Haefeli Andrea/Rusch Arnold F. Klagen gegen

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Haefeli Andrea/Rusch Arnold F. Klagen gegen
Klagen gegen Fahrzeughersteller – vom kastenförmigen Range Rover und von fehlenden Airbags
Wer die Produktehaftpflicht in Amerika studiert, trifft auf „no airbag cases“. Sie basieren auf dem
Vorwurf, der Hersteller habe den Einbau eines Airbags unterlassen, obwohl dies möglich gewesen
wäre und der Unfall mit Airbag weniger schlimme Verletzungen provoziert hätte. Ähnliche Klagen
betreffen gefährliche Geländewagen und das Fehlen eines elektronischen Stabilitätsprogramms. Das
klingt vordergründig frivol. Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern solche Klagen auch vermehrt
in der Schweiz sinnvoll wären und sich als Motor des Fortschritts erweisen könnten.
Celui qui étudie la responsabilité civile du fait des produits aux Etats-Unis se heurte aux arrêts « absence d’airbag ». Ces arrêts reprochent aux constructeurs l’absence d’airbags bien que leur installation eût été possible et que l’accident eût provoqué des lésions de moindre gravité. Des actions judiciaires analogues concernent des véhicules tout terrain que l’absence de dispositif électronique de
stabilité rend dangereux. A première vue, cela paraît frivole. La contribution analyse si de telles actions judiciaires seraient raisonnables de même en Suisse, et comment cela favorisait le progrès.
ANDREA HAEFELI/ARNOLD RUSCH∗
HAVE 2014, 370 ff.
1. Einleitung
Der Fokus der vorliegenden Analyse richtet sich hauptsächlich auf die deliktische Verschuldenshaftung (Art. 41 OR, evtl. i.V.m. Art. 55 Abs. 2 ZGB), die Geschäftsherrenhaftung (Art. 55 OR) und insbesondere die Produktehaftung nach PrHG. Der Grund liegt darin, dass zwischen der geschädigten Person und dem Hersteller, aber auch zwischen dem Fahrzeugeigentümer und dem Hersteller in der
Regel kein Vertrag besteht, der Sachgewährleistungsansprüche (Art. 197 ff. OR) ermöglicht. Gegen
den Verkäufer des Fahrzeugs bestehen Ansprüche aus Sachgewährleistung überdies nur während
zwei Jahren (Art. 210 Abs. 1 OR).
Der Hersteller haftet für Schäden, die ein fehlerhaftes Produkt verursacht. Art. 55 OR geht dabei von
einem Konzept der Schadensicherheit aus.1 Das bedeutet, dass der Hersteller typische Gefahrenquellen, jedenfalls wenn sie nicht unerheblich sind, durch geeignete und zumutbare Sicherungsmassnahmen zu beseitigen hat, auch wenn die Gefahren nur selten auftreten oder noch gar nie aufgetreten sind.2 Art. 4 PrHG orientiert sich für den Fehlerbegriff an der Sicherheit, „die man unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist“.3 Als Massstab für die Beurteilung von Konstruktionsfehlern gilt hier der aktuelle Stand der Technik: „Bei der Entwicklung technischer Produkte
sind die nach dem jeweiligen Stand der Technik möglichen Sicherheitsvorkehren zu treffen.“4 Der
Stand der Wissenschaft und Technik bestimmt sich nach objektiven Kriterien, d.h. nach allgemein
zugänglichen und durch die betroffene wissenschaftliche Gemeinschaft als seriös betrachteten
Kenntnissen im Zeitpunkt der Inverkehrsetzung des Produkts.5 Doch wie muss man dies verstehen? Es
∗
Rechtsanwältin lic. iur. ANDREA HAEFELI praktiziert in Zürich; Rechtsanwalt PD Dr. ARNOLD RUSCH LL.M. ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Fribourg und Zürich.
1
Vgl. BK-ROLAND BREHM, Berner Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Band VI, 1. Abteilung, 3. Teilband, 1. Unterteilband, Die
Entstehung durch unerlaubte Handlungen, Art. 41-61 OR, 4. A., Bern 2013 (zit. BK-BREHM), OR 55 N 84.
2
Urteil BGer 4C.307/2005, E. 1 und 3.2.
3
Zu den Sicherheitserwartungen als Fehlermassstab siehe ROLAND BÜHLER, Definition des Produktefehlers im Produktehaftpflichtgesetz
(PrHG), AJP 1993, 1425 ff., 1433 ff.; vgl. BGE 133 III 81 ff., 87, E. 4.1.
4
HANS JOACHIM HESS, Kommentar zum Produktehaftpflichtgesetz, 2. A., Bern 1996, PrHG 4 N 26. Zu den Elementen der berechtigten Sicherheitserwartung vgl. BGE 133 III 81 ff., 83 ff., E. 3.1.
5
BGE 137 III 226 ff., 233, E. 4.1. Später erhöhte Sicherheitserwartungen machen ein Produkt nicht fehlerhaft (BÜHLER (Fn. 3), 1436).
1
gibt Fahrzeuge der Luxusklasse, die alle erdenklichen Sicherheitssysteme enthalten. Wie aber geht
man mit dem günstigsten Modell eines Kleinwagens um, der ungefähr Fr. 10‘000 kostet? Die nachfolgenden Überlegungen beginnen mit einer Analyse bekannter Fälle.
a. Vom Schweizer Range Rover-Prozess…
In der Schweiz gibt es zur Sicherheit von Fahrzeugen nur wenige Prozesse. Spektakulär war der Range
Rover-Prozess gegen die Schweizer Importeurin des Geländewagens vor 15 Jahren.6 Ein fünfjähriger
Knabe erlitt als Fussgänger tödliche [HAVE 2014, 370/371] Verletzungen beim Zusammenstoss mit
dem kastenförmigen Range Rover, den man von 1970 bis 1996 äusserlich praktisch unverändert neu
erwerben konnte. Die Klage basierte auf dem PrHG und stützte sich auf die verletzte Produktbeobachtungspflicht, d.h. eine unterlassene Verbesserung der für Fussgänger nachweislich stark gefährlichen Fahrzeugfront. Die Parteien haben sich jedoch verglichen.7 Die beklagte Importeurin berief
sich auf die nationalen und internationalen Sicherheitsvorschriften, die der Range Rover allesamt
erfüllte. Dass dieses Argument nicht genügen kann, ist herrschende Lehre.8 Nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts reicht es auch nicht aus, dass ein Produkt erfolgreich Qualitätstests durchlaufen
hat.9
Der alte Range Rover (1970-1996, Bild links) gefährdet Verkehrsteilnehmer mit der kastenförmigen,
hohen Front. Aber auch modernere Geländewagen richten bei normalen Personenwagen unnötig
schwere Schäden an (Bilder: Autobild/Focus).
b. über die amerikanischen SUV-Klagen…
Auf ähnlich gelagerte Fälle stösst man in der amerikanischen Rechtsprechung im Zusammenhang mit
dem Design von Geländewagen (sog. Sport Utility Vehicles, „SUV“). In Semprini v. General Motors
Corp. kollidierte ein Chevrolet Blazer-Geländewagen frontal mit einer Limousine der Marke Pontiac.10
Semprini als Lenker der Limousine erlitt wegen des kollabierenden Fahrzeugdachs schwere Kopfverletzungen. Er klagte gegen General Motors als Herstellerin des Geländewagens und machte geltend,
der Chevrolet Blazer als Geländewagen weise aufgrund seiner im Vergleich zu sonstigen Personen-
6
Vgl. die Presseberichte in Fn. 7.
NZZ vom 11.6.1998, 53; NZZ vom 17.2.2000, 46; Tages-Anzeiger vom 17.2.2000, 14; vgl. dazu Allgemeiner Deutscher Automobil Club
(ADAC),
Die
grossen
Dicken
sind
die
Schlimmsten,
Pressemitteilung
vom
20.2.2007,
Internet:
http://presseservice.pressrelations.de/standard/result_main.cfm?aktion=jour_pm&r=268230&quelle=0&pfach=1&n_firmanr_=101611&se
ktor=pm&detail=1 (30.8.2014); vgl. CARL T. BOGUS, Why lawsuits are good for America, New York/London 2001, 163 f.
8
WALTER FELLMANN/ANDREA KOTTMANN, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Band I, Bern 2012, N 1170; HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 28; BÜHLER (Fn.
3), 1438; WALTER FELLMANN, in Heinrich Honsell/Nedim Peter Vogt/Wolfgang Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar Obligationenrecht I, 5. A.,
Basel 2011, PrHG 4 N 27.
9
BGE 133 III 81 ff., 88, E. 4.2.1.
10
Semprini v. General Motors Corp., No. 1-04-3452 (III. App. 1st Dist., 2006).
7
2
wagen unnötigen Grösse, Stossstangenhöhe, Schwere und Steife einen Konstruktionsfehler auf.11 Das
Gericht wies die Klage ab: Es existiere keine Pflicht, ein Fahrzeug derart zu gestalten, dass ein Zusammenstoss mit diesem ungefährlich sei. Zudem seien Höhe und Schwere eines Geländewagens
sowie die damit verbundene Gefahr im Falle einer Kollision mit einer (tieferen und leichteren) Limousine für jeden Konsumenten offensichtlich.12 Erfolgreicher waren hingegen die Rollover-Klagen gegen
die Hersteller kippanfälliger Geländewagen (Ford Bronco II und Explorer, Jeep CJ-7, d.h. Geländewagen mit hohem Schwerpunkt und enger Spurweite).13 Eng damit verbunden sind Klagen, die das Fehlen eines elektronischen Stabilitätsprogramms (ESP, ESC) für einen Rollover-Unfall verantwortlich
machen. Soweit ersichtlich, waren die auf dem Fehlen des Stabilitätsprogramms basierenden Klagen
bis heute nicht erfolgreich.14
c. zu den „no airbag cases“
Mehrere Klagen in Amerika richteten sich gegen Fahrzeughersteller, die trotz entsprechender technischer Möglichkeiten keine Airbags einbauen liessen. Ein erster Pionierfall war Burgess v. Ford im
Jahre 1975 und betraf den Ford Pinto, den die Klägerin wegen des fehlenden Airbags als mangelhaft
bezeichnete. Ford bezahlte im Rahmen eines Vergleichs USD 1.8 Mio.15 Ein weiterer Meilenstein war
das Oldsmobile-Verfahren, bei dem es um Verletzungen des Klägers ging, die er in seinem Oldsmobile
des Jahres 1988 ohne Airbag erlitten hatte. Zwar schlossen die Parteien 1994 einen Vergleich, doch
war erstmals eine Jury einstimmig gewillt, grundsätzlich Schadenersatz zu gewähren. Der Kläger
[HAVE 2014, 371/372] konnte nämlich nachweisen, dass General Motors bereits in den Jahren 19731976 rund 10‘000 mit Airbags ausgestatte Fahrzeuge verkauft hatte, dies aber wegen der fehlenden
Nachfrage wieder einstellte.16 Im späteren Toyota-Fall wurde die Klägerin in ihrem Toyota Tercel
verletzt, obwohl sie Sicherheitsgurte trug. Sie klagte in der Folge aufgrund eines fehlenden Seitenairbags gegen Toyota. Nach Ansicht des Gerichts liess der Safety Act von 1966 solche Klagen zu, da der
Kongress dieses Rechtsgebiet nicht abschliessend habe regeln wollen.17 Auch die Fahrzeuglenkerin in
Geier v. American Honda Motor Co. trug einen Sicherheitsgurt und wurde schwer verletzt, als sie mit
ihrem Honda Accord gegen einen Baum fuhr. Die Klage gegen Honda basierte wiederum auf dem
unterlassenen Einbau eines Seitenairbags. Der Supreme Court wies die Klage jedoch ab. Er hielt fest,
dass die Rechtsprechung gewisse Rückhaltsysteme nicht als unsicher bezeichnen könne, nachdem
der Safety Act es den Herstellern explizit frei gestellt habe, welche Arten von Rückhaltesystemen
(Schultergurt, Airbag etc.) sie in ihre Fahrzeuge einbauen können.18 Diese Rechtsprechung hat sich
seither gehalten.
11
Vgl. dazu eingehend KEVIN CASE, Tanks in the Streets: SUVS, Design Defects, and Ultrahazardous Strict Liability, Chicago-Kent Law Review,
Vol. 81, Iss. 1, Article 9, 149 ff., insb. 159.
12
Semprini v. General Motors Corp., No. 1-04-3452 (III. App. 1st Dist., 2006); vgl. auch De Veer v. Land Rover, beschrieben in CASE (Fn. 11),
150 f., 170.
13
Vgl. Buell-Wilson v. Ford Motor Co., 73 Cal.Rptr.3d 277 (2008), 293 ff. („stability defects“); vgl. Cole et al v. Ford Motor Company, 120076, 1 MSJVR 1 f., December 2010; vgl. BOGUS (Fn. 7), 159 ff. („The Bronco II story“, mit Hinweisen auf den Jeep CJ-7).
14
Hinkle v. Ford Motor Co., 2013 U.S. Dist. LEXIS 74030, 12; Jesus Garcia v. Nissan Motor Co., Ltd., 2006 U.S. Dist. LEXIS 20165, 11 f. Es
bleibt abzuwarten, ob der Klage der Witwe von Roger Rodas, der zusammen mit dem Schauspieler Paul Walker in einem Porsche Carrera
GT ums Leben kam, Erfolg beschieden sein wird. Die Klageschrift macht Porsche für den Unfall verantwortlich, weil das Fahrzeug trotz
bekannter Steuerungsprobleme kein ESP aufwies, vgl. Paul Walker crash, Los Angeles Times, 12. Mai 2014, Internet:
http://www.latimes.com/local/lanow/la-me-ln-paul-walker-crash-porsche-sued-20140512-story.html (30.8.2014).
15
Vgl. die Beschreibung des Falles bei JOHN D. GRAHAM, Product Liability and Motor Vehicle Safety, in: Peter W. Huber (Hrsg.), The Liability
Maze: The Impact of Liability Law on Safety and Innovation, 120 ff., 158, CHERYL FRANK, Pumped-up Issue, A.B.A.J., Aug. 1985, 22 und FRANK
WATERS, Air Bag Litigation: Plaintiffs, Start Your Engines, 13 Pepp. L. Rev. 4 (1986), 1063 ff., 1079.
16
Davis v. General Motors Corp., N. 4569C (Pa. Luzerne County Ct. C.P. 1991); LARRY E. COBEN, Victory in a no air bag case, in: TRIAL, september 1995; vgl. BOGUS (Fn. 7), 164 f.
17
Drattel v. Toyota Motor Corp., 93 N.Y.2d 35 ; die diskutierten Sicherheitsvorschriften waren die Federal Motor Vehicle Safety Standards
No. 208 (Occupant Crash Protection).
18
Geier v. American Honda Motor Co., 529 U.S. 861.
3
2. Frivole oder sinnvolle Klagen?
a. Vertragsrechtliche vs deliktsrechtliche Optik
Die no airbag-Klage wirkt auf den ersten Blick stossend und frivol. Sie provoziert geradezu das Gegenargument, der Verletzte hätte ja ein sichereres Fahrzeug kaufen können. Diese Optik entspricht
aber vertragsrechtlichem Denken. Stützt sich die Klage auf eine ausservertragliche Haftung, kann es
keine Rolle spielen, weshalb jemand als Geschädigter ein bestimmtes Fahrzeug erworben hat – es sei
denn, er habe sich bewusst für das Risiko entschieden.19 Zweitens kommt hinzu, dass viele amerikanischen Kläger während mehreren Jahren wegen der brachliegenden Technik gar keine Möglichkeiten hatten, Fahrzeuge mit Airbags zu kaufen.20 Die Deliktshaftung beruht drittens auf einem Zufallskontakt, also gerade nicht auf dem Kauf des Fahrzeugs.21 Es ist folglich gut möglich, dass man als Beifahrer oder als Passant einen Schaden wegen eines unsicheren Fahrzeugs erleidet, das im Eigentum
einer anderen Person steht.
b. Sorgfaltspflichten richten sich auch auf Fehlgebrauch und Unfälle
Der Konstruktionsfehler des Produkts muss nicht für den Verkehrsunfall selbst verantwortlich sein,
wohl aber für die Schädigung oder deren Verschlimmerung beim Unfall. Es ist vorhersehbar, dass sich
im Strassenverkehr Unfälle ereignen. Deshalb müssen auch die für Passanten und Fahrzeuginsassen
vermeidbaren Folgen einer Fehlbedienung oder eines Unfalls Beachtung finden. Der oben erwähnte
Entscheid Semprini v. General Motors verneint dies zwar, doch haben andere amerikanische Entscheidungen dies durchaus so festgehalten. Es ging dabei um ein Design, das bei Unfällen gravierende Verletzungen hervorruft. Beispiele dafür sind hervorstehende Zacken („propeller-like blades“) auf
Radkappen, eine unnötig gefährliche, hervorstehende Blinkerfassung und eine Lenkradstange, die
sich bei einem Unfall in die Fahrgastzelle bohrt.22 Der Unfall gehört auch in der Schweiz und in
Deutschland zum „Gebrauch, mit dem vernünftigerweise gerechnet werden kann“ (Art. 4 Abs. 1 lit. b
PrHG).23
c. Technologiefördernde Wirkung der Klagen
Die oben erwähnten Entscheide sind jeweils unterschiedlich ausgefallen. Die Argumentation in Geier
v. American Honda Motor Company24 verdient keine Zustimmung, weil sie Sicherheitsvorschriften
petrifiziert und damit den Fortschritt hemmt. Ein Fahrzeug ist nicht sicher im Sinne von fehlerfrei,
bloss weil es die gesetzlichen Sicherheitsstandards erfüllt. In der Schweiz ist dies anerkannt,25 was
auch in Amerika für andere Produktehaftpflichtfälle gilt.26 Nach wie vor kommen viele Produktbereiche ohne gesetzliche Regulierung aus, doch müssen auch diese Produkte sicher sein. Staatliche Sicherheitsvorschriften entstehen im politischen Prozess und lassen sich durch Lobbyarbeit verwäs-
19
Vgl. zu diesem Gedanken BGE 64 II 254 ff., 262.
Vgl. die Angaben bei Fn. 16.
21
Vgl. HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 106.
22
Passwaters v. General Motors Corporation, 454 F.2d 1270, 1275 f.; Knippen v. Ford Motor Company, 546 F.2d 993, 995 ff.; Larsen v.
General Motors Corporation, 391 F.2d 495, 502 f.; dazu allg. CASE (Fn. 11), 150 f., 167 ff.
23
Vgl. Staudinger-JÜRGEN OECHSLER (2013), ProdHaftG 3 N 67a, m.w.H., explizit zum Verkehrsunfall als Fehlgebrauch; vgl. BGE 133 III 81 ff.,
85 und Urteil BGer 4A_255/2010, E. 3; vgl. FELLMANN/KOTTMANN (Fn. 8), N 1159 f.; vgl. die ähnlichen Überlegungen für die Werkeigentümerhaftung (BGE 116 II 422 ff., 424).
24
Vgl. die Angaben ob Fn. 18.
25
HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 28; FELLMANN/KOTTMANN (Fn. 8), N 1170.
26
Vgl. Buell-Wilson v. Ford Motor Co., 73 Cal.Rptr.3d 277 (2008), 300 und Grimshaw v. Ford Motor Co., 119 Cal.App.3d 757, 803.
20
4
sern.27 Die Produkteentwicklung bedarf deshalb eines unabhängigen Korrektivs in Form eines dynami- [HAVE 2014, 372/373] schen, wettbewerbsbasierten Sicherheitsverständnisses, das jede Person
einklagen kann. Dieses Korrektiv dient zugleich als Motor des Fortschritts. Diese These lässt sich anhand einer Vielzahl von Beispielen untermauern: Weshalb muss man heute bei einem Automatikfahrzeug auf die Bremse treten, um den Automatikwähler von Park auf Drive zu wechseln? Weil unzählige
Fahrer eines Audi 5000 in den USA gegen Audi bzw. Volkswagen geklagt haben, nachdem sich Fälle
unerklärlicher Beschleunigungen ereigneten.28 Dasselbe Problem zeigte sich, als mehrere Ford- und
Chrysler-Modelle trotz vermeintlicher Parksicherung von selbst wegrollten.29 Weshalb befinden sich
Benzintanks nicht mehr im unmittelbaren Heckbereich, wo sie sich bei einem Heckaufprall entzünden?
Weil sich die Prozesse um den Tank beim Chevrolet Malibu und Ford Pinto für die Fahrzeughersteller
zu einem Desaster entwickelt haben. Bei den Fällen um den Chevrolet Malibu und den Ford Pinto
zeigte sich überdies, dass die Hersteller um die Gefahr sehr wohl Bescheid wussten, doch aus KostenNutzen-Überlegungen untätig blieben. Auch für diese Überlegungen stellen Klagen eine richtige Antwort dar; in der Schweiz herrschen indes eher klägerunfreundliche Bedingungen.30
Der Fahrzeughersteller muss im Rahmen des aktuell technisch Möglichen und Zumutbaren um einen
Sicherheitsstandard bemüht sein, der über die staatlichen Zulassungsvoraussetzungen hinausgehen
kann. Der Sicherheitsmassstab bei der Produktehaftpflicht nach PrHG und der Geschäftsherren- bzw.
Produktehaftpflicht nach Art. 55 OR erweist sich in der Praxis als identisch und äusserst streng.31 Dem
Geschäftsherr steht zwar der Befreiungsbeweis offen, indem er nachweist, dass er entweder die den
Umständen entsprechend gebotene Sorgfalt hat walten lassen oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Die Anforderungen an den Sorgfaltsbeweis sind aber gestützt auf die Rechtsprechung zum „Schachtrahmen“-Fall sehr hoch: Die vom Geschäftsherrn verlangte Sorgfalt beschränkt sich nicht auf richtige Auswahl, Überwachung und Instruktion der Hilfspersonen. Er muss darüber hinaus für eine zweckmässige Arbeitsorganisation und nötigenfalls für die
Endkontrolle seiner Erzeugnisse oder eine sichere Konstruktion sorgen, wenn damit eine Schädigung
Dritter verhindert werden kann:32 „Mit anderen Worten hätte also die Beklagte die Konstruktion der
Schachtrahmen so verändern müssen, dass ein Ausreissen der Schlaufen auch dann mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschliessen war, wenn deren Festigkeit nicht geprüft wurde oder
geprüft werden konnte.“33 Derart strenge Anforderungen an die Fehlerfreiheit eines Produkts bzw.
den Sorgfaltsbeweis des Geschäftsherrn treiben, wie oben gezeigt, die Produkteentwicklung voran.
Im Bereich der Konstruktionsmängel und der Produktbeobachtungspflichten – beim oben zitierten
Schachtrahmenfall ging es um einen Fabrikationsfehler – muss dabei der gleich strenge Massstab
greifen, wenn sich der Hersteller einer Gefahr für Leib und Leben bewusst sein musste.34
Der strengen Produktehaftpflicht kommt angesichts der immer umfassenderen Assistenzsysteme in
den Fahrzeugen eine wesentliche Bedeutung zu: Je mehr Unfälle diese tatsächlich verhindern kön27
Vgl. BOGUS (Fn. 7), 146 ff.; vgl. zur verhinderten Verschärfung der Sicherheitsvorschriften bei Lastwagen CLAUS HECKING, Erfolg der Lastwagen-Lobby: EU-Verkehrsminister verbieten sichere Lkw-Kabinen, Spiegel Online, Internet: http://www.spiegel.de/auto/aktuell/lkwkabinen-verkehrsminister-beugen-sich-lobby-a-974229.html (30.8.2014).
28
Vgl. statt vieler Perona v. Volkswagen of America, Inc., 658 N.E.2d 1349 (Ill. App. Ct. 1995).
29
Vgl. dieses und weitere Beispiele bei American Association for Justice, Driven to Safety: How Litigation Spurred Auto Safety Innovations,
Internet: http://solomonlawsc.com/wp-content/uploads/Driven_to_Safety.pdf (30.8.2014); vgl. Staudinger-JOHANNES HAGER (2009), BGB
823 N F 13; vgl. OLG Celle, Urteil vom 23.3.1983, 9 U 195/82, VersR 1984, 276.
30
Vgl. das Verfahren Anderson v. General Motors, beschrieben bei ARNOLD RUSCH, Der Chevrolet Malibu, sein Tank und das «Ivey Memo»,
AJP 2014, 137 ff.; Grimshaw v. Ford Motor Co. (1981) 119 CA3d 757, 775-778.
31
Zum umstrittenen Verhältnis zwischen Art. 55 OR und Art. 1 PrHG vgl. BK-BREHM (Fn. 1), OR 55 N 80a, HEINRICH HONSELL/BERNHARD ISENRING/MARTIN A. KESSLER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 5. A., Zürich 2013, § 21 N 54-56 und Urteil BGer 4C.307/2005, E. 2.
32
BGE 110 II 456 ff., 463 f., E. 3a.
33
BGE 110 II 456 ff., 465, E. 3b.
34
In Urteil BGer 4C.307/2005, E. 3.2 hat das Bundesgericht diese Parallele zum Schachtrahmenfall auch für Konstruktionsmängel gezogen.
5
nen, desto deutlicher zeigt sich die Fehlerhaftigkeit der Technik, wenn sich dennoch im Bereich des
Wirkungsfelds eines Assistenzsystems ein Unfall ereignet. Dies entlastet den Halter und seine Versicherung zwar nicht gegen aussen, ermöglicht diesen aber intern eine Schadensabwälzung gegenüber
dem Produktehersteller (siehe dazu hinten, Ziff. 4). Die strenge Haftung bildet sogar einen Baustein
des künftigen selbstfahrenden Fahrzeugs. Auch beim selbstfahrenden Fahrzeug sollte aus Praktikabilitätsgründen der Fahrzeughalter kausal mit Versicherungspflicht und Direktanspruch haften,35 weil
dem Geschädigten nicht zuzumuten ist, den Beweis der Fehlerhaftigkeit eines Fahrzeugs zu führen.
Die eigentliche Schadensverursachung bei Unfällen mit selbstfahrenden Fahrzeugen liegt indes fast
schon zwingend beim Produkt. Die Versicherer des Halters sollten deshalb leicht aus einer strengen
Pro- [HAVE 2014, 373/374] duktehaftpflicht gegen die Fahrzeughersteller Regress nehmen können.36
3. Kosten, Nutzen und Zumutbarkeit
Beim ausservertraglichen Anspruch gegen den Hersteller stellt sich die Frage, wie viel Sicherheit ein
Kläger erwarten darf. Das Produkt muss eine gewisse Basissicherheit bieten und den berechtigten
Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Konsumenten entsprechen. In einem deutschen Fall
hielt der BGH fest, dass zwar der Stand der Technik das Mass der Dinge sei, dass die Sicherungsmassnahme aber auch zumutbar sein müsse. Im Rahmen der Zumutbarkeit prüfte das Gericht die Kosten,
die Absatzchancen des veränderten Produkts sowie die Kosten-Nutzen-Relation.37 Die angesichts des
Kaufpreises zu erwartende Sicherheit kann bei einer deliktischen Haftpflicht nur eine äusserst eingeschränkte Rolle spielen,38 da sich Unfallopfer das Unfallfahrzeug nicht aussuchen können, mit dem sie
zusammenstossen.39 Auch in der Schweiz argumentiert man mit der Zumutbarkeit allfälliger Sicherungsmassnahmen, doch kommt gemäss Bundesgericht bei drohenden Körperschäden ein besonders
strenger Massstab zur Anwendung.40 Hinzu kommt, dass Kosten-Nutzen-Rechnungen im Bereich
potentiell lebensrettender Massnahmen einen unglaublich schlechten Ruf haben41 und punitive damages in Amerika in schwindelerregende Höhen treiben.42 Beim Design der Geländewagen fehlt es
überdies an einem Grund, die Fahrzeugfront derart gefährlich auszugestalten.43
Ein verlässliches Indiz für die Zumutbarkeit und die Absatzchancen neuer Sicherheitstechnik ist deshalb der Marktvergleich. Der Dacia Sandero als wahrscheinlich billigster Neuwagen in der Schweiz
kostet Fr. 8‘900. Dennoch verfügt er schon in der Basisversion über zwei Front- und Seitenairbags,
ABS mit Notbremsassistent, ASR und ESP.44 Angesichts dieses Angebots ist zweifelhaft, ob zum Teil
deutlich teurere Fahrzeuge ohne diese Technik die berechtigten Sicherheitserwartungen noch erfüllen. Was demgegenüber lediglich als Spitzentechnik in Oberklasselimousinen erhältlich ist, kann kein
35
Vgl. dazu das ähnliche Konzept bei BUNDESANSTALT FÜR STRASSENWESEN, Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugautomatisierung, Berichte der
Bundesanstalt für Strassenwesen Fahrzeugtechnik, Heft F 83, 19 ff., Internet: http://bast.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2012/587/pdf/F83.pdf
(30.8.2014) und THOMAS CHRISTALLER ET AL., Robotik, Berlin 2001, 160 f.; zu anderen Konzepten vgl. DAVID VLADECK, Artificial intelligence and
the law: Essay: Machines without principals: liability rules and artificial intelligence, 89 Wash. L. Rev. 117 ff., 141 ff. und ROBERT PETERSON,
New technology, old law: Autonomous vehicles and California’s insurance framework, 52 Santa Clara L. Rev. 1341 ff., 1355 ff.
36
Dafür muss indes der Regress des VVG-Versicherers gegen Kausalhaftpflichtige offen stehen, was derzeit noch nicht der Fall ist, vgl. Urteil
BGer 4A_576/2010, E. 4 und Urteil HGer SG, 8.11.2012, HG.2010.440, E. 5.
37
Vgl. BGH, Urteil vom 16.6.2009 - VI ZR 107/08, NJW 2009, 2952 ff., 2954, N 18; vgl. BGH, Urteil vom 21.11.1989 - VI ZR 350/88, NJW
1990, 908 ff., 909; vgl. FELLMANN/KOTTMANN (Fn. 8), N 1169 und HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 106 f.
38
A.M. FELLMANN/KOTTMANN (Fn. 8), N 1169, aber mit der richtigen Einschränkung, dass auch billige Produkte über eine Basissicherheit
verfügen müssen; einschränkend BGH, Urteil vom 21.11.1989 - VI ZR 350/88, NJW 1990, 908 ff., 909 und BGH, Urteil vom 17.10.1989 - VI
ZR 258/88, NJW 1990, 906 ff., 907; vgl. die Argumente vorne, ob Fn. 19.
39
Vgl. dazu MK-GERHARD WAGNER, Münchener Kommentar 2013, ProdHaftG 3 N 6, m.w.H. und HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 106.
40
Urteil BGer 4C.307/2005, E. 3.2; vgl. BGH, Urteil vom 5.2.2013 – VI ZR 1/12, NJW 2013, 1302 ff., 1303, N 13.
41
HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 53.
42
W. KIP VISCUSI, Corporate Risk Analysis: A Reckless Act? Stanford Law Review, Vol. 52, No. 3 (February 2000), 547 ff.
43
CASE (Fn. 11), 151 f.
44
Internet: http://www.dacia.ch/media/contact/download-center/att835655a1a7f84da18f297651c38ec421/Dacia-SanderoII-CH-DE-PL.pdf
(30.8.2014).
6
Massstab sein. Der Marktvergleich und die sicherheitsrelevanten Erkenntnisse im Automobilbereich
hätte beispielsweise auch im Prozess um den kastenförmigen Range Rover gezeigt, dass der Fussgängerschutz bei modernen Fahrzeugen eine tiefe Fahrzeugfront mit energieabsorbierender Motorhaube verlangt. Dies hätte man während der überlangen Bauzeit des Range Rover von 26 Jahren berücksichtigen müssen. Wo der Markt gefährliche Produkte verlangt und diese auch bekommt, muss der
hypothetische Durchschnittskonsument beantworten, ob ein Fahrzeug die für die Strasse notwendige
Sicherheit aufweist. Der Massstab darf sich dabei einzig auf den Schweizer Strassenverkehr richten,
nicht aber auf die Bedürfnisse amerikanischer Rinderzüchter, Soldaten oder Rennfahrer. Dasselbe
gilt, wenn alle Fahrzeughersteller die Verbesserung sicherheitsrelevanter Faktoren verschlafen. In
den allermeisten Fällen bedarf es wohl eines Expertengutachtens, das sich zum Stand der Technik im
Zeitpunkt des Inverkehrbringens und zur Frage äussert, ob sich bei richtiger Sicherheitsausstattung
ein geringerer Schaden ergeben hätte.
4. Liegt eine sinnvolle Anspruchs- und Deckungslücke vor?
Die schweizerische Rechtsprechung zur Produktehaftpflicht im Automobilbereich ist im Gegensatz
zur amerikanischen spärlich.45 Dies dürfte daran liegen, dass bei Unfällen eine wirkungsvolle Kausalhaftung mit Versicherungspflicht und Direktanspruch besteht (Art. 58, 63, 65 SVG). Eine Klage gegen
den Automobilhersteller oder den Importeur könnte dennoch in drei Fällen interessant sein: Erstens
besteht ein Interesse, wenn sich der Fahrzeughalter beim Unfall selbst verletzt. Zweitens könnte die
Klage dem Versicherer im Regress gegen den Automobilhersteller dienen und drittens einen Rückruf
des Fahrzeugs ermöglichen. [HAVE 2014, 374/375]
Der Halter, der einen Unfall verursacht und sich dabei verletzt, kann nicht gegen seinen Versicherer
aus Art. 58 SVG klagen.46 Für solche Schäden kommt die Unfallversicherung auf, doch kann diese die
Zahlung bei Vorliegen eines Selbstverschuldens kürzen oder verweigern (Art. 37 UVG). Hier stützt
sich die Klage gegen den Hersteller auf das Argument, dass es gar nie zu diesem Schaden gekommen
wäre, wenn das Fahrzeug die berechtigten Sicherheitserwartungen erfüllen würde.
Die Versicherer haben ein Interesse, für die hohen Schadenersatzzahlungen Regress bei den Fahrzeugherstellern zu nehmen. Der Versicherer nach KVG hat das umfassende Subrogationsrecht gemäss Art. 72 Abs. 1 ATSG. Darunter fällt der Versicherer nach VVG, der für die Halterhaftpflicht aufkommt, nicht. Dieser kann gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur auf verschuldet Deliktshaftpflichtige zugreifen (Art. 72 VVG, Art. 51 Abs. 2 OR).47 Die ins Stocken geratene Revision des VVG
wollte dies korrigieren und sah ein umfassendes Regressrecht vor.48 Die geplante Verlängerung der
Verjährungsfrist der Deliktsklage bei Personenschäden (mit Ausnahme des PrHG-Anspruchs) auf relativ drei und absolut 30 Jahre dürfte das Interesse an diesen Klagen ebenfalls verstärken.49 De lege
lata wäre der Regress des Versicherers gegen den Automobilhersteller möglich, wenn sich die Klage
auf Art. 55 ZGB und damit auf das Verschulden seiner Organe stützt.
45
Vgl. die Übersicht bei CHRISTOPH MÜLLER, Neuste Entwicklungen in der Produktehaftpflicht: Vom Art. 55 OR zum BGE 137 III 226, in: Walter
Fellmann/Andreas Furrer (Hrsg.), Produktesicherheit und Produktehaftung – Die Schonzeit für Hersteller, Importeur und Händler ist vorbei!
Bern 2012, 125 ff., 127 ff.
46
Nach Art. 58 Abs. 1 SVG haftet der Fahrzeughalter bei Vorhandensein der übrigen Voraussetzungen gegenüber jedem Nichthalter; vgl.
HONSELL/ISENRING/KESSLER, (Fn. 31), § 20 N 19 und WALTER FELLMANN, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II, Bern 2013, N 215.
47
Urteil BGer 4A_576/2010, E. 4 und Urteil HGer SG, 8.11.2012, HG.2010.440, E. 5, je m.w.H.; BK- BREHM (Fn. 1), OR 51 N 61 f.
48
Vgl. BBl 2011, 7841, Art. 75 Abs. 2 E-VVG.
49
Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts (Verjährungsrecht) vom 29. November 2013, BBl 2014, 251 ff. und 265.
7
Die Klage gegen den Hersteller oder Importeur dürfte schliesslich interessant sein, wenn der Geschädigte damit einen Rückruf des fehlerhaften Fahrzeugs erzielen kann. Dies dürfte die vergleichsweise
Klageerledigung beschleunigen. Die Rückrufpflicht lässt sich aus der Produktbeobachtungspflicht und
dem Gefahrensatz ableiten. Den Hersteller trifft auch nach Inverkehrsetzung des Produkts die Pflicht,
das Produkt im Markt zu beobachten – nach PrHG, OR und PrSG.50 Erweist sich ein Produkt als gefährlich, kann bei erheblicher Gefährdung auch die Pflicht zum Rückruf bestehen.51 Die Rückrufpflicht
findet ihre Begründung somit im Gefahrensatz: Wer einen Zustand schafft oder aufrechterhält, der
einen anderen schädigen könnte, ist verpflichtet, die zur Vermeidung eines Schadens erforderlichen
Vorsichtsmassnahmen zu treffen.52 In der Fahrzeugbranche dürfte der Rückruf bei erheblichen Fehlern in Serienprodukten häufig unumgänglich sein, weil die Gefährdung die besonders hoch gewichteten Rechtsgüter Leib und Leben betrifft.53 Allerdings gilt auch hier, dass die Missachtung der Rückrufpflicht bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen „bloss“ die deliktische Verantwortlichkeit des
Herstellers zur Folge hat und somit grundsätzlich eine Schadenersatzzahlung bewirkt. RÖTHLISBERGER
und SCHMIDT haben indes gezeigt, dass sich Rückrufpflichten durch Private auch präventiv erzwingen
lassen. Grundlagen dafür sind negatorische Ansprüche aus Art. 641 Abs. 2 ZGB oder Art. 28a ZGB.54
Der Klage eines Fussgängers auf ein Verbot der Nutzung gewisser Geländewagen, wobei der Vollzug
des Verbots durch den Rückruf erfolgen würde,55 dürfte indes mangels konkret drohender Gefährdung kein Erfolg beschieden sein.56 Das müsste man vielleicht überdenken – wenn Rückrufpflichten
bestehen und der Staat einen Rückruf anordnen kann, dann sollte kongruent dazu auch eine präventive Vollstreckbarkeit des Rückrufs durch Private bestehen.
5. Ausblick
Die oben beschriebenen Klagen stellen ein sinnvolles Korrektiv dar und stopfen existierende Deckungslücken. Sie fördern die Entwicklung der Technik. Sie führen nicht zu einer Klagewelle, denn der
Beweis bleibt schwierig. Als besonders schwierig dürfte sich der Beweis des Fehlers und damit des
Stands der Technik sowie zweitens des hypothetischen Kausalzusammenhangs erweisen. Wo die
Grenze zwischen berechtigten Sicherheitserwartungen und automobilen Wunschdenken liegt, bleibt
der Einzelfallentscheidung des Richters vorbehalten.
50
Vgl. Art. 8 Abs. 2 PrSG; vgl. Urteil BGer 4C.307/2005, E. 3.1 und 4C.139/2005, E. 2.4; vgl. HEINZ REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 4.
A., Zürich 2008, N 957c; vgl. MAREIKE SCHMIDT, Produktrückruf und Regress, Diss. Basel 2012 = Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht, Band 296, Tübingen 2013, 31 ff., insb. 44.
51
HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 53, FN 1234 mit Verweis auf die deutsche Lehre und Rechtsprechung; vgl. INGEBORG SCHWENZER/MAREIKE SCHMIDT,
Pflicht zum Rückruf fehlerhafter Produkte, in: Olivier Guillod/Christoph Müller (Hrsg.), Mélanges en l'honneur de Pierre Wessner, Basel
2011, 223 ff.; THOMAS RÖTHLISBERGER, Zivilrechtliche Produktbeobachtungs-, Warn- und Rückrufpflichten der Hersteller, Diss. Basel 2002 =
Schweizer Schriften zum Handels- und Wirtschaftsrecht, Band 222, Zürich 2003, 232 f.; SCHMIDT (Fn. 50), 104 ff.; vgl. BGE 139 II 534 ff., 541
f. (noch zum STEG).
52
REY (Fn. 50), N 753 ff.; SCHMIDT (Fn. 50), 24.
53
HESS (Fn. 4), PrHG 4 N 53, m.w.H.; SCHWENZER/SCHMIDT (Fn. 51), 231; RÖTHLISBERGER (Fn. 51), 233 f.; SCHMIDT (Fn. 50), 36 ff.
54
RÖTHLISBERGER (Fn. 51), 181 ff., 237 f.; SCHMIDT (Fn. 50), 128 ff.; vgl. BK- BREHM (Fn. 1), OR 41 N 45.
55
Vgl. SCHMIDT (Fn. 50), 128 zur Frage, ob das Gericht auch ein Verbot durch Rückruf erlassen kann.
56
SCHMIDT (Fn. 50), 130 f.; RÖTHLISBERGER (Fn. 51), 183, 187 f., 237.
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