Wolf, Christa: Leibhaftig

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Wolf, Christa: Leibhaftig
WOLF, CHRISTA: LEIBHAFTIG. LUCHTERHAND VERLAG , MÜNCHEN 2000 (GEB., 185 S. )
Das Buch ließe sich zwei Mal rezensieren: einmal auf der Folie einer Kritik an den
oktroyierten Vergesellschaftungsformen in der DDR nach 1989,
einmal als
innovative Beschreibung des körperlichen Schmerzes, der soziale Verhältnisse
artikuliert. Dem menschlichen Körper als Gesellschaftskörper nachzulesen legt
sowohl der Klappentext als auch die Rezensionspolitik zu diesem Buch nahe. „Der
Spur der Schmerzen nachgehen“ (184) heißt es auf der letzten Seite. „Fragen Sie
ihn, ob er, als er mir ins Fleisch schnitt, als er meine Wunden öffnete, meine faulen
Stellen bloßlegte: ob er da auf jene weißen flecken gestoßen ist, die mir selber
unbekannt, die unerforscht und unbenannt sind und über die wilde Tiere herrschen.
Fragen Sie ihn, ob er sich vorstellen kann, dass an diesen resistenten Flecken jede
Immunabwehr der Welt zuschanden werden muss.“ (147) Gefragt werden soll der
Arzt, dem die Rettung dieses Körpers obliegt.
Unter der Voraussetzung, dass Christa Wolf einen Schöpfungsakt begangen hat,
dem eine intentionale Beziehung zwischen körperlichem Schmerz und vorgestellten
Objekten zugrunde liegt, wird jedoch die Analogie fragwürdig, da sie die
Voraussetzung - den körperlich empfundenen Schmerz - nicht ernst genug nimmt.
Die Empfindung, die sich ein Objekt sucht, das die Empfindung verstehbar oder
sogar
sinnvoll
macht,
muss
im
Blick
enthalten
bleiben,
will
sie
das
gesuchte/gefundene Objekt verstehen. “Verletzt. Etwas klagt, wortlos. Ein Ansturm
von Worten gegen die Stummheit, die sich beharrlich ausbreitet, zugleich mit der
Bewusstlosigkeit…. Wohin es sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht…“ (5) So
beginnt die Erzählung, das ist ihr
selbst formulierter „Auftrag“. Wörter brauchen
Objekte, die sie bezeichnen können; um sinnvoll zu werden, brauchen sie die
Einbettung, brauchen sie Geschichte; das Eingebettete der Sprachlosigkeit zu
entreißen und es freizugeben, es zum Objekt zu machen und damit betrachtbar,
davon handelt der Text.
„Wie sollen wir wissen, wie ausgedehnt unsere Innenwelt ist, wenn nicht ein
besonderer Schlüssel, hohes Fieber zum Beispiel. Sie uns erschließt.“ (24) Die
Innenwelt entpuppt sich als Außenwelt: Ost-Berlin und ein unaufgeräumtes
Kellergeschoss, durch beides muss sie, begleitet von der Anästhesistin – während
der Narkose, während die Hirnströme von den körperlichen Empfindungen
abgetrennt sind. Begegnungen finden statt mit guten Kollegen, die Freunde waren;
mit ihrem Prozess, mit den Verhältnissen nicht fertig zu werden. Der unaushaltbare
Selbstmord eines Freundes, der ihr langsam entglitten war und dessen Entgleiten sie
als persönliches Versagen, nicht aber als gesellschaftliches Verhältnis gesehen
hatte. Während sie mit sich arbeitet ist sie auch entlastet: „Es ist gut, lästerlicher
Einfall, es tut trotz allem gut, aus dem Zeitnetz geworfen zu sein, denn eine andere
Möglichkeit, niemandem mehr etwas schuldig zu sein, gibt es auf dieser Erde nicht.“
(84) Die Krankheit ermöglicht ihr ein Zeit-jenseitiges Dasein. Sie ist außerhalb von
allem, kann die Nachrichten nicht ertragen, die ihr wie in das Fleisch schneiden mit
ihren Katastrophenmeldungen und ist in sich, wie gezwungen, etwas zu verstehen,
das sie intentional nicht verstehen wollte. Auch das Sich-Kennen-Lernen ist ein
oktroyierter Prozess. „Vergiftung, denke ich. Ich bin vergiftet. Was ich brauche, ist
eine Entgiftung, eine Reinigung, ein Purgatorium. Eine Entdeckung. … jetzt bricht die
Heilung aus, als schwere Krankheit.“ (93) Hier wie an anderen Stellen ist es leicht,
den Bezug zum Gesellschafts-Körper zu finden, die Bezeichnungen des Westens
gegen die DDR. Aber es ließe sich auch die innere Natur finden, die Vergiftung des
eigenen inneren (durchaus politisch zu lesenden) Projekts durch die äußeren
Bedingungen, die fremdverfügt blieben, trotz allen Involviertseins. Die Vergiftung
eines Projekts, an dem sie wörtlich mit Leib, Seele und allen Sinnen hing, das ihr
anhing und das sie jetzt einholt als Schaden an dem was Leib, Seele und Sinne
einschloss und barg: den Körper.„Der Teufel, den ich im sinn habe, ist der
allervernünftigsten
Vernunft
entstiegen
oder
ihr
in
einem
unbeobachteten
geschichtlichem Augenblick entwichen, der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer..“
(119) Es wurde nicht geschlafen, als das Projekt realisiert werden sollte, es wurde
über die Verhältnisse geträumt und das Resultat bleibt das gleiche. Die Qualität des
Wachzustands entscheidet über die Realisierung der Vernunftarten.
Christa Wolf hat ein Buch des Schmerzes geschrieben, in dem die Außenwelt die
Qualität der Empfindung erhält. Gelesen kann es so oder so werden, Erkenntnis ist
immer möglich.
Kornelia Hauser (Innsbruck)