenen kleinen Handlungsraum, den die ProtagonistInnen nie zu verlassen gedacht hätten und der unter anderen Umständen eine Art natürliche Begrenzung der Möglichkeiten ihres Lebensweges darstellt hätte. Im Anschluss an den „Ausbruch“ aus den Einschränkungen des „StartHandlungsraumes“ erfolgt das Kennenlernen der fiktiven Handlungsräume mit ihren verschiedenen Land- Bereits diese wenigen Beispiele verweisen darauf, dass Ortsbezeichnungen des Öfteren metaphorische Interpretationsmöglichkeiten der Raumgestaltung zulassen und dass bestimmte Typen von Landschaften in viele Texte eingebaut werden, wobei sie dabei jeweils ähnliche Funktionen erfüllen. E Karten der rumtreiber rschließen einer Welt Wenn die Kulissen also aufgestellt sind, müssen sie bespielt, also von den Figuren entdeckt werden. Der konstruierte Handlungsraum wird dabei sowohl in den geschlossenen Ein-Welt-Systemen der Fantasy als auch in der phantastischen Literatur, wo Übergänge von einem realistischen in ein phantastisches Umfeld stattfinden, überwiegenden von einzelnen ProtagonistInnen erschlossen. Ihr Ausgangspunkt ist oft ein abgeschirmter Ort, den sie nicht immer freiwillig verlassen: One is struck with the frequency with which fantasy begins in a secure and untouched pastoral world of comfort and youthful innocence. […] Heroic action may indeed occur when pastoral and insulated well-being of one’s home is threatened. (Moss 232) So zwingen äußere Umstände etwa Frodo und Eragon am Anfang ihrer 51 intErjuli 01 i 2011 schaften, unterschiedlichen regionalen Besonderheiten, Gesellschaftsstrukturen, Bräuchen und Einstellungen. Dies erfolgt für ProtagonistInnen und LeserInnen meist parallel. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, dass in der zeitgenössischen Jugendliteratur die Hauptakteure größtenteils Menschen sind: Die Entscheidung, das Lesepublikum durch menschliche Augen blicken zu lassen, erleichtert Identifikation und gleicht den Erkenntnis- und Verständnisprozess an die RezipientInnen an. Dieser Mechanismus wird auch dadurch unterstützt, dass in Texten für Jugendliche in jüngster Zeit fast ausschließlich personale Narrationshaltungen oder polyphones Erzählen eingesetzt werden. So können Gedanken und Gefühle unmittelbar an die Leserschaft herangetragen werden. Aus dieser Rezeptionsgewohnheit heraus würden LeserInnen „nur an die Oberfläche herangeführt, wenn eine Erzählhaltung des ‚ von außen’ eingenommen wird“ (Lexe 13). Aus dem ursprünglich konstruierten kleinen Käfig machen sich ProtagonistInnen und RezipientInnen also gemeinsam auf, um die jeweiligen erzählten Welten zu erkunden. Letztere haben diese oft bereits in Form einer Karte am Vorsatzpapier oder auf den ersten Seiten des Buches zu Gesicht bekommen. Abb. 1: The Atlas of Middle-Earth von Karen Wynn Fonstad (© Houghton Mifflin, 2002) m it dem Finger auf der landkarte Diese Karten im Buchinneren sind mit unterschiedlichem Aufwand gestaltete Abbildungen der fiktiven Welten. An die Stelle der „mental maps“ im Sinne von „Lesen als Abenteuer im Kopf“ treten in der zeitgenössischen Jugendliteratur zunehmend vorgegebene Abbildungen, die aber gleichzeitig die Gattung für eine andere Kunstrichtung öffnen. Denn großflächige Illustrationen sind in Fantasy-Büchern ansonsten eher unüblich. Solche Karten können neben einem eventuellen ästhetischen Wert auch als Hilfsmittel dienen, um die Orientierung von LeserInnen vor, nach und während der Lektüre zu unterstützen. 52 LoidL Gundel Mattenklott stellt diesbezüglich fest, dass dieses Material für die Konstruktion einer kohärenten Welt, auf deren Bedeutung bereits verwiesen wurde, eine wichtige Rolle übernimmt: „Beliebte Spielform zur Steigerung von Glaubwürdigkeit ist die kartographische Erfassung des phantastischen Raumes.“ (Mattenklott 14) Als Beispiel dafür lässt sich etwa The Lord of the Rings anführen: Middleearth ist nicht nur in den verschiedenen Buchausgaben von Tolkiens Werk dargestellt, es gibt sogar eigens publizierte Atlanten, so zum Beispiel etwa The Atlas of Middle-Earth von Karen Wynn Fonstad. Diese Publikation basiert auf Tolkiens Texten, es besteht aber keine Verbindung zum Autor. Es handelt sich somit um „unauthorized material“, im Gegensatz zum Kartenmaterial, das in den Ausgaben von The Lord of the Rings zu finden ist. Dieses wurde vom Sohn des Autors, basierend auf den Texten, gestaltet und ist in Zusammenarbeit mit Tolkien entstanden. Es handelt sich dabei auch nicht nur um eine Karte, sondern um eine große Anzahl an Detail-Karten zu unterschiedlichen Teilen der fiktiven Welt. So wird das Erzeugen von fiktiver Authentizität auf die Spitze getrieben. In zeitgenössischen Publikationen aus dem Bereich der extra-empiri- Karten der rumtreiber schen Literatur ist es fast schon üblich, dem Publikum beim ersten Blick ins Buch eine Karte zu präsentieren. Silke Rabus bemerkt dazu in einem Aufsatz über Landkarten in der Kinderliteratur: „Bezeichnenderweise zeichnet sich jene Literatur, die am wenigsten über gesicherte Erkenntnisse hinsichtlich ihrer erzählten Welten verfügt, durch die verschwenderische Fülle kartographischer Erzeugnisse aus.“ (Rabus 49) Abb. 2: Karte aus Paolinis Eragon (Doubleday). © Random House Children’s Books. Wie im Fall von Tolkiens Werk, so findet man auch etwa in den drei bisher erschienenen Bänden von Christopher Paolinis Inheritance-Serie solches Anschauungsmaterial, das der Erzählung vorangestellt ist. Im Gegensatz zu The Lord of the Rings – wo wie erwähnt variableres Material bereit gestellt wird – handelt es sich dabei immer um dieselbe Karte des Kontinents Alagaësia. Auch bei Ursula Le53 intErjuli 01 i 2011 Guins Earthsea-Serie wird das KartenKonzept etwas abgewandelt. Dem ersten Band ist eine Abbildung von ganz Earthsea vorangestellt, in den darauf folgenden drei Bänden wird, ähnlich einem Zoom, auf die Teile dieser Welt fokussiert, die für die jeweilige Handlung am wichtigsten sind. Auch im zweiten und dritten Teil von Cornelia Funkes Tinten-Trilogie wird ähnlich vorgegangen: Tintenblut beinhaltet eine Überblicks-Karte der Tintenwelt und in Tintentod wird diese Darstellung durch eine etwas detailliertere Karte in Richtung Norden ergänzt. So werden die neu hinzugekommenen Handlungsorte ebenfalls erfasst. In diesen beiden Büchern ist das Bildmaterial allerdings an den Anfang des Anhangs gestellt, der u.a. ein Figuren- Abb. 4: Detailkarte aus Tintentod (Ill. Carol Lawson) © Cecilie Dressler Verlag, Hamburg, 2007 register enthält. Bei Funke ist es dementsprechend nicht mehr der erste Blick ins Buch, sondern der erste nach dem Abschluss des Lesevorgangs, der auf einen kartographischen Abriss gelenkt wird. LeserInnen wird damit Gelegenheit und Anreiz gegeben, das Rezipierte Revue passieren zu lassen. In Martina Wildners Murus ist am Vorsatzpapier die Karte abgebildet, die der Vater der Protagonistin Laila mitgenommen hat, als er sich auf die Suche nach seiner verschwundenen Tochter machte. Er wollte den Plan benutzen, um sich auf der ihm fremden Seite der Mauer in der zweigeteilten Stadt zurechtzufinden. Gemessen an der Tatsache, dass Wildners Text auf der Erde spielt, ist die Beigabe einer Karte eher ungewöhnlich. Noch dazu Abb. 3: Überblickskarte aus Tintenblut (Ill. Carol Lawson) © Cecilie Dressler Verlag, Hamburg, 2005 54 LoidL scheint die Örtlichkeit im Grunde nicht von zentraler Bedeutung: Es könnte grundsätzlich jede größere Stadt auf der Welt sein. Das Wichtige ist die von der Mauer ausgehende Gefahr, die unabhängig vom konkreten Ort den gesamten Planeten betrifft. So muss es auch nicht weiter irritieren, dass besagter Karte am Vorsatzpapier weder erzähltechnisch noch inhaltlich besondere Relevanz zukommt. Sie erfüllt weder für LeserInnen noch für Figuren erfolgreich eine Orientierungsfunktion und auch ästhetisch kann sie nicht als Gewinn betrachtet werden. Sie erscheint eher als Beiwerk, das in Analogie zum Karten-Trend in das Buch integriert wurde. Im Fall von Suzanne Collins The Hunger Games und Catching Fire, die wie Murus auf unserem Planeten und Karten der rumtreiber in der Zukunft spielen, wäre es allerdings dennoch interessant zu sehen, wo sich das Geschehen abspielt: In dieser bis dato noch unvollständigen Trilogie wird ein postapokalyptisches Nordamerika entworfen, das in dreizehn Distrikte und das Machtzentrum, das sogenannte Capitol, unterteilt ist. Im Laufe der Handlung fallen immer wieder geographische Hinweise: Distrikt 4 ist zum Beispiel auf Fischfang spezialisiert und muss daher am Meer liegen, während Distrikt 12 Hauptlieferant für Kohle und irgendwo in den Appalachen zu finden ist. Besonders die Antwort auf die Frage, wo sich die Arenen befinden, in denen sich die Jugendlichen im Rahmen der titelgebenden „Hungerspiele“ gegenseitig bis auf den Tod bekämpfen müssen, wäre interessant; Abb. 5: Karte aus Martina Wildners Murus © Bloomsbury 55 intErjuli 01 i 2011 K Oder auch wo Distrikt 13 liegt, der für die in Catching Fire ausbrechende Revolution große Bedeutung hat. In einem ausführlichen Interview in der Reihe Borders Book Club erklärt die Autorin, warum sie es bewusst unterlassen hat, eine Karte beizufügen: arten als Hilfsmittel Im Zusammenhang mit dieser Aussage von Suzanne Collins wird die Funktion der Orientierungshilfe für das Lesepublikum besonders deutlich. Mit Hilfe der kartographischen Darstellungen lässt sich der Weg der Figuren mit dem Finger nachzeichnen. Dabei kann durchaus auch ein besseres Einschätzungsvermögen von Distanzen und Reisegeschwindigkeiten innerhalb der fiktiven Welten aufkommen. Die bildliche Darstellung bedient außerdem die Gewohnheit der Multimediageneration, optische Anreize zu bekommen. Beides trägt zum Authentizitätsaufbau der geschilderten Welt bei. Weiter gibt die Darstellung von (durch Figuren) noch nicht betretendem Raum Hinweise darauf, was eventuell noch geschehen könnte und eröffnet einen Fantasieraum sowohl für einzelne LeserInnen und als auch für das weitläufige Phänomen der Fanfiction2, das viele Fantasy-Serien online begleitet. Aber auch wenn sie nirgends im Buch visualisiert sind, spielen Karten mitunter auch textimmanent eine wichtige Rolle. Ohne entsprechende Abbildung im Buch sind sie dann wieder der Imagination überlassen, wie es den Charakteristika eines Textmediums a priori entspricht. Eines der prominentesten Beispiele dafür ist die Karte des Rumtreibers, die Marauder’s I didn’t want to be too specific for the reader, because, for one reason, it puts you ahead of Katniss. I don’t know that she has a very clear picture of the remains of North America and that actually is important at one point in Book Three, that she hasn’t realized something before. Maybe when all is set and done, but I really rather that the reader read it and tried to figure it out as it goes along. Because there is a lot of information she doesn’t have either - and I want you to be with her. (http://www.bordersmedia.com/b ookclub/collins 3:56 - 4:32) Abb. 6: The Hunger Games von Suzanne Collins © Scholastic 56 LoidL Map, die in Joanne K. Rowlings Serie von Band 3 an zum Handwerkszeug des jungen Zauberers Harry Potter gehört und immer wieder gute Dienste bei seinen Abenteuern leistet. Die Karte zeigt Harry den Grundriss von Hogwarts und wo sich alle Figuren im Schulschloss genau befinden. Da sie sich immer selbst auf magische Weise aktualisiert, ermöglicht sie ihm etwa, sich bei nächtlichen Ausflügen aus dem Schlafsaal vor Entdeckung zu schützen. Eine weitaus profanere Karte liefert die Grundstruktur für Maxs Reise zu sich selbst in Andreas Steinhöfels Der mechanische Prinz. Der Protagonist kann mit Hilfe eines goldenen Tickets über das Berliner U-Bahn-Netz in sogenannte Refugien Zutritt erhalten, wo er seine Abenteuer bestehen muss. Den Weg, der ihn zu seiner Audienz beim mechanischen Prinzen, der titelgebenden Figur und dem Herrscher über die Refugien, führt, kann er nur finden, weil er dieses Netzwerk an Stationen auswendig kennt. Für weniger Informierte steht auch diese Karte im Buchinneren bereit und es kann nachgelesen werden. In Kathrine Marshs Texten rund um den Teenager Jack Perdu, der Geister sehen kann und in den beiden Erzählungen der Autorin, The Night Tourist und The Twilight Prisoner, in die Unterwelt der Stadt New York ein- Karten der rumtreiber Abb. 7: Der Mechanische Prinz von Andreas Steinhöfel © Carlsen Verlag dringt, ist die Karte des Ingenieurs Egbert Viele von großer Bedeutung: Vieles Aufzeichnungen zeigen die unterirdischen Gewässer der Stadt, von denen Marsh einigen die Funktion der antiken Styx, dem Grenzfluss zur Totenwelt, zuweist. Die Karte ermöglicht es dem Protagonisten in beiden Bänden (zusammen mit einem Reiseführer durch die Unterwelt), den Ausgang in die Welt der Lebenden zu finden. Als nicht weniger lebensrettend erweist sich eine namenlose Karte für Kiril in Sergej Lukianenkos Weltenträumer. Die Hauptfigur wird in Lukianenkos Dilogie (Weltengänger und Weltenträumer) zu einem so genannten Funktional: Sie wird mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet, um eine bestimmte Funktion, in Kirils Fall die eines Zöllners, zu erfüllen. Das bedeutet, dass Kiril einen Turm mit Portalen 57 intErjuli 01 i 2011 in verschiedene Welten verwaltet. Die erwähnte Karte ermöglicht es ihm, in einer sehr gefährlichen Situation dem Tod zu entgehen: In einer fremden Zollstelle in die Enge getrieben, bleiben ihm nur wenige Optionen. Er kann nach Nirwana gehen – eine Welt mit Psychedelika in der Luft, die ihn fluchtund kampfunfähig machen würden – oder in eine unwirtliche Welt mit eisigen Temperaturen fliehen. Die ihm zur Verfügung gestellte Karte ermöglicht es ihm dann, in jener Welt eine weitere Zollstelle zu finden, von der aus er seinen Weg ohne Verfolger unmittelbar auf den Fersen fortsetzen kann. Für Max, Jack und Kiril enden ihre respektiven phantastischen Wege in der jeweiligen real-fiktionalen Umgebung, aus der sie gestartet sind, und in der sie sich dann weitaus mehr beheimatet und zufrieden fühlen als sie das beim Aufbruch getan haben. Ein solches „Happy End“, wenn auch manchmal mit Vorbehalten, ist auch in der zeitgenössischen Jugendliteratur noch immer ein gängiges Stilmittel. Bis es aber für ProtagonistInnen der extra-empirischen Literatur „All was well“ (Rowling 2007, 607) heißen kann, gilt es meist viele hundert Seiten Lektüre beziehungsweise viele Monate oder Jahre an erzählter Zeit zu bewältigen. Dabei kann Kartenmaterial für ProtagonistInnen und LeserInnen gleichermaßen Orientierungsmittel sein, um sich in Handlungsräumen zurecht zu finden, die – mit bestimmten phantastischen Konzessionen – genauso aus Flüssen, Bergen, Tälern, Wäldern, Feldern, Wüsten und anderen vertrauten Elementen bestehen, wie real-fiktionale Literatur. Und für die Zeit des Lektürevorganges sind Lesende genauso in diesen Welten zu Hause wie die Figuren. Denn: [W]hen the story-maker’s art is good enough to produce [literary belief] […] [w]hat really happens is that the story-maker proves a successful ‘sub-creator’. He makes a Secondary World which your mind can enter. […] You therefore believe it, while you are, as it were, inside. (Tolkien, Tree and Leaf, 37) Sonja Loidl (*1983) hat an der Universität Wien Germanistik studiert. Sie ist freie Mitarbeiterin der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur und arbeitet an einer Dissertation zum Thema Weltenübertritt und Tod in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. 58 LoidL Karten der rumtreiber Anmerkungen 1 Wolfgang Biesterfeld schlägt die Bezeichnung „extra-empirische Literatur“ als Oberbe- griff aller phantastischen Gattungen vor. Ich ziehe sie heran, da sie noch nicht durch inflationären Gebrauch und unterschiedliche Definitionen abgenutzt ist, wie das etwa bei „Fantasy“ der Fall ist: In diesem Artikel wird Fantasy als eine Untergattung extra-emiprischer Literatur betrachtet, die über einen geschlossenen Handlungskreis ohne Anbindung an real-fiktionale Welten verfügt. Phantastische Literatur bezeichnet im Gegensatz dazu die Untergattung, die sich mehrerer Handlungskreise bedient, wobei einer meist real-fiktional ist. 2 Im engeren Sinn handelt es sich dabei um von LeserInnen geschriebene Texte, in denen ProtagonistInnen und/oder die Welt bestimmter literarischer Werke in neuen, fortgeführten oder alternativen Handlung dargestellt werden. LiterAturAngAben PRIMäRLITERATUR Collins, Suzanne. The Hunger Games. New York: Scholastic 2008. —-. Catching Fire. New York: Scholastic 2009. Fonstad, Karen Wynn. The Atlas of Middle-Earth. Revised edition. New York: Houghton Mifflin 2002. Funke, Cornelia. Tintenherz. Hamburg: Dressler 2003. —-. Tintenblut. Hamburg: Dressler 2005. —-. Tintentod. Hamburg: Dressler 2007. LeGuin, Ursula. The Earthsea Quartet. London: Penguin Books 1992. Lukianenko, Sergej. Weltenträumer. A. d. Russ. v. Christiane Pöhlmann. 2. Aufl. München: Heyne 2008. —-. Weltengänger. A. d. Russ. v. Christiane Pöhlmann. 2. Aufl. München: Heyne 2007. Marsh, Katherine. The Night Tourist. New York: Hyperion Books 2008 [erstmals erschienen 2007]. —-. The Twilight Prisoner. New York: Hyperion Books 2009. Paolini, Christopher. Eragon. Inheritance. Book One. London: Corgi Books 2007 [erstmals erschienen 2001]. —-. Eldest. Inheritance. Book Two. London: Doubleday 2007 [erstmals erschienen 2005]. —-. Brisingr. Inheritance. Book Three. London: Doubleday 2008. Rowling, Joanne K. Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. London: Bloomsbury 1999. —-. Harry Potter and the Deathly Hallows. London: Bloomsbury 2007. 59 intErjuli 01 i 2011 Steinhöfel, Andreas. Der mechanische Prinz. Hamburg: Carlsen 2004. Tolkien, J.R.R. The Lord of the Rings. London: Harper Collins Publishers 2005. Wildner, Martina. Murus. Berlin: Bloomsbury, 2008. SEKUNDäRLITERATUR Biesterfeld, Wolfgang. „Utopie, Science Ficion, Phantastik und phantastische Kinder- und Jugendliteratur: Vorschläge zur Definition.“ Literarische und didaktische Aspekte der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Hg. Günter Lange und Wilhelm Steffens. Würzburg: Königshausen und Neumann 1993, S. 71 – 80 (= Schriftreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e. V., Bd. 13). Lexe, Heidi. „Eine fortgesetzte und systematisierte Erkundung spezifisch kinder- und jugendliterarischer Erzählräume. Teil 1. Ist auktorial noch zeitgemäß?“. In: 1000 und 1 Buch, 2/2009, S. 13. Mattenklott, Gundel. „Konstruktion des Phantastischen. Matrix und ästhetische Verfahren der phantastischen Kinderliteratur.“ Auf der Suche nach der Matrix. Tagungsbericht Strobl Mai 2000. Hg. Inge Cevala und Heidi Lexe. Neuaufl. Wien: o. V. 2007. Moss, Anita. “Pastoral and Heroic Patterns: Their Uses in Children’s Fantasy.” The Scope of the Fantastic – Culture, Biography, Themes, Children’s Literature. Selected Essays from the First International Conference on the Fantastic in Literature and Film. Hg. Robert A. Collins und Howard D. Pearce. Westport u.a.: Greenwood Press 1985, S. 231 – 238. Rabus, Silke. „Landschaften á la carte. Die Durchmessung der Welt in der KJL.“ In die weite Welt hinein. Hg. v. Institut für Jugendliteratur. Wien: o.V. 2009. S. 42 – 54. Tolkien, J. R. R. Tree and Leaf. London: Harper Collins 2001. http://www.bordersmedia.com/bookclub/collins. „Conceiving The Hunger Games” [18. 2. 2010, 16.00]. 60