Canan Aksungur - Universität Bonn

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Canan Aksungur - Universität Bonn
Canan Aksungur
geb. 11.05.1983 in Bergisch Gladbach
2002 Abitur am Otto Hahn Gymnasium – Bensberg
2002 – 2008 Studium der Rechtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms Universität Bonn
Februar – Juni 2005 Studium der Rechtswissenschaft an der Istanbul Universität - Beyazit
1. juristisches Staatsexamen am 08.02.2008
Promotionsvorhaben:
Europäische Strafrechtssetzungskompetenz
Neue Entwicklungen durch EuGH-Rechtsprechung und den Vertrag von Lissabon
I. Diskussionsanlass
Der Vertrag von Lissabon blickt auf ein langes Verfahren zurück. Er ist Ergebnis einer sechs
Jahre währenden Diskussion. Es ist nicht verwunderlich, dass er eine Vielzahl von
Kompromissen enthält, und nun ein alle Mitgliedsstaaten zufriedenstellendes Gesamtprodukt
darstellen sollte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Vertrag wird immer noch heftig kritisiert.
Diese Uneinigkeit spiegeln auch das negative Referendum der Iren im Juni 2008 und die
Klagen u.a. des Abgeordneten Peter Gauweiler und der Bundestagsfraktion „Die Linke“ vor
dem Bundesverfassungsgericht (2 BvR 1010/08; 2 BvR 1259/08; 2 BvR 1022/08; 2 BvE
2/08; 2 BvE 5/08) wider.
Einer der Hauptkritikpunkte ist die behauptete Erweiterung der strafrechtlichen Kompetenzen
der Europäischen Union durch den neuen Vertrag. Ist es denn nicht auch ureigenste Aufgabe
der Mitgliedsstaaten, ihr Strafrecht zu regeln? Ist die Europäische Union nicht ein
wirtschaftlicher Zusammenschluss, der andere Aufgaben zu bewältigen hat, als das Strafrecht
der Mitgliedsstaaten zu regeln? Maßt sich die Europäische Union nicht zunehmend mehr und
mehr Kompetenzen an und verselbstständigt sich, obwohl gerade die Bildung eines
Bundesstaates nie gewollt war?
Sicherlich ist diese Sichtweise zu einseitig. So kann man sich ebenfalls die Frage stellen:
Kann man einer sich immer weiter entwickelnden Europäischen Union strafrechtliche
Kompetenzen völlig verweigern? Die Europäische Gemeinschaft als ein Teil der
Europäischen Union (1. Säule) ist zwar kein Staat, aber auch keine reine internationale
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Organisation mehr. Auch sie muss ihren Normen zur Durchsetzung verhelfen, indem sie die
Befolgung kontrolliert und Verstöße sanktioniert. Diese Aufgabe ist lange Zeit weitestgehend
bei den Mitgliedsstaaten verblieben.
Daran wird zum einen kritisiert, dass diese ihre Aufgabe nicht effektiv genug ausführen und
auch nicht ausführen können. Hingewiesen wird dabei auf die Unterschiedlichkeit der
Regelungen von Staat zu Staat, was zu Wettbewerbsverzerrungen, Handelshemmnissen und
sogenannten Kriminalitätsoasen führe.
Zum anderen wird diese Handhabung als inkonsequent bezeichnet. Der Europäischen Union
wurden zwar zahlreiche umfassende Rechtssetzungskompetenzen übertragen, aber keine
ausreichenden Mittel zur Durchsetzung der von ihr geschaffenen Normen.
Darüber hinaus ist die Übertragung strafrechtlicher Kompetenzen an die Europäische
Gemeinschaft als supranationale Organisation ein möglicher Weg, der grenzüberschreitenden
Kriminalität zu begegnen. Die organisierte Kriminalität, der Terrorismus, die Internet- und
Computerkriminalität, die Umwelt-, Wirtschafts- und Steuerkriminalität beinhalten in der
Regel grenzüberschreitende Elemente. Die Täter nutzen häufig gezielt den Vorteil der
globalen Ausführung aus, der die Strafverfolgungsbehörden bisher nichts Gleichwertiges
entgegensetzen können. Sobald nationale Grenzen überschritten werden, sind sie aufgrund des
völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Territorialitätsprinzips auf den beschwerlichen Weg
der Rechtshilfe angewiesen. Innerhalb der Gemeinschaft könnte aber mittels strafrechtlicher
Kompetenzen derselben der „übernationalen“ Kriminalität eine „übernationale“ Lösung
gegenübergestellt werden, die die Strafverfolgung quer durch Europa vereinfachen und zu
mehr Effektivität verhelfen könnte.
Diese Aspekte sollen nur einen Einblick in die vielen Fragen, die sich in diesem
Zusammenhang stellen, verdeutlichen, ohne an dieser Stelle bereits Stellung beziehen zu
wollen. Es soll nur veranschaulicht werden, dass es einen großen Klärungsbedarf gibt. Dabei
stellt sich eine Frage zunächst einmal als Grundlage zu dieser Diskussion: Besitzen die
Europäische Union bzw. die Europäischen Gemeinschaften bereits strafrechtliche
Kompetenzen auf Grundlage des zu diesem Zeitpunkt geltenden Vertrags von Nizza und
inwieweit ändern die neuere EuGH-Rechtsprechung und der Vertrag von Lissabon etwas an
dieser Situation? Vor allem letzteres soll Gegenstand der Dissertation werden.
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II. Inhalt
Auf EU-Ebene gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, d.h. anders als bei einem
Staat, der über eine uneingeschränkte Verbandskompetenz verfügt, hat die Europäische Union
nur dort Kompetenzen, wo sie ihr ausdrücklich von ihren Mitgliedsstaaten durch Einführung
von Ermächtigungsgrundlagen in die Gründungsverträge übertragen wurden, vgl. Art. 5 Satz
1 EGV. Sie kann diese Kompetenzen nicht selbstständig erweitern (keine KompetenzKompetenz).
In den Verträgen findet sich jedoch nur in Art. 29 ff. EUV, der polizeilichen und justiziellen
Zusammenarbeit in Strafsachen, eine Ermächtigungsgrundlage für das Strafrecht. Diese
Regelungen gehören aber der sogenannten 3. Säule an, die eher eine intergouvernementale,
völkerrechtliche als eine supranationale Form der Zusammenarbeit darstellt. Rechtsakte der
Europäischen Union in diesem Bereich erfordern Einstimmigkeit im Rat, der im Wesentlichen
nur aus den Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten besteht, sowie einer Umsetzung in
nationales Recht durch den nationalen Gesetzgeber. Damit haben letztendlich die
Mitgliedsstaaten die Rechtssetzung in der Hand. Von einer eigenständigen Kompetenz der
Europäischen Union kann hier daher kaum gesprochen werden.
Hinzu kommt, dass Art. 29 ff. EUV nur eine Harmonisierung mitgliedsstaatlicher
Strafrechtsnormen ermöglicht, d.h. eine Angleichung nationaler Rechtsvorschriften durch
Verpflichtung
der
Anweisungskompetenz)
Mitgliedsstaaten
und
keinen
zum
Erlass
von
Normen
Erlass
eigener
Strafnormen
(sogenannte
(supranationale
Rechtssetzung).
Anders ist dies im Rahmen der 1. Säule. Dort wird zumeist nach dem Mehrheitsprinzip
abgestimmt. Zum Teil erfordern die Rechtsakte keine Umsetzung in nationales Recht. So
kann es sein, dass Rechtsakte auch in Mitgliedsstaaten, die gegen diesen gestimmt haben,
unmittelbar wirksam sind, vgl. Art. 249 Abs. 1 und 2 EGV. Das zeichnet die Supranationalität
der 1. Säule aus. In diesem Bereich existieren allerdings keine ausdrücklichen
Ermächtigungsgrundlagen. Einzig Art. 280 Abs. 4 EGV bietet Anlass zur Diskussion. Die
Vorbehaltsklausel in Satz 2 ist höchst umstritten, denn diese besagt, dass „die Anwendung des
Strafrecht der Mitgliedsstaaten und ihrer Strafrechtspflege [...] von diesen Maßnahmen
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unberührt [bleiben]“. Wie genau diese Formulierung zu verstehen ist, ist unklar und
Gegenstand zahlreicher Abhandlungen.
Darüber hinaus wird zum Teil auch innerhalb der 1. Säule eine Harmonisierungskompetenz
bzgl. des Strafrechts angenommen. Einige Autoren stützen sich dabei auf bestimmte
Ermächtigungsgrundlagen, die zwar das Strafrecht nicht explizit erwähnen, aber auch nicht
ausschließen, andere nehmen eine Annexkompetenz zu entsprechenden Sachkompetenzen an.
So beinhalten die Sachkompetenzen immer auch die Befugnis, strafrechtliche Regelungen zu
erlassen, soweit dies zur Regelung der entsprechenden Sachmaterie erforderlich ist.
Sowohl die Herleitung einer supranationalen Rechtssetzungskompetenz aus Art. 280 IV EGV,
als auch die der strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen stoßen auf Widerstand,
insbesondere von den Mitgliedsstaaten. Hauptargumente gegen jegliche strafrechtlichen
Befugnisse der Europäischen Union ohne klare ausdrückliche Ermächtigungsgrundlagen sind
das Demokratiedefizit auf EU-Ebene und die Souveränität der Mitgliedsstaaten. Das
Strafrecht sei dem Kernbereich staatlicher Souveränität zuzuordnen und eine Übertragung
strafrechtlicher Kompetenzen an die Europäische Union bedürfe einer ausdrücklichen
Ermächtigungsgrundlage, eine stillschweigende Übertragung könne nicht angenommen
werden.
Außerdem
bedürfe
das
Strafrecht,
als
ein
die
Bürgerrechte
besonders
einschneidendes Rechtsgebiet, in gesteigertem Maße demokratischer Legitimation, die die
Europäische Union wohl derzeit noch nicht gewährleisten könne.
Um diesen Bedenken gerecht zu werden, hat die Europäische Union in der Praxis bisher von
strafrechtlichen Regelungen abgesehen und nur von den ihr ausdrücklich zugewiesenen
Möglichkeiten
in
der
3.
Säule
Gebrauch
gemacht.
So
hat
sich
eine
Doppelgesetzgebungspraxis entwickelt. In Ausübung der Sachkompetenzen der 1. Säule
wurden bestimmte Verhaltensnormen erlassen; soweit strafrechtliche Sanktionsnormen zur
Absicherung dieser Ge- oder Verbote erforderlich erschienen, erfolgte dies über die 3. Säule.
Es liegt auf der Hand, dass diese Praxis nicht sehr effektiv ist. So existierte die
Verhaltensnorm schon lange bevor die strafrechtliche Absicherung erfolgte, da ein Konsens in
der 3. Säule aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses schwieriger zu erzielen ist und
danach die Umsetzung in nationales Recht häufig noch viel Zeit in Anspruch nimmt.
Eine Wende in dieser Diskussion stellt nun die neueste Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes dar. Dieser hat in zwei Urteilen (Rs. 176/03; Rs. 440/05) zwei
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Rahmenbeschlüsse, also Rechtsakte, die im Rahmen der 3. Säule erlassen wurde, für nichtig
erklärt, weil diese in die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der 1.
Säule eingriffen. Die Rechtssetzungskompetenzen aus der 1. Säule gehen denen, der 3. Säule,
nach Art. 47 EUV, Art. 29 Abs. 1 EUV grundsätzlich vor. Somit sind strafrechtliche
Regelungen im Rahmen der 3. Säule nur möglich, wenn diese nicht in entsprechende
Sachkompetenzen
der
1.
Säule
eingreifen.
Damit
hat
der
EuGH
der
Doppelgesetzgebungspraxis einen Riegel vorgeschoben, denn jede Absicherung von Normen,
die im Rahmen der 1. Säule erlassen wurden, können nicht mehr im Rahmen der 3. Säule
abgesichert werden, weil dann immer die Sachkompetenz der 1. Säule beschnitten würde.
Gleichzeitig hielt der Gerichtshof aber „Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der
Mitgliedsstaaten [...], die [...] erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum
Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten“ im Rahmen der 1. Säule für
zulässig (EuGH Rs. 176/03, 48. entg.).
Aus den Urteilsgründen dieser beiden Urteile ergeben sich viele Fragen: Wird damit nun eine
strafrechtliche Anweisungskompetenz im Rahmen der 1. Säule in bestimmten Bereichen
zugesprochen? Wie genau ist diese sodann ausgestaltet?
Eine weitere Veränderung hinsichtlich strafrechtlicher Kompetenzen in der Europäischen
Union kann der Vertrag von Lissabon mit sich bringen, wenn er in Kraft tritt. Denn dieser
sieht in Art. 83 VAEU (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) erstmals eine
ausdrückliche strafrechtliche Harmonisierungskompetenz der Gemeinschaft vor. Die
Regelungen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die bisher in
Art. 29 ff. EUV im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit geregelt waren,
werden in die 1. Säule überführt und können damit echte Kompetenzen in diesem Bereich
begründen. Auch entfällt die hoch umstrittene Vorbehaltsklausel des Art. 280 Abs. 4 Satz 2
EGV,
die
bisher
das
schlagende
Argument
gegen
eine
supranationale
Strafrechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft darstellte. Weiterhin gibt es Veränderungen
bzgl.
der
demokratischen
Legitimation
in
der
Europäischen
Union,
die
das
Demokratiedefizitargument entkräften oder bestärken könnten. Dies und mehr könnte die
bisherige kompetenzrechtliche Lage im Europäischen Strafrecht verändern.
Damit stellen sich zwei Hauptfragen, die im Rahmen dieser Dissertation beantwortet werden
sollen:
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1. Inwieweit verfügt die Europäische Union über strafrechtliche Kompetenzen auf Grundlage
der aktuellen Verträge im Hinblick auf die neueste EuGH-Rechtsprechung?
2. Inwieweit würde die Europäische Union über strafrechtliche Kompetenzen verfügen, wenn
der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt?
III. Aufbau
Der erste Teil der Arbeit soll zunächst die Definitionen der für dieses Thema zugrunde
liegenden
Arbeitsbegriffe
liefern.
Hier
soll
geklärt
werden,
was
unter
„Strafrechtssetzungskompetenz“ (darunter „Strafrecht“ und „Rechtssetzungskompetenz“ auf
Europarechtsebene) zu verstehen ist. Hier wird unter anderem auch die Unterscheidung
zwischen
supranationaler
Rechtssetzungs-
und
Anweisungskompetenz
und
die
Harmonisierungsmöglichkeit im Rahmen der 3. Säule erörtert. Im Ergebnis wird sich dann
auf das Kriminalstrafrecht und der Sekundärrechtssetzung der 1. Säule konzentriert.
Im zweiten Teil werden zunächst die Möglichkeiten, die sich aus den Verträgen ergeben,
dargelegt und im Folgenden das Für und Wider einer Kriminalstrafrechtssetzungskompetenz
im Rahmen der 1. Säule dargestellt.
Im dritten und wesentlichen Teil wird dann auf die Einflüsse der EuGH-Rechtsprechung und
des Vertrags von Lissabon auf den bisherigen Meinungsstand eingegangen.
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