WOLFRAM SIEBECK ISST UNTERWEGS

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WOLFRAM SIEBECK ISST UNTERWEGS
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WOLFRAM SIEBECK ISST UNTERWEGS
Kulinarische Abenteuer
Mit Fotos
von Barbara Siebeck
Residenz Verlag
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
© 2011 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Fotos: Barbara Siebeck
Umschlaggestaltung: Fuhrer, Wien
Umschlagbild: Barbara Siebeck
Grafische Gestaltung/Satz: www.zehnbeispiele.com
Schrift: Tiempos, Knockout & Sculptura
Lektorat: Dr. Carmen Sippl
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books
ISBN 978-3-7017-3233-3
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INHALT
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Querbeet
oder: Zu diesem Buch
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Reisebekanntschaften
oder: Wie Käsemaden in Frankreich schmecken
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Alte Liebe
oder: Immer wieder Wien
22
Doppeladler ohne Krone
oder: Ente blau in Prag
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Wrumm-wrumm
oder: Trüffelgelee in Monte Carlo
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Nostalgie
oder: Im Orientexpress nach Istanbul
45
Zu den Wurzeln
oder: Expedition in die Uckermark
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Der Rest ist Alhambra
oder: Fiebrig in Granada
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Ein Barbar im Teehaus
oder: Trotz Blaise Pascal in Tokio
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Das Luft-Menü
oder: Picknick über Riem
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Fahrt ins Blaue
oder: Die Schweiz ist immer richtig
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Mehr Licht!
oder: Ein Zwischenruf
100 Vom Goldenen Frostfisch
oder: Island kulinarisch
113
Moskau
oder: Kalte Pracht für Oligarchen
123
Auf hoher See
oder: Die Suche nach dem Trüffelglück
129
Nevermore!
Einmal Washington und zurück
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QUERBEET
o d er : Z u d ie se m Buch
eisen bildet, heißt es. Es ist eine Erkenntnis von globaler
Bedeutung, auch wenn sie nicht erklärt, was es denn bildet. Magengeschwüre, sagen die einen, Schweißfüße die
anderen. Doch das sind banale Auskünfte von Bahnreisenden
und Wanderern, welche nicht erklären können, wieso wir
nicht mehr dieselben sind, die wir waren, als wir unsere Reise
antraten.
Ich bin viel gereist in den letzten Jahrzehnten. Was sich an
mir verändert hat in dieser Zeit? Eine profunde Antwort kann
ich nicht geben. Ich weiß nur, was ich sehe, wenn ich in den
Spiegel gucke: Der schlanke, dunkle Lockenkopf von ehedem
bin ich nicht mehr, das ist eindeutig. Stattdessen sind meine
Haare weiß geworden, meine Konfektionsgröße hat einen rasanten Zuwachs genommen und verhält sich damit reziprok
zu meinem Kontostand.
Womit zumindest eine Seite des Reisens erklärt wäre: Reisen macht arm und dick.
Gemeint sind damit Reisen, die wegen kulinarischer Erlebnisse angetreten werden. Bis auf eine Ausnahme habe ich andere mit Geschick vermeiden können.
R
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DAS LUFT-MENÜ
o d er : P ick n i ck üb er Rie m
er Ausgang meiner Reisen ist vorhersehbar. An ihrem
Ende und auf dem Weg dahin gibt es immer etwas zu
essen. Im Unterschied zu den Reisen anderer Leute gibt es
nichts anderes. Also keinen Abstecher zum nahen Strand, kein
Fitness-Studio am Rande und kein Bordell. Manchmal ein Museum ohne Menschenschlange, auch Antiquariate und Galerien werden besucht, wenn es sich machen lässt, ohne dass dadurch die Suppe kalt wird.
Wie eine solche Reise entsteht, hängt oft vom Zufall ab. Da
kann eine in der Fachpresse versteckte Meldung über einen
neuen Koch in einem verschlafenen Gasthaus in mir den
Alarm auslösen, den Hunde beim Anblick des Briefträgers artikulieren. Oder ich sehe im Reiseprospekt ein verführerisches
Foto – das kann ein Alpendorf darstellen oder ein Grandhotel
in einer Metropole, einen bunten Markt oder mit vollen Netzen heimkommende Fischer – oder es berichtet mir jemand
von der bukolischen Küche einer vergessenen Landschaft,
dass ich mir sage: Da musst du mal hin!
Folge ich solchen Anreizen, können sich Abenteuer ergeben, um die mich Kafkas Landarzt beneiden würde. Viel häufiger ereignet sich jedoch nichts, hat die Investition sich nicht
gelohnt. Da hat der neue Koch das Gasthaus mit einer neuen
Frau bereits wieder verlassen, ist das idyllische Dorf ein Urlaubsziel für kinderreiche Familien geworden und das Grandhotel abgebrannt. Fischer fangen nichts mehr, weil sie den
Fischfang zu intensiv betrieben haben, und in allen bukoli-
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schen Landschaften streiten Straßenbauer und Gemeinderäte
um das Recht, als Erster das Bukolische modernisieren zu dürfen.
Eine unvergessliche Reise verdanke ich der Überredungskunst von Fritz Meckseper, einem alten Freund und Kupferstecher. Er radiert geheimnisvolle Blätter von großer Originalität und bemalt große Leinwände mit nicht weniger geheimnisvollen Motiven. Außerdem liebt und sammelt er
Apparaturen, die sich mit altmodischem Antrieb bewegen, sei
es Dampf, sei es die gespannte Stahlfeder; aber auch antriebslose Objekte wie eine Flaschenpost oder ein Ballon im Wind
faszinieren ihn.
Wir saßen, wie es sich gehört, vor dem Kamin und beendeten eine Magnumflasche 1971er Echezeaux der Domaine
Dujac, welche vom Essen übrig geblieben war, und Meckseper
erzählte von den Pionieren der Ballonfahrt wie Monsieur de
Rozier sowie Madame Blanchard, die sich allesamt im frühen
19. Jahrhundert bei Abstürzen die Hälse brachen, und vergaß
auch nicht die vielen rekordsüchtigen Ballonfahrer zu erwähnen, die über dem Atlantik verschollen waren. Er schwärmte
so sehr von diesem letzten Abenteuer in unserer automatisierten Welt, dass ich – wir hatten inzwischen eine neue Flasche
geöffnet – irgendetwas Leichtsinniges sagte wie: „Abgemacht!
Können wir auch. Wann starten wir?“
Freiballons kann man zwar nicht mieten wie Taxis, aber wer
unbedingt will, findet schon eine Möglichkeit zur Ballonfahrt.
(Es heißt Fahrt und nicht Flug, und man fliegt auch nicht, sondern fährt Ballon. In traditionsbewussten Ballonfahrerkreisen
muss man für solche Versprecher eine Runde ausgeben.)
Und sowieso braucht, wer Ballonfahren will, einen Ballonführerschein, den Meckseper ebenso wenig besaß wie ich. Keiner von uns hatte je einen Ballon aus der Nähe gesehen.
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Deshalb beschäftigten wir uns zunächst mit der Frage: Was
machen Ballonfahrer, wenn sie mal müssen? Meckseper vermutete, dass in die Seitenwände eines Korbes Klappen eingelassen seien wie bei den Schlachtschiffen des Admiral Nelson,
durch die Kanonen auf den Feind feuerten. Ich gab zu bedenken, dass weibliche Passagiere in der Gondel mit dieser Methode kein Trafalgar gewinnen könnten. Wir beruhigten uns
mit der Fahrtdauer, die wir auf höchstens drei Stunden einschätzten.
Am nächsten Tag wäre für einen Hasenfuß wie mich immer
noch die Möglichkeit gewesen, das tollkühne Unternehmen
abzusagen. Aber da war noch eine Einzelheit, für die ich mich
stark gemacht hatte, auf die ich ungern verzichtet hätte. Für
unsere Fahrt würde ich von einem der besten Köche ein Picknick zusammenstellen lassen, hatte ich mich vor dem Freund
gebrüstet, was er stoisch mit einem: „Wunderbar! Auf der Titanic haben sie auch erstklassig gegessen, bevor sie abgluckerten“, registrierte.
Also organisierte ich, was zu organisieren war, einschließlich der notwendigen Sponsoren, was gar nicht schwierig war.
Als Steuermann hatte ich den Augsburger Alfred Eckert gewinnen können. Er war eine Art Luis Trenker der Lüfte, hatte
mehr Ballonstarts hinter sich gebracht als sonst jemand auf
der Welt. Augsburg hatte als Startplatz auch den Vorteil, dass
im nahen München Otto Koch sein vorzügliches Restaurant
„Le Gourmet“ betrieb, der das Picknick liefern würde.
Als ich am Morgen unseres Starttages sein englisches Taxi
neben dem verankerten Ballon stehen sah, hielt ich unsere
Fahrt schon fast für geglückt.
Allerdings versetzte mich die zweite Entdeckung, die ich
bei der Besichtigung des ankernden Fluggeräts machte, in
nicht geringe Unruhe. Von den vermuteten Klappen für die
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Schiffsartillerie war nichts zu sehen. Auch war der Korb von
unerwarteter Winzigkeit: 110 × 120 Zentimeter, also ein besserer Einkaufskorb für eine Großfamilie. Wie in ihm drei erwachsene Männer mehrere Stunden mit entsprechender Ausrüstung einigermaßen komfortabel durch die Lüfte segeln sollen, kann man sich zunächst nicht vorstellen.
Tatsächlich segelt man auch nicht komfortabel durch die
Lüfte; man kann sich nicht einmal setzen. Aber weil das dann
so aufregend ist, weil es so viel zu sehen gibt und man so viel
beachten muss, wenn man, lautlos in der Luft schwebend, an
kaum mehr als einem Dutzend alter Stricke hängt, spielt im
Korb die Bequemlichkeit keine Rolle.
Vorläufig schwebten wir jedoch noch nicht. Zunächst
musste sechzig Minuten vor dem Start der Flugsicherung
München gemeldet werden, dass Starfighter, Jumbojets, Hubschrauber und was sonst die Luft unsicher zu machen pflegt,
damit rechnen müssten, mit einem Freiballon zusammenzustoßen. Sodann tranken wir auf das Gelingen unserer Fahrt –
und auch, weil Fritz Meckseper und ich das Gefühl hatten,
etwas zusätzlicher Mut könnte jetzt nicht schaden – eine Flasche Krug Private Cuvee. Dazu ist zu sagen, dass Champagner
das klassische Ballonfahrergetränk ist wie Grog bei der Marine; die feine Sorte glaubten wir der Gelegenheit schuldig zu
sein.
Mit einem Mutalkohol von 0,35 Liter pro Person kletterten
wir schließlich ins Körbchen und ließen uns die von Meisterhand zusammengestellten kalten Platten hereinreichen. Dazu
gesellte sich ein nicht gerade sehr modern wirkendes Funksprechgerät sowie etwas, das aussah wie ein umgebautes Ofenrohr und sich als eine Anzeige für die Steig- beziehungsweise
Fallgeschwindigkeit erwies. Das dritte wichtige Instrument,
den Höhenmesser, trug Eckert am Hals. Er klemmte sich sein
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Monokel ins Auge und gab zwei Helfern, die mit der Verankerung des Ballons hantierten, verschiedene Anweisungen. Die
Mühe, alle Picknickutensilien und das technische Zubehör
zwischen unseren Beinen und in einigen Kartentaschen an
den Wänden zu verstauen, lenkte mich so sehr ab, dass ich
kaum merkte, wie wir plötzlich, endlich, in die Luft gingen.
Den erwarteten Fahrstuhleffekt, der einem den Magen nach
unten drückt, gab es jedenfalls nicht. Der Ballon schoss ziemlich schnell und ziemlich schräg davon.
Auf den ersten hundert Metern gewann er kaum an Höhe.
Ich erinnerte mich kurz an einige Fabrikschornsteine, die ich
vor uns gesehen hatte, aber das, dachte ich trotzig, ist ja Sache
des Ballonführers, und winkte den Zurückgebliebenen am
Boden zu.
Vielleicht winkte ich auch nicht; wahrscheinlicher ist, dass
ich mich krampfhaft an den nächsten besten Strick klammerte, und dass das nicht der Strick war, der das Gasventil am
Ballon öffnete, war rein zufällig.
Inzwischen hatte Alfred Eckert einen Sandsack über die
Bordwand entleert, und es ging aufwärts. Seit dem Start war
noch nicht einmal eine Minute vergangen, da waren wir schon
so hoch wie zwei gotische Kathedralen – und mir war nicht
schwindelig. Mir war überhaupt nicht. Meckseper sah mich
grinsend an und sagte: „Nun, wir haben es ja gewollt.“ Eckert
aber fand in richtiger Einschätzung unserer Verfassung das erlösende Wort: „Dann machen Sie mal eine Flasche auf!“ Das
ließ ich mir nicht zweimal sagen; denn die Gelegenheit, mich
ohne Verlust an Würde einmal, und sei es nur für Sekunden,
unterhalb des Korbrands bücken zu können, war mir nicht unangenehm. Doch als ich auch die Gläser hervorkramte, winkte
er ab: „An Bord trinkt man aus der Flasche.“ Also auch hier
diese Eigentümlichkeit der Menschen, dass sie unter dem Be-
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griff „zünftig“ zunächst einmal die Erlaubnis verstehen, auf
gewohnte Tischsitten zu verzichten.
Der Korken knallte in genau fünfhundertzwanzig Meter
Höhe über dem Boden. Ich sah mich zum ersten Mal gründlich
um. Es war ein schöner, frühsommerlicher Tag, sonnig, teilweise bewölkt, reger Flugverkehr neben und über uns. Der
Korb machte nicht die geringste Eigenbewegung, und es war,
da wir mit Windgeschwindigkeit schwebten, kein Lufthauch
zu spüren. Auch im Magen spürte ich nichts, schien körperlich
überhaupt ohne Befund, wie die Mediziner sagen.
Wenn ein Starfighter an uns vorbeiflog, wackelte er mit den
Tragflächen. „Der sagt jetzt seinen Kollegen, wo wir sind“, erklärte Eckert erfreut und meldete der Flugsicherung unseren
Standort und unsere Höhe. Ich griff zum San Daniele, der in
hauchdünne Scheiben geschnitten anmutig um ein getrüffeltes Perlhuhn dekoriert war. Der Schinken war wunderbar trocken und aromatisch und voll Sand. Wo der herkam, war kein
Geheimnis. Von Zeit zu Zeit warf Eckert eine Schaufel Sand
über Bord, und wir stiegen weiter. Er studierte eine Landkarte
und äußerte sein Missfallen. Offensichtlich trieben wir in
Richtung Dachau, wo das Münchener Sperrgebiet beginnt, vor
dem jeder Ballon landen muss.
„Schon?“, sagte ich bedauernd und dachte an die vielen
Gänge unseres Frühstücks, die in einer Korbecke übereinandergestapelt auf uns warteten. Wir machten uns also schnell
über die Spargelspitzen in Vinaigrette her und probierten den
Hummersalat, der zusammen mit Artischockenböden mit
einer Kerbelmayonnaise bedeckt war. Etwas zu sehr bedeckt,
wie ich fand, aber der Hummer war herrlich zart und saftig.
Als leichter und erfrischend erwies sich ein Salat aus grünen
Böhnchen, welcher kräftig mit zerbröselter Foie gras gewürzt
und mit Trüffelscheiben verfeinert war, eine Version, die
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durch die Nouvelle Cuisine sehr in Mode gekommen ist. Ich
öffnete eine zweite Flasche Krug, und unser Mutalkohol erreichte den Halbliterwert. Meckseper hatte ein verklärtes Lächeln auf dem Gesicht und schien sich vor Glück in die freie
Luft stürzen zu wollen. Doch unser Ballonführer holte ihn auf
die Erde zurück, das heißt, die Erde auf ihn. Denn jetzt wurden
wir getauft. Was am Äquator recht ist, soll im Ballonkorb billig
sein. Eckert ließ mir nach einigen feierlichen Sätzen eine
Handvoll Sand auf den Scheitel rieseln und richtete dort mit
Hilfe des Champagners einen dünnflüssigen Brei an, der mir
prompt in die Augen rann. Mir wurde der Beiname „Reichsgraf von Unterschüttenbach“ verliehen, weil wir gerade eine
unbeteiligte Ortschaft dieses Namens überquerten, die ich jedoch wegen der brennenden Augenverschmutzung nicht
sehen konnte.
Später gingen wir wieder etwas herunter, und Alfred Eckert
zeigte uns einige schöne, alte Dorfkirchen, die wir sonst nicht
entdeckt hätten. Ins Auge fallen von oben nämlich vor allem
Kraftwerke und Fabriken, sodann Autoschnellstraßen, Kläranlagen und Sportplätze, und das ist auch die Rangfolge ihrer
landschaftzerstörenden Bedeutung.
In der Gegend von Aichach kosteten wir mit Kaviar gefüllte
Kiebitzeier, eine sehr raffinierte Schöpfung des Maître, deren
Besonderheit aber eher im Artistischen zu suchen ist als im
Kulinarischen.
Dagegen waren die Perlhühner, abgesehen von der unvermeidlichen Sandschicht, makellos. Von kräftigerem Geschmack als normale Hühner, à point gebraten, das heißt saftig und zart, schmeckten sie so gut, wie kaltes Fleisch überhaupt schmecken kann. Dazu hörten wir, wenn wir tief genug
waren, Autogeräusche, die aber von Kindergeschrei mühelos
übertönt wurden.
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Inzwischen – zwei Stunden waren wie im Flug vergangen
(wenn man dieses Wort im Zusammenhang mit einer Ballonfahrt überhaupt verwenden darf ) – hatte uns der Wind tatsächlich an den Rand von Dachau getrieben.
„Wir müssen landen“, eröffnete uns Eckert, und man sah
ihm an, wie sehr er diese Tatsache bedauerte. Das aber klappte
nicht so, wie es sollte. Als wir tief genug waren, versperrten uns
Hochspannungsleitungen die Landung, dann wieder waren es
zu dicht besiedelte Vororte. Und als sich der Wind ein wenig zu
drehen schien, sodass die Hoffnung bestand, er könnte uns an
der Grenze des Sperrgebiets entlang treiben, gingen wir wieder höher.
Möglicherweise gab es zwei verschiedene Winde, oder gar
keinen Wind; ich halte mich nach dieser ersten Fahrt nicht für
kompetent, das nachträglich beurteilen zu können. Sicher ist
aber, das wir plötzlich über den nördlichen Stadtteilen von
München dahintrieben und Kurs auf den Flugplatz Riem hatten. Es entwickelte sich ein intensiver Sprechverkehr mit der
Bodenstelle, die uns jetzt, über den Häusern, auch nicht mehr
zur Landung auffordern konnte. Angesichts der Tatsache,
dass ein Freiballon in diesem Luftraum für sie ein ähnliches
Ereignis sein musste wie Kakerlaken in einer Restaurantküche, zeigte die Bodenstelle eine bewundernswerte Gelassenheit.
Im Korb machte sich dagegen eine gewisse Spannung breit,
die ich mit größerer Essgeschwindigkeit zu bekämpfen suchte,
was mir einigermaßen gelang. Ein in dünnem Nudelteig eingebackenes, mit Schinken und Gänseleber gewürztes und getrüffeltes Lammbries erwies sich als eine ebenso schmackhafte wie beruhigende Speise, die ich allen künftigen Ballonfahrern nur empfehlen kann, weil sich der Sand leicht von
ihrer Oberfläche abwischen lässt.
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Wenn man eine Landkarte von Bayern nimmt und sich vorstellt, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein in Augsburg gestarteter Ballon ausgerechnet zum Flugplatz München-Riem
getrieben wird, dann wird man unsere Aufregung verstehen
können, als wir um drei Uhr nachmittags an diesem teils heiteren, teils bewölkten Frühsommertag senkrecht über der
Landepiste von Riem standen – in zweitausendsiebenhundert
Meter Höhe.
Da hinauf hatte uns die Bodenstelle beordert, damit die ununterbrochen landenden und startenden Jets wenigstens
unter uns durch kämen.
Um die Einzigartigkeit dieser Nachmittagsstunde voll zu
machen, schlossen sich um uns herum riesige, weiße Wolkenberge immer enger zusammen – ein Anblick von einmaliger
Schönheit. Ich erwartete jeden Moment den Strauß-Walzer
„An der schönen blauen Donau“ zu hören, der seit Kubricks
„2001“ eine Art Weltraum-Hymne geworden ist.
Und, ich gebe es zu, ich erwartete auch den Durchbruch
einer Boeing 707 aus einem Wolkenberg.
Sogar der Luis Trenker der Lüfte schien Ähnliches zu empfinden. Denn er, der in der letzten Stunde wegen des hektischen Sprechverkehrs mit der Bodenstelle praktisch nicht an
unserem Picknick teilnehmen konnte, äußerte plötzlich den
dringenden Wunsch nach einem Schluck aus der Flasche. Bereitwillig öffnete ich die dritte Flasche, und wie um unserem
Abenteuer auch noch diese Aufregung hinzuzufügen, schoss
ein dicker Strahl Champagner in die Luft und ergoss sich auf
das Sprechgerät. Funkstille …
Ich probierte eiligst eine Perlhuhnbrust, durch deren dünne
Haut die Trüffelscheiben appetitanregend schimmerten. Nun
schlossen sich auch die Wolken um uns. Wir schwebten wie in
Watte. Wenn wir überhaupt noch schwebten. In der Wolke ein-
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geschlossen, ohne jedes Gefühl für Höhe und Entfernung, also
irgendwo im Nichts, in einem einkaufskorbgroßen, halbantiken Produkt des Korbflechtergewerbes, mit brüllendem Düsenlärm aus wechselnden Richtungen, verbrachten wir die
nächsten zehn oder hundert Minuten. Ich reichte Stangenbrot
mit gesalzener Butter und wunderte mich über den fehlenden
Käse.
Alfred Eckert hatte inzwischen das Sprechgerät getrocknet
und zu neuem Leben erweckt; aber das nützte uns wenig,
denn über Riem herrschte in unserer Höhe Windstille. Nur
sehr, sehr langsam trieben wir in südöstlicher Richtung ab,
und erst, als wir tiefer gehen durften, schwebten wir endlich
flott davon.
Ich bekam die Anweisung, im Falle einer Landung das
Schleppseil zu werfen, einen sechzig Meter langen, dicken
Strick, der dem Ballon als Bremse dient.
Ein kleiner Wald kam in Sicht, Eckert zog an der Ventilleine,
wir sanken und trieben schnell mit dem Wind. Mir fiel ein,
dass wir noch kein Dessert gegessen hatten, und ich begann,
eine lockere Mousse au Chocolat zu löffeln – sie war von delikater Bitterkeit –, musste sie aber auf Anweisung des Ballonführers mit den anderen Utensilien in den Segeltuchtaschen
an den Korbwänden verstauen. Dann ging alles sehr schnell.
Er rief „Schleppseil los!“, und ich hakte eine außen hängende
Stofftasche los, die das Seil enthielt. Aber es geschah nichts.
Ob es nun meine Ungeschicklichkeit war oder eine durch das
Essen ausgelöste Trägheit – warum sich das Seil nicht vorschriftsmäßig entrollte, das wurde später nicht weiter erörtert.
Jedenfalls fiel das Seil nicht wie geplant in die Bäume, sondern wir fielen. Als die Fichtenwipfel um unseren Korb
rauschten und raschelten, als es über mir (ich hockte mit
Meckseper jetzt auf dem Boden, während Eckert irgendwo in
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den Seilen hing oder auf dem Korbrand stand oder wer weiß
wo herumturnte) so botanisch grün wurde, ohne zu rucken
und ohne einen spürbaren Stoß, war ich angenehm überrascht. Doch dann ging der Ballon wieder in die Luft, der Wald
blieb zurück und unter uns war Wiese. Kinder liefen uns nach;
ein Zehnjähriger hing sich an das Seil, das ich nun meterweise
nach draußen beförderte, und dann rief Eckert: „Achtung,
jetzt bumst’s!“ Das tat es dann auch. Und noch einmal schwebten wir, und dann bumste es ein zweites Mal, und der Korb fiel
um, rutschte noch ein oder zwei Meter, und Meckseper und
ich lagen auf dem Rücken, und es war sehr still, und die
Mousse au Chocolat rann mir über die Hose.
In Ballonfahrerkreisen nennt man so etwas eine Reißbahnlandung, weil dabei durch eine Art Reißverschluss das Gas
schlagartig entweicht – eine etwas raue und nicht sehr elegante Art, den Boden wieder zu betreten, die besonders bei
übrig gebliebenen Speisen ihre Nachteile hat.
Die Kinder staunten jedenfalls und halfen beim Einpacken
der Ballonhülle. Dafür bekamen sie von Alfred Eckert schöne
Anstecknadeln. Dann erschien der Bürgermeister im Sonntagsanzug auf der Wiese, und wir fragten nach der nächsten
Dorfwirtschaft. Es galt nun, jemanden anzurufen, der uns abholen würde, und etwas Warmes essen wollten wir schließlich
auch.
P.S.: Im Notfall, der auf unserer Fahrt allerdings nicht eintrat, stellt sich Admiral Nelson auf einen Sandsack, um die
Korbbrüstung in der richtigen Höhe vor sich zu haben, während Lady Hamilton ein leerer Sandsack angeboten wird.
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