Lob des Goystroms
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Lob des Goystroms
E R I K ORSENNA Lob des Goystroms Aus dem Französischen von Annette Lallemand Die Originalausgabe erschien auf Französisch unter demTitel: Portrait du Guf Strrarn. EIoE des Courantr. Pmmmade 0Editions du Seuil, LOOJ Mit 4 Karten Für die deutsche Ausgabe: OVerlag C. H. Beck oHG, München 2006 Sau: Fotosatz Amann, Aichstetten Druck und Bindung: Ebner 81 Spiegel, ULn Gedruckt auf alterungsbeständigern Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany rsBN-io: 1406 5 4 8 ~ 96 ISBN-q: 978 3 406 54829 1 MEINEM VATER GEWIDMET Inhalt Bevor wir an Bord gehen I ALLES IST I N !NG E I N E KURZE EI ING r Wieso bewegt sich das Meer. Die Gezeiten derVulkane 3 Der Mond entfernt sich 4 Kontinente und Meeresböden: Die allgemeine Abdrift 5 Erleichterung in Norwegen 6 Gaspard Gustave Coriolis (17~2-1843) 7 Was Sokrates dachte 8 DasVerhältnis zwischen Wind und Meer (Fortsetzung) 2 I1 A N A T O M I E E I N E R S C H L A U F E Es war einmal Benjamin Franklin Über die Anfänge i Ruhm und Schande des Kap Hatteras 4 Die Flüsse im Meer I 2 Der Puls der Erde 6 Ein Kapitel, in dem der Autor es zutiefst bedauert, den Papst nicht kennen gelernt N haben 7 Ein Kapitel, in dem der Autor auf Reisen geht, um den Sohn des Papstes zu treffen 8 Kapitän Nemos Grab j 55 V DIALOG M I T DEM HIMMEL I 58 63 81 3 4 j 111 DAS M E E R Z E I C H N E N 6 r Hommage für einen Admiral 7 z 3 4 5 8 96 Hommage für Albert I. von Monaco (1848-1~22) 97 Augen im Himmel '03 108 Ein Lob den Modellen Das Längenbureau, Arago und die Argonauten 111 Die Zentralheizung Eine erfreuliche Folge der Zentralheizung die Scottish Rhododendron Society Eine fatale Folge der Zentralheizung: Geisteskrankheit Die Launen des Klimas Tanz mit der Sonne Die Reisen des Wassers, die Rhythmen des Eises Das Spiel der starken Winde Das Klima, Geschöpf des Menschen r DieTerrasse des Cafk Kjelen r Die Wirbel sind fruchtbar 3 116 z Reisen und Metamorphosen des Aals 121 3 Der Dorsch und die Armosphäre 4 Die Stadt 5 Ein strategischesversteck 6 Das Havarie-Komitee 7 EinTraumeservoir 123 A 4 5 6 &gaboiid unterwegs Courances oder der Zauber des Süßwassers (I) Zauber des Süßwassers (11). Der Ganges Der Corrievreckan oder das Echo der Gezeiten Traumpfade '25 130 136 '38 '47 150 '54 160 i63 '69 '74 V1 W E G E I N B E W E G U N G 2 I V DAS GROSSE A Q U A R I U M '44 EPILOGE Was ist ein Ozeanograph? Flaschenpost (Fortsetzung) 3 Der Seetang I 2 181 187 196 198 zoo ZIZ ANHANG Anmerkungen Danksagungen Literatur «Sientate, mar, tenernos que hablar De nucstra vida Bajo la luz de la fantasis, Quc Rafnel Alherti «Setz dich, Meer. Denn wir müssen über wiscr Leben sprechen Unter d e m Licht der Phantasie» Bevor wir an Bordgebrn Ich bin nicht Wissenschaftler, sondern Weltenbummler. Und genieße so banale Fragen wie: Warum ist die Nacht schwarz?Warum macht Wasser nass? . . . Und was treibt die Strömung an? - Fragen, die Eltcrn, abcr auch Gelehrte in Verlegenheit bringen. Es ist Zufall, aber seit meinet Kindheit habe ich ein inniges Verhältnis zu den Meeresströmungen. Ich liebe diese iin Wasser verborgenen Flüsse. Liebe es, mich von ihnen einfangen und treiben zu lassen, wie damals in den Ferien: Plötzlich birgt dich eine starke Hand und du brauchst dich nur noch tragen zu lassen. Genauso gcrne segle ich aber auch gegen die Flut, kreuze Stunde um Stunde, gewinne Meter um Meter, egal, ob es Naclit wird. Motorhiife kommt nicht in Frage: Greift ein Torero etwa zur Maschinenpistole? Ich liebe diese kleinen Verbündeten, die man dabei entdeckt, die Gegensttömungen. Sie haben so verspielte Formen, bilden Wirbel, drehen Spiralen. Jede von ihnen ein kleinerTroll, ein Irrwisch. Sie rufen nach du,soll man antworten? Locken sie dich nicht vielleicht in eine Falle mit ihrer Liebenswürdigkeit? Sie treiben sich immer in Küstennähe herum, fast zu nahe bei der Küste. O b man nicht auf Grund läuft, es achtern plötzlich kracht, weil man einen Felsbtocken gerammt hat? Wenn man nicht gar kentert, weil man ihm zu nahe kam. Ich liebe auch die Seekarten mit ihren schwarzen Pfeilen, die in allen Größen in alle Richtungen ausschwärmen. Sie versuchen zumindest das schier Aussichtslose: zu erfassen, was nicht zu fassen ist, die Launen der Strömungen Stunde für Stunde nachzuzeichnen. MeinTraum wäre, dass man solche Karten auch fur das sogenannte Festland erstellte. Jeder weiß doch, dass es Kräfte gibt, die unseren Boden umtreiben, aber sie sind noch nicht einmal alle aufgespürt. Da fließt ja nicht nur Lava. Da bewegt sich ständig etwas unter unseren Füßen. Überall rutscht etwas, sackt etwas ein oder senkt sich ab. Ganz zu schweigen von unseren Kontinenten, die doch recht massig und schwer sind. Sie werden offenbar ebenfalls abgetrieben, trotz ihrer Korpulenz. Auch Geographie ist Seefahrt. Und was unsere Körper betrifft, unsere eigenen Körper, d m halt China schon seit Jahrtausenden die Antwort bereit Es erfand die Akupunktur und bewies damit, dass alles eine Frage der Energie ist. Die chinesische Heilkunst spürt die Kanäle auf, durch die der Energiestrom fließt, und sticht jene Punkte an, wo er sich staut. Kurz ges: auch hier geht es um Strömungen 1 h erinnere mich noch genau an den Tag, als mein Vater mirdie Abdrift erklärte. DieserVater, der mir jahrelang vor dem Einschlafen Geschichten von einem Hochseeschleperzählte. Ich dürfte sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Wir schipperten dahin. Plöulich - ein Vertrauensbeweis - übergab er mir das Ruder. «Und j e a t steuerst du uns in die Bucht.» Schnurgerade peilte ich sie an, zwischen den beiden Bojen, der grünen und der roten, hindurch. Natürlich verpasste ich die Fahrrinne: Unsere liebe KerpontStrömung hatte uns zu den Felsen hin davongetragen, gut eine Viertelmeile gen Norden. Seitdem - das werden Sie verstehen -traue ich der geraden Linie nicht mehr. Wenn ich es recht bedenke, hat mich der Umgang mit Strömungen Verzicht, Hartnäckigkeit, aber auch so manche List gelehrt. Höchste Zeit, mich für diese Großzügigkeit zu bedanken. B Selbst wenn ich Strömungen sammle wie andere Briefmarken oder Schmetterlinge und jede Seefahrt dazu nutze, meinen Bestand zu vermehren, nimmt der Golfstrom unter seinen Artgenossen doch unbestreitbar eine Sonderstellung ein. In meiner erzkatholischen Familie wurde selbstverständlich in jedem Gebet Gott gedankt (Für die Gesamtheit seiner Schöpfung), aber gleich danach auch dem Golfstrom. Wann immer wir schlotternd aus dem eisigen Wasser der Bretagne ans Ufer rannten, rief uns sofort eine Großmurter o d e r h t e entgegen: «Du musst noch dem Golfstrom danken! Ohne ihn wäre unser Meer doch eiskalt.» Und bei jedem Bummel durch den Garten erklangen die Laudes aus dem Familienbrcvier: «Wie schön diese Palme gedeiht, sie erinnert mich an Algier! Wie hoch diese Agave wächst, man könnte meinen, man wäre in Madagaskar! Auch dieses Jahr hat der Golfstrom uns wahrlich wieder reich beschenkt.» Im Grunde tröstete der Golfstrom uns über denVcrlust unserer Kolonicn hinwcg. Indem er uns mit warmem Wasser und milder Luft beschenkte, ließ er das Reste aus dem ehemaligen «Weltreich» bei uns wieder Fuß fassen und heimisch werdcn. Auch die Leidenschaft der Engländer für die Rhododendren hat, wie ich zu zeigen versuchen werde, diesen überwiegend nostalgischen Ursprung. Verlassen hat der Golfstrom mich nie. Aber unserVerhältnis hat sich gewandelt mit der Zeit. Auf die ständige Pflicht der Dankbarkeit folgte Besorgnis, bis sogar Zweifel aufkam. Die Besorgnis, die inzwischen immcr mehr Menschen mit mir teilen. gilt der Gesundheit, wenn nicht gar dem Uberlcbrn meines geliebten Stroms. Die Sorge ist umso verstörender, als sie auf einem Paradox beruht: Wird die Erwärmung unseres Planeten eines Tages diese Warmwasserströmung umbringen? Unter Spezialisten wird heftig darüber debattiert Eine Debatte, die auf eine grundlegende Frage hinausläuft, die fiir mich noch weit grausamer ist als die vorangegangene Ungewissheit. Der Zweifel nagt: Und wenn der Golfstrom nur ein Aufschneider wäre?Wenn er seinen Titel des Gro- ßenWohltäters sich zu Unrecht angeeignet hätte? Kurz gesag,ist es wirklich der Golfstrom. dem wir das so angenclim gemäßigte Klima in unserem alten Europa verdanken? Diese Hypothese nagt, wie man begreifen wird, an einer der Säulen, auf die mein Leben gebaut ist, an einer der wenigen Gewissheiten, auf die ich mich immer gestützt habe. Lange zog ich es vor, die Augen zu verschließen. Aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Nehmen wir a l l unseren Mut zusammen, um zu Lande und zu Wasser bei dcn Gelehrten und den Orten vorstellig zu werden.