HA Schwerkraft.
Transcrição
HA Schwerkraft.
„Über die Sehnsucht zu Springen und ihr Fallen“ Ein Essay von Thomas Schaupp „Sprünge im Raum und Risse in der Zeit sind Bühnen des Spuktheaters, das wir Bewusstsein nennen.“ Lotte Ingrich In einem im Jahr 2013 erschienenen Buch mit dem Titel The Reason I Jump beschreibt der autistische dreizehnjährige Junge Naoki Higashida auf die Frage hin, warum er denn springe, seine Begründung folgendermaßen: „[...] When I’m jumping, it’s as if my feelings are going upward to the sky. Really, my urge to be swallowed up by the sky is enough to make my heart quiver. When I’m jumping, I can feel my body parts really well, too – my bounding legs and my clapping hands – and that makes me feel so, so good“.1 Wenn wir springen [An den Leser: stehe auf – springe einmal und spüre...], setzen wir uns ab von der Erde, verlieren in einem im Grunde gewaltsam herbeigeführten, heftigen Akt den Boden unter unseren Füßen und schmeißen die gesamte Masse unseres Körpers in die Luft. So in der Luft (f)liegend, wohl gleich für nur (höchstens) wenige Sekunden, wird die Masse unseres Körpers spürbar. Für wahr, wir können unsere Körperteile und ihre Schwere fühlen, getrieben von der Schwerkraft, jene unseren Sprung in die Höhe schon auf dem Weg nach oben bremst und bald enden lässt um uns zurückzuziehen auf den Boden - Auf die Körperlichkeit des Springens möchte ich gleich nochmal zurückkommen. Aber ja, warum springen wir eigentlich? What’s the reason for us to jump? Naoki Higashida führt seine Begründung dafür in Hinsicht auf seine Erkrankung an Autismus aus: „People with autism react physically to feelings of happiness and sadness. So when something happens that affects me emotionally, my body seizes up as if struck by 1 Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida. http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). 1 lightning. ‚Seizing up’ doesn’t mean that my muscles literally get stiff and immobile – rather, it means that I’m not free to move the way I want. So by jumping up and down, it’s as if I’m shaking loose the ropes that are tying up my body. When I jump, I feel ligther, and I think the reason my body is drawn skyward is that the motion makes me want to change into a bird and fly off to some faraway place“2. Sicherlich ist dieses Gefühl der Immobilität und seiner Befreiung von ihr durch den Sprung, so wie sie Higashida beschreibt, für die meisten von uns höchstens annähernd nachvollziehbar, und doch liegt in seinen Aussagen auch etwas, was uns alle wohl zum Sprung bewegt: das Gefühl des dem Himmel für einen Moment näher zu sein, gelöst zu sein von der Erde unter uns - Fliegen können. Sicherlich, wir springen auch vor Schreck - getrieben vor Angst machen wir einen Satz zurück - wir springen, um einen Apfel oder eine Kirsche vom Baum zu pflücken, oder um über eine Mauer hinwegsehen zu können. Wohl springen wir auch vor Freude oder einfach aus Jux und Tollerei, und so weiter. Doch gerade auch im klassischen Tanz, insbesondere und ausgesprochen im klassischen Ballett, ist es eben dieses Streben himmelwärts, die Sehnsucht des Schwebens über den Boden hinweg, die es aufwärts bewegt und seine künstlerische Ästhetik bestimmt. Der/die in die Höhe springende Ballerino/a wird dabei bei jedem seiner/ihrer Sprünge von uns Zuschauern gespannt verfolgt, vollzieht damit stellvertretend für uns unsere Sehnsucht nach übernatürlicher Flugkraft. Die kulturellen Erzeugnisse früher menschlicher Kulturen lassen erahnen, dass der Mensch schon sehr früh begann, vom Fliegen zu träumen. Man nimmt an, dass diese Eigenschaft wohl durch das Gehen auf zwei Beinen angeregt und ausgebildet wurde, ferner durch die sich gegenseitig bedingenden Entwicklungen von Wurfwerkzeugen und Gehirn.3 Der letzte Besuch bei meiner nun drei Monate alten Nichte bringt mich an dieser Stelle auch zu dem Gedanken, dass sicherlich auch die Tatsache, dass wir die kleinen Babys durch die Luft tragen, hin- und herwiegend in unseren Armen und dadurch ins „Schweben“ bringend, eine prägende Flugerfahrung in der frühen Kindheit ermöglicht. Vielleicht setzen wir schon hier den Grundstein für diese Sehnsucht des Menschen, fliegen zu können. 2 Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida. http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). 3 Vgl.: Hauschild, Thomas (et al.): Einleitung. In: Hauschild, Thomas (et al.): Von Vogelmenschen, Piloten und Schamanen. Kulturgeschichte und Technologien des Fliegens. Edition Azur; Dresden; 2011; S.15. 2 Die Schwerkraft sorgt dafür, dass wir stets Boden unter unseren Füßen spüren. So lange wir uns im Bereich ihrer Kraft befinden, entkommen wir ihr nicht. Alles was Masse hat, und wir Menschen haben davon nun auch mehr oder minder reichlich, wird von ihr gezogen. Selbst jede Luftpassage in einem Flugzeug, zehntausend Meter über der Erde, birgt die Gewissheit mit sich, irgendwann wieder den Erdboden zu touchieren – und schon in diesem technischen Gefährt bleibt uns die Bodenhaftung erhalten, wenn der Pilot nicht gerade eine Achterparade fliegt, die für wenige Sekunden Schwerelosigkeit in der Kabine herstellt. Vielleicht springen wir also, um uns von dieser scheinbar schier unbändbaren Kraft zu befreien oder zu entreißen? Gabriele Brandstetter schrieb im Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Buch Bild-Sprung eindrücklich: „Die Plötzlichkeit, die dem Sprung eignet, der Einschnitt in einen zeitlichen Verlauf, weist auf die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚aufbringen’, ‚hervorbrechen’: ein Wechsel in der Dynamik der Bewegung, ein Bruch oder ein Riss, der sich auftut.“4 Wenn wir springen, reißen wir eine Kluft zwischen uns und dem Boden, erheben uns in die Lüfte und stellen einen kurzen zeitlichen Zustand des Erhabenseins von der Erde her. Ein Bruch mit unserer natürlich gegebenen Haltung zu ihr, auf konstanter Angezogenheit und steter Berührung gründend. Wir bewegen uns zur Welt, indem wir uns auf ihr bewegen, nicht über ihr. Stehend oder gehend tun wir das jedoch in vertikaler Ausrichtung. Unser Skelettbau, genauer unsere stabile Wirbelsäule, ermöglicht uns eine vertikale Körperachse, die stets gleichsam zum Erdmittelpunkt hin, dort wohin uns die Schwerkraft zieht, und gleichsam von ihm weg, also gen Himmel verweist. „Wir sind“, so schreibt Stefanie Wenner in ihrem spannenden Buch Vertikaler Horizont, „daran gewöhnt, die Vertikale und die Horizontale zu unterscheiden und verbinden mit der vertikalen Achse die Aufrichtigkeit des Menschen, seinen aufrechten Gang.“5 Wie die Zacke eines Sterns bewegen wir uns so also gebunden an die Erde, stechen aber gleichsam aus ihr hervor und können in einer Höhe von durchschnittlich nicht mehr als zwei Metern auf sie draufschauen. Wir stehen, ja, bewegen uns zwischen zwei durch ihre jeweilige Konstitution differente Räume: Der Boden, den wir im Stehen in der Regel mit unseren Füßen berühren, verweist auf die Endlichkeit des uns umgebenden Raums – tiefer können wir nicht in die Erde hinein gezogen werden, tiefer können wir nicht fallen - während unser 4 Brandstetter, Gabriele: Vorwort. In: Brandstetter, Gabriele (Hg.): Bild-Sprung TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. Theater der Zeit Verlag; Berlin; 2005; S.9. 5 Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Diaphanes Verlag Zürich/Berlin; 2004; S. 125. 3 restlicher Körper und seine Ausrichtung kopfwärts sich hinein bzw. hinaus streckt in die Unendlichkeit des Raums über uns. Ohne die Schwerkraft gäbe es diese Orientierung zwischen diesen zwei Raumkonstitutionen gar nicht. Und damit gäbe es ohne die Schwerkraft auch nicht die Not des Springen(wollen)s, wohl überhaupt wäre uns das Springen gänzlich unbekannt. „Die Körperwahrnehmung im Raum ist an der Aufrichtigkeit, also der Vertikalen orientiert“6. Ein Sprung ermöglicht uns zumindest für einen ganz kurzen Moment eine Loslösung von der steten Bindung zum Erdmittelpunkt hin. Wir verlängern unsere Vertikale nach außen gen Himmel, hinein in die unendliche Weite des Luftraums. Higashida spricht davon, wie diese Bewegung zum Sprung in ihm die Vorstellung auslöst, ein Vogel zu sein – eine Vorstellung, vielleicht gar ein Wunsch, den viele von uns nachvollziehen können. Sicherlich, dieser Wunsch wird immer (nehme ich zumindest an) Wunsch bleiben und doch passiert in unserem Körper eine Form der Verwandlung wenn wir springen. Unsere Atmung verleiht uns regelrecht „Flügel“ und für ein paar Millisekunden verwandeln wir uns in ein luftiges Wesen. Mary Wigman beschrieb diesen Prozess eindrücklich bei ihren Beobachtungen über den springenden Tänzer [An den Leser: Springe erneut und spüre] : „[Wenn der Tänzer zum Sprung ansetzt,] jagt er den Strom seiner Atemkraft blitzschnell von unten nach oben, von den Füßen an aufwärts durch den Körper, um ihn im Augenblick des Abstoßens vom Boden anzuhalten und so lange zu ballen, bis er den Höhepunkt seines Sprunges erreicht und fast schon überschritten hat. In diesen wenigen Sekunden seiner äußersten Anspannung und Atemballung aber hat er sich wirklich aller Erdenschwere enthoben, wird zum Geschöpf der Luft und scheint durch den Raum zu fliegen oder zu schweben. Erst mit dem Absinken der Sprungkurve strömt der Atem wieder in den sich gleichzeitig entspannenden Körper zurück und gibt den Tänzer nach seinem Höhenflug der Erde wieder zurück.“7 Die Schwerkraft (und eine ganze Reihe anderer Gesetze der Natur) beteiligt sich mit all ihrer Kraft daran, das wir nicht endgültig in Luft ver- beziehungsweise zergehen oder uns etwa in ein Wesen mit Flügeln verwandeln. Und doch steckt in diesen Atmungsprozessen, die im Grunde Ausdruck der immensen körperlichen Anstrengung und Muskelarbeit beim Springen sind etwas poetisches: Es scheint so, als wolle der Brustkorb eine Wolke ausbilden und für einen kleinen Moment so leicht und frei zu 6 7 Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Diaphanes Verlag Zürich/Berlin; 2004; S. 125. Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes. Ernst Batten Verlag; München; 1986; S. 11. 4 sein, evaporiert zu luftiger Dichte. Und für den allerersten Moment können wir die Schwerkraft auch überlisten: Die Kräfte, die unsere Muskeln beim Absprung in die Vertikale freisetzen sind so stark, das wir uns, so fühlt es sich zumindest an, kurz ihrer entziehen und sich unser Körper und all seine Teile leicht anfühlen. Das beschreibt Higashida oben so eindrücklich – my bounding legs and my clapping hands, make me feel so good8. Ganz schnell aber ist diese Startkraft unserer Muskeln verbraucht und die Erde beginnt unweigerlich wieder an uns zu ziehen und wir werden schwer, schwerer gar als wir es gewöhnlich verspüren oder für möglich halten – Auf dass wir ja wieder zurückkehren auf den Boden unserer leiblichen Tatsachen und unser Verhältnis zur Erde, gebunden an ihr und zugleich zur Unendlichkeit reichend, wieder austarieren. Freilich, wie auch immer sich das Springen für jeden von uns aus der eigenen Perspektive heraus anfühlt, lange nicht jeder Sprung ist von außen auch wie ein beflügelter wahrnehmbar. Dazu bedarf es dem Erlernen einer Sprungtechnik und der klassisch-akademische Tanz hat diese für sich perfektioniert. Im klassischen Ballett ist die vertikale Achse des Körpers sowie der Kampf gegen das eigene Körpergewicht durch den Sprung schließlich zum ästhetischen Ideal erhoben: Der/Die Tänzer/-in erreicht mit der mühsam erlernten Technik des Sprungs die äußerste Grenze die unserem Körper im Kampf gegen die Schwerkraft gesetzt ist9. Allerdings geht es nicht einfach darum, möglichst hoch oder weit zu springen, „sondern mit äußerster Leichtigkeit, Elastizität und Musikalität die Emotion des ‚Helden’ zu gestalten“10. Diese äußerste Leichtigkeit erteilt dem Tanzsprung erst den Anschein von Schwerelosigkeit. Und dies schließlich ist es, was uns als Zuschauer zum inneren Nachvollzug des Flugs bewegt und uns emotional ergreift. Denn es berührt unseren eigenen Traum vom Fliegen und Schweben. Am Tänzer bzw. an der Tänzerin erahnen wir für die Dauer eines Augenschlags wie es wohl sein könne, dieses in der Luft zu schweben. So erkennen wir dann am Körper des Anderen unsere eigene unerfüllbare Sehnsucht wieder. 8 Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida. http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). 9 Vgl.: Liechtenhein, Rudolf: Der Körper und das Unsichtbare. In: Karin Adelsbach/Andrea Firmenich (Hg.): Tanz in der Moderne. Von Matisse bis Schlemmer. Wienand Verlag; Köln; 1996; S. 204. 10 Tarassow, Nikolai I.: Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag; Berlin; 2005; S. 243. 5 Der Technik des Ballettsprungs liegen dabei, so beschreibt es Nikolai Tarassow ausführlich in seinem Buch Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers, komplizierte Regeln zu Grunde, die unter dem Begriff der Elevation zusammengefasst werden: „[Mit diesem Wort] bezeichnet man das Vermögen des Tänzers, elastisch, weich, hoch, leicht und exakt zu springen, die plastische und musikalische-rhythmische Form der Bewegung während des Sprunges unverändert zu halten und den Absprung so abzustimmen, dass die Flughöhe der Fortbewegung des Körpers in eine bestimmte Richtung und einen bestimmten Rhythmus und Tempo entspricht.“11 Die Elevation alleine jedoch sorgt noch nicht dafür, dass es uns beim (Mit-)Erleben eines tänzerischen Sprungs den Atem verschlägt so wie es etwa seinerzeit die Sprungkraft Vaslav Nijinskys12 vermochte (Sein Sprung durch das Fenster in Le Spectre de la Rose bewegte die Zeitgenossen in Übermaßen und machte ihn gleichermaßen zur einer Legende, die ihm über seinen Tod hinaus bis heute nachhallt). Dafür sei ein weiteres, nach Tarassow entscheidendes Element der Sprungtechnik bedeutend, der Ballon: „Man spricht von einem Ballon, wenn der Tänzer es versteht, bei einigen großen Sprüngen die Pose oder Bewegung in der Kulmination der Flugkurve zu fixieren. Dieser Effekt wird dadurch erzielt, dass der Absprung und das ‚Hochreißen’ des ganzen Körpers kürzer und kräftiger erfolgen. Das erhöht die Leichtigkeit des Sprunges, und es entsteht der Eindruck, als würde der Tänzer den Sprung verzögern, in der Luft ‚stehen’ und dabei plastisch und exakt die ausgeführte Bewegung oder Pose fixieren. Ohne eine solche Ausführung verliert der Sprung sofort an Virtuosität und Exaktheit. In einem solchen Fall besitzt der Tänzer keinen Ballon.“13 Die Metapher des Ballons beschreibt eindrücklich auch das Ideal eines schwebenden Objekts. Wir allen kennen sie, jedes Kind und gerne auch Erwachsene kaufen sich diese mit Helium gefüllten Luftballons auf dem Jahrmarkt. Wie der Sprung des Balletttänzers bzw. der Balletttänzerin wecken sie in uns die Sehnsucht nach dem Vermögen wie ein Vogel zu fliegen – die Sehnsucht, die sich, wie eingangs beschrieben, womöglich ganz früh in den Armen unserer Eltern liegend in unsere körperliche Erinnerung einschreibt. Und „Tanz entsteht durch Aktivierung [dieses] inneren ‚Archivs’ aus Erinnerungen, die 11 Tarassow, Nikolai; S.243. Anm. d. A.: Vaslav Nijinsky (*1888/89 - †1950), russischer Balletttänzer und Choreograph der vorletzten Jahrhundertwende, war berühmt für seine beeindruckende Sprungtechnik. Die zeitliche Arretierung seiner Sprünge und die Fähigkeit, sie dadurch scheinbar in der Luft anzuhalten untermalten im besonderen Maße seine tänzerische Strahlkraft bis heute. 13 Tarassow, Nikolai. S. 243. 12 6 körperlich sind, wie unser Wissen über das Radfahren, Autofahren und Fliegen.“14 Von dieser Aktivierung lassen wir uns beim Blick auf den Tanz affizieren und das macht ihn auch zu einer besonderen Kunst, die Kunst vom scheinbaren Fliegen: „Die Reizung und Kanalisierung der ‚Ballistik’ des Körpers erzeugt ein Projektil, einen Flugkörper, eine Wolke. Tanz spielt mit der Schwerkraft, ist eine Art Flug.“15 Dieses Spiel mit der Schwerkraft ist aber zuvorderst auch, das habe ich bereits mehrfach angedeutet und konterkariert die Wahrnehmung des Zuschauers, mit einer immensen körperlichen Anstrengung verbunden. Die von uns als Leichtigkeit wahrgenommene Qualität des tänzerischen Sprungs ist im Grunde eine durch mühsam antrainierte und erlernte Technik ausgestaltete Illusion. Im Balletttanz wird diese körperliche Anstrengung verborgen und zugleich aber, und das bleibt für das zuschauende Auge unsichtbar, bis zur Schmerzgrenze hin getrieben. Lassen wir also für einen Moment mal die Poesie eines Sprunges bei Seite und skizzieren kurz die anthropometrischen Faktoren, die jene vertikale Sprungkraft maßgeblich beeinflussen. Wissenschaftler an der Universität von Wolverhampton in Großbritannien fassten folgende Ergebnisse in ihren Untersuchungen über den Sprung zusammen: „It is proposed that jump height can be affected by various factors, such as muscle mass, flexibility, isometric muscle strength, age, height, weight and level of expertise. [...] Another study highlighted, that jump height may be related to level of expertise, or amount of training. This suggests that dance training may eventually lead to an increase in jump heigth.“16 Es sind also zahlreiche Faktoren, die es braucht, um die Illusion eines über die Bühne schwebenden Körpers herzustellen. Nicht jeder menschliche Körper eignet sich (leider) dafür, augenscheinlich durch die Luft zu fliegen und den Zuschauer in schwelgende, manchmal auch neidvolle Gespanntheit und Sehnsucht zu treiben. Es braucht bestimmte Körpermaße und Proportionen, Muskelkraft und Muskelmasse und, wie Tarassow zuvor bereits andeutete, Koordination, Rhythmus und langes, hartes Training. Dabei wird der Körper stark verschleißt, die Glieder überdehnt und die Füße verstümmelt. Eine 14 Hauschild, Thomas (et al.): Von Vogelmenschen, Piloten und Schamanen – Kulturgeschichte und Technologien des Fliegens. Edition AZUR; Dresden; 2011; S. 127. 15 Ebd.; S. 127. 16 Wyon, Matthew (et al.): Anthropometric factors affecting vertical jump height in ballet dancers. In: Journal of Dance medicine & Science Vol. 10, Number 3&4; J. Michael Ryan Publishing Inc; Andover, New Jersey; 2006.; S. 106. 7 Tänzerkarriere im klassisch-akademischen Ballett vergeht schnell. Dem Aufstieg nach oben zum Star, dem Sprung zur Spitze, folgt schon bald auch der Fall. Der perfekte Ballettsprung steht geradezu paradigmatisch für die streng vertikale Ausrichtung des klassischen Tanzes. Ein Verweis auf unser generelles Bestreben nach Vertikalität, Aufstieg und Vermeidung des Absturzes in Wirtschaft und gesellschaftlicher Entwicklung, liegt da nah. Der Spitzenschuh ist dafür meiner Meinung nach, kommen wir wieder zum Tanz zurück ein Paradigma schlechthin. Auf Spitze stehend reduziert die Ballerina selbst schon im Stehen und Gehen den Bodenkontakt auf einen einzigen kleinen Punkt. Gleichsam aber ist der Spitzenschuh auch ein weiteres Zeichen für eben jenen Schmerz, der mit der Erstellung der Illusion, des über den Boden schwebenden und fliegenden Körpers einhergeht: „Die Zartheit des Spitzenschuhs ist längst genauso eine Illusion wie der Effekt der Tanztechnik, den er ermöglicht: Im Spitzentanz schwebt die Tänzerin federleicht über die Bühne, hebt für den Bruchteil einer Sekunde vom Boden himmelwärts ab und nimmt die Sehnsucht des staunenden Zuschauers nach übernatürlicher Flugkraft mit in die Höhe. Die Anstrengung, die es kostet, bei jedem Sprung die Schwerkraft zu ignorieren, den Schmerz bei der Pirouette, sieht er bei diesen fließend-schönen Bewegungen nicht.“17 Kommen wir zu unserem Sprung eben zurück: Von der Anstrengung und dem Schmerz, der mit dem Absprung in die Höhe einhergeht, bekommen wir Ungeübte, die Geübten unter uns sicherlich ebenso [wenn wir unseren Körper noch einmal genau beobachten An den Leser: springe vielleicht noch ein drittes Mal], durchaus schon bei einem [diesem] Sprung eine Ahnung: Die Atemwolke, dieser Ballen gestockter Luft, der sich in unserem Brustkorb beim Absprung bildet, ist, und darauf habe ich an anderer Stelle schon einmal hingewiesen, nichts anderes als das körperliche Zeichen des ruckartigen Risses, dem wir unseren Körper aussetzen. Es ist jener Riss vom Boden - dass sich Entreißen von der Schwerkraft und der Gebundenheit an die Erde - welches eine solch kurze aber heftige Spannung durch unseren Körper jagt. Wir bekommen für eine Millisekunde das Gefühl, als stoppte Atem und Herzschlag für immer. Einem Stromschlag gleich fährt es uns einmal durch den ganzen Körper – für wahr, wir bekommen jeden Teil von ihm zu spüren. Man könnte meinen, es sei die süße Strafe der 17 Schröder, Elke: Für die perfekte Illusion des Schwebens: Der Spitzenschuh. Sprung aus der Schwerkraft. http://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/20903/sprung-aus-derschwerkraft (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). 8 Schwerkraft, als wolle sie uns sagen: Bleibe mal schön auf dem Teppich bzw. am Platz, wie Jean-Luc Nancy formuliert: „Am Platz springt [der Tänzer] aus dem Platz heraus: Er öffnet ihn und rückt ihn von sich fort, trennt ihn von seinem Hier, mit dem er ihn dann wieder vereint und in das er ihn neu platziert wie einen nunmehr rhythmisch gegliederten Ort, wie einen Atem, der geht, sich hebt und senkt.“18 Es ist so wohl auch richtig und naturgegebene Konsequenz, dass mit jedem Sprung immer auch ein Fallen einher geht. Die Schwerkraft bringt unseren Hochmut und unsere Sehnsucht im wahrsten Sinne zu Fall. Friedrich Nietzsche formulierte in Zarathustra einmal über die Schwere: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich; es war der Geist der Schwere – durch ihn fallen alle Dinge.“19 Wir springen, so ungefähr formuliert es Jean-Luc Nancy, über uns hinaus, ganz bei uns und auf gleicher Höhe mit uns selbst: Von dort, von unserer ganzen Höhe prallen wir in die Tiefe, stets bei uns, stets in uns selbst gefaltet. Wir höhlen den Bauch und werfen uns hinein, Beine und Arme an unser eigenes Gewicht gebunden, jenes uns mitreißt.20 Jenes Gewicht reißt uns, gezogen von der Schwerkraft zurück auf die Erde. Fallen ist ein Zustand, jener uns freilich, und so wäre es richtiger formuliert, stets begleitet, nicht nur beim Sprung. Die Erdverbundenheit jedweder Masse hält auch ihre stete Gefahr des Fallens zu ihr hin inne. So schreiben Emilyn Claid und Ric Allsopp im Vorwort der Publikation On Falling: „With each breath out, with every step we take, falling is so much part of our ongoing daily lives as to go almost unnoticed. The consequences of falling can be devastating, destroying lives, communities and infrastructures. The earthquake in Hawaii, the collapse of Rana Plaza in Bangladesh, the fall of the Twin Towers, reveal the stark honest reality of gravity, a fundamental natural phenomenom that is mocked or disregarded only at our peril, asking us to beware, notice, respect and accept.“21 Jede menschliche Bewegung kann als ein Fallen begriffen werden. Jeder einzelne Schritt vor dem anderen ist ein Fallen. Unser Körper fängt unseren fallenden Körper 18 Nancy, Jean-Luc: Alliterationen. In: Nancy, Jean-Luc: Ausdehnung der Seele. Diaphanes Verlag; Zürich/Berlin; 2010; S.40. 19 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. Insel-Verlag; Frankfurt am Main; 1982; S. 44. 20 Vgl.: ebd.; S. 40. 21 Claid, Emilyn & Allsopp, Ric: Editorial: On Falling. In: Gough, Richard/Allsop, Ric: Performance Research: On Falling. Volume 18.4.; PbE.; London; 2013; S. 1. 9 auf, die Wirbelsäule dient uns dabei als Stütze und hält uns in der Vertikalen, unsere ausbalancierte Ausrichtung zur Schwerkraft der Erde: „Menschen fallen von einer Position in die nächste, werden bei diesem Fallen immer wieder aufgefangen – von unterstützenden Füßen, Sitzflächen, dem Boden, Wänden, Menschen“ 22 , formuliert Dorothée Lentz in ihrem Buch Tanz mit dem Tod: tanztherapeutische Begleitung nach einem Todesfall. Unsere Sehnsucht zum Fliegen und zur Erhabenheit im Sprung kommt vielleicht eben gerade auch daher, dass wir unseren Körper stets vor dem Fall, also der gegenteiligen Bewegung, bewahren müssen (und wollen). Und allzu oft wird uns dieser Fall ja auch im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt, etwa im oben beschriebenen Kollaps ganzer Häuser, im Absturz der Börsenkurse oder im Zerspringen eines Glases, jenes unserer Hand entglitt. Tanzen ist auch stets eine Übung im Fallen, sagt Lentz: „Ständig werden Positionen gewechselt, werden ‚fallträchtige’ labile Positionen eingenommen. Im klassischen Ballett wird der Akzent auf die Elevation gesetzt. Dabei aber wird übersehen, dass dieser elevierte Körper nach dem Sprung zurück auf die Erde kommt, kommen muss und somit fällt. Dieser Fall kann sanft abgefedert werden, ein Fallen bleibt es indes.“23 „Ah, if only I could just flap my wings and soar away, into the big blue vonder, over the hills and far away!“ 24 , lässt sich Naoki Higashida zu guter Letzt aus seinen Ausführungen über die Gründe für seine Not zu Springen zitieren. Er formuliert hier einen Wunsch, der unser aller Sehnsucht Ausdruck verleiht. Einer Sehnsucht, die im Springen, insbesondere auch im Verfolgen und Wahrnehmen eines Sprungs des (klassisch-akademischen) Tanzes für eine kurze Weile ihre Erfüllung findet. Den Blick gen Himmel ausgerichtet, unserer vertikalen Achse nach oben folgend, springen wir von der Schwerkraft und setzen uns ihr gleichsam aus. Unser Körper vollzieht eine kurzweilige Ablösung von der Erdanziehung, bleibt ihr dabei jedoch stets im Fallen verbunden. Und doch gilt: Ohne die Schwerkraft gäbe es keinen Sprung. 22 Lentz, Dorothée: Tanz mit dem Tod: tanztherapeutische Begleitung nach dem Todesfall. Logos Verlag; Berlin; 2011; S. 190. 23 Ebd.; S.190. 24 Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida. http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). 10 Quellenangaben: Monographien: • Hauschild, Thomas (et al.): Von Vogelmenschen, Piloten und Schamanen – Kulturgeschichte und Technologien des Fliegens. Edition AZUR; Dresden; 2011 • Lentz, Dorothée: Tanz mit dem Tod: tanztherapeutische Begleitung nach dem Todesfall. Logos Verlag; Berlin; 2011 • Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. InselVerlag; Frankfurt am Main; 1982 • Tarassow, Nikolai I.: Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag; Berlin; 2005 • Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Diaphanes Verlag Zürich/Berlin; 2004 • Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes. Ernst Batten Verlag; München; 1986 Artikel in einem Sammelband / Magazin: • Brandstetter, Gabriele: Vorwort. In: Brandstetter, Gabriele (Hg.): Bild-Sprung TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. Theater der Zeit Verlag; Berlin; 2005 • Claid, Emilyn & Allsopp, Ric: Editorial: On Falling. In: Gough, Richard/Allsop, Ric: Performance Research: On Falling. Volume 18.4.; PbE.; London; 2013 • Liechtenhein, Rudolf: Der Körper und das Unsichtbare. In: Karin Adelsbach/Andrea Firmenich (Hg.): Tanz in der Moderne. Von Matisse bis Schlemmer. Wienand Verlag; Köln; 1996 • Nancy, Jean-Luc: Alliterationen. In: Nancy, Jean-Luc: Ausdehnung der Seele. Diaphanes Verlag; Zürich/Berlin; 2010 • Wyon, Matthew (et al.): Anthropometric factors affecting vertical jump height in ballet dancers. In: Journal of Dance medicine & Science Vol. 10, Number 3&4; J. Michael Ryan Publishing Inc; Andover, New Jersey; 2006 Internetquelle: • Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida. http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). • Schröder, Elke: Für die perfekte Illusion des Schwebens: Der Spitzenschuh. Sprung aus der Schwerkraft. http://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/20903/sprung-ausder-schwerkraft (zuletzt abgerufen am 13.04.2014). 11