Leseprobe

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Spannungsfelder der Medienethik: Die
Notwendigkeit eines Mehrstufenmodells
Entscheidend für ein Modell medienethischer Selbstkontrolle ist auch das Verhältnis
zwischen der Ideal- und Praxisebene, das bereits als ein Spannungsverhältnis definiert wurde. Nach der Erörterung dieses Spannungsverhältnisses am Beispiel des
Persönlichkeitsschutzes werden im folgenden Kapitel Ansätze der Medienethik vorgestellt und diskutiert.
2.1
Anspruch und Wirklichkeit:
Ein Spannungsverhältnis
Die Massenmedien erzeugen täglich bedeutende Leistungen für die Herstellung von Öffentlichkeit über politisches Handeln und Entscheiden,
für die pluralistische Meinungs- und Wissensbildung, für die gesellschaftliche Integration und den demokratischen Zusammenhalt der
Gesellschaft. Doch machen sich auch krisenhafte Erscheinungen bemerkbar. Darunter fallen vor allem die „Medien-Skandale“ der 1980erJahre wie die „Hitler-Tagebücher“ des STERN, die „Barschel-Affäre“,
das „Bergwerkunglück von Borken“ oder die „Geiselnahme von Gladbeck“.348 Bei diesen Ereignissen haben die Medien wenig Orientierung
an Moral und Ethik bewiesen und immer wieder Grenzen, wie den Persönlichkeitsschutz und die Sorgfaltspflicht, überschritten. Damit gefährden sie die Glaubwürdigkeit des Journalismus.349 Weischenberg sprach von
Journalisten,
„die mehr an ihre Karriere als an ihre Opfer, mehr an ihr Medium als an das Ansehen ihrer Branche, mehr an die Auflage (und Reichweite) als an die Verantwortung denken“.350
Mitte der 1990er-Jahre hat der „Fall Born“ eine erneute Glaubwürdigkeitskrise ausgelöst.351 Der Journalist Michael Born hatte mehrere Fernvgl. Schicha/Brosda 2000, S. 19f.
Das Ansehen von Journalisten in der Gesellschaft ist folglich relativ gering. Das Institut für
Demoskopie in Allensbach zeigte in einer Umfrage, dass nur 13 % der Befragten Redakteure
zu schätzenswerten Menschen zählten (Ärzte dagegen 77 %, Ingenieure 60 %, Geistliche
47 %, Bergarbeiter 42 %) (vgl. Meyn 2001, S. 246).
350 Weischenberg 1988, S. 12.
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2. Spannungsfelder der Medienethik
sehsender, darunter auch STERN-TV, mit Filmbeiträgen beliefert, die
zum Teil inszeniert oder erfunden waren. Beiträge wie der über Verschwörungstreffen des deutschen Klu-Klux-Klans wurden von den
Sendern jedoch als authentische Berichte über wahre Ereignisse gesendet. Problematisch an diesem Fall war nicht nur der Verstoß gegen die
Wahrheits- und Sorgfaltspflicht des Journalisten selbst, sondern auch die
Tatsache, dass es „Mittäter“ bei den Sendern gegeben hatte.352 Dieser
Fall zeigt exemplarisch, dass der einzelne Journalist bei ethischen Fragen
nicht als Ansatzpunkt ausreicht, da er in weitere Systeme eingebunden
ist. Er zeigt auch, dass aufgrund technischer Machbarkeit neue Problemfelder entstehen können. So können Bildmanipulationen durch digitale
Bildbearbeitung Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verwischen.
Viele weitere Fälle, ob im Zusammenhang mit Kriegsberichterstattung, Unglücken oder alltäglichen Fällen moralischen Fehlverhaltens,
konstituieren medienethische Spannungsfelder. Ideale Aufgaben und
Ansprüche an die Massenmedien und Journalisten stoßen auf praktische
Gegebenheiten, Strukturen, Sach- und Organisationszwänge und erzeugen ein Spannungsfeld von Realität und Anspruch. Funktionsnorm und
-wirklichkeit können für den Journalisten auseinander klaffen. Haller
nennt dieses funktionsethische Dilemma der Journalisten das
„Matroschka-Syndrom“:353 Wie bei einer russischen Schachtelpuppe
überlagern sich verschiedene Prägungen und können funktionsethisch
negativ verlaufen:
„[Der Journalist] sieht sich unter die Kaskade einander übersprudelnder Normen
und Regeln gestellt: [...] Seine Professionalitätskriterien werden überlagert von
Organisationsnormen des Redaktionsbetriebs, diese unterstehen oft fremden
Kriterien der Redaktionsleitung, die ihrerseits überlagert werden von denen des
Verlegers oder Intendanten, die wiederum verschiedenen marktbezogenen Prämissen und Zwecken unterworfen sind“.354
Wilke spricht in diesem Zusammenhang von Wertkollisionen, die sich
häufig nicht auflösen lassen oder über die nicht immer Konsens besteht.
Hinter diesen steht oft ein Spannungsfeld von Werten, die gegeneinander abgewogen werden müssen, so z. B.355
•
•
•
technische Machbarkeit vs. Sozialverträglichkeit;
Freiheit vs. gesellschaftliche Kontrolle;
Vielfalt vs. Desorientierung;
vgl. Haller 1996, S. 37ff.
Michael Born hat mittlerweile ein Buch zu seinem Fall veröffentlicht (vgl. Born 1997).
353 Haller 1992, S. 208.
354 Haller 1992, S. 207f.
355 vgl. Wilke 1996b.
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2.1 Anspruch und Wirklichkeit
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•
•
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Wettbewerb vs. Monopolisierung;
Qualität vs. Rentabilität;
Elitekultur vs. Populärkultur;
Autonomie vs. Fremdbestimmung.
Einige Spannungsfelder sind systemimmanent und äußern sich in Konflikten und
Krisen. Ein für die Medien typisches Spannungsfeld besteht zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz. Dieses Spannungsfeld
soll im Folgenden näher erläutert und anhand eines Beispielfalls untersucht werden.
2.1.1
Das Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem allgemeinen Interesse der Öffentlichkeit
In einer freiheitlichen Demokratie kommt es den Medien zu, Öffentlichkeit herzustellen. Gleichzeitig soll die Öffentlichkeit die Medien
kontrollieren. Als das, was der Allgemeinheit zugänglich ist, um an Wissens- und Entscheidungsprozessen teilzunehmen, wird die Öffentlichkeit über die Medien ständig transformiert. Mit den neuen Möglichkeiten von Internet und Multimedia wird zudem ein neues Bild von der
Wirklichkeit geprägt,356 in dem Raum, Zeit und Identität neu definiert
werden. Unter den veränderten Bedingungen ist Öffentlichkeit nicht
mehr öffentlicher Raum i. S. des griechischen Marktplatzes, nicht einseitig veröffentlichte Meinung über Medienkonzerne, sondern „radikale
raum-zeitliche Gegenwärtigkeit, [in der] alles offen und öffentlich
[ist]“.357
Öffentlichkeit kann sich in diesem Zusammenhang entgrenzen. Anstatt Forum für Austausch und Diskurs zu sein, entstehen neue Formen
von Öffentlichkeit. Ein Beispiel dafür ist die Serie „Big Brother“358, der
ein neues Konzept der Darstellung des Privaten, Intimen und Alltäglichen unterliegt.359 In diesem Genre werden nicht nur die Grenzen der
Privatheit bewusst überschritten; medienethisch problematisch ist überdies die eingeschränkte Freiheit der Kandidaten sowie die Präsentation
von sozial geächtetem Verhalten zu Unterhaltungszwecken.
vgl. Baacke 1998, S.76.
Baacke 1998, S. 77.
358 Für 100 Tage leben Menschen, die sich vorher nie gesehen haben, ohne Kontakt zur Außenwelt in einem Wohncontainer zusammen. Die Kandidaten nominieren alle zwei Wochen Mitbewohner, die das Haus verlassen sollen. Unter den Nominierten wählen die Zuschauer den Gewinner aus. Die erste Staffel lief vom 1.3. bis 9.6.2000 in Deutschland nach
holländischem Vorbild auf RTLII. Mittlerweile ist unter veränderten Bedingungen die
sechste Staffel angelaufen (vgl. Website: http://www.bigbrother.de (25.08.2005)).
359 vgl. Schicha et al. 2002.
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2. Spannungsfelder der Medienethik
Diese Art des Realitätsfernsehens spiegelt einen gesellschaftlichen
Wandel wider, bei dem das Private immer mehr aus der intimen Lebenswelt heraustritt und sich im öffentlichen Raum präsentiert.360 So
kann einerseits die These vertreten werden, dass die Entgrenzung von
Öffentlichem und Privatem einen Gewinn darstellt, andererseits gilt sie
als durch Tendenzen der manipulativen Inszenierung des Privaten in
den Massenmedien bedroht.361
Die Öffentlichkeit hat für das Subjekt also zwei Gesichter:362 Das
Grundrecht freier Kommunikation gewährleistet die Bedingungen sozialer Existenz für den Einzelnen ebenso wie einen sozialen Raum, in dem
sich dieser Ehre und Anerkennung erwerben und sich mit den Mitmenschen den öffentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft zuwenden
kann. Persönlichkeitsrechte, welche die Selbstentfaltung und Autonomie
des Menschen in der Gemeinschaft stützen, setzen die Existenz einer
freien öffentlichen Meinung voraus. Aber auch die der öffentlichen
Existenz abgewandte und durch einen Anspruch auf Achtung des Privatlebens gesicherte Seite des Menschen erfordert die Möglichkeit für
das Individuum, aus der Öffentlichkeit heraustreten zu können. Denn
die Öffentlichkeit bildet auch eine bedrohliche, überlegene und anonyme Urteilsinstanz, dem der Einzelne mit seinem Bedürfnis nach Anerkennung ausgesetzt ist. Diese Seite ist Gegenstand der gegen das Recht
auf ungehinderte Meinungsäußerung und Information gerichteten Persönlichkeitsrechte.
Spätestens seit der Fotografie Otto von Bismarcks auf dem Totenbett,
die zwei unbefugt in das Zimmer eingedrungene Fotografen gemacht
hatten, wurde in Deutschland das Problem diskutiert, ob und in welchem Umfang Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ein Recht auf
Achtung ihrer Persönlichkeit haben.363 Die Beurteilung des Problems
hängt aus heutiger Sicht vom Stellenwert des Informationsbedürfnisses
der Öffentlichkeit und dem Schutz der Privatsphäre ab. In Deutschland
wurde das Recht auf Achtung der Persönlichkeitssphäre364 erstmals 1954 vom
vgl. Imhof/Schulz 1998; Bohrmann 2000, S. 6.
Nach Keppler (1998) überwiegt anstatt einer emanzipatorischen, partizipatorischen, demokratischen in Gestalt von Talkshows und Lebenshilfesendungen eine illusionäre, manipulative Öffentlichkeit. Was aussähe wie eine Enttabuisierung des privaten Lebens sei ein unter
der Regie der Fernsehanstalten entfachtes Ritual der Selbstdarstellung.
362 vgl. Berka 1982, S. 199f.
363 vgl. von Gerlach 2000, S. 11.
364 Das Persönlichkeitsrechts existiert in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg, nachdem das
„right to privacy“ zuvor in den USA formuliert worden war. 1905 wurde es dort erstmals
gerichtlich in einer Entscheidung des Supreme Court von Georgia anerkannt (vgl. Goodwin 1983, S. 211f.). Der Persönlichkeitsschutz fand 1948 Eingang in die Allgemeine Erklä360
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2.1 Anspruch und Wirklichkeit
Bundesgerichtshof unter Berufung auf Art. 1 und Art. 2 GG anerkannt.365 Das Bundesverfassungsgericht entwickelte 1957 den später
verwendeten Begriff des „unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung“366, der jedem Bürger zusteht. Ein wesentlicher Aspekt der Privatsphäre ist die Geheim- oder Intimsphäre (z. B. Tagebuch, Briefe). Die Privatsphäre kann auch durch bloßes Eindringen in den engeren persönlichen Lebensbereich betroffen sein, in dem jemand für sich sein will. Als
weiterer Aspekt der Privatsphäre gilt daher das Bedürfnis, von anderen
in Ruhe gelassen zu werden.367
Das heute gewohnheitsrechtlich anerkannte Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die Intimsphäre, die Geheimsphäre und die Privatsphäre von Personen. Der unmittelbare Freiheitsbereich des Individuums soll damit vor staatlichen und privaten Eingriffen geschützt werden. Als besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts368 gilt das Recht am eigenen Bild, das seine einfachgesetzliche Ausgestaltung im Kunsturhebergesetz (§§ 22-24 KUG) gefunden hat. Danach
ist die Verbreitung von Bildern nur unter Einwilligung des Abgebildeten
erlaubt. Ausnahmen (gemäß § 23 KUG) sind Bildnisse aus der Zeitgeschichte, Personen als reines Beiwerk, Versammlungen sowie Bilder, die
der Kunst dienen.
In der deutschen Rechtspraxis hat sich eine Unterscheidung von
absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte entwickelt.369 Absolute Personen der Zeitgeschichte sind Personen, die kraft ihrer politischen oder gesellschaftlichen Position oder aufgrund außergewöhnlicher persönlicher
Leistung dauerhaft und allgemein im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen (z. B. Politiker, Wissenschaftler, Schauspieler). Sie dürfen, soweit sie
in der Öffentlichkeit wirken und keine besonderen Interessen entgegenstehen, uneingeschränkt fotografiert und abgebildet werden. Dies gilt,
da an ihrem beruflichen und gesellschaftlichen Verhalten ein legitimes
Informationsinteresse der Öffentlichkeit besteht, das allerdings bei der
Privat- und Intimsphäre endet. Juristen unterscheiden bei absoluten
Personen der Zeitgeschichte Abstufungen von der öffentlichen Sphäre
rung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Art. 12), die Vorbild für Art. 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention von 1950 war, über den er in nationale Rechtsordnungen gelangte.
365 vgl. „Leserbrief-Entscheidung“ (BGHZ 13, 334).
366 BverfGE 6, 32, 41; 27, 1 6; 32, 373, 379 (zitiert nach von Gerlach 2000, S. 16).
367 Ähnlich dem „right to be let alone“ existiert in Deutschland der Begriff vom Recht, in Ruhe
gelassen zu werden, dem Recht auf Einsamkeit oder des „Für-sich-sein-Wollens“.
368 Weitere Persönlichkeitsrechte sind das Recht am gesprochenen und am geschriebenen Wort, das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Recht der persönlichen Ehre sowie das postmortale
Persönlichkeitsrecht (vgl. Fechner 2002, S. 62ff).
369 zur Unterscheidung von absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte vgl. Söhring
1990, S. 299ff.
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2. Spannungsfelder der Medienethik
(öffentliche Rede), die den geringsten Schutz genießt, über die soziale
Sphäre (Beruf, Freizeit) und Privatsphäre (Wohnung, Familienleben) bis
hin zur Intimsphäre (sexuelle Gewohnheiten) mit dem höchsten Schutz.
Uneingeschränkt können in der Presse allgemein bekannte und öffentliche Tatsachen behandelt werden. Auch private Vorgänge, die sich
vor den Augen der Öffentlichkeit abspielen, wie Hochzeiten, dürfen
medial behandelt werden. Grundsätzlich veröffentlichbar sind auch
Bildnisse von Personen der Zeitgeschichte, die sie bei der Teil-nahme
am öffentlichen Leben zeigen.370 Andererseits muss auch in der Öffentlichkeit ein Rest von Privatsphäre existieren (z. B. beim Verlassen des
Krankenhauses). Deutlich wird das Fehlen einer eindeutigen Grenze
zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre.371
Relative Personen der Zeitgeschichte hingegen sind Personen, die aufgrund
einer Verknüpfung mit Ereignissen des Zeitgeschehens im Interesse der
Öffentlichkeit stehen. Das Interesse an ihnen gilt nur im sachlichen und
räumlichen Zusammenhang mit dem Ereignis des Zeitgeschehens. Das
Veröffentlichungsrecht ist zeitlich begrenzt und endet in der Regel,
wenn das Interesse der Öffentlichkeit an dem Gesehen erlischt. Grundsätzlich gilt, dass ihre Privatangelegenheiten nicht ohne Einwilligung
zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht werden können. Eine
Ausnahme existiert, wenn jemand aus Publizitätsgründen die Öffentlichkeit sucht und sein Privatleben selbst preisgibt.
Grundsätzlich wird also die Freiheit der Berichterstattung durch das
Allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Weise eingeschränkt, dass zwischen
ihm und dem Grundrecht der Pressefreiheit abzuwägen ist, wenn sich
Konflikte zwischen beiden ergeben, die nicht durch speziellere Normen
geregelt werden.372 Eine Abwägung beider Rechte erfolgt unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls: dem Öffentlichkeits-wert der
Meldung, der Intensität und der negativen Auswirkungen des Eingriffs
in die Belange des Betroffenen, der amtlichen oder gesellschaftlichen
Gemäß der „Paparazzo-Entscheidung der Caroline von Monaco“ darf sich eine Person des
öffentlichen Lebens, die sich auf die Straße begibt oder an öffentlichen Veranstaltungen
teilnimmt, nicht nur deswegen gegen die Veröffentlichung von Bildnissen wehren, weil es
sich um eine private Betätigung handelt. Im Fall der Prinzessin von Monaco entschied das
Bundesverfassungsgericht 1999, dass Bilder, die sie im Alltagsleben zeigen, veröffentlicht
werden dürfen. Allerdings können sich auch Prominente auf das Persönlichkeitsrecht berufen, das sie auch außerhalb des häuslichen Bereichs gegen ungewollte Aufnahmen schützt
(vgl. Fechner 2002, S. 67). Diese Rechtsprechung wurde allerdings durch das jüngste
„Caroline-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte modifiziert.
371 Nach Belsey (1992, S. 84) ist Privatheit daher „not a simple concept, [...] its realization is by no
means simple either. It is a good, yet one whose domain has boundaries that are neither
clear nor fixed”.
372 Dies wird auch in Ziffer 8 im Pressekodex formuliert (vgl. Deutscher Presserat 2001).
370
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2.1 Anspruch und Wirklichkeit
Stellung des Betroffenen sowie der Art des Verhaltens, das mit dem Bild
illustriert werden soll.373 Ein Interesse gilt als berechtigt,
„wenn es auf Ziele gerichtet ist, die nach den Wertvorstellungen der Bevölkerung
billigenswert erscheinen und wenn zu seiner Durchsetzung angemessene Mittel
angewendet werden. [...]. Zu prüfen ist, ob ein vertretbares Verhältnis zwischen
dem mit der Veröffentlichung erstrebten Zweck und der Beeinträchtigung der
Ehre des einzelnen besteht“.374
Je weiter sich die Berichterstattung vom öffentlichen Leben eines Prominenten entfernt, desto bessere Gründe müssen angeführt werden, um
das öffentliche Interesse an der Berichterstattung zu belegen. So hat der
Gesetzgeber festgelegt, dass die Veröffentlichung des Bildes eines Menschen, die als solche eine Verletzung der Persönlichkeit darstellt, ohne
Einwilligung nicht erlaubt ist.375 Dadurch hat der Gesetzgeber dem Persönlichkeitsrecht des Einzelnen Vorrang vor dem Recht auf freie Berichterstattung gegeben. Bei Vorgängen aus dem Bereich der Zeitgeschichte dagegen muss eine Abwägung nur erfolgen, wenn der Veröffentlichung ein berechtigtes Interesse des Verletzten entgegensteht.376
Bei Verstößen gegen das Persönlichkeitsrecht wurde in der Bundesrepublik immer wieder eine stärkere Medien-Gesetzgebung gefordert.
So wurde der Persönlichkeitsschutz im jüngsten „Caroline-Urteil“ des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verstärkt. Danach dürfen heimlich aufgenommene Fotos aus dem Privatleben von Prominenten nur
veröffentlicht werden, wenn sie ein öffentliches Interesse konstituieren.
Im Spannungsfeld von Persönlichkeitsschutz und allgemeinem Interesse
fiel in der deutschen Rechtsprechung die Interpretation des öffentlichen
Interesses bisher in die Auslegung der Medien.377 Eine zu starke rechtliche Reglementierung des Persönlichkeitsschutzes läuft allerdings Gefahr, die Kontroll- und Kritikfunktion der Medien zu beschneiden.
Tendenzen zu einer verstärkten Fremdkontrolle aufgrund des Fehlver-
vgl. Söhring 1990, S. 179.
Bamberger 1986, S. 139.
375 Belsey (1992, S. 89.) schlägt daher vor, dass die Medienethik das medizinethische Konzept
des „consent on being informed“ als Kriterium der Einwilligung übernehmen sollte.
376 vgl. § 23 Abs. 2 KUG. Auch bei Personen der Zeitgeschichte muss das Individualrecht
nicht immer dann dem Recht der Presse weichen, wenn diese ein öffentliches Interesse reklamiert. Einzig die Grenze zum öffentlichen Interesse ist bei Personen des öffentlichen
Lebens schneller erreicht (vgl. von Gerlach 2000, S. 29).
377 Betroffen davon ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Prominente nicht nur im
häuslichen Bereich vor ungebetenen Fotografen schützt, sondern auch wenn diese einen
erkennbar abgeschiedenen Raum aufsuchen. Die Entscheidungsgewalt darüber lag bisher
bei den Medien. Gemäß dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 24.
Juni 2004 darf über Prominente in Bild und Text nur noch mit deren Einwilligung oder in
ihrer offiziellen Funktion berichtet werden.
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2. Spannungsfelder der Medienethik
haltens der Presse können der Idee der Selbstbindung damit kontraproduktiv entgegenstehen.
Der starke Schutz der Privatsphäre durch die Allgemeinen Gesetze
basiert auf dem Stellenwert der Privatheit in der modernen Gesellschaft.
Privatheit gilt, nach Bok, als a „person’s control over access to herself and
to her personal information“.378 Ähnlich definiert Rössler Privatheit als
„die Gelegenheit, selbst kontrollieren zu können, wie viel von dem eigenen Leben, den individuellen Wünschen, Befindlichkeiten und Handlungen dem Einblick und der Einwirkung anderer zugänglich gemacht wird“.379
Hinter diesen Definitionen steht die Annahme, dass jedes Individuum
ein starkes Interesse an einer Privatsphäre hat. Sie gilt als Voraussetzung
zur Selbstbestimmung und damit der Freiheit des Individuums in der
Gesellschaft. Dem kann die mediale Inszenierung entgegenstehen, da sie
es vielmehr darauf anlegt, „die Person gerade in den sonst sorgsam abgeschirmten Sphären ihrer Selbstbestimmung offenbar werden zu lassen“; aus Sicht des Mediums ist dies dann gelungen, „wenn die betroffene Person – und sei es nur für einen Moment – die Kontrolle über
ihre Selbstdarstellung verliert“.380
In der Konsequenz muss jeder Bruch dieser Sphäre durch gute
Gründe gerechtfertigt werden. Die Veröffentlichung von Privatem sollte
also nicht nur einem wichtigen Zweck dienen, sie sollte das Einzige sein,
das diesem Zweck dient. Im Medienbereich wird meist das Argument
des öffentlichen Interesses entgegengestellt. Privatheit liegt damit in
einem Zwischenbereich als
„Grenze zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen dem persönlichen und
dem gesellschaftlichen Bereich. Dem Menschen gehört [...] ein Bereich, in dem er
ein Individuum, nicht aber Mitglied der Gesellschaft oder Gegenstand gesellschaftlicher Aktivitäten ist“.381
Im Rahmen einer sich stetig wandelnden Mediengesellschaft gilt es,
nach Weiß, jedoch zu berücksichtigen, dass die Unterscheidung zwischen „privat“ und „öffentlich“ selbst das Produkt einer sich wandelnden sozialen Praxis ist.382 Dies verdeutlicht, „dass die Unterscheidung
zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen nicht einfach aufgegeben,
sondern verändert wird“383. Beide Begriffe sind durch ihren Bezug aufeinander bestimmt.
zitiert nach Archard (1998, S. 84) in Anlehnung an Bok (1982).
Rössler 2001, S. 23f.
380 Weiß 2002b, S. 57.
381 Wunden 1994, S. 168.
382 vgl. Weiß 2002a, S. 36.
383 Weiß 2002a, S. 28.
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2.1 Anspruch und Wirklichkeit
Dass Personen des öffentlichen Lebens die Öffentlichkeit aus Publizitätsgründen
suchen, ist, vor allem bei Prominenz, sehr häufig. Um das Spannungsfeld von Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz zu verdeutlichen
wird nun der „Fall Lady Diana“ vorgestellt. Er zeigt die für die Regenbogenpresse
typischen Verstrickungen des Persönlichkeitsschutz bei Prominenz und dem allgemeinen Interesse der Öffentlichkeit.384
2.1.2
Exemplarischer Fall: der „Fall Lady Diana“
Die symbiotische Beziehung von Prominenz, Regenbogenpresse
und Publikum
Der „Fall Lady Diana“ darf als Paradebeispiel für eine symbiotische
Dreiecksbeziehung zwischen Prominenz, Regenbogenpresse und Publikum gelten.385 Seit ihrer Verbindung zum englischen Königshaus stand
Lady Diana im Blickfeld der Öffentlichkeit und der Medien, v. a. der
„Yellow Press“. Durch die Hochzeit mit Prince Charles am 29. Juli 1981
endete Lady Dianas Leben als reine Privatperson. Als öffentliche Person
der Zeitgeschichte avancierte sie zur Medienperson, deren Leben immer
auch repräsentativ, bedeutsam und symbolisch war.386 Die „DianaIndustrie Regenbogenpresse“387 prägte ihr Image und machte die „Prinzessin des Boulevards“388 zur meistfotografiertesten Frau der Welt.
Ihr Verhältnis zu den Medien war ambivalent. Aufgrund der permanenten Präsenz der Medien war ihr Privatleben einerseits nie ungestört;
andererseits wusste sie die Macht der Medien so für sich zu nutzen, dass
sie ihre Populariät im tatsächlichen Ausmaß erst erhalten konnte. Der
Fall wurde dadurch noch interessanter für das Spannungsverhältnis von
Medien und Prominenz, dass ihr Unfalltod in Paris vermeintlich im
Zusammenhang mit den so genannten „Paparazzi“389 stand. Dies hatte
nach ihrem Tod eine umfassende Diskussion über die Rolle und die
Grenzen der Medien ausgelöst. Gerade bei der Inszenierung von ProViele andere Fälle könnten hier erwähnt werden, doch scheint dieser Fall das Spannungsverhältnis zwischen beiden Gütern besonders deutlich herauszustellen. Der Fall hatte zudem eine sehr hohe Publizität erreicht und auf verschiedenen Ebenen medienethische Diskurse in Europa und den USA ausgelöst.
385 Kaiser 1997, S. 16; vgl. Stapf 1999.
386 vgl. Mattusek 1997.
387 Hacke 1997, S. 3.
388 Rössler 1999, S. 99.
389 Abgeleitet wird das Wort von den Begriffen „papatacci“ (Steckmücke) und „razzi“ (Blitz)
und meint die auf der Lauer liegenden und oft mit umstrittenen Methoden arbeitenden
Sensationsfotografen.
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2. Spannungsfelder der Medienethik
minenz zeigt sich also der Konflikt zwischen Informationsansprüchen
der Öffentlichkeit einerseits und Zensurbestrebungen im Zuge des Persönlichkeitsschutzes andererseits.
Die Aufgabe der Medien, zu informieren und Öffentlichkeit herzustellen, impliziert auch die Berichterstattung über Personen der Öffentlichkeit. Vor allem bei der Regenbogenpresse schließt dies auch ihre
private Seite ein. Prominenz liegt in der Schnittstelle von Privatheit und
Öffentlichkeit390 und lässt sich auch als das „öffentliche Private“391
definieren.
Auf dem kommerziellen Medienmarkt steht die Akzeptanz beim
Publikum im Vordergrund. Reguliert wird der Medienmarkt durch Angebot und Nachfrage. Daher sind die Bedürfnisse der Rezipienten (als
Konsumenten) zentral. Im Fall der Regenbogenpresse werden die Bedürfnisse aber gleichzeitig befriedigt und geschaffen. Paparazzi, Pressefotografen, die (oft mit unlauteren Methoden) im Auftrag großer Bildagenturen arbeiten, liefern der Yellow Press exklusive Fotos von Prominenz. Diese sollen durch möglichst authentische Bilder Emotionen hervorrufen. Der Klatsch der Boulevardmedien trägt zur Bedürfnisbefriedigung der Rezipienten bei.392 Die Theatralität emotionalträchtiger Medien dient als „Ventilfunktion für Zukurzgekommene“ und kann zur
„Stimmungspflege und Psychohygiene“ benutzt werden.393 In dieser
Schlüsselloch-Perspektive ist „der Paparazzo [...] das Auge des Großen
Bruder – Big Brother, das sind wir“394.
Prominenz scheint dieses Phänomen zu bedienen und gleichzeitig
darunter zu leiden. Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, haben
rechtlich nur einen Anspruch auf Schutz ihrer Intimsphäre, nicht aber
ihrer öffentlichen, sozialen und privaten Sphäre. Diese muss geteilt werden. Oftmals treibt ihr Wunsch nach Bekanntheit Personen der Öffentlichkeit dazu an, sie zu teilen. Denn Prominenz braucht Publizität, um
Prominenz zu bleiben. Für viele Prominente ist Nicht-FotografiertWerden gleichbedeutend mit Nicht-Existenz.395
Auch Lady Diana verdankte ihr Image den Medien, unter deren permanenter Präsenz sie andererseits litt. Während sie sich am Anfang
Zu einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit bei
Prominenz vgl. Schneider 2004.
391 Kamps 1999, S. 87.
392 Gemäß dem „Uses-and-gratification-Ansatz“ der Medienwirkungs- und Nutzungsforschung selektiert und nutzt der Rezipient das Angebot an Information und Unterhaltung je
nach Bedürfnislage. Motive und Erwartungen (wie Unterhaltung, Wirklichkeitsflucht, personale Identität) dienen ihm als selektive Filter (vgl. Rosengren 1974).
393 Willems 1998.
394 Virilio 1997, S. 220.
395 vgl. Peters/Jentz 1998.
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2.1 Anspruch und Wirklichkeit
noch gegen die Königsjäger wehrte, wusste sie mit zunehmender Erfahrung die Reporter und Fotografen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.396 In diesem gegenseitigen Pakt war sie „Jägerin und Gejagte“.397 Denn für die öffentliche Rolle ist auch eine private Seite von Bedeutung:398
„Die öffentliche Inszenierung des Privaten, die Zurschaustellung des Intimen,
das Eindringen in geschützte Räume mit der Telewaffe – Ursachen und Wirkungen dieser Gier nach Publizität und grenzenverletzender Materialbeschaffung lassen sich oft nicht auseinanderhalten. Jäger und Gejagte: Mal sind sie Partner, mal
Feinde“.399
Durch ihre permanente Beobachtung tragen die Medien nicht nur zur
Konstruktion der öffentlichen Person als Prominenz bei, sondern
gleichzeitig auch zur Dekonstruktion der Privatperson. Im Extremfall
wird die prominente Person damit zur absolut öffentlichen Person reduziert.400 Lady Diana symbolisierte das öffentliche Private. Denn ihre Popularität beruhte zu einem großen Teil auf dem Wissen des Publikums um
ihre privaten Probleme. Damit integriert die moderne Mediengesellschaft „Problemzonen“ der privaten Persönlichkeitsstruktur absichtlich
in die Inszenierung der prominenten Person.401 In dieser „mixed zone
von öffentlicher Privatheit und privater Öffentlichkeit“402 verschwimmen leicht die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre.
Selbst im Tod haben die Medien das Phänomen der Lady Diana gestaltet: Am 31. August 1997 war Lady Diana bei einem Autounfall in
Paris ums Leben gekommen.403 Noch am Unfallort sollen die Fotografen versucht haben, Bilder zu machen. Sieben Paparazzi vor Ort wurden
festgenommen und wegen fahrlässiger Körperverletzung und Tötung
sowie unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Einige Zeitungen meldeten,
dass sie sogar die Rettungsarbeiten behindert hätten. Noch in der Un-
So sprach sie 1995 in einem TV-Interview der BBC über ihre zerstörte Ehe und Hoffnungen, um sich die eingebüßte Beliebtheit beim Volk zurückzuerobern.
397 Matussek 1997.
398 vgl. Stephan 1997.
399 Schwartz 1997.
400 vgl. Meckel et al. 1999, S. 34.
401 vgl. Meckel et al. 1999, S. 35.
402 Rössler 1999, S. 101.
403 Kurz nach Verlassen des Hotels waren sie von Paparazzi verfolgt worden. Der Fahrer des
Wagens, der an diesem Abend rund 1,75 Promille Alkohol im Blut hatte, ist nach Aussage
der Zeitungen, auf der Flucht vor den Fotografen mit einer Geschwindigkeit von über 196
km/h in den Tunnel an der Pont de l’Alma eingefahren, wo er die Gewalt über das Fahrzeug verlor. Im Auto befanden sich ihr Freund Dodi Al-Fayed, ihr Leibwächter Trevor ReesJones sowie der Fahrer und Sicherheitschef des Hotels „Ritz“, Henri Paul. Bis auf den Leibwächter kamen alle ums Leben.
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2. Spannungsfelder der Medienethik
fallnacht kamen vor Ort geschossene Fotos auf dem Markt, deren Preis
zwischen 450.000 und 2,9 Mio. Mark lag.404
Der Unfalltod wurde nach heutigem Wissen v. a. durch das Versagen
des betrunkenen Fahrers verursacht. Dennoch fand er während einer
Verfolgungsjagd von Paparazzi statt und löste eine weltweite Diskussion
über den Prominenten-Journalismus, Recherche-Methoden und Moral
in den Medien aus. Markant an den Reaktionen auf den Unfalltod Lady
Dianas war die Rolle der Medien, die unentwegt mit dem Fall beschäftigt waren.405 Der „Di-Day“406 war die Spitzennachricht des Jahres. Am
Anfang, als der Tod noch im Zusammenhang mit den Paparazzi zu
stehen schien, zeigten die Medien große Betroffenheit und Sühne. Die
Schuldfrage wurde diskutiert.407 Die Schuldigen schienen in den Medien
gefunden: „Tränen, Trauer, Wut: Diana in den Tod gehetzt“
(EXPRESS 01.09.97); „Paparazzi trieben Di & Dodi in den Tod“
(HAMBURGER MORGENPOST 01.09.97). Die Hamburger Morgenpost
redete von den „Tätern mit dem Teleobjektiv“ (01.09.97). Eine Diskussion um die Grenzen der Materialbeschaffung und des Respekts der
Privatsphäre entfachte. Kritiker der Pressefreiheit betonten die Notwendigkeit schärferer Pressegesetze sowie mehr Ethikbedarf.
Neben ernsthaften Veränderungserwägungen hatte auch „die Stunde
der Heuchler und Scheinheiligen“408 geschlagen. BILD beklagte „eine
neue Rolle rückwärts in die Barbarei“ (06.09.97). FOCUS konstatierte,
wie sich die elektronische Einheitsfront privater und öffentlichrechtlicher Moralisten formierte, tatsächlich aber fast alle Sender eilig
zusammengestrickte Sondersendungen, Paparazzi-Filme und -Fotos
zeigten und Sensationsreporter wegen ihrer „Skrupellosigkeit“ und
„Brutalität“ beschimpften.409 Schon auf bloßen Verdacht entbrannte
zwischen Fernsehen und Zeitung eine Auseinandersetzung über Sensationspresse und Selbstverständnis der Journalisten. FOCUS berichtet
vom ZDF-Nachrichtensprecher Bresser der „in der Pose des Schnellrichters“ trotz ungeklärter Umstände, behauptet hatte, sie sei zu Tode
fotografiert worden. Der SPIEGEL beschreibt „das sinistre Stochern
im Kitsch, das Schwelgen im „Opfertod“, [...] Trauerraserei und Leizitiert nach Kaiser 1997, S. 14.
Der Unfall hatte sich gegen 0 Uhr 20 ereignet. Die erste Meldung erfolgte um 1 Uhr 34.
Von diesem Zeitpunkt an erließen die drei großen Weltagenturen in den folgenden fünfeinhalb Stunden 139 Meldungen. Bis zum Tag des Begräbnisses erfolgten 3240 Meldungen
der Agenturen Associated Press, Reuters, Agence France Press.
406 Kamps 1999, S. 53.
407 Zur Schuldfrage im Fall Lady Diana vgl. Thiele 1999.
408 Römer 1997.
409 vgl. Römer 1997.
404
405
102
2.1 Anspruch und Wirklichkeit
chenschmauserei und bigotte TV-Talks, daß die Quoten nur so troffen“410.
Als sich herausstellte, dass der Fahrer des Unfallwagens unter starkem Alkoholeinfluss gestanden hatte, war es „kein Medien- sondern ein
Promille-Skandal“.411 Diskutiert wurde die Rolle des Publikums, das
man mit Skandalen versorge, die es selber wünsche. Ein kollektives
Schuldgefühl und Betroffenheit entstand. Oft zitiert wurde der Trauerbrief eines unbekannten Zeitungslesers im Blumenmeer an der DianaGedenkstätte: „Ich habe sie getötet [...]. Denn ich habe die Zeitungen
gekauft. Ich habe die Geschichten gelesen und die Bilder angeschaut.[...]
Wie kann ich nun damit leben“? Die Schuldfrage wurde weiter relativiert. Alle Teilnehmer einer gegenseitigen Instrumentalisierung trugen
nun Verantwortung.
Die Öffentlichkeit war betroffen. Allein in London trauerten am Tag
der Beerdigung Lady Dianas zwei Millionen Menschen. Die Zeitungen
fanden immensen Absatz. Selbst der Tod der Lady Diana ließ sich verkaufen: „Es war unmöglich, abseits ihres Todes zu stehen“ (ZEIT
12.9.). Die Medien schienen wieder in ihrem Alltag angelangt. Als
„meistgejagteste Person der modernen Zeit“,412 so ihr Bruder Charles
Spencer, sei nicht einmal ihr Tod privat gewesen. Tatsächlich machten die
Medien damit Absatz und Quote.413
Faktoren und Konsequenzen des Unfallunglücks
Die Betrachtung des exemplarischen Falles macht die starke Rolle der
Medien bei der Inszenierung von Personen der Öffentlichkeit – hier
auch des Todes – deutlich. Die durch den Unfall ausgelösten Auseinandersetzungen über die potentiell bedrohliche Seite der Medien fanden
zum größten Teil sehr oberflächlich statt. Dies verstärkt den Eindruck,
dass es sich um ein selbstreferentielles System Medien handelt, in dem
selbst Krisen nur zur Bestärkung des Status quo führen. So steht am
Ende dieses „Medienskandals“ eine ungebrochene symbiotische Dreiecksbeziehung zwischen Presse, Publikum und Prominenz.414 Die folgenden Überlegungen sollen die Rolle der zuvor erörterten Faktoren auf
Mattusek 1997.
So Peter Boenisch im Deutschland-Radio (zitiert nach: journalist 10/97).
412 zitiert nach: journalist 10/97.
413 So hatten RTL: 4,5 Mio.; ZDF: 4,4 Mio.; ARD: 4,9 Mio.; SAT 1: 2,2 Mio. Zuschauer. Weltweit schauten ungefähr 2,5 Milliarden Zuschauer in 200 Ländern bei der Fernsehübertragung zu. Nach Angaben des FOCUS kauften die Briten so viele Zeitungen der Yellow
Press wie nie zuvor. Die Auflage der SUN stieg am Tag nach dem Unfall um 50 %, beim
DAILY EXPRESS um 20 %.
414 vgl. journalist 10/97.
410
411
103
2. Spannungsfelder der Medienethik
der Praxisebene im Rahmen des Spannungsfeldes von Pressefreiheit und
Persönlichkeitsschutz herausstellen.
Die Rolle rechtlicher Rahmenbedingungen
Die medienrechtlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik sind
durch die Priorität der Pressefreiheit vor anderen Rechten geprägt. Die
Pressefreiheit kann nur durch die Allgemeinen Gesetze eingeschränkt
werden. Die Maßgaben für das Verhalten der Presse setzen primär auf
Freiwilligkeit und Einsicht in Form einer beruflichen Selbstkontrolle,
wie beim Deutschen Presserat. Dieser hatte am 17.09.97 in einer Pressemitteilung gewarnt: „Wer gegen die Publizistischen Grundsätze verstößt,
gefährdet die Pressefreiheit“. Nach Meinung des Presserates wird dieser
Grundsatz, Persönlichkeitsrechte höher zu bewerten als kommerzielle
Interessen durch Papparazzi-Fotos nachhaltig verletzt. Er forderte daher eine stärkere Einhaltung der publizistischen Grundsätze, wie z. B.
der Richtlinie, keine unlauteren Methoden bei der Beschaffung von
Nachrichten und Bildern anzuwenden.
Bei der rechtlichen Vorgabe, im Konfliktfall zwischen den Gütern
Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz abzuwägen, kommen erschwerende Faktoren ins Spiel. Die privat-kommerziellen Medien, so auch die
Boulevardblätter, haben Gewinnmaximierung durch einen hohen Absatz zum Ziel. Dabei sind die Mittel zur Erreichung dieses Zieles oft nur
zweitrangig. Wenn durch das Zeigen von Lady Diana’s Cellulitis im
Fitnesstudio große Geldsummen (Bildwert: 630.000 Mark415) erzielt
werden und dieses Bild dann starken Absatz auf dem Markt findet, hat
diese Zeitung ihr Ziel erreicht – obwohl die verwendeten Methoden zur
Bildbeschaffung (Ignorieren der Privatsphäre durch unerlaubtes Fotografieren) gegen die Berufsmoral verstoßen. Die Pressefreiheit steckt
einen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Medien frei bewegen können. Missachtungen werden bis zu einem gewissen Grad in Kauf genommen, um das Gut der Pressefreiheit insgesamt zu schützen.
Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, was bei einer Abwägung
von Informationsinteresse der Öffentlichkeit und Persönlichkeitsschutz
eigentlich als „allgemeines Interesse“ gelten sollte: Impliziert das Verlangen des Publikums nach Klatsch schon ein allgemeines Interesse? Ist
die Privatsphäre von Prominenten jemals von wirklich öffentlichem
Interesse? Reicht es, die Paparazzi-Bilder durch den Verweis auf gegenseitigen Profit und die Nachfrage des Publikums zu rechtfertigen? Im
Leben Lady Dianas hat es sehr häufig Grenzüberschreitungen in ihre
415
vgl. Smoltczyk 1997.
104
2.1 Anspruch und Wirklichkeit
Privat- und Intimsphäre ohne ihre Einwilligung gegeben, die sich immer
gut verkauft haben. Aufgrund der freiwilligen Selbstkontrolle existieren
kaum Sanktionsmaßnahmen bei derartigen Überschreitungen. Die Betroffenen können zwar Schadensersatzansprüche stellen. Diese sind
jedoch oft so niedrig und treffen nicht die Bildlieferanten selbst, so dass
es für das jeweilige Presseunternehmen profitabel bleibt, die Bilder zu
veröffentlichen.
Es existiert also eine Situation, die einerseits moralisches Handeln der
Presse erwartet, unmoralisches Handeln aber andererseits geradezu profitabel macht. Der Handlungsspielraum für die Presse darf aufgrund der
Pressefreiheit nicht eingeengt werden. Der Beispielfall verdeutlicht, dass
– obwohl die Freiwilligkeit notwendige Basis der Selbstkontrolle ist –
diese nicht zu Willkür und zum Missbrauch der Pressefreiheit führen
sollte. Innerhalb des rechtlichen Rahmens muss es daher möglich werden, dass die Pressefreiheit erhalten bleibt, während die Selbst-kontrolle
ihre eigene Sanktionskraft stärkt. Dies kann nur im Zusammenhang mit
der Öffentlichkeit als Sanktionskraft geschehen.
Die Rolle einzelner Journalisten und des Mediensystems
Entscheidend für das „Produkt“ journalistischer Arbeit sind die ihr
zugrunde liegende Motivation und die Ausbildung des Journalisten und
die jeweiligen Rahmenbedingungen. Ein Großteil der Journalisten arbeitet freiberuflich. Im Gegensatz zum Festangestellten muss der freie
Journalist dafür sorgen, dass er langfristig Aufträge bekommt. Er steht
unter Konkurrenzdruck und stellt sein Verhalten auf die Gepflogenheiten des Systems ab. Liegt seine Motivation dann im Streben nach Erfolg
oder einem überdurchschnittlichen Verdienst begründet, wird er sein
Verhalten primär auf dieses Ziel ausrichten.
Auch finden nur wenige Journalisten über eine professionelle Ausbildung in diesen Beruf. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit ethischen Fragen beschäftigt haben, ist gering. In der Boulevardpresse werden extrem hohe Preise für Bilder bezahlt, die das Privatleben von Prominenten ablichten, da der Markt nach solchen Bilder verlangt. Die
Medien und die Journalisten befriedigen jenes Bedürfnis nach Klatsch,
das sie durch das Angebot auch immer wieder neu schaffen. Gerade auf
dem privatwirtschaftlichen Zeitungsmarkt herrscht ein starkes Konkurrenzverhältnis, in dem sich nicht viele Boulevardblätter gleichzeitig behaupten können. Die Reizschwellen, um Aufmerksamkeit zu erregen,
werden damit immer höher, so dass die „Produkte“ oft reißerischer und
skandalträchtiger werden müssen. Hinzu tritt der Aktualitäts- und Zeitdruck, Erster auf dem Markt sein zu wollen.
105
2. Spannungsfelder der Medienethik
Im Fall der Lady Diana gab es eine Reihe von Fotografen, die sich auf
sie spezialisiert hatten. So Mark Saunders, der, um sein damaliges Jahresgehalt von rund 180.000 Mark zu erreichen, für „goldene Schüsse“ auf
Lady Diana auch benachbarte Wohnungen anmietete und ihr auf Schritt
und Tritt folgte.416 Die Journalisten rechtfertigen ihre Arbeitsmethoden
mit einem Geschäft auf Gegenseitigkeit, das Nachfrage findet. Dabei
sind die Mittel zur Erreichung dieses Erfolges nicht in ihrer ethischen
Vertretbarkeit relevant. Die Grenzen von Privatheit werden geradezu
einkalkuliert verletzt.
Ein System, welches den Bruch von Grenzen und unmoralischem
Handeln geradezu fördert, stellt Herausforderungen für die Funktionstüchtigkeit ethischer Selbstkontrolle dar. Problematisch ist dies dann,
wenn es für Unternehmen weiterhin profitabel bleibt, solche Grenzen
zu verletzen. Hinzuweisen gilt es hierbei auch auf die Rolle der Kollegen
– der „peer-Kontrolle“. Unter den existierenden Arbeitsbedingungen
kann es nur zu Veränderungen kommen, wenn diese im Redaktionsmanagement vorangetrieben werden, bzw. wenn verschiedene Medienunternehmen Standards setzen, die allen Mitarbeitern gleichmäßig abverlangt werden. Ziel ist eine Umkehrung der Prämisse des Konkurrenzverhaltens: Es ginge dann nicht mehr darum, wer um jeden Preis zuerst
mit einer Geschichte auf den Markt kommt, sondern wer dabei trotzdem
professionsethische Standards berücksichtigt.
Die Rolle des Marktes und der Öffentlichkeit
Ökonomisierungs- und Internationalisierungstendenzen der Gesellschaft führen auch in den Medien dazu, dass der Markt immer stärker
zur Regelungsinstanz wird. Dadurch sind die Medienaktivitäten auf allen
Ebenen primär von marktwirtschaftlichen Überlegungen geprägt. Im
Rahmen der Konvergenztendenz trifft dies auch zunehmend auf die
öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zu und verändert die Prioritäten
und Funktionen in den Medienangeboten. Die öffentliche Aufgabe der
Medien verliert kontinuierlich an Bedeutung und damit Aufgaben wie
gesellschaftliche Integration, Kontrolle, Sozialverträglichkeit der Medien
und kulturelle Standards. Gleichzeitig treten Unterhaltung und breite
Akzeptanz von Medienangeboten in den Vordergrund. Bei kommerziell
ausgerichteten Unternehmen wird Erfolg quantitativ anhand von Einschaltquoten und Auflagenhöhe gemessen. Mangels zentraler Steuerung
verfügt der Markt über keine Sanktions- und Führungsinstanz. Im Sektor der Boulevardpresse gilt es die Qualitätsfrage besonders nachdrück416
vgl. Interview mit Marc Saunders im FOCUS vom 08.09.97.
106
2.1 Anspruch und Wirklichkeit
lich zu stellen, da es kaum verhaltensregulierende Beschränkungen
gibt.417
Wie kann also die Moral auf dem Markt in ihrer Bedeutsamkeit nahe gelegt und
die Medienunternehmen (als Unternehmen in den Medien) davon überzeugt werden,
dass ethisch reflektierte Presse wichtig ist? Der Status quo auf dem Medienmarkt wird durch die Marktprinzipien Angebot und Nachfrage gerechtfertigt. Wie Marktanalysen zeigen, hat das Publikum nicht nur Bedürfnisse nach sachlicher Information und Aufklärung, sondern auch nach
Unterhaltung und Klatsch. Die Medien sollen also einerseits eine kritische Öffentlichkeit herstellen, stoßen aber andererseits auf das Phänomen, dass sich Boulevard-Themen besonders gut „verkaufen“. Das
Publikum ist sich in den seltensten Fällen seiner Macht bewusst, auf
dem Markt mitzubestimmen. Es existieren nur wenige Gruppen, die
Medien überwachen (z. B. Watchdog-Gruppen in den USA) oder Weiterbildungsmaßnahmen, die einen bewussten Umgang der Öffentlichkeit mit ihren Medien anstreben und Mediennutzer über Gefahren und
Chancen der Medien aufklären.
Das „Produkt Lady Diana“ hat sich bis zu ihrem Tod gut auf dem
Markt verkaufen lassen. Eine Rechtfertigung unter Bezug auf Marktmechanismen greift allerdings schon deshalb zu kurz, weil es sich hierbei
um kein Produkt im eigentlichen Sinne handelt. Vielmehr haben die Medien in diesem Fall einen Menschen inszeniert, dem jenseits von Angebot
und Nachfrage ein Recht auf Privatsphäre zugebilligt werden müsste.
Entscheidend für die Auseinandersetzung ist also die Frage, wie Medienunternehmen davon überzeugt werden können, dass „moralische
Presse“, obwohl sie nicht immer gewinnmaximierend ist, wichtig ist für
die Glaubwürdigkeit der Presse und das Bestehen der Pressefreiheit.
2.1.3 Medienethische Konsequenzen aus dem „Fall Lady Diana“:
Ethik durch Widersprüche und Konflikte
Grundsätzlich lassen sich die Inhalte von Moral und Recht bzw. von
rechtlichen und moralisch-ethischen Regeln als „zwei überschneidende
Kreise“418 bezeichnen. Der „Fall Lady Diana“ zeigt allerdings, dass das
Ein positives Beispiel der Sicherung von Qualitätsstandards im Privatfunk stellen die „Freiwilligen Verhaltensgrundsätze zu Talkshows“ vom Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation dar, die in Zusammenarbeit mit der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) entwickelt wurden.
418 So sind, nach Widmer (2003, S. 112), manche Rechtsnormen moralisch indifferent und einige
ethische Normen nicht rechtlich geregelt. Dabei exisitert ein weiter Bereich, in dem die Re417
107
2. Spannungsfelder der Medienethik
Medienrecht den Schutz der Privatsphäre zwar regelt, dass es jedoch nur
Mindestanforderungen für die Medien-Selbstkontrolle formuliert, die ihr
Funktionieren nicht garantieren können.419 Entsprechende Konflikte
können mit Hilfe des allgemeinen Strafrechts, des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes und des Rechts auf Gegendarstellung nur unzulänglich erfasst werden.420 Dies liegt unter anderem daran, dass die
rechtlichen Instrumente erst nach der Verletzung des Persönlichkeitsrechts greifen. Die nachträgliche Korrektur jedoch kann die gleichen
Interessenverletzungen mit sich bringen wie die Verletzung selbst. So
greifen Schadensersatzansprüche gegen Presseorgane oft zu kurz, da die
durch ein Urteil zugesprochene finanzielle Entschädigung oft nicht zur
Wiederherstellung einer durch die Medien öffentlich geschädigten Reputation oder zum Ausgleich eines emotionalen Traumas führt. Darüber
hinaus sind keine langfristigen Folgen im Sinne einer Vorbeugung durch
Zahlungsverurteilung zu erwarten, solange sich die Auflagengewinne für
Unternehmen lohnen. Oft entscheidet auch die persönliche, finanzielle
oder gesellschaftliche Stellung des Betroffenen über den Erfolg des
Prozessierens.421
Im Vergleich zum Recht hat die Ethik als Steuerungsressource auch
eine präventive Funktion. Sie strebt eine Bewusstseinsänderung und moralische Motivation an und versucht, eine Abwägung von Rechten nach
dem Maßstab der Verantwortung anzuregen. Das Recht lässt sich dagegen oft nur schwer auf spezifische Situationen im journalistischen Alltag
anwenden. Stärker verbreitet sind dort ungeschriebene Regeln. Hinzu
tritt „peer group pressure“ durch etablierte Verhaltensweisen in Redaktionen, die der einzelne Journalist nur schwer durchbrechen kann. Regeln zur Berichterstattung über Personen bewegen sich an einem rechtlichen Grenzbereich:
„Im Rahmen der freiwilligen Presse-Selbstkontrolle ergibt sich die Schutzwürdigkeit des einzelnen nicht mehr aus gesetzlichen Vorschriften, sondern wird
zum Ausdruck ethischer Kategorien. Ethische Postulate und Rechtsnormen stehen dabei zueinander wie zwei teilweise kongruente Schnittmengen: Innerhalb
ihrer Überschneidung regeln sie inhaltlich dieselben Gegenstände, darüber hinaus
erfassen sie unterschiedliche Sachverhalte“.422
gelungsgegenstände von Recht und Moral übereinstimmen. Prinzipiell soll das Recht ein
ethisches Minimum sichern.
419 Nach Branahl (1991, S. 241) sind Rechtsnormen daher nur dort effektiv, wo sie dem Handeln Schranken setzen, v. a., wenn sie durch Androhung von Strafen die Einhaltung eines
Mindeststandards an Verhaltensregeln sichern.
420 vgl. Mestmäcker 1990, S. 9.
421 vgl. Wiedemann 1992, S. 10.
422 Wiedemann 1992, S. 13f.; vgl. auch Hermann 1988, S. 163.
108
2.1 Anspruch und Wirklichkeit
So gibt es beim gesetzlichen Ehrenschutz auch ein journalistisches Gebot in Pressekodizes.423 Im Spannungsverhältnis von Pressefreiheit und
individuellen Persönlichkeitsrechten geben die Rechtsnormen nur den
äußeren Rahmen vor, jenseits dessen die journalistische Selbstbindung
einsetzt. Ethische Selbstbindung erscheint darin umso notwendiger, je
stärker die rechtliche Autonomie der Presse ausgestaltet ist.424 Die Ethikfrage, die der freiwilligen Medien-Selbstkontrolle zugrunde liegt, ist
daher primär eine Frage der Professionalisierung journalistischer Arbeit und der
Konzeption journalistischer Tätigkeit als einer Profession.
Das Spannungsverhältnis zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz, das sich an den Fällen von Persönlichkeits-verletzungen in
den Medien verdeutlicht, lässt sich nicht durch Entscheidungen des
Gesetzgebers aufheben.425 Vielmehr sind auftretende Interessenkonflikte anhand der wesentlichen Prinzipien und Kriterien im Einzelfall zu
lösen. Hier können Einrichtungen der Medien-Selbstkontrolle einen
wichtigen Beitrag zur Lösung der genannten Probleme leisten, wenn sie
effizient geführt und der gesellschaftlichen Entwicklung angepasst werden.426 Die Macht der Selbstkontrolle liegt demnach in der Professionalisierung des Berufs und damit im Bestreben, Qualitäts- und Mindeststandards
zu etablieren. Versteht sich der Medienbereich erst als Profession, dann
besteht ein weiteres Sanktionsmittel neben der Veröffentlichung von
Normverstößen auch im peer-pressure, d. h. einzelne Journalisten und
Medienunternehmen überwachen sich gegenseitig in einer Situation von
Transparenz.427
Neben dem Recht und den Marktbedingungen sind auch die organisatorischen Rahmenbedingungen von Medienunternehmen von Bedeutung. Eberle
kommt in seiner Untersuchung von Selbstkontrolle und Persönlichkeitsschutz zu wesentlichen Differenzen zwischen den Kontrollmechanismen im öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk.428 Aufgrund der Organisationsstrukturen der öffentlich-rechtlichen Anstalten,
Wiedemann (1992, S. 255f.) unterscheidet rechtlich normierte Sanktionsmechanismen und
journalistische Verhaltensrichtlinien für den Persönlichkeitsschutz, von denen einige spezifisch rechtlich (Schadensersatz), andere spezifisch ethisch (Berichtigung) und andere beides
(Richtigstellung, Gegendarstellung) sind.
424 vgl. Wilke 1989, S. 185.
425 vgl. Mestmäcker 1990, S. 5ff.
426 vgl. Mestmäcker 1990, S. 7.
427 Transparenz ist, nach Meinung des Vereins zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle ein
wesentliches Merkmal der Selbstkontrolle. Transparenz gilt als „Mittel, um Medienfreiheit
und gesellschaftliche Partizipation, soziale Verantwortung des Journalisten und kulturelle
Flexibilität der publizistischen Selbstkontrolle zu verbinden“ (vgl. Website:
www.publizistische-selbstkontrolle.de/grundsatz.html (25.08.2005)).
428 vgl. Eberle 1990.
423
109
2. Spannungsfelder der Medienethik
v. a. der anstaltsinternen Aufsichtsorgane der Rundfunk- und Fernsehräte sowie der effizienten Leistungsstrukturen werde effektiver Persönlichkeitsschutz dort gefördert. Dagegen sei die Programmverantwortung
beim privaten Rundfunk nicht vergleichbar festgelegt und verteilt sich
vielmehr auf die Geschäftsführung. Der Anreiz, sie vergleichbar unternehmensintern umzusetzen, sei dort geringer.
Wichtig für die Effizienz der Selbstkontrolle in Konfliktfällen ist also
die klare Zuteilung von Verantwortung und die Schaffung angemessener Rahmenbedingungen auf organisatorischer Ebene und auf der Medienebene insgesamt. Auf
die Bedeutung der Zuschreibung von Verantwortung wird später näher
eingegangen. Der „Fall Lady Diana“ zeigt jedoch exemplarisch, dass die
Verantwortung nicht nur auf der individuellen Ebene gelten kann, da
Nachrichtenmedien, so Kieran, eine öffentliche Aufgabe haben:
„Where sensationalism, business interests, or ideological commitments are given
priority ahead of the duty to inform, then good journalism is perverted; for,
whether at the structural level or in the case of an individual journalist, where the
intention is primarily directed toward ends other than the public good, there is a
vicious disjunction between the goal aimed at and what the true goal of professional journalism is“.429
Um aus dem „Fall Lady Diana“ Schlussfolgerungen für die Medienethik
ziehen zu können, gilt es nun zu fragen, ob wiederkehrende Krisenfälle
in den Medien – im Zusammenhang mit Krisen oder alltäglichen Fällen
moralischen Fehlverhaltens – eine Herausforderung für die Ethik und
die Selbstkontrolle darstellen.
Gilt Medien-Selbstkontrolle als der gesetzlich legitimierte Versuch,
die Macht der Medien in moralischer Hinsicht zu verantworten, dann liefert
die Medienethik als Bereichsethik der angewandten Ethik dazu die
Grundlagen. Ideale Anforderungen an die Medien in der Demokratie wie
gesellschaftliche Aufgaben (Integration), politische Funktionen (Information, Kontrolle, Kritik) und damit verbundene Werte (Wahrheit,
Wahrung der Menschenwürde) stoßen in der Realität auf Bedingungen
journalistischer Praxis (Zeit-, Aktualitätsdruck), Medienstrukturen und märkte (Kommerzialisierung, Medien-Konzentration und Wettbewerbsorientierung) und das Medienrecht.430 Diese praktischen Rahmenbedingungen schaffen ein Struktur- und Arbeitsumfeld für Medientätige und unternehmen, das im Zusammenspiel mit Eigeninteressen zu einem
Spannungsfeld mit idealen Ansprüchen führen kann:431
Kieran 1997, S. 72.
zu den Rahmenbedingungen journalistischer Arbeit vgl. Teichert 1996.
431 vgl. Stapf 2005a, Stapf 2005b
429
430
110
2.1 Anspruch und Wirklichkeit
Warum sollte sich zum Beispiel eine Boulevardzeitung an die ideale Forderung
nach Wahrheit und Achtung der Menschenwürde halten, wenn die Veröffentlichung solcher Bilder Profite für das Unternehmen bringt? Warum sollte der
Journalist auf die sensationelle Darstellung eines Themas verzichten, wenn die
Wettbewerbssituation mit Kollegen sowie die informelle Redaktionskultur diese
nicht verurteilen, sondern durch weitere Aufträge sogar fördern? Warum sollte
die Freiheit der Medien moralisch reflektiert werden, wenn das Publikum „moralisch problematische Produkte“ nachfragt?
Der „Fall Lady Diana“ zeigt, dass es Spannungsfelder nicht nur zwischen verschiedenen idealen Forderungen – in diesem Fall zwischen
dem Persönlichkeitsschutz und dem allgemeinem Interesse der Öffentlichkeit – gibt. Er macht auch deutlich, dass ideale Forderungen, z. B.
nach dem Schutz der Privatsphäre, allein nicht ausreichen, wenn praktische Gegebenheiten, wie Arbeitsbedingungen und -maximen im Bereich
der Boulevardpresse, diesen geradezu widersprechen. Aus dem Fall lässt
sich schließen, dass sowohl unter den idealen Forderungen selbst als
auch zwischen der Idealebene und der Praxisebene Konflikte und Widersprüche auftreten.
Manche Konflikte verweisen auf einen Widerspruch, der in sich nicht
aufzuheben bzw. nicht nach logischen Prinzipien richtig oder falsch
lösbar ist. Unauflösliche Widersprüche sind existentieller Art (MannFrau), systemischer Art (unterschiedliche Sachlogik wie ProduktionVerkauf) oder beziehen sich auf Sozialgebilde (Individuum-Institution).
Einige Widersprüche, z. B. Gewissensansprüche, sind auch ethisch relevant. Am Thema Medienethik wird, nach Krainer, erkennbar, dass „Widersprüche der eigentliche Gegenstand von Ethik“432 sind: Die Aufgabe
von Ethik ist damit das Prozessieren solcher Widersprüche. Damit zeigt sich ein
doppelter ethischer Anspruch:
„Ethik verlangt erstens nach Überlegungen und Vorschlägen für ein mögliches
Widerspruchsmanagement und fordert zweitens, diese vorgeschlagenen Vorgehensweisen selbst zu reflektieren, fragt also nach Antworten auf Widersprüche
und nach Reflexion derselben“.433
Widersprüche finden sich auf der Ebene einzelner Journalisten, Medienunternehmen (Herausgeber/Medieneigentümer) und des Publikums
sowie auf kollektiver Ebene bei der Wissenschaft, der Politik und auf
der strukturellen Ebene der Medien.434 Das Balancieren dieser Widersprüche
ist eine zentrale methodische Herausforderung der Medienethik.435 Doch wie sind
432 Krainer
2001, S. 300.
Krainer 2001, S. 300.
434 vgl. Krainer 2001, S. 269ff.
435 vgl. Krainer 2002, S. 158.
433
111
2. Spannungsfelder der Medienethik
diese Widersprüche im Rahmen der Selbstkontrolle konkret anzugehen
bzw. auszuhalten?
Bei der Beschäftigung mit Ethik wurde herausgestellt, dass Ethik
Freiwilligkeit voraussetzt. Doch wann kann auf der Ebene des Individuums von Freiwilligkeit gesprochen werden? Die Frage nach ethisch
reflektiertem Handeln ist auch die Frage nach der Motivation, Vorbildern, nach Zielen und ethischen Prinzipien. Letztendlich muss bei jeder
Entscheidung eines Journalisten eine Abwägung stattfinden, ein Prozess
des Denkens und Entscheidens. Dieser setzt reife autonome Individuen
voraus, aber ebenso reife Strukturen bzw. Rahmenbedingungen. Ex-istieren
diese nicht – und dies hat der „Fall Lady Diana“ in Ansätzen gezeigt –
kann dies zur einer Situation „struktureller Verantwort-ungslosigkeit“
führen. Denn Ethik wird bedeutungslos, wenn sie als Luxus oder reine
Einschränkung gilt.
Vielmehr kann die Ethik Widersprüche und Konflikte, wie sie sich
aus Spannungsfeldern ergeben, nutzen, um ihr Ziel der Freiheit voranzutreiben. Im genannten Beispiel hat die Ethik die Freiheit der Betroffenen im Rahmen des Persönlichkeitsschutzes ebenso zu sichern wie
die Freiheit der Berichterstattung, die im Interesse der Öffentlichkeit
stehen soll. Da die Freiheit des einen die Freiheit des anderen einschränkt, wird Verantwortung unabdinglich, die es auch strukturell zu
sichern gilt.
Die Spannungsfelder zwischen der Ideal- und Praxisebene sind teilweise Widersprüche sind, die auf widerstrebenden Zielen und Interessen basieren und nicht einfach
aufgehoben werden können. Sie liegen oft in der Struktur eines Systems, wie den
Medien, begründet und müssen daher auch strukturell angegangen werden. Ethik als
eine innere Steuerungsressource muss auf allen beteiligten Ebenen relevant sein. Daher sollen nun konkretere Überlegungen zur Medienethik angestellt werden.
112

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