HA Schwerkraft.

Transcrição

HA Schwerkraft.
„Über die Sehnsucht zu Springen und ihr Fallen“
Ein Essay
von Thomas Schaupp
„Sprünge im Raum und Risse in der Zeit
sind Bühnen des Spuktheaters, das wir Bewusstsein nennen.“
Lotte Ingrich
In einem im Jahr 2013 erschienenen Buch mit dem Titel The Reason I Jump beschreibt
der autistische dreizehnjährige Junge Naoki Higashida auf die Frage hin, warum er denn
springe, seine Begründung folgendermaßen:
„[...] When I’m jumping, it’s as if my feelings are going upward to the sky. Really, my
urge to be swallowed up by the sky is enough to make my heart quiver. When I’m
jumping, I can feel my body parts really well, too – my bounding legs and my clapping
hands – and that makes me feel so, so good“.1
Wenn wir springen [An den Leser: stehe auf – springe einmal und spüre...], setzen wir
uns ab von der Erde, verlieren in einem im Grunde gewaltsam herbeigeführten, heftigen
Akt den Boden unter unseren Füßen und schmeißen die gesamte Masse unseres Körpers
in die Luft. So in der Luft (f)liegend, wohl gleich für nur (höchstens) wenige Sekunden,
wird die Masse unseres Körpers spürbar. Für wahr, wir können unsere Körperteile und
ihre Schwere fühlen, getrieben von der Schwerkraft, jene unseren Sprung in die Höhe
schon auf dem Weg nach oben bremst und bald enden lässt um uns zurückzuziehen auf
den Boden - Auf die Körperlichkeit des Springens möchte ich gleich nochmal
zurückkommen. Aber ja, warum springen wir eigentlich? What’s the reason for us to
jump? Naoki Higashida führt seine Begründung dafür in Hinsicht auf seine Erkrankung
an Autismus aus:
„People with autism react physically to feelings of happiness and sadness. So when
something happens that affects me emotionally, my body seizes up as if struck by
1
Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida.
http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am
13.04.2014).
1
lightning. ‚Seizing up’ doesn’t mean that my muscles literally get stiff and immobile –
rather, it means that I’m not free to move the way I want. So by jumping up and down,
it’s as if I’m shaking loose the ropes that are tying up my body. When I jump, I feel
ligther, and I think the reason my body is drawn skyward is that the motion makes me
want to change into a bird and fly off to some faraway place“2.
Sicherlich ist dieses Gefühl der Immobilität und seiner Befreiung von ihr durch den
Sprung, so wie sie Higashida beschreibt, für die meisten von uns höchstens annähernd
nachvollziehbar, und doch liegt in seinen Aussagen auch etwas, was uns alle wohl zum
Sprung bewegt: das Gefühl des dem Himmel für einen Moment näher zu sein, gelöst zu
sein von der Erde unter uns - Fliegen können. Sicherlich, wir springen auch vor Schreck
- getrieben vor Angst machen wir einen Satz zurück - wir springen, um einen Apfel
oder eine Kirsche vom Baum zu pflücken, oder um über eine Mauer hinwegsehen zu
können. Wohl springen wir auch vor Freude oder einfach aus Jux und Tollerei, und so
weiter. Doch gerade auch im klassischen Tanz, insbesondere und ausgesprochen im
klassischen Ballett, ist es eben dieses Streben himmelwärts, die Sehnsucht des
Schwebens über den Boden hinweg, die es aufwärts bewegt und seine künstlerische
Ästhetik bestimmt. Der/die in die Höhe springende Ballerino/a wird dabei bei jedem
seiner/ihrer Sprünge von uns Zuschauern gespannt verfolgt, vollzieht damit
stellvertretend für uns unsere Sehnsucht nach übernatürlicher Flugkraft.
Die kulturellen Erzeugnisse früher menschlicher Kulturen lassen erahnen, dass der
Mensch schon sehr früh begann, vom Fliegen zu träumen. Man nimmt an, dass diese
Eigenschaft wohl durch das Gehen auf zwei Beinen angeregt und ausgebildet wurde,
ferner durch die sich gegenseitig bedingenden Entwicklungen von Wurfwerkzeugen und
Gehirn.3 Der letzte Besuch bei meiner nun drei Monate alten Nichte bringt mich an
dieser Stelle auch zu dem Gedanken, dass sicherlich auch die Tatsache, dass wir die
kleinen Babys durch die Luft tragen, hin- und herwiegend in unseren Armen und
dadurch ins „Schweben“ bringend, eine prägende Flugerfahrung in der frühen Kindheit
ermöglicht. Vielleicht setzen wir schon hier den Grundstein für diese Sehnsucht des
Menschen, fliegen zu können.
2
Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida.
http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am
13.04.2014).
3
Vgl.: Hauschild, Thomas (et al.): Einleitung. In: Hauschild, Thomas (et al.): Von
Vogelmenschen, Piloten und Schamanen. Kulturgeschichte und Technologien des Fliegens.
Edition Azur; Dresden; 2011; S.15.
2
Die Schwerkraft sorgt dafür, dass wir stets Boden unter unseren Füßen spüren. So lange
wir uns im Bereich ihrer Kraft befinden, entkommen wir ihr nicht. Alles was Masse hat,
und wir Menschen haben davon nun auch mehr oder minder reichlich, wird von ihr
gezogen. Selbst jede Luftpassage in einem Flugzeug, zehntausend Meter über der Erde,
birgt die Gewissheit mit sich, irgendwann wieder den Erdboden zu touchieren – und
schon in diesem technischen Gefährt bleibt uns die Bodenhaftung erhalten, wenn der
Pilot nicht gerade eine Achterparade fliegt, die für wenige Sekunden Schwerelosigkeit
in der Kabine herstellt. Vielleicht springen wir also, um uns von dieser scheinbar schier
unbändbaren Kraft zu befreien oder zu entreißen? Gabriele Brandstetter schrieb im
Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Buch Bild-Sprung eindrücklich: „Die
Plötzlichkeit, die dem Sprung eignet, der Einschnitt in einen zeitlichen Verlauf, weist
auf die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚aufbringen’, ‚hervorbrechen’: ein Wechsel in
der Dynamik der Bewegung, ein Bruch oder ein Riss, der sich auftut.“4 Wenn wir
springen, reißen wir eine Kluft zwischen uns und dem Boden, erheben uns in die Lüfte
und stellen einen kurzen zeitlichen Zustand des Erhabenseins von der Erde her. Ein
Bruch mit unserer natürlich gegebenen Haltung zu ihr, auf konstanter Angezogenheit
und steter Berührung gründend.
Wir bewegen uns zur Welt, indem wir uns auf ihr bewegen, nicht über ihr. Stehend oder
gehend tun wir das jedoch in vertikaler Ausrichtung. Unser Skelettbau, genauer unsere
stabile Wirbelsäule, ermöglicht uns eine vertikale Körperachse, die stets gleichsam zum
Erdmittelpunkt hin, dort wohin uns die Schwerkraft zieht, und gleichsam von ihm weg,
also gen Himmel verweist. „Wir sind“, so schreibt Stefanie Wenner in ihrem
spannenden Buch Vertikaler Horizont, „daran gewöhnt, die Vertikale und die
Horizontale zu unterscheiden und verbinden mit der vertikalen Achse die Aufrichtigkeit
des Menschen, seinen aufrechten Gang.“5 Wie die Zacke eines Sterns bewegen wir uns
so also gebunden an die Erde, stechen aber gleichsam aus ihr hervor und können in
einer Höhe von durchschnittlich nicht mehr als zwei Metern auf sie draufschauen. Wir
stehen, ja, bewegen uns zwischen zwei durch ihre jeweilige Konstitution differente
Räume: Der Boden, den wir im Stehen in der Regel mit unseren Füßen berühren,
verweist auf die Endlichkeit des uns umgebenden Raums – tiefer können wir nicht in
die Erde hinein gezogen werden, tiefer können wir nicht fallen - während unser
4
Brandstetter, Gabriele: Vorwort. In: Brandstetter, Gabriele (Hg.): Bild-Sprung TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. Theater der Zeit Verlag; Berlin; 2005; S.9.
5
Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Diaphanes Verlag Zürich/Berlin; 2004; S. 125.
3
restlicher Körper und seine Ausrichtung kopfwärts sich hinein bzw. hinaus streckt in die
Unendlichkeit des Raums über uns. Ohne die Schwerkraft gäbe es diese Orientierung
zwischen diesen zwei Raumkonstitutionen gar nicht. Und damit gäbe es ohne die
Schwerkraft auch nicht die Not des Springen(wollen)s, wohl überhaupt wäre uns das
Springen gänzlich unbekannt.
„Die Körperwahrnehmung im Raum ist an der Aufrichtigkeit, also der Vertikalen
orientiert“6. Ein Sprung ermöglicht uns zumindest für einen ganz kurzen Moment eine
Loslösung von der steten Bindung zum Erdmittelpunkt hin. Wir verlängern unsere
Vertikale nach außen gen Himmel, hinein in die unendliche Weite des Luftraums.
Higashida spricht davon, wie diese Bewegung zum Sprung in ihm die Vorstellung
auslöst, ein Vogel zu sein – eine Vorstellung, vielleicht gar ein Wunsch, den viele von
uns nachvollziehen können. Sicherlich, dieser Wunsch wird immer (nehme ich
zumindest an) Wunsch bleiben und doch passiert in unserem Körper eine Form der
Verwandlung wenn wir springen. Unsere Atmung verleiht uns regelrecht „Flügel“ und
für ein paar Millisekunden verwandeln wir uns in ein luftiges Wesen. Mary Wigman
beschrieb diesen Prozess eindrücklich bei ihren Beobachtungen über den springenden
Tänzer [An den Leser: Springe erneut und spüre] :
„[Wenn der Tänzer zum Sprung ansetzt,] jagt er den Strom seiner Atemkraft blitzschnell
von unten nach oben, von den Füßen an aufwärts durch den Körper, um ihn im
Augenblick des Abstoßens vom Boden anzuhalten und so lange zu ballen, bis er den
Höhepunkt seines Sprunges erreicht und fast schon überschritten hat. In diesen wenigen
Sekunden seiner äußersten Anspannung und Atemballung aber hat er sich wirklich aller
Erdenschwere enthoben, wird zum Geschöpf der Luft und scheint durch den Raum zu
fliegen oder zu schweben. Erst mit dem Absinken der Sprungkurve strömt der Atem
wieder in den sich gleichzeitig entspannenden Körper zurück und gibt den Tänzer nach
seinem Höhenflug der Erde wieder zurück.“7
Die Schwerkraft (und eine ganze Reihe anderer Gesetze der Natur) beteiligt sich mit all
ihrer Kraft daran, das wir nicht endgültig in Luft ver- beziehungsweise zergehen oder
uns etwa in ein Wesen mit Flügeln verwandeln. Und doch steckt in diesen
Atmungsprozessen, die im Grunde Ausdruck der immensen körperlichen Anstrengung
und Muskelarbeit beim Springen sind etwas poetisches: Es scheint so, als wolle der
Brustkorb eine Wolke ausbilden und für einen kleinen Moment so leicht und frei zu
6
7
Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Diaphanes Verlag Zürich/Berlin; 2004; S. 125.
Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes. Ernst Batten Verlag; München; 1986; S. 11.
4
sein, evaporiert zu luftiger Dichte. Und für den allerersten Moment können wir die
Schwerkraft auch überlisten: Die Kräfte, die unsere Muskeln beim Absprung in die
Vertikale freisetzen sind so stark, das wir uns, so fühlt es sich zumindest an, kurz ihrer
entziehen und sich unser Körper und all seine Teile leicht anfühlen. Das beschreibt
Higashida oben so eindrücklich – my bounding legs and my clapping hands, make me
feel so good8. Ganz schnell aber ist diese Startkraft unserer Muskeln verbraucht und die
Erde beginnt unweigerlich wieder an uns zu ziehen und wir werden schwer, schwerer
gar als wir es gewöhnlich verspüren oder für möglich halten – Auf dass wir ja wieder
zurückkehren auf den Boden unserer leiblichen Tatsachen und unser Verhältnis zur
Erde, gebunden an ihr und zugleich zur Unendlichkeit reichend, wieder austarieren.
Freilich, wie auch immer sich das Springen für jeden von uns aus der eigenen
Perspektive heraus anfühlt, lange nicht jeder Sprung ist von außen auch wie ein
beflügelter wahrnehmbar. Dazu bedarf es dem Erlernen einer Sprungtechnik und der
klassisch-akademische Tanz hat diese für sich perfektioniert. Im klassischen Ballett ist
die vertikale Achse des Körpers sowie der Kampf gegen das eigene Körpergewicht
durch den Sprung schließlich zum ästhetischen Ideal erhoben: Der/Die Tänzer/-in
erreicht mit der mühsam erlernten Technik des Sprungs die äußerste Grenze die
unserem Körper im Kampf gegen die Schwerkraft gesetzt ist9. Allerdings geht es nicht
einfach darum, möglichst hoch oder weit zu springen, „sondern mit äußerster
Leichtigkeit, Elastizität und Musikalität die Emotion des ‚Helden’ zu gestalten“10. Diese
äußerste Leichtigkeit erteilt dem Tanzsprung erst den Anschein von Schwerelosigkeit.
Und dies schließlich ist es, was uns als Zuschauer zum inneren Nachvollzug des Flugs
bewegt und uns emotional ergreift. Denn es berührt unseren eigenen Traum vom
Fliegen und Schweben. Am Tänzer bzw. an der Tänzerin erahnen wir für die Dauer
eines Augenschlags wie es wohl sein könne, dieses in der Luft zu schweben. So
erkennen wir dann am Körper des Anderen unsere eigene unerfüllbare Sehnsucht
wieder.
8
Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida.
http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am
13.04.2014).
9
Vgl.: Liechtenhein, Rudolf: Der Körper und das Unsichtbare. In: Karin Adelsbach/Andrea
Firmenich (Hg.): Tanz in der Moderne. Von Matisse bis Schlemmer. Wienand Verlag; Köln;
1996; S. 204.
10
Tarassow, Nikolai I.: Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag; Berlin;
2005; S. 243.
5
Der Technik des Ballettsprungs liegen dabei, so beschreibt es Nikolai Tarassow
ausführlich in seinem Buch Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers, komplizierte
Regeln zu Grunde, die unter dem Begriff der Elevation zusammengefasst werden:
„[Mit diesem Wort] bezeichnet man das Vermögen des Tänzers, elastisch, weich, hoch,
leicht und exakt zu springen, die plastische und musikalische-rhythmische Form der
Bewegung während des Sprunges unverändert zu halten und den Absprung so
abzustimmen, dass die Flughöhe der Fortbewegung des Körpers in eine bestimmte
Richtung und einen bestimmten Rhythmus und Tempo entspricht.“11
Die Elevation alleine jedoch sorgt noch nicht dafür, dass es uns beim (Mit-)Erleben
eines tänzerischen Sprungs den Atem verschlägt so wie es etwa seinerzeit die
Sprungkraft Vaslav Nijinskys12 vermochte (Sein Sprung durch das Fenster in Le Spectre
de la Rose bewegte die Zeitgenossen in Übermaßen und machte ihn gleichermaßen zur
einer Legende, die ihm über seinen Tod hinaus bis heute nachhallt). Dafür sei ein
weiteres, nach Tarassow entscheidendes Element der Sprungtechnik bedeutend, der
Ballon:
„Man spricht von einem Ballon, wenn der Tänzer es versteht, bei einigen großen
Sprüngen die Pose oder Bewegung in der Kulmination der Flugkurve zu fixieren. Dieser
Effekt wird dadurch erzielt, dass der Absprung und das ‚Hochreißen’ des ganzen Körpers
kürzer und kräftiger erfolgen. Das erhöht die Leichtigkeit des Sprunges, und es entsteht
der Eindruck, als würde der Tänzer den Sprung verzögern, in der Luft ‚stehen’ und dabei
plastisch und exakt die ausgeführte Bewegung oder Pose fixieren. Ohne eine solche
Ausführung verliert der Sprung sofort an Virtuosität und Exaktheit. In einem solchen Fall
besitzt der Tänzer keinen Ballon.“13
Die Metapher des Ballons beschreibt eindrücklich auch das Ideal eines schwebenden
Objekts. Wir allen kennen sie, jedes Kind und gerne auch Erwachsene kaufen sich diese
mit Helium gefüllten Luftballons auf dem Jahrmarkt. Wie der Sprung des Balletttänzers
bzw. der Balletttänzerin wecken sie in uns die Sehnsucht nach dem Vermögen wie ein
Vogel zu fliegen – die Sehnsucht, die sich, wie eingangs beschrieben, womöglich ganz
früh in den Armen unserer Eltern liegend in unsere körperliche Erinnerung einschreibt.
Und „Tanz entsteht durch Aktivierung [dieses] inneren ‚Archivs’ aus Erinnerungen, die
11
Tarassow, Nikolai; S.243.
Anm. d. A.: Vaslav Nijinsky (*1888/89 - †1950), russischer Balletttänzer und Choreograph
der vorletzten Jahrhundertwende, war berühmt für seine beeindruckende Sprungtechnik. Die
zeitliche Arretierung seiner Sprünge und die Fähigkeit, sie dadurch scheinbar in der Luft
anzuhalten untermalten im besonderen Maße seine tänzerische Strahlkraft bis heute.
13
Tarassow, Nikolai. S. 243.
12
6
körperlich sind, wie unser Wissen über das Radfahren, Autofahren und Fliegen.“14 Von
dieser Aktivierung lassen wir uns beim Blick auf den Tanz affizieren und das macht ihn
auch zu einer besonderen Kunst, die Kunst vom scheinbaren Fliegen: „Die Reizung und
Kanalisierung der ‚Ballistik’ des Körpers erzeugt ein Projektil, einen Flugkörper, eine
Wolke. Tanz spielt mit der Schwerkraft, ist eine Art Flug.“15
Dieses Spiel mit der Schwerkraft ist aber zuvorderst auch, das habe ich bereits mehrfach
angedeutet und konterkariert die Wahrnehmung des Zuschauers, mit einer immensen
körperlichen Anstrengung verbunden. Die von uns als Leichtigkeit wahrgenommene
Qualität des tänzerischen Sprungs ist im Grunde eine durch mühsam antrainierte und
erlernte Technik ausgestaltete Illusion. Im Balletttanz wird diese körperliche
Anstrengung verborgen und zugleich aber, und das bleibt für das zuschauende Auge
unsichtbar, bis zur Schmerzgrenze hin getrieben. Lassen wir also für einen Moment mal
die Poesie eines Sprunges bei Seite und skizzieren kurz die anthropometrischen
Faktoren, die jene vertikale Sprungkraft maßgeblich beeinflussen. Wissenschaftler an
der Universität von Wolverhampton in Großbritannien fassten folgende Ergebnisse in
ihren Untersuchungen über den Sprung zusammen:
„It is proposed that jump height can be affected by various factors, such as muscle mass,
flexibility, isometric muscle strength, age, height, weight and level of expertise. [...]
Another study highlighted, that jump height may be related to level of expertise, or
amount of training. This suggests that dance training may eventually lead to an increase
in jump heigth.“16
Es sind also zahlreiche Faktoren, die es braucht, um die Illusion eines über die Bühne
schwebenden Körpers herzustellen. Nicht jeder menschliche Körper eignet sich (leider)
dafür, augenscheinlich durch die Luft zu fliegen und den Zuschauer in schwelgende,
manchmal auch neidvolle Gespanntheit und Sehnsucht zu treiben. Es braucht bestimmte
Körpermaße und Proportionen, Muskelkraft und Muskelmasse und, wie Tarassow zuvor
bereits andeutete, Koordination, Rhythmus und langes, hartes Training. Dabei wird der
Körper stark verschleißt, die Glieder überdehnt und die Füße verstümmelt. Eine
14
Hauschild, Thomas (et al.): Von Vogelmenschen, Piloten und Schamanen – Kulturgeschichte
und Technologien des Fliegens. Edition AZUR; Dresden; 2011; S. 127.
15
Ebd.; S. 127.
16
Wyon, Matthew (et al.): Anthropometric factors affecting vertical jump height in ballet
dancers. In: Journal of Dance medicine & Science Vol. 10, Number 3&4; J. Michael Ryan
Publishing Inc; Andover, New Jersey; 2006.; S. 106.
7
Tänzerkarriere im klassisch-akademischen Ballett vergeht schnell. Dem Aufstieg nach
oben zum Star, dem Sprung zur Spitze, folgt schon bald auch der Fall.
Der perfekte Ballettsprung steht geradezu paradigmatisch für die streng vertikale
Ausrichtung des klassischen Tanzes. Ein Verweis auf unser generelles Bestreben nach
Vertikalität, Aufstieg und Vermeidung des Absturzes in Wirtschaft und gesellschaftlicher Entwicklung, liegt da nah. Der Spitzenschuh ist dafür meiner Meinung
nach, kommen wir wieder zum Tanz zurück ein Paradigma schlechthin. Auf Spitze
stehend reduziert die Ballerina selbst schon im Stehen und Gehen den Bodenkontakt auf
einen einzigen kleinen Punkt. Gleichsam aber ist der Spitzenschuh auch ein weiteres
Zeichen für eben jenen Schmerz, der mit der Erstellung der Illusion, des über den
Boden schwebenden und fliegenden Körpers einhergeht:
„Die Zartheit des Spitzenschuhs ist längst genauso eine Illusion wie der Effekt der
Tanztechnik, den er ermöglicht: Im Spitzentanz schwebt die Tänzerin federleicht über die
Bühne, hebt für den Bruchteil einer Sekunde vom Boden himmelwärts ab und nimmt die
Sehnsucht des staunenden Zuschauers nach übernatürlicher Flugkraft mit in die Höhe.
Die Anstrengung, die es kostet, bei jedem Sprung die Schwerkraft zu ignorieren, den
Schmerz bei der Pirouette, sieht er bei diesen fließend-schönen Bewegungen nicht.“17
Kommen wir zu unserem Sprung eben zurück: Von der Anstrengung und dem Schmerz,
der mit dem Absprung in die Höhe einhergeht, bekommen wir Ungeübte, die Geübten
unter uns sicherlich ebenso [wenn wir unseren Körper noch einmal genau beobachten An den Leser: springe vielleicht noch ein drittes Mal], durchaus schon bei einem
[diesem] Sprung eine Ahnung: Die Atemwolke, dieser Ballen gestockter Luft, der sich
in unserem Brustkorb beim Absprung bildet, ist, und darauf habe ich an anderer Stelle
schon einmal hingewiesen, nichts anderes als das körperliche Zeichen des ruckartigen
Risses, dem wir unseren Körper aussetzen. Es ist jener Riss vom Boden - dass sich
Entreißen von der Schwerkraft und der Gebundenheit an die Erde - welches eine solch
kurze aber heftige Spannung durch unseren Körper jagt. Wir bekommen für eine
Millisekunde das Gefühl, als stoppte Atem und Herzschlag für immer. Einem
Stromschlag gleich fährt es uns einmal durch den ganzen Körper – für wahr, wir
bekommen jeden Teil von ihm zu spüren. Man könnte meinen, es sei die süße Strafe der
17
Schröder, Elke: Für die perfekte Illusion des Schwebens: Der Spitzenschuh. Sprung aus der
Schwerkraft. http://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/20903/sprung-aus-derschwerkraft (zuletzt abgerufen am 13.04.2014).
8
Schwerkraft, als wolle sie uns sagen: Bleibe mal schön auf dem Teppich bzw. am Platz,
wie Jean-Luc Nancy formuliert: „Am Platz springt [der Tänzer] aus dem Platz heraus:
Er öffnet ihn und rückt ihn von sich fort, trennt ihn von seinem Hier, mit dem er ihn
dann wieder vereint und in das er ihn neu platziert wie einen nunmehr rhythmisch
gegliederten Ort, wie einen Atem, der geht, sich hebt und senkt.“18
Es ist so wohl auch richtig und naturgegebene Konsequenz, dass mit jedem Sprung
immer auch ein Fallen einher geht. Die Schwerkraft bringt unseren Hochmut und unsere
Sehnsucht im wahrsten Sinne zu Fall. Friedrich Nietzsche formulierte in Zarathustra
einmal über die Schwere: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen
verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief,
feierlich; es war der Geist der Schwere – durch ihn fallen alle Dinge.“19 Wir springen,
so ungefähr formuliert es Jean-Luc Nancy, über uns hinaus, ganz bei uns und auf
gleicher Höhe mit uns selbst: Von dort, von unserer ganzen Höhe prallen wir in die
Tiefe, stets bei uns, stets in uns selbst gefaltet. Wir höhlen den Bauch und werfen uns
hinein, Beine und Arme an unser eigenes Gewicht gebunden, jenes uns mitreißt.20 Jenes
Gewicht reißt uns, gezogen von der Schwerkraft zurück auf die Erde. Fallen ist ein
Zustand, jener uns freilich, und so wäre es richtiger formuliert, stets begleitet, nicht nur
beim Sprung. Die Erdverbundenheit jedweder Masse hält auch ihre stete Gefahr des
Fallens zu ihr hin inne. So schreiben Emilyn Claid und Ric Allsopp im Vorwort der
Publikation On Falling:
„With each breath out, with every step we take, falling is so much part of our ongoing
daily lives as to go almost unnoticed. The consequences of falling can be devastating,
destroying lives, communities and infrastructures. The earthquake in Hawaii, the collapse
of Rana Plaza in Bangladesh, the fall of the Twin Towers, reveal the stark honest reality
of gravity, a fundamental natural phenomenom that is mocked or disregarded only at our
peril, asking us to beware, notice, respect and accept.“21
Jede menschliche Bewegung kann als ein Fallen begriffen werden. Jeder einzelne
Schritt vor dem anderen ist ein Fallen. Unser Körper fängt unseren fallenden Körper
18
Nancy, Jean-Luc: Alliterationen. In: Nancy, Jean-Luc: Ausdehnung der Seele. Diaphanes
Verlag; Zürich/Berlin; 2010; S.40.
19
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. Insel-Verlag;
Frankfurt am Main; 1982; S. 44.
20
Vgl.: ebd.; S. 40.
21
Claid, Emilyn & Allsopp, Ric: Editorial: On Falling. In: Gough, Richard/Allsop, Ric:
Performance Research: On Falling. Volume 18.4.; PbE.; London; 2013; S. 1.
9
auf, die Wirbelsäule dient uns dabei als Stütze und hält uns in der Vertikalen, unsere
ausbalancierte Ausrichtung zur Schwerkraft der Erde: „Menschen fallen von einer
Position in die nächste, werden bei diesem Fallen immer wieder aufgefangen – von
unterstützenden Füßen, Sitzflächen, dem Boden, Wänden, Menschen“ 22 , formuliert
Dorothée Lentz in ihrem Buch Tanz mit dem Tod: tanztherapeutische Begleitung nach
einem Todesfall. Unsere Sehnsucht zum Fliegen und zur Erhabenheit im Sprung kommt
vielleicht eben gerade auch daher, dass wir unseren Körper stets vor dem Fall, also der
gegenteiligen Bewegung, bewahren müssen (und wollen). Und allzu oft wird uns dieser
Fall ja auch im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt, etwa im oben
beschriebenen Kollaps ganzer Häuser, im Absturz der Börsenkurse oder im Zerspringen
eines Glases, jenes unserer Hand entglitt. Tanzen ist auch stets eine Übung im Fallen,
sagt Lentz:
„Ständig werden Positionen gewechselt, werden ‚fallträchtige’ labile Positionen
eingenommen. Im klassischen Ballett wird der Akzent auf die Elevation gesetzt. Dabei
aber wird übersehen, dass dieser elevierte Körper nach dem Sprung zurück auf die Erde
kommt, kommen muss und somit fällt. Dieser Fall kann sanft abgefedert werden, ein
Fallen bleibt es indes.“23
„Ah, if only I could just flap my wings and soar away, into the big blue vonder, over the
hills and far away!“ 24 , lässt sich Naoki Higashida zu guter Letzt aus seinen
Ausführungen über die Gründe für seine Not zu Springen zitieren. Er formuliert hier
einen Wunsch, der unser aller Sehnsucht Ausdruck verleiht. Einer Sehnsucht, die im
Springen, insbesondere auch im Verfolgen und Wahrnehmen eines Sprungs des
(klassisch-akademischen) Tanzes für eine kurze Weile ihre Erfüllung findet. Den Blick
gen Himmel ausgerichtet, unserer vertikalen Achse nach oben folgend, springen wir von
der Schwerkraft und setzen uns ihr gleichsam aus. Unser Körper vollzieht eine
kurzweilige Ablösung von der Erdanziehung, bleibt ihr dabei jedoch stets im Fallen
verbunden. Und doch gilt: Ohne die Schwerkraft gäbe es keinen Sprung.
22
Lentz, Dorothée: Tanz mit dem Tod: tanztherapeutische Begleitung nach dem Todesfall.
Logos Verlag; Berlin; 2011; S. 190.
23
Ebd.; S.190.
24
Higashida Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida.
http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump/ (zuletzt abgerufen am
13.04.2014).
10
Quellenangaben:
Monographien:
•
Hauschild, Thomas (et al.): Von Vogelmenschen, Piloten und Schamanen –
Kulturgeschichte und Technologien des Fliegens. Edition AZUR; Dresden; 2011
•
Lentz, Dorothée: Tanz mit dem Tod: tanztherapeutische Begleitung nach dem Todesfall.
Logos Verlag; Berlin; 2011
•
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. InselVerlag; Frankfurt am Main; 1982
•
Tarassow, Nikolai I.: Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag;
Berlin; 2005
•
Wenner, Stefanie: Vertikaler Horizont. Diaphanes Verlag Zürich/Berlin; 2004
•
Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes. Ernst Batten Verlag; München; 1986
Artikel in einem Sammelband / Magazin:
•
Brandstetter, Gabriele: Vorwort. In: Brandstetter, Gabriele (Hg.): Bild-Sprung TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. Theater der Zeit Verlag; Berlin; 2005
•
Claid, Emilyn & Allsopp, Ric: Editorial: On Falling. In: Gough, Richard/Allsop, Ric:
Performance Research: On Falling. Volume 18.4.; PbE.; London; 2013
•
Liechtenhein, Rudolf: Der Körper und das Unsichtbare. In: Karin Adelsbach/Andrea
Firmenich (Hg.): Tanz in der Moderne. Von Matisse bis Schlemmer. Wienand Verlag;
Köln; 1996
•
Nancy, Jean-Luc: Alliterationen. In: Nancy, Jean-Luc: Ausdehnung der Seele.
Diaphanes Verlag; Zürich/Berlin; 2010
•
Wyon, Matthew (et al.): Anthropometric factors affecting vertical jump height in ballet
dancers. In: Journal of Dance medicine & Science Vol. 10, Number 3&4; J. Michael
Ryan Publishing Inc; Andover, New Jersey; 2006
Internetquelle:
•
Higashida
Naoki. In: Excerpt: The Reason I Jump by Naoki Higashida.
http://parade.condenast.com/66492/parade/excerpt-the-reason-i-jump (zuletzt abgerufen
am 13.04.2014).
•
Schröder, Elke: Für die perfekte Illusion des Schwebens: Der Spitzenschuh. Sprung aus
der Schwerkraft. http://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/20903/sprung-ausder-schwerkraft (zuletzt abgerufen am 13.04.2014).
11