Mückenberger_Vortrag Denksalon 230607
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Prof. Dr. U. Mückenberger: Neue urbane Zeithorizonte Beitrag zum Denksalon Revitalisierender Städtebau – 22 . 23. Juni 2007 in Görlitz - Arbeitsstand 08.06.2007 - „Wenn der Romanschriftsteller dem Architekten einen Rat geben darf, so würde er ihn zur Achtung vor der Zeit auffordern. Vor der unsichtbaren Zeit, die manchmal ebenso materiell und sichtbar wird wie das Geflecht von Runzeln auf einem alten Gesicht.“ (György Konrád, 1992 <1988>) Eine Vielfalt von urbanen Zeiten Die Stadt ist geradezu der Inbegriff zeitlicher Vielfalt. Man muss sich nur einmal das Nebeneinander verschiedenster Tätigkeiten und Gewerbe vergegenwärtigen – sie alle nach innen und außen zeitlich gut durchorganisiert. Sie haben untereinander unterschiedliche Rhythmen und zeitliche Ausdehnungen – da ist neben der 8-Stunden-Fabrik der 10 Stunden aktive Laden, das zeitverschoben bis tief in den Abend Besucher anziehende Fitness-Studio, daneben das Medienquartier mit Gastronomie und Kulturangeboten mit einem an die 19 Stunden gehenden Rhythmus. Da sind die dazwischenliegenden Mobilitätsströme mit ihren Zeiten und Geschwindigkeiten. Die Menschen, die herumströmen, sind ihrerseits vielfältig. Sie sind in Hetze oder in Ruhe. Sie streben Punkte an oder kreisen spielerisch um sich wie Linie oder Kreis im Bild, wie 2er oder 3er-Takt in der Musik. Nach Alter, Geschlecht, Ethnie, sozialem Status, beruflicher Zugehörigkeit, Zeitkultur verschieden – bilden sie eine bunte Einheit. Die Orte, an denen sie sich aufhalten, tragen selber ihre Zeit in sich: die Plätze, die Brunnen, die Parks, die Wohnblöcke und Siedlungen – die Supermärkte und Einkaufszentren, die U-Bahnen und Intercity-Züge, die Geschwindigkeitstrassen und Parkhäuser, die Kassen, Fließbänder, Gänge und Wartezimmer. Ihnen ist nicht nur ein Tempo eingebaut, das sich nicht sanktionslos durchbrechen lässt. Sie haben nicht nur eine Zeitlichkeit, die diejenige ihrer Nutzung überschreitet. Sie haben auch Geschichte und Fortdauer, die jenseits der Lebenserwartung der Menschen, die darin ihren Dingen nachgehen, liegt. Deshalb werden sie in der italienischen zeitpolitischen Diskussion „Chronotope“ genannt – Orte, denen die Zeit in 1 den verschiedenen genannten Bedeutung eingeschrieben, „eigen“, ist (Bonfiglioli/Mareggi 1997). Der Siegeszug der Zeitlichkeit des Urbanen Dass diese Vielfalt die Gemüter anregt, er-regt, ist überhaupt keine Frage. Sie hat auch Maler, Schriftsteller, Krimi-Autoren, Filmemacher, selbst Musiker immer wieder gereizt und herausgefordert. Ambrogio Lorenzetti blättert bereits 1338 in seinen Monumentalfresken über das „Buon Governo“ im Seneser Palazzo Pubblico das Spektrum und die Vielfalt städtischer und ländlicher Zeiten auf. Ja er gönnt sich und uns sogar, saisonal Ungleichzeitiges gleichzeitig zu zeigen und zu sehen – wie um zu sagen, dass sich das Urbane von den Beschränkungen durch Tages- oder Jahreszeiten zu emanzipieren vermag (dazu Mückenberger 2004a). Drei Jahrhunderte nach Lorenzetti – 1658 - revolutioniert Comenius im Orbis sensualium pictus die zeitgenössische Pädagogik, indem er dem Bildungsprozess das Visuelle beigesellt. Dort findet sich die Schule inmitten der Vielfalt städtischer Institutionen wir Kirche, Gericht, Läden und der Handwerke wie Schneider und Schuhmacher – Alles, auch die Schule selbst, zeitgerecht geordnet, fast nach mechanischem Prinzip (Thompson 2004). Die Vielfalt des Äußeren spiegelt sich in derjenigen des Inneren wider: „Der Mensch ist von den Philosophen ein Mikrokosmos genannt worden, ein Universum im Kleinen, das im Verborgenen alles enthält, was im Makrokosmos des langen und breiten aufgedeckt zu sehen ist“ (Magna didactica, Scheuerl 1992: 25). Was wäre Tom Twyker’s Film „Lola rennt“ (1998) ohne die Vielfalt der Stadtzeiten? „Der Zufall in der Stadt und die Stadt als Ort der Zufälle werden bei ihm Motor und Motiv einer filmisch-urbanen Erzählform. … Von Anfang an faszinierend ist das großstädtisch getaktete Zeitmaß, das die Bewegungen in den genauen Ausschnitten des Räumlichen in ihrem rasch wechselnden Zusammenhang organisiert.“ (Vogt 2001: 733/4). Lässt sich aus den Edgar Wallace-Filmen das neblige London wegdenken, hinter deren Schwaden sich verbirgt, wer wie schnell wohin (und womit?) strebt? Ist nicht in Ludwig Meidners Gemälde „Ich und die Stadt“ der Rhythmus des Einzelnen zum Tempo der ihn umgebenden Stadt geworden – oder umgekehrt? (Roters/Schulz 1987: 89) Könnte Fritz Langs Großstadtsymphonie (1927) heißen, wie sie heißt, wäre da nicht 2 eine Art Homologie zwischen dem Erwachen und Sich-Vorbereiten, dem Tätigsein, Ausruhen und Wieder-Anspannen, dem Ermüden, Feiern, Sich-Auslassen der Stadt Berlin und der Choreographie und Agogik der Sonatenhauptsatzform zu verzeichnen? (Vogt 2001: 134 ff.) Könnte die zeitgleich entstandene Komposition Pierre Henrys „La ville“ solche Faszination auslösen, wäre nicht bereits in den Geräuschen, die er in den 20 Bildern aufzeichnet und in ihrer unterschiedlichen Rhythmik scheinbar einfach gegeneinanderstellt, bereits Musik? (Henry 1994) Es sind nicht eben sehr angenehme Attribute, mit denen Georg Simmel den Großstadtmenschen versieht. In dem Aufsatz „Die Großstadt und das Geistesleben“ von 1903 (Simmel 1995) – wie viele Aufsätze haben je schon so erfolgreich dem VergessenWerden getrotzt?, vermerkt die Zunft immer noch neiderfüllt! – verordnet er: Blasiert muss er sein, selbst uninteressiert, aber so beschaffen, dass er für kürzeste Zeit auffällt. Dazu müssen er selbst, seine Kleidung, seine Schoßtiere und sonstigen Accessoires à jour sein, von genau kalkulierter Zeitlichkeit der sozialen Existenz getragen. Da sind viel Show, soziale Kälte und rascher Wandel des je Modischen impliziert. Der Nährboden dafür sind Geld, Zeit und Großstadt. „Durch das rechnerische Wesen des Geldes ist in das Verhältnis der Lebenselemente eine Präzision, eine Sicherheit in der Bestimmung von Gleichheiten und Ungleichheiten, eine Unzweideutigkeit in Verabredungen und Abmachungen gekommen – wie sie äußerlich durch die allgemeine Verbreitung der Taschenuhren bewirkt wird. Es sind aber die Bedingungen der Großstadt, die für diesen Wesenzug so Ursache wie Wirkung sind. Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters pflegen so mannigfaltige und komplizierte zu sein, vor allem: durch die Anhäufung so vieler Menschen mit so differenzierten Interessen greifen ihre Beziehungen und Bethätigungen zu einem so vielgliedrigen Organismus ineinander, dass ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde. … So ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne dass alle Thätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.“ (ebda.: 119/20). Mobilität und Zeiten der Stadt 3 Mobilität ist ein zentrales Merkmal, vielleicht das zentrale Merkmal städtischen Alltags. Interne Mobilität – Mobilität der Bewohner; und externe Mobilität – Zustrom von außen: Pendler, Touristen, Geschäftsreisende, „city user“. Die gesellschaftlichen, kulturellen Veränderungen unserer Gesellschaft erzeugen systematisch Nachfrage nach Mobilität. „Stadt in Bewegung" meint, was tut sich bei dieser Nachfrage und was kommen für Anforderungen - etwa auf die Planer und auf Träger des öffentlichen Personentransports – auf die Städten zu? Horizontale und vertikale Mobilität haben – das wird oft übersehen, dabei hängt gerade für politische Gestaltung viel von dieser Einsicht ab - sehr viel miteinander zu tun. Wir wissen aus der Forschung, dass die vertikale Mobilität, also das Ändern-können von gesellschaftlichen und beruflichen Ressourcenausgangspunkten, sehr viel mit der horizontalen Mobilität zu tun hat. Ob ich mich z. B. zu Bildungsstätten hin bewegen kann, ob es mir in meiner Familie möglich war, neben der Schule auch die Musikschule oder die Volkshochschule zu benutzen, kann für meinen sozialen und kulturellen Aufstieg ausschlaggebend sein. Die Fähigkeit, einen Ortswechsel zu vollziehen, kann für einen beruflichen Aufstieg ausschlaggebend werden. Zwischen der vertikalen und der horizontalen Mobilität bestehen also zentrale Zusammenhänge. Damit hängt die Karriere des Begriffs Mobilität zusammen. Die Freiheitsversprechungen unserer Gesellschaft sind eng mit Mobilität – der horizontalen und vertikalen Fortbewegung in Zeit und Raum - verkoppelt. Freiheit in dem Verständnis, wie es unsere Gesellschaft bietet, wäre ohne Mobilität nicht denkbar, und zwar in wirtschaftlicher, kultureller, politischer, sozialer Hinsicht. Wenn wir jetzt mal die Mobilität im horizontalen Sinne nehmen, stoßen wir in der Stadt auf einen zentralen Ausgangspunkt der Mobilität, für den der Begriff "Funktionstrennung" eingeführt worden ist. Die entwickelten Städte sind dadurch geprägt, dass sie insbesondere die zwei Sektoren Wohnen und Arbeiten radikal räumlich getrennt haben. Wir finden das oft als eine Ost-West-Trennung in den Städten. Im Osten vieler Städte finden wir den gewerblichen Sektor und im Westen den Wohnsektor. Das ist nicht ausnahmslos so, aber mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit in den Städten der entwickelten Welt. Hinter dieser Trennung von Wohnen und Arbeiten steht eine geschlechter- und generationsspezifische Organisationsstruktur der städtischen Gesellschaft, der sich in einer bestimmten Zeitstruktur des Alltags ausdrückt. Der häusliche Lebenszusammenhang mit Erziehung, häuslicher Tätigkeit, der 4 Pflege älterer Personen ist getrennt vom außerhäuslichen Erwerbszusammenhang, in dem Produkte und zunehmend Dienstleistungen erstellt werden. Historisch hat sich eine Veränderung gegenüber der Ökonomie des ganzen Hauses in der Agrargesellschaft, in der Arbeiten und Leben räumlich zusammengefasst war, vollzogen. Es gab wichtige gesellschaftliche und ökonomische Gründe für die Trennung, weil das Gewerbe laut, schmutzig, hochgefährlich, explosiv war - die Trennung in unterschiedliche Stadtteile folgte sozusagen einer Notwendigkeit der Produktionsstrukturen. Damit entstand eine zeitliche Dreiheit des Alltagslebens in der Stadt. Hier der Wohnbereich, hier der Erwerbsbereich und dazwischen die Mobilität – systemisch entstanden als die Verbindung zwischen dem Wohnbereich und dem gewerblichen Bereich. Transport und Fortbewegung sind zu einer ganz normalen Tätigkeit im Alltag aller Menschen - im Prinzip aller Menschen - der Stadt geworden, das Tagespendeln von dem Arbeitsort zu dem Wohnort und zurück. Die Grundstruktur des öffentlichen und privaten Personennahverkehrs ist bis heute durch diese Funktionstrennung geprägt. Die meisten konventionellen städtischen Personentransportsysteme sind nach dem Container-Prinzip gestaltet – d. h. große Behälter befördern gleichzeitig große Menschenmengen von Massenaufenthaltsorten zu anderen Massenaufenthaltsorten. Und sie folgen dem „Hub-andSpokes“-System (Naben-Speichen-System) – sie sind in Gestalt von Linien organisiert, die sich an Naben bündeln (Stadtmitte, Hauptbahnhof o. ä.) und von dort aus geradewegs in je unterschiedliche Richtungen verteilen. Im Alltagsleben gibt es also ein Grundmuster in Form von Wohnen und Arbeiten sowie dazwischen vermittelnder Mobilität oder Transport. Dieser Dreiklang ist natürlich längst nicht mehr ungebrochen und bestimmend. Daneben hat sich z. B. die ganze Sphäre der Freizeit entwickelt, die einige Orte innerhalb wie außerhalb der Stadt und ihre Zeiten kennzeichnet und die ebenfalls zum Gegenstand von Verkehren wird. Eine Vielzahl von abweichenden Trends prägen die heutige Gesellschaft. Wir haben z. B. Trends zum E Business. Überhaupt das große "E": Elektronik ist ein bestimmendes Element und wird zunehmend ein bestimmendes Element unserer Gesellschaften, das einen großen Teil der körperlichen Fortbewegung von dem einen Ort zum anderen Ort erübrigt, und sozusagen zu einem Einklicken in einer Online-Verbindung umwandelt. Wir können das auf dem Gebiet des E-Business, Einkauf und weitere Lieferservicefunktionen beobachten, wir können das natürlich bei Telearbeit beobachten, wo ein Teil der körperlichen 5 Fortbewegung ersetzt wird durch Online-Verbindung und Tätigkeit von Haus aus oder aus dem Nachbarschaftsbüro raus. Wir können es beim E - Government beobachten bei der Tendenz, bestimmte administrative, politische, staatliche Funktionen durch Online-Verbindung zu ersetzen. Ich brauche nicht unbedingt mehr zum Einwohnermeldeamt zu fahren, wenn ich durch Online-Verbindung dokumentenecht mit elektronischer Signatur den Weg zur Verwaltung ersparen kann. Heute entsteht demgegenüber eine neue Chance zur Funktionsmischung. So kann an Orten, an denen wir wohnen, auch erwerbliche Arbeit stattfinden. Das hängt unter anderem mit der Veränderung von Arbeit in unserer Gesellschaft und von der Ökonomie unserer Gesellschaft zusammen. Der Trend zur Dienstleistung führt dazu, dass bestimmte Dienstleistungen - ich will nicht sagen alle, aber viele Dienstleitung - bürgernah angebracht werden müssen. Sie können auch sozialverträglicher erbracht werden, als dies etwa bei der Bleidämpfe ausstoßenden Fabrik oder der Dynamitfabrik der Fall war, die in die Luft zu gehen droht. Gefährdungen dieser Art sind keineswegs verschwunden, haben aber ganz andere Ursprünge. In der Stadt entsteht eine neue Chance der Verbindung des Wohnens und des Arbeitens. Die neue Vervielfältigung der Morphologie und der Zeiten städtischer Populationen Eine weitere Komplizierung liegt in dem, was Guido Martinotti in seinem MetropolenBuch (1993) beschrieben hat, in dem er unter den Bedingungen, die ich eben von der Stadtentwicklung benannt habe, die verschiedenen Entwicklungsstadien der städtischen Bevölkerungen verfolgt. Er schlüsselt lndividualisierung und Pluralisierung der städtischen Bevölkerung genauer an der Entwicklung insbesondere der Metropolen auf. Martinotti unterscheidet vier Entwicklungsstadien der Stadt – die in ihrer Gesamtheit eine unterscheidbare Vielfalt der Zeitmuster von Teilpopulationen der heutigen Metropole widerspiegeln. Wenn wir an städtische Bevölkerungen denken, denken wir meist an Einwohner. Aber diese Gleichsetzung wird immer weniger zutreffend. Vielmehr setzen sich die Städte aus einer zunehmenden Vielzahl von Teilpopulationen und deren Zeiten und Alltagen zusammen. Die Einwohner sind nurmehr eine solche Teilpopulation – und zwar eine an6 teilmäßig abnehmende Quote der Gesamtpopulation. Zu der Teilpopulation der ständigen Einwohner tritt eine zunehmende Vielzahl zeitweiliger Stadtpopulationen (dazu Martinotti 1993; Nuvolati 2001). Dies ist für das Paradox ursächlich, dass wir zwar immer von einem „Verschwinden der Städte“ (Venturi) sprechen, dass aber gleichwohl immer mehr Menschen die Städte bevölkern – begleitet von einer neuartigen Diversität und Heterogenität von Zeitmustern und -bedarfen. Diese zeitweiligen Stadtbevölkerungen sind es, die Stadtplaner, City-Manager und Tourist-Office-Betreiber vor Allem im Auge haben, wenn sie sich um die „Attraktivität“ ihrer Stadt bemühen. Kein Wunder, sind doch zu mancher Saison in manchen Städten die Einwohner längst die Minderheit, die der Mehrheit der zeitweiligen Stadtbevölkerungen zeitweise sogar ihr Bett überlässt (man denke an Städte wie Pisa oder Venedig). Nicht zufällig ist die „Zeit“, mit der diese Teilpopulation umworben wird, nicht mehr so sehr die Tageszeit, mit der etwa die alpinen Berggegenden werben, sondern zunehmend auch oder vorrangig die Nacht mit ihren Attraktionen. Nacht stellt dabei übrigens meist nicht die andere Hälfte des 24-Stunden-Tages dar (wie es das Bild der „Rund-um-dieUhr-Gesellschaft“ vereinfachend und pauschalisierend argwöhnt), sondern einen stark ausgedehnten und nicht durch formale Regeln begrenzten Abend (manche „lange Museums-, Kunst- oder Bildungsnacht“ erweist sich schon gegen 23 Uhr als leeres Versprechen!). Realistisch gesprochen entwickelt sich dort eine Art 19-Stunden-Tag. Die These von Martinotti lautet, dass die soziale Morphologie der Stadt heute stark von den drei Gruppierungen zeitweiliger Nutzer der Stadt geprägt ist. Das sind nicht Menschen, die in der Stadt wohnen und sesshaft sind, sondern die kommen, die starke Konsum- und Mobilitätsbedürfnisse haben, aber deren Mobilitätsbedürfnisse sich stark unterscheiden. Urbs und Civitas: was wäre urbane Zeitpolitik? Ich habe in den vorstehenden Absätzen Beobachtungen – zuweilen auch künstlerische Verarbeitungen – der zeitlichen Vielfalt in der Stadt aufgeführt. Die Stadt selbst ist bereits durch zeitliche Vielfalt und räumliche Dichte geprägt. In ihrer Entwicklung weist sie eine weitere Vervielfältigung ihrer Teilpopulationen auf. Da sowohl die ortsansässigen Populationen mobiler als auch die zeitweiligen Populationen häufiger und zahlreicher 7 werden, ist die zeitliche Vielfalt der heutigen Städte viel mehr durch Mobilität – horizontale wie vertikale, in ihrem beschriebenen Wechselverhältnis - bestimmt als früher. Vielfalt heißt Gleichzeitigkeit und Gleichräumigkeit von Unterschiedlichem. Unterschiedlichkeit ist Fremdheit. Zunahme von Vielfalt bedeutet also, dass dem Eigenen in zunehmendem Maße Fremdes gegenübertritt. Dies ist die kulturelle Herausforderung, die die Entwicklung des Urbanen mit sich bringt. Die Vervielfältigung der Teilpopulationen kann sich als soziale und ethnische hierarchische Segregation (Friedrichs 19955: 79 ff.) in der Stadt vollziehen, sie kann „melting pots“, also horizontale Segregation, in der Stadt hervorbringen, sie kann sich aber auch als Begegnung, Mischung und wechselseitiger Bereicherung vollziehen. Als Aufgabe von städtischer Politik und Planung erscheint es, letzterer Entwicklung Chancen zu geben (vgl. Sennett 1991; Müller-Ibold 1996: 54 ff.). Die klassische Reflexion über Stadt unterscheidet – wenn man einmal vom Wort oppidum im Sinne von ‚Befestigung’ absieht – zwischen urbs und civitas. Dabei bezeichnet urbs den physisch-morphologischen Bestand der Stadt – urbs wird ja oft auch mit einer bestimmten Stadt, nämlich Rom, gleichgesetzt. Civitas meint demgegenüber nie einebestimmte Stadt, sondern eine Idee und ein Prinzip: das soziale Band in der Stadt, die soziale Verfasstheit der Stadt. Civitas enthält übrigens – im Gegensatz zu urbs – neben der objektivrechtlichen Bedeutung der ‚verfassten Bürgerschaft’ auch die subjektivrechtliche Komponente des ‚Bürgerrechts’. Urbs legt assoziativ die Gleichsetzung des physisch-morphologischen Bestandes der Stadt - quasi als ihr feststehendes soziales Korrelat – mit der ortsansässigen Bevölkerung, den Einwohnern, nahe. Demgegenüber wird in civitas die republikanische Idee der gewillkürten (d. h. durch Freiheits- und Willensakt begründeten und/oder aufrechterhaltenen) Zugehörigkeit mitgedacht. Die Zugehörigkeit kann innegehabt sein und bestätigt werden (von Einwohnern), sie kann aber auch neu erworben werden (von Fremden). Als Symbol oder Mittel des Erwerbs und der Bestätigung der Bürgerschaft haben sich im Mittelalter der Ablauf von Zeit („Jahr und Tag“) oder einmalige oder wiederholte konstitutive Akte („Eid“, „Bürgereid“) eingebürgert (Bader/Dilcher 1999). Deshalb ist mit civitas auch die artifizielle und zur Verschriftlichung neigende Form des „Rechts“ – nicht mehr nur die im Prinzip formlose Gewohnheit oder Tradition – verbunden. 8 Was also liegt näher, als dass sich die civitas der genannten kulturellen Herausforderung der zeitlichen Vielfalt des Urbanen bei räumlicher Dichte, der Herausforderung also, dass dem Eigenen in zunehmendem Maße Fremdes gegenübertritt, annimmt? Wenn die civitas mit dem Bürgerrecht diversester Teilpopulationen und deren divergierender Zeitmuster und –bedarfe deren „Recht auf eigene Zeit“ anerkennt, dann muss sie nicht die die Existenz von Zeitgestaltungsbedarfen und Zeitkonflikten als legitim anerkennen, sondern auch für demokratisch legitimierte Rahmenbedingungen und Verfahren sorgen, diesen Bedarfen zu entsprechen bzw. diese Konflikte zu schlichten. Das bedeutet, dass Zeitnöte und –konflikte gesichtet und analysiert werden müssen, dass nach Handlungsspielräumen für gerechte und faire Konfliktaustragung Ausschau gehalten wird, dass Gerechtigkeitsmaßstäbe für den Umgang mit und für die Verteilung des Zeitwohlstands – mit Blick nicht nur auf heutige „stakeholder“, sondern auch auf künftige Generationen – entwickelt werden, schließlich dass Verfahren und Koordinationsinstrumente geschaffen werden, um die Ressource Zeit und das kulturelle Medium Zeit für Alle optimal zum Tragen kommen zu lassen. Das bedeutet nichts Anderes, als dass sich die civitas einer demokratischen Zeitpolitik (dazu im Einzelnen 2004), deren Konzeption und Implementation annimmt. Wir wissen Alle, dass noch kaum eine civitas diesen Ball wirklich aufgenommen hat. Denn eine demokratische Zeitpolitik ist so einfach nicht. Nehmen wir nur noch einmal den hellsichtigen Satz Georg Simmels auf, der bereits zitiert wurde: „So ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne dass alle Thätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.“ Der Satz ist – bei näherem Zusehen – von einer atemberaubenden Verwegenheit: Wer bitte – so fragt man sich – ordnet hier eigentlich ein, wer stellt das feste intersubjektive Zeitschema auf, wer sorgt für dessen pünktlichste Befolgung? Es gibt m. E. nur zwei Möglichkeiten, Simmels Satz aufrechtzuerhalten. Entweder Simmel unterstellt (noch) die Existenz und Autorität traditioneller Zeitdiktate (durch Kirchen, Fabriken, Schulen etc.), die effektive Zeitschemata errichten konnten – dann wäre aber seine Befunde mit einem Bürgerrecht auf eigene Zeit nicht mehr vereinbar. Oder Simmel stellt – darauf deutet die Verwendung des Wortes „denkbar“ und des Konjunktivs „würden“ hin – hier lediglich das Postulat auf, großstädtisches Leben erfordere in letzter 9 Konsequenz so etwas wie Zeitpolitik – dann beteiligt er sich an der Suche der civitas nach der Lösung des gestellten Rätsels. Die civitas kann eine moderne urbane Zeitpolitik nämlich gar nicht einführen, ohne sich mit dem Recht auf Zeit der vielfältigen Teilpopulationen ins Benehmen zu setzen. Wohl kann – und muss – sie Macht und Autorität traditioneller Zeitgeber (Fabriken, Kirchen, Schulen usw.), Zeitdiktate zu erlassen, brechen; denn denen fehlt durchweg die demokratische Legitimation. Aber die civitas kann nicht ihrerseits ein Zeitdiktat durch das andere ersetzen – das bliebe ein vielleicht wohlgemeinter, aber jakobinischer und patriarchalischer Übergriff in das Recht auf eigene Zeit derer, denen sie indivudell und kollektiv gehört. Die civitas kann überhaupt nur Foren eröffnen und Verfahren bereithalten, um den Akteuren aus Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft Zeit - in ihrer Ressourcendimension wie ihrer kulturellen Dimension – zum Gegenstand nachhaltiger gesellschaftlicher Gestaltung zu machen, dabei diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die traditionellerweise aus den Entscheidungsprozessen ausgegrenzt bleiben, wissenschaftliche und praktische Expertise zur Verfügung zu stellen, um Handlungskorridore für winwin-Lösungen zu ermitteln usw. Eine demokratische Zeitpolitik kann im Wesentlichen nur diskursiv – mit Blick auf regulative zeitpolitische Ideen - sein, sie kann aber direkt (zumindest noch) nicht regulativ ausgestaltet sein. Richard Sennett hat dies daran plastisch gemacht, dass die Städte öffentliche Räume schaffen müssen, damit sich Fremdes begegnen, voneinander lernen kann. „Die Stadt sollte eine Schule sein, in der man lernen kann, ein ‚zentriertes’ Leben zu führen. Indem wir uns anderen preisgeben, können wir lernen zu beurteilen, was wichtig ist und was nicht. Wir sollten Unterschiede auf den Straßen oder bei anderen Menschen weder als Bedrohung noch als sentimentale Verlockung, sondern als notwendige Visionen verstehen. Notwendig sind sie für uns, wenn wir – individuell und kollektiv – lernen wollen, im Gleichgewicht zu leben.“ (Sennett 1991: 14) Gerade Zeitkonflikte sind Konflikte, die heute meist als inselhaft, individuell verschuldet und individuell zu lösen erlebt werden. Zeit und Zeitgestaltung haben also Bedeutung für die Konstitution des urbanen Gemeinwesens. Dabei ist es vielleicht dasjenige, das für die alltägliche Lebensorganisation der Individuen, der Familien, der Gruppen, des Gemeinwesens sowohl funktional als auch kulturell das bedeutsamste ist. Hinter der im späten Mittelalter sich andeutenden 10 neuen urbanen Zeitordnung stehen nämlich einmal die Vielfalt, die Arbeitsteiligkeit, der Reichtum und das kulturelle Wechselspiel der gleichzeitig in der Stadt sich vollziehenden Tätigkeiten - das ist das Element der Urbanität, das uns Lorenzetti in seinem Zyklus der Guten Regierung so klar veranschaulichte. Hinter der neuen Zeitordnung steht aber zugleich zum Anderen ein neuer Modus des Ausgleichs und der Koordination der Vielen und Vielartigen in der Zeit miteinander – derer das Ganze zu seinem Funktionieren wie zu seiner kulturellen Reproduktion bedarf. Je demokratischer allerdings die neue Zeitordnung sein soll, umso abstrakter muss sie werden. Eine Zeitordnung, die uns die konkrete Verwendung von Zeit vorschrieb(e), war (wäre) autoritär und illegitim. Legitim ist allein eine solche, die wohl unsere Zeit wahrt und respektiert, die auch noch zum Umgang mit und zur Kultur der Zeit beiträgt, die aber den Gebrauch der Zeit denen überlässt, denen sie gehört: den individuellen und kollektiven Subjekten, und die eben deshalb den Betroffenen eine lebendige Beteiligungskultur eröffnet und ermutigt. Städtische Freiheit umfasst also „Zeitfreiheit“: die Freiheit, über eigene Zeit individuell und kollektiv selbst verfügen zu können, in ihrem Gebrauch nicht diskriminiert oder entwertet zu werden, in der Lage zu sein, von der eigenen Zeit im Sinne eigener kultureller Sinngebung, von ihr auch im Sinne gemeinsamer Zeiten Gebrauch machen zu können. Sie würde dafür sorgen, dass die Zeiten der Kinderbetreuung stimmen, dass an Ämtern und Arztpraxen keine Warteschlangen mehr entstehen, dass die Betrieb menschen- und familienfreundliche Arbeitszeiten einrichten, dass die Quartiere über ihre Ladenöffnungszeiten selbst bestimmen dürfen, dass alle öffentlichen Straßen und Plätze zu allen Tages- und Jahreszeiten von Allen sicher begehbar sind, dass die Schulen und Spitäler ihre Zeiten ihren Schutzbefohlenen anpassen (nicht umgekehrt), dass Bibliotheken und Museen dann offen sind, wenn die Menschen Zeit haben, sie zu besuchen, dass die Verkehrsmittel dann verkehren, wenn die Menschen mobil sein wollen, dass die Post mir mein Paket zustellt, wenn ich die Chance habe, es entgegenzunehmen und … und …. und … Die zeitliche Vielfalt in der Stadt stellt die civitas vor neue Aufgaben, die hier als zeitpolitische angedeutet wurden. Ihr Ausgangspunkt sind Lebenslagen und damit verbundene Bedarfslagen, die zwischen den unterschiedlichen Teilpopulationen des urbanen Raums changieren und sich ausdifferenzieren. Gewiss können wir aus sozialpolitischer Kenntnis daraus die Erforderlichkeit bestimmter Dienstleistungen herleiten – nach Gesund11 heit, Bildung, Kinderbetreuung, Mobilität usw. -. Aber für die zeitpolitische Konkretisierung kommen wir damit nicht aus. Wir müssen dafür mehr darüber wissen, wie sich die Vielfalt der Lebenssituationen auf Erreichbarkeit und jeweilige Qualität der nachgefragten Dienstleistungen auszuwirken hätten. Dies eben erfordert Aushandlungs- und Beteiligungsprozesse, Vernetzung und Interaktion – vielleicht überhaupt einen neuen Typ örtlicher „governance“. Und dies nicht allein um der Befriedigung funktioneller Bedarf willen – sondern auch, um den sozialen Lebensraum Stadt für individuellen und kollektiven Gebrauch attraktiver und lebenswerter zu machen. 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