Die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit

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Die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit
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Die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit
Dieses Kapitel beginnt mit einem authentischen Fall und versetzt Sie
in die Rolle des Helden. Sie haben eine Arbeitskollegin, die Sie ins
Vertrauen zieht und langsam damit herausrückt, dass sie sich immer
noch von einem entsetzlichen Autounfall erholt und nun auch noch
damit fertig werden muss, dass ihre Mutter Krebs hat. Sie werden Ihre
Vertrauensperson und möchten sie beschützen. Plötzlich erkrankt sie
ebenfalls an Krebs, wird vergewaltigt und erleidet schließlich eine
Fehlgeburt. An diesem Punkt beginnt Ihnen zu dämmern, dass es
einige Lücken in den Geschichten Ihrer Freundin gibt und dass sie
vielleicht nicht die Person ist, für die Sie sie gehalten haben. Sie fühlen
sich vernichtet. Mit solchen persönlichen Szenen aus dem wirklichen
Leben stellt das Buch die grauenvollen Folgen von artifizieller Störung
und Münchhausen-Syndrom dar. Das Kapitel zeigt, wie kunstvoll
Patienten ihre Krankheit porträtieren und warum es so einfach ist,
selbst Ärzte hinters Licht zu führen. Durch detailliert erzählte
Fallgeschichten kann der Leser mitverfolgen, wie diese Patienten
ihrem Alltagsleben als überaus geschickte Krankheitsbetrüger
nachgehen. Außerdem werden grundlegende Faktoren, die zur
artifiziellen Störung und zum Münchhausen-Syndrom beitragen,
sowie deren Beziehung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung
diskutiert.
Stellen Sie sich vor: Sie haben eine Arbeitskollegin, die sich manchmal im
Pausenraum zum Kaffee zu Ihnen gesellt, und mit der Zeit werden Sie immer besser miteinander bekannt. Sie halten Sie sogar für Ihre Freundin.
Diese Person vertraut sich Ihnen an, erzählt Ihnen kleine Geheimnisse aus
ihrem Leben, die Sie emotional berühren: Beispielsweise werde sie bald ihre über alles geliebte Großmutter verlieren und wisse nicht, wie sie das
durchstehen soll. Schritt für Schritt gewinnen ihre Geschichten an Wucht,
und die Probleme werden immer beklemmender. Sie sei als Kind missbraucht worden, und es falle ihr schwer, Menschen zu vertrauen – Sie seien da eine Ausnahme, sagt sie. Vor zwei Jahren sei sie vergewaltigt worden,
und nun lebe sie ständig in der Angst, dass sie dem Vergewaltiger wieder
in die Arme laufe, denn er sei nie gefasst worden. Schließlich, als sie Ihr
vollkommenes Vertrauen besitzt, enthüllt sie das schrecklichste Problem
von allen: Sie habe gestern eine Krebsdiagnose erhalten, und die Prognose
sei nicht gut.
Was würden Sie tun? Würden Sie zu ihr halten? Würden Sie ihr emotionale Hilfe anbieten und vielleicht sogar eine hilfreiche Hand? Hätten Sie
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auch nur einen Moment an ihrer letzten Eröffnung gezweifelt oder an einer ihrer vorhergehenden Geschichten?
Die Menschen sind dankenswerterweise ihrem Wesen nach zumeist
großzügig, und eine überzeugende Leidensgeschichte bringt oft das Beste
in uns zum Vorschein. Doch Personen mit artifizieller Störung – im Vorwort kurz beschrieben neben Münchhausen-Syndrom, Simulation und
Münchhausen-by-proxy-Syndrom – praktizieren eine Art Diebstahl. Sie
„spielen krank“, erzählen Lügen über ihre persönliche Krankheit oder
Krise und missbrauchen andere heimlich, um die Aufmerksamkeit oder
Zuwendung zu erhalten, die ihnen sonst im Leben fehlt. In den meisten
Fällen leiden sie tatsächlich, doch es ist nicht das physische Leiden an
Krebs oder die Trauer um einen Verstorbenen. Es ist ein emotionales Leiden, das sich aus dem tiefen Empfinden speist, ungeliebt und der Liebe
auch nicht wert zu sein.
Rhondas Geschichte illustriert eine mentale Krankheit, die das Leben
derer aussaugt, die in ihren Einflussbereich geraten. Die Geschichte ist voller Dramatik und wahr; lediglich die Namen wurden aus Gründen der
Anonymität geändert. Sie ist auch ein verblüffend repräsentatives Beispiel
dafür, wie die artifizielle Störung sich einführend darstellt, sich mit der
Zeit entfaltet und in manchen Fällen auflöst. Trotz der Intensität des Betrugs ist es ein Fall von artifizieller Störung, nicht des Münchhausen-Syndroms. Das Münchhausen-Syndrom ist die schwerste Variante der artifiziellen Störung, bei der Patienten einen Lebensstil entwickeln, in dem es
fast nur noch um die Erzeugung von Krankheit geht. Im Allgemeinen sind
Münchhausen-Patienten wie in einem Tourneetheater unterwegs, um auf
jeweils neuen Bühnen ihre Kunst vorzuführen.
Rhondas Fall
Alle, die Rhonda kannten, waren sich einig, dass sie eine Frau von einzigartigem Temperament war. Sie wussten nicht, dass Rhonda eine MeisterGeschichtenerfinderin war – eine Frau, die außerordentlich geschickt darin war, anderen etwas vorzumachen. Rhonda hatte mit den Erzählungen
ihrer tapferen Kämpfe die Bewunderung der Kommilitoninnen und Ausbilderinnen im Pflegestudium erworben. Sie erfuhren, dass Rhonda vor
drei Jahren, im Alter von 28 Jahren, einen entsetzlichen Autounfall nur
knapp überlebt hatte. Mit eisernem Willen hatte sie die Voraussage ihres
Arztes, sie würde nie wieder laufen können, Lügen gestraft. Die einzigen
jetzt noch sichtbaren Überbleibsel ihres Leidens waren eine Beinschiene
und ihr stetes Hinken – äußere Symbole ihre Kraft und Courage.
Kaum von dem Unfall genesen, so behauptete sie, sei eine weitere Katastrophe über sie hereingebrochen: Bei ihrer Mutter war eine aggressive
Krebsgeschwulst diagnostiziert worden. Rhonda beobachtete den raschen
Rhondas Fall 29
und qualvollen Verfall ihrer Mutter, der „einzigen wahren Freundin“, die
sie in der letzten Phase ihrer Krankheit pflegte. Beim Bewerbungsgespräch
für die Pflegeschule sagte sie, diese Schicksalsschläge hätten ihr Leben tief
verändert und sie bewegt, darüber nachzudenken, wie sie ihre Erfahrungen nutzen könnte, um anderen zu helfen. Auch wenn nicht bekannt ist,
ob Rhonda ihre Mutter wirklich durch eine Krebserkrankung verloren
hat, ist ihre Beschreibung als der „einzigen wahren Freundin“ Rhondas
idyllischer Phantasie entsprungen.
Wie auch immer es mit dem Tod der Mutter gewesen sein mag, Rhonda
behauptete, sie habe es nach dem schmerzvollen Verlust nicht mehr länger
in der gleichen kleinen Stadt ausgehalten. Sie verließ West Virginia und belegte einen Pflegeausbildungskurs an einem College im Süden, weit von
Zuhause entfernt.
Rhonda war intelligent und lernbegierig, aber sie hatte so lange schon
keine Schule mehr von innen gesehen, dass sie sich Sorgen machte, den
Anforderungen eines rigorosen Lernprogramms vielleicht nicht gewachsen zu sein. Sie erfuhr von einem speziellen Unterstützungsprogramm für
neue Pflegestudentinnen und schrieb sich gleich ein. Rasch befreundete sie
sich mit einer der Tutorinnen, der Rhondas scharfer Verstand und Lerneifer gefielen. Nach ein paar Treffen hatte sie in Louise eine Gesprächspartnerin gefunden, der sie Geheimnisse und bestürzende Geschichten aus
ihrer Vergangenheit anvertraute. Sie zögerte nicht, Louise zu sagen, dass
ihre Beziehung besonders sei. Es gab wenige Menschen in ihrem Leben, mit
denen sie über so persönliche und schmerzvolle Dinge sprechen konnte.
Louise sah in Rhonda eine Freundin, und ihr Erfolg als Pflegestudentin
lag Louise sehr am Herzen. Doch war sie überfordert, Rhondas ständig
wachsendes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit aufzufangen. Rhonda begann unangemeldet aufzutauchen und klagte darüber, dass sie Termine
ausmachen müsse „wie jede andere auch“.
Zwei Monate nach ihrem ersten Treffen erschien Rhonda in Louises
Büro. Sie war aufgewühlt und unfähig, über ihre entsetzliche Angst zu
reden. Sich zu offenbaren, bereitete ihr sichtlich große Mühe, doch unter
Louises liebevoller Ermutigung bekannte sie schließlich, sie habe einen
Knoten unter ihrem Arm entdeckt und fürchte sich vor dem, was er bedeuten könne. Louise bestand darauf, dass sie sich sofort untersuchen ließ.
Rhonda hatte sich erfolgreich in die oberen Schichten von Louises Gedanken und Sorgen eingenistet. Wie konnte Louise erwarten, dass sie in einer solchen Krise Termine ausmachte wie alle anderen? Es war unabdingbar für Rhonda, dass sie die absolute Vorzugsstudentin von Louise war,
nicht nur ein Name im Terminkalender. Sie verhexte Louise noch mehr, indem sie es versäumte, einen Termin beim Arzt zu vereinbaren. Kein noch
so nachdrückliches Drängen von Louise konnte sie dazu bewegen. Sie
sagte, sie habe zu große Angst. Sie weinte untröstlich. Sie wollte zu ihrer
Mutter.
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Die Angst und Not, in die sie Louise versetzt hatte, machten Rhonda
übermütig, und sie zog die Schraube noch einmal an, indem sie eine weitere schreckliche Geschichte enthüllte. Es war noch etwas anderes geschehen,
so grauenerregend, dass sie nicht wusste, wie sie es Louise erzählen sollte.
Louise war eine fürsorgliche Person mit einer sehr guten Ausbildung.
Sie glaubte, ihren Studentinnen helfen zu können, indem sie stets aufmerksam zuhörte und ihnen sorgfältig überlegten Rat gab. So war es kein Wunder, dass sie auf Rhondas Täuschungen hereinfiel (auch wenn sich schließlich Geschichte auf Geschichte als falsch erwies). Doch noch war das
Lügengebäude intakt, und mit Louises sanfter Ermunterung kam Rhondas
qualvolle Geschichte langsam ans Tageslicht. So wie sie nie das Wort Krebs
in den Mund genommen hatte, so konnte sie auch das Wort Vergewaltigung nicht aussprechen, doch es bestand kein Zweifel, worum es ging. Ihr
Schänder war ein Fremder, der sie mit der Waffe bedroht hatte. Sie weinte
laut und überzeugend, doch Louise registrierte kurz, dass sie keine Tränen
sah. Ein kleiner Zweifel blitzte auf, aber er verschwand schnell wieder, als
Rhonda ihre Geschichte erzählte.
Da Rhonda nervlich so stark überlastet war, forderte Louise sie entschieden dazu auf, therapeutische Hilfe zu suchen, um diese doppelte Krise in den Griff zu bekommen. Sie bestand erneut darauf, dass Rhonda sofort einen Termin vereinbaren müsse, um ihren Knoten untersuchen zu
lassen, und dass sie außerdem eine einschlägige Beratungsstelle aufsuchen
solle, um mit dem Trauma ihrer Vergewaltigung fertig zu werden. Rhonda
willigte ein, einen Arzt aufzusuchen, lehnte es aber kategorisch ab, die Geschichte ihrer Vergewaltigung jemand anderem zu offenbaren. Das war zu
erniedrigend. Einen Therapeuten aufzusuchen, kam nicht in Frage. Sie
wollte nichts davon hören und sagte Louise, wenn sie wirklich helfen wolle, so dürfe sie sie nicht länger damit bedrängen und müsse schwören, dass
die Vergewaltigung unter ihnen bleibe.
Am Tag vor der Untersuchung des Knotens erschien Rhonda in Louises Büro und sagte, sie fühle sich schwach. Ihre Periode war ausgeblieben,
und sie klagte über Gebärmutterschmerzen. Auf diese Weise lenkte sie von
dem verdächtigen Knoten ab, und Louise machte sich Sorgen über die Bedeutung der ausgebliebenen Regel. Sie führte Rhonda die Treppen hinunter und brachte sie in eine Notaufnahme, wo die Untersuchung eine Vaginalinfektion und eine vergrößerte Gebärmutter ergab. Louise musste
Rhondas Wort vertrauen, dass ein Schwangerschaftstest durchgeführt
worden sei und dass sie das Ergebnis später mitgeteilt bekäme.
Louise konnte nur staunen, wie Rhonda trotz ihrer körperlichen und
seelischen Belastungen ihr Studienpensum erfolgreich bewältigte. Wie
schaffte sie es, an allen Unterrichtsstunden teilzunehmen, mit den Anforderungen ihres Programms Schritt zu halten und weiterhin nicht nur zufriedenstellend, sondern exzellent abzuschneiden? Louise war verblüfft,
aber statt Rhonda für ihre Leistung zu bewundern, trieb sie ein ungutes
Rhondas Fall 31
Gefühl um. Irgendetwas stimmte nicht. In dem Puzzle fehlten zu viele Teile. Gerade als dieser Zweifel sich in Louise Bahn brach, sagte Rhonda, sie
sei beim Arzt gewesen und müsse eine aggressive Chemotherapie gegen
Brustkrebs machen.
Louise sprach nie mit einem Arzt, noch war sie je bei der Behandlung
zugegen, und ebenso wenig wusste sie über den Gynäkologen, den Rhonda vorgeblich besucht hatte, doch im Anschluss an die Behandlungen
wachte sie bei ihrer Freundin. Sie sah aus erster Hand die Hauptwirkung
der Chemotherapie – die ebenso gut vom Sirup der Brechwurzel herrühren
konnte, den es in jeder Apotheke zu kaufen gibt. Rhondas Erbrechen war
erbarmungswürdig und zog sich bis in die Nacht hin. Sie sagte, die Kopfschmerzen seien noch schlimmer, wie Nadeln aus heißem Stahl. Sie krümmte sich vor Krämpfen und flehte um Erlösung. Angesichts dieses Leidens
fühlte Louise den verzweifelten Wunsch zu helfen. Sie legte feuchte Tücher
auf Rhondas Stirn und spielte leise Musik, um den Schmerz zu lindern.
Rhonda besuchte weiterhin den Unterricht und sah von Tag zu Tag
elender aus, aber sie war entschlossen, die Pflegefachschule abzuschließen,
selbst wenn sie nicht lange genug leben sollte, um ihren Beruf je ausüben
zu können. Als ihre Hauptpflegerin hatte Louise all diese Krankheitszeichen gesehen – die schwarze Tintenmarkierung auf Rhondas Brust, die den
Bereich für die Bestrahlung vorgab, kleine Haarbüschel im Abfluss im Badezimmer, Harninkontinenz aufgrund der Behandlungen und das Erbrechen. Es konnte keinen Zweifel geben, dass diese Frau krank war, aber es
verwunderte Louise, dass Rhonda so mollig blieb. Diese kleinen, nagenden
Gedanken wurden jedoch sofort von ihrem Mitleid korrigiert. Louise
konnte ja selbst sehen, wie krank diese Frau war.
Gleichwohl blieben gewisse Ungereimtheiten weiterhin in ihrem Bewusstsein haften. Warum lehnte Rhonda es hartnäckig ab, sich um das
Krebskranken-Stipendium zu bewerben, das Louise ihr empfohlen hatte?
Rhonda war eine starke Anwärterin und brauchte Geld. Und warum kamen neue Krisen immer rechtzeitig, um die Lösung der alten zu vereiteln?
Warum erlaubte Rhonda Louise nicht, mit einem ihrer Ärzte zu sprechen?
Louise war ein fester Bestandteil von Rhondas Leben geworden und hatte
ein Anrecht auf Informationen, doch Rhonda geriet bei dem Vorschlag in
Wut, meinte, sie sei selbst in der Lage, die medizinischen Daten zu besorgen, die Louise brauche. Louise wurde langsam ärgerlich über die Einschränkungen und über die Last, die sie alleine trug.
Am Ende ihrer letzten Chemotherapieserie erhielt Rhonda einen Anruf
von einer Verwandten aus West Virginia. Louise war gerade zu Besuch, als
der Anruf kam, und sie hörte das Wispern im Nebenraum, das leise Weinen, das Auflegen des Hörers. Anscheinend war Rhondas Schwester soeben gestorben, vollkommen unerwartet. Louise spendete ihrer Freundin
in diesem Moment Trost, doch war sie am Ende ihrer Kräfte. Eine Tragödie nach der anderen – es schien immer so weiterzugehen.
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Louise wendete sich an eine Hospiz-Trauerberaterin und bat um Hilfe.
Mehrere Wochen später rief die Beraterin sie an und meinte, sie sei nicht
sicher, ob eine Schwester gestorben war, und sie schenke der Krebsgeschichte schlicht keinen Glauben. Als langjährige Hospiz-Klinikerin mit
Pflegeerfahrung bei Krebspatienten erklärte sie Louise, dass viele – wenn
nicht die meisten – Teile von Rhondas unzähligen Geschichten nicht zusammenpassten. Das Fortschreiten ihrer Krankheit sah nicht wie ein echter Fall von Krebs aus. Die Geschichte der Vergewaltigung und Fehlgeburt
– sogar noch der Tod ihrer Schwester – enthielten Unstimmigkeiten und
medizinische Fehler. Rhondas ausweichende Antworten verstärkten nur
ihren Argwohn. Da sich Louise an sie gewandt hatte, fühlte sich die Beraterin verpflichtet, ihre Einschätzung mitzuteilen: eine Überweisung an einen Psychiater sei angemessen, um herauszufinden, warum Rhonda fast
zwanghaft solche Leidensgeschichten erfand.
Als Rhonda mit diesem Verdacht konfrontiert wurde, reagierte sie aufgebracht. Sie wies drohend mit dem Finger auf Louise und überhäufte sie
mit Vorwürfen, ohne auch nur einmal auf den Gehalt der Zweifel einzugehen. Sie sagte, Louise habe sie hintergangen, und sie wolle nichts mehr mit
ihr zu tun haben. Da Louise nicht länger den Mülleimer für neue Tricksereien abgeben wollte, brach Rhonda jeden Kontakt ab.
Rhonda erholte sich offenbar von ihrem „Krebs“, absolvierte die Prüfungen der Pflegefachschule mit Auszeichnung und erhielt eine Anstellung
in einem städtischen Krankenhaus. Ein paar Monate später hörte Louise
von einer Kollegin, dass Rhonda neue Freunde gefunden hatte; sie waren
nun die Zuhörer der Geschichten, mit welchem Durchhaltevermögen sie
Patienten pflege, obwohl sie einen Knoten unter dem Arm entdeckt habe,
der sich als kanzerös erwiesen habe, und obwohl sie vergewaltigt und
schwanger geworden sei, eine Fehlgeburt und den Verlust zweier naher
Angehöriger – darunter ihre Schwester – erlitten habe. Sie umsponn die
neuen Bewunderer wiederum mit ihren traurigen Geschichten und gewann ihre warmherzige Anteilnahme und Zuwendung.
Rhonda war nicht die erste Patientin, die Zuwendung und sogar Liebe
durch Vortäuschung einer Krebserkrankung (sowie anderer Leiden und
Krisen) zu erlangen trachtete, noch wird sie die letzte sein. Krebs ist die
Krankheit der Wahl für eine Reihe von Patienten mit artifizieller Störung,
die bewusst und zielgerichtet über ihre Erkrankung lügen. Manchmal fügen
sie sich selbst Verletzungen zu oder führen körperliche Symptome herbei,
um Sympathie, Bewunderung und Fürsorge zu gewinnen. Das heroische
Bild, das Krebsüberlebenden in zunehmendem Maße zukommt, ist für Patienten mit artifizieller Störung ebenso anziehend wie die starke emotionale Reaktion, die eine Krebsdiagnose bei nahe stehenden Menschen auslöst.
Ein Fall, der von W. F. Baile et al. in der Fachzeitschrift für Psychiatrie
Psychosomatics berichtet wurde, weist einige Parallelen zu Rhonda auf.
Doch, wie ich später erklären werde, entsprechen die Merkmale dieser
Libbys Betrug 33
Frau eher dem voll entwickelten Münchhausen-Syndrom: Ihr Leben konzentrierte sich ausschließlich auf die Darstellung des Krankheitszustands
und auf nichts anderes, während Rhonda trotz ihrer Betrügerei noch in der
Lage war, ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Außerdem ging es der
Frau in Psychosomatics, anders als Rhonda, um finanzielle Unterstützung
für die Aufrechterhaltung ihrer Täuschung, was darauf hindeutet, dass sie
vielleicht aus Gründen finanzieller Bereicherung simulierte.
Libbys Betrug
Eine Frau von 38 Jahren, die ich Libby nennen werde, zog von Stadt zu
Stadt und täuschte Krebs und andere dramatische Krankheiten und
Schicksalsschläge vor. Libbys Simulationen wurden zwar mit zunehmendem Alter immer intensiver und erfinderischer, doch hatte die Gewohnheit, krank zu spielen, bei ihr bereits in der Grundschule begonnen. Als
Älteste von drei Geschwistern bewunderte sie ihren Vater, einen Offizier,
der ihre jüngeren Zwillingsbrüder mit Liebe überhäufte, sie dagegen vollständig überging. Sie wurde eifersüchtig und launisch und vergriff sich
körperlich an ihren Brüdern.
Seitdem sie in eine kirchliche Privatschule ging, begann sie krank zu
spielen, um zu Hause bleiben zu können und zusätzliche Zuwendung von
ihrer autoritären Mutter zu bekommen. Sie setzte Krankheiten auch ein,
um auf diese Weise ihren Vater zu positiven Emotionen zu bewegen, der
allerdings kalt und distanziert blieb.
Libby behielt die Gewohnheit des Krankspielens bei, auch als sie älter
wurde. Sie suchte einen Psychiater auf, der ihre Scharaden, die nach dem
Tod ihres Vaters noch zunahmen, nicht zu vermindern vermochte. Ihre
Mutter wusste, dass Libby ihre Leiden vortäuschte, aber sie wusste nicht,
wie sie ihr helfen oder sie zur Aufgabe ihres Verhaltens bewegen konnte.
Libby suchte sich dann eine neue Bühne für ihre Schauspielerei – eine
andere Art von familiärer Umgebung –, indem sie sich Geistlichen (Vaterfiguren) und religiösen Gemeinschaften (Ersatzfamilien) näherte. Sie trat
einem Nonnenkloster bei und wurde Novizin. Obwohl sie nun von einer
fürsorglichen, unterstützenden „Familie“ umgeben war, nahm sie bald ihre Krankenrolle wieder auf und täuschte Leukämie vor. Sie bat die anderen Nonnen, für sie zu beten, da sie gegen eine schreckliche Krankheit ankämpfe, zugleich kam sie all ihren Pflichten nach und machte tapfer ein
fröhliches Gesicht, obgleich die „Anämie“ sie sehr schwächte. Libbys
Schauspiel war so überzeugend, dass sie bei den anderen Nonnen Mitleid
und Anteilnahme erregte, und ihr Betrug flog erst auf, als sie der Oberin
gestand, dass ihr Krebs in Remission sei. Als diese Libbys Arzt anrief, um
ihm zu seinem Behandlungserfolg zu gratulieren, erfuhr sie, daß Libby
weder Krebs noch eine andere lebensbedrohliche Krankheit hatte.

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