- Theater Aachen

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- Theater Aachen
Agonie und Ekstase
des Steve Jobs
von Mike Daisey
Deutsch von Harald Wolff
Stand 19.09.2013
[email protected]
19.09.2013
Über das Stück
Mike Daisey liebt sein iPhone. Er ist ein AppleManiac, ein Apple-Partisan, er betet
zum iGott. Er war in Steves Kirche, er durchlitt die Stationen seines Kreuzganges, er
kniete vor seinem Thron. Und er begab sich nach Shen-zhen und besichtigte Foxconn,
wo alle unsere elektronischen Spielzeuge hergestellt werden, und beschreibt, wie
Arbeiter dort vom Dach sprangen, aus Angst, gefoltert und weggesperrt zu werden, für
immer. Er erzählt uns die fantastische Geschichte von Aufstieg und Zufall des Steve
Jobs in den prächtigsten Farben und den amüsantesten Details, er bringt uns zum
Staunen und zum Lachen an diesem wunderbaren Theaterabend, den niemand
verpassen darf, der sein iPhone wahrhaft liebt. Und er ist Realist genug, an die
Veränderbarkeit der Welt zu glauben. Heute fangen wir an.
A&EDSJ ist die Geschichte von Apple, ein brüllend komischer Liebesmonolog, ein
bewegendes Glaubensbekenntnis, ein erschreckender Aufschrei. Sie wurde von Mike
Daisey gemeinfrei publiziert. Jeder darf sie übersetzen, spielen, verändern. Unsere
Übersetzung seines Textes wird zeitgleich mit der Premiere auf unserer Homepage
veröffentlicht. Bitte ladet sie herunter und teilt sie mit anderen.
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Offene Aufführungslizenz
Mike Daisey hat THE AGONY AND THE ECSTASY OF STEVE JOBS als
bewusstes Gegenmodell zu Apples closed-shop-Mentalität gemeinfrei und als opensource-file publiziert: Jede(r) darf es kostenlos spielen, übersetzen, verändern, um- und
fortschreiben, damit sich Daiseys mind-virus verbreiten kann.
Er bittet im Gegenzug lediglich darum, dass jede Bearbeitung ihrerseits gemeinfrei
und open-source zur Verfügung gestellt wird. Sein Prinzip gilt also auch für diese
Übersetzung: Jede(r) darf sie gerne verwenden, nachspielen, um- und fortschreiben.
Meine Bitte ist: Wenn Ihr das tut, wenn Ihr sie ganz oder in Teilen verwendet, wenn Ihr
Sätze aus dieser in Eure eigene Übersetzung übernehmt – tut es gerne und lasst es mich
wissen. Danke.
Die originale Aufführungs-und Bearbeitungslizenz findet Ihr hier:
http://mikedaisey.com/Mike_Daisey_TATESJ_transcript_2.0.pdf.
Wir danken Mike Daisey für die Erlaubnis, seinen Text zu übersetzen und zu
verwenden. AGONIE UND EKSTASE DES STEVE JOBS hat am 19.9.2013 am
THEATERAACHEN Premiere. Diese Übersetzung war die Grundlage unseres
Probenprozesses, unterscheidet sich von der Spielfassung aber insofern, als dass
Passagen gestrichen, ergänzt und umgestellt wurden.
Inszenierung Jens Dierkes, Bühne und Kostüme Esther van de Pas, Dramaturgie
Katharina Rahn, Harald Wolff. Gespielt von Markus Weickert. Nähere Informationen:
http://www.theateraachen.de/index.php?page=detail_event&id_event_date=11735011
Harald Wolff
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Agonie und Ekstase
des Steve Jobs
von Mike Daisey
Deutsch von Harald Wolff
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„Zu Wissen, dass wir sterben, hilft, den Irrtum zu vermeiden, wir hätten was zu
verlieren. Wir sind längst nackt.“
Steve Jobs
Wenn man reich ist, kann man Geister und Teufel zwingen, sein Mühlrad zu drehen.
Chinesisches Sprichwort
Wenn Du Dein Steak genießen willst, geh nicht ins Schlachthaus.
Amerikanisches Sprichwort
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1- Mitternacht in den Chungking Mansions
Das Mira-Hotel in Kowloon, Hong Kong, hat ein tolles Design. Da sieht´s aus wie
auf einem Segelschiff: Alles hat seinen festen Platz, und alles ist an seinem festen Platz.
Ich erwische mich sogar dabei, wie ich die kleinen Fächer öffne und schließe, nur um
die Kunstfertigkeit zu sehen, mit der sie zusammengesetzt sind … ich kann da nichts
dagegen tun, so ticke ich halt.
Ich gehe durch die Lobby des Mira-Hotels in Kowloon, Hong Kong, und ich trete
nach draußen in eine Monsun-Nacht im Hong Kong des 21. Jahrhunderts – die Luft ist
so dampfnass, dass das allgegenwärtige Neon verwischt, als hätten wir alle ein bißchen
LSD genommen –
– und ich gehe durch die Straßen, und obwohl es schon nach Mitternacht ist, sind
hunderte Menschen unterwegs, und überall dieser feuchte Tiergeruch, der Geruch von
Menschen, die dicht an dicht gedrängt sind, ein Geruch, den wir alle fast vollständig
vergessen haben.
Und nur ein paar Blocks entfernt vom Mira Hotel in Kowloon, Hong Kong, sind die
Chungking Mansions. Die Chungking Mansions sind ein Taubenschlag des Abschaums
und Verbrechens.
Sie liegen im Herz von Kowloon; sie sind nichts mehr und nichts weniger als ein
Einkaufszentrum des Unredlichen. Alles, was man will, aber eigentlich nicht haben
darf, kriegt man nach Mitternacht in den Chungking Mansions, und dort bin ich,
spaziere die Gänge rauf und runter.
Das ist Globalisierung in Aktion. Das ist wie eine raubkopierte Benetton-Werbung.
Schwarzafrikaner mit Stammestätowierungen streiten sich um Müllbeutel voller
Second-Hand-Handys, Einheimische verhandeln mit Koreanern über eine mysteriöse
Wurzel, und bei einem indischen Fress-Stand stehen übereinandergestapelte
Mittagessen und eine gefälschte Nespresso-Maschine, auf der „Nextpresso“ steht.
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Und in diesem ganzen Treiben bin ich die einzige Minderheit. Weil ich bin weiß, und
groß, und ich trage … ein Hawaiihemd.
Denn man erreicht einen Punkt, an dem einem klar wird, dass man nicht dazugehört.
Man erreicht einen Punkt, an dem einem klar wird, dass es Vorteile haben kann, mitten
reinzuspringen und den Colombo zu geben. Ich mach das schon eine ganze Weile, das
ist eine Art professionelles Reinstolpern. Ich so irgendwie … wat, wat? wat wat wat wat
wat!
Auf die Art gerät man in die interessantesten Situationen. Man kommt nicht immer
gut wieder raus, aber auf jeden Fall sorgt das für ein abwechslungsreiches Leben.
Und ich arbeite mich bis in den dritten Stock der Chungking Mansions hoch, wo
alles ein bißchen suspekt wird. Innerhalb einer halben Stunde wird mir Haschisch,
Opium, Heroin, Sex mit Frauen, Sex mit Männern und Sex in Kombinationen
angeboten, die man nur als „reizvoll“ beschreiben kann.
Ich lehne all diese Angebote ab, denn dafür bin ich nicht hier – ich finde was ich
suche am Ende eines Ganges des dritten Stocks neben einem Regal mit Papayas im
Sonderangebot … da steht diese Bude.
Und in dieser Bude hängen, aufgereiht an Angelschnüren, Hunderte und
Aberhunderte Handys – als hätte ein Fischer sie hochgezogen – und irgendwie stimmt
das ja auch, denn der Typ in der Bude hockt auf einer Bank, vor ihm ein Handy ohne
Rückabdeckung, in der einen Hand einen Lötkolben, und ein fettes Vergrößerungsglas
über seinem linken Auge. Als ich reingehe, blickt er zu mir auf, und sein riesiges Auge
wendet sich mir lauernd zu.
Ich rede ihn in der einzigen internationalen Sprache an, die ich beherrsche: Ich sage
„iPhone?“
Und er lächelt, und zeigt seinen Goldzahn, und er greift unter den Tresen und zieht
ein iPhone hervor … nur, dass das kein iPhone ist. Das sieht man sofort an der
Verpackung: die Laufweite der Buchstaben stimmt kein Stück.
Und wenn man sie öffnet, sieht das Telefon selbst nach einer ziemlich guten Kopie
aus, aber wenn man es anmacht, erscheint da kein anmutiges Gleiten der Icons auf das
Display, stattdessen torkeln die Icons, als hätten sie sich alle in Kowloon betrunken.
Und wenn man eines antippt, erscheint statt eines fotorealistischen Adressbuches ein
großes blaues Fenster mit den Worten „ERROR IS MAKING.“
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Ich gebe ihm das „iPhone“ zurück und zeige ihm, was ich meine: Ich hole mein
iPhone aus der Tasche, und als er es sieht, versteht er und streckt seine Hand aus. Und
ich nehme mein Baby und lege es in seine Hände, und er nimmt ein schmutziges
Docking Kabel und schiebt es dem Telefon hinten rein, und das Display leuchtet auf.
Denn dieser Mann ist ein Pirat. Ein Hacker, ein Jailbreaker, ein Unlocker, jemand, zu
dem man geht, um dem Baseband seines Handys den Marsch zu blasen, jemand, der
einen maßgeschneiderten Virus programmiert, um Dein Telefon zu cracken und es dir
dann zurückzugeben, denn – das wisst Ihr vielleicht nicht – aber wir befinden uns im
Krieg, jetzt gerade, in dem es um die Geräte in Euren Taschen geht. Ein Krieg darum,
wem sie gehören.
Ihr glaubt, sie gehören Euch. Warum? Weil Ihr für sie bezahlt habt?
Albern! Die Konzerne sehen das anders. Die sagen, die Geräte laufen über ihre
Netzwerke, also müssen sie die Kontrolle über sie haben, und im Moment wogt der
Krieg darüber hin und her, wer die Geräte besitzt … und in einem solchen Krieg können
Piraten einen kleinen Prozentsatz abgreifen, so wie dieser hier, der den Menschen den
Besitz über die Dinge zurückgibt, von denen sie dachten, sie besäßen sie bereits.
Und während er arbeitet, unterhalten wir uns in gebrochenem Englisch, und ich frage
ihn, ob es schwer ist, Apple und Nokia und Samsung und allen anderen
Technologieproduzenten immer einen Schritt vorauszubleiben, weil die ja immer neue
Abwehrtechniken einführen, die die Piraten dann umgehen müssen.
Und er lächelt … und da erscheint noch einmal der Goldzahn. Und er gestikuliert, er
macht eine grandiose Geste, inkongruent mit seiner winzigen Bude, und für einen
Moment – da sieht er nicht aus wie ein Hacker in den Chungking Mansions.
Er sieht aus wie ein Prinz in der Schlacht, und all dies sind seine Untertanen.
Und er lächelt, als würde er sagen:
„Ich gegen Apple. Was glaubst du, wer gewinnt?“
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2- Die Welt, wie sie früher war
Technik ist mein einziges Hobby.
Ich liebe Technik, ich liebe alles daran. Ich liebe es, mir Technik anzugucken, ich
liebe es, ein Stück Technologie mit einem anderen zu vergleichen, ich liebe es, den
Gerüchten zu folgen über eine Technologie, die noch nicht existiert, ich liebe es,
Technik zu googlen, ich liebe es, Technik zu kaufen, ich liebe es, Technik auszupacken
– selbst, wenn sie in diesem Luftpolsterplastik steckt – ich liebe es. Ich liebe den
Geruch eines neuen Stücks Technologie – diesen Geruch nach verbranntem PVC, wenn
das erstemal Strom durchfließt? – ich liebe das.
Und von all der Technologie, die ich liebe auf dieser Welt, liebe ich die, die von
Apple kommt, am meisten.
Denn ich bin ein Apple-Fan, ich bin ein Apple-Partisan, ich bin ein AppleManiac,
ich bin ein Anhänger des Mac-Kultes: Ich war in der Kirche des iGotts, ich durchlitt die
Stationen seines Kreuzweges, ich kniete vor seinem Thron.
Und wie viele von Euch, die auch dieser Religion anhängen, wissen: es ist manchmal
schwer, seinem Glauben treu zu bleiben. Und ja, ich wich vom rechten Weg ab, ein paar
mal. Wie viele von Euch, frönte ich der Linux-Ketzerei. Und in den 90ern habe ich mit
dem einen oder anderen Windows-System geschlafen – aber wer von uns hat das nicht
getan, jetzt mal ehrlich?
Aber meistens war ich treu. Und heute Abend sprechen wir vom Betriebssystem als
einer Religion, und ich frage Euch: Wie könnte es auch anders sein? Denn ich sage
Euch: In dieser Zeit, in der so viel aus unserem Leben medial, durch Technologie,
vermittelt wird – wenn man da das Bild kontrolliert, durch das die Menschen die Welt
wahrnehmen – dann kontrolliert man die Welt selbst.
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Was ich meine, ist: Wenn man noch nie nachgedacht hat, ernsthaft nachgedacht hat
über das Betriebssystem, für das man sich entscheidet – dann lebt man vielleicht ein
Leben, das noch ungeprüft ist.1
Und als ich jung war, träumte ich von der Zukunft, und wir wussten, wie die Zukunft
aussehen wird. Wir wussten, die Zukunft wird im Cyberspace stattfinden, und wir
wussten genau, wie der funktionieren wird. Wir werden alle Schnittstellen am
Hinterkopf haben – SCHEISS GROSSE SCHNITTSTELLEN. Wir haben alle diese
riesigen Stereo-Anschlüsse, und dannso: „Ich schließ mich jetzt an, Schweinebacke!
Ahhhh!“, und wir beamen uns in den Cyberspace.
Gott sein Dank ist das nie passiert.
Könnt Ihr Euch das vorstellen? Schnittstellen am Hinterkopf? Und da dann auch die
Software laufen haben? Im Hinterkopf? Bei der Qualität, die Software heute hat?
„Tut mir leid, Alter, ich kann heute nicht kommen – die linke Seite meines
Gesichtsfeldes stürzt dauernd ab. Ich habe im Safe Mode gebootet, aber die Scheiße
hört trotzdem nicht auf. Ich häng in der Warteschleife des Supports. Ach kacke, jetzt
schon wieder, ich muss los, man, ich muss los.“
Gottseidank ist das nie passiert, oder?
Ist es aber. Es ist passiert. Die Zukunft stellt sich ja nie so ein, wie wir sie erwarten.
Darum heißt sie ja „Zukunft“. Und genau jetzt, hier im Dunkeln, hat jeder Einzelne von
Euch ein Gerät in der Tasche, das mehr kann als jeder x-beliebige PC vor 10 Jahren,
und es ist verbunden mit einem weltweiten Netzwerk an Informationen, und kann nach
Belieben up- und downloaden.
Was ich damit meine: Wir sind schon längst Cyborgs. Die Zukunft hat schon
stattgefunden.
Und wenn ich überhaupt was gelernt habe durch meine Zeit mit Apple, dann dies:
Ich habe gelernt, in Apple verliebt zu sein, bedeutet, unglücklich verliebt zu sein. Denn
Apple bricht dein Herz, immer und immer wieder … denn Steve Jobs war ein Meister
des Zwangs-Upgrades.
Denn immer dann, wenn du glaubst, jetzt endlich funktioniert alles, immer dann,
wenn du denkst, alle deine Geräte arbeiten Hand in Hand – und zwar nicht nur mit dem,
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„Ein ungeprüftes Leben ist nicht lebenswert.“ Sokrates
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was sie können, sondern auch ästhetisch – immer dann, wenn du glaubst, alles, was dir
gehört, kann tatsächlich miteinander sprechen – dann fickt er dich.
Ich weiß noch, wie ich 1999 einmal auf alle meine Geräte sah und dachte: „Hey!
Alles ist perfekt! Alles, was mir gehört, dehnt sich aus wie ein birnenförmiger
Fruchtbonbon. Das wird nie aus der Mode kommen!“
Oh doch. Oh doch!
Und Steve Jobs hatte es wirklich drauf, uns die Geschichte zu erzählen, die wir alle
hören wollen: Die Geschichte einer Zukunft, in der Technik tatsächlich funktioniert.
Da war ich noch nie. Da würde ich gerne mal hin.
Und wenn diese Geräte aufsteigen auf ihren Glas-Säulen – als würden sie direkt aus
dem Kopf von Steve Jobs geboren! Als würde er eines Tages die Straße
entlangspazieren und denken: „Ein iPad!“ und MWRRRAAAAAP!, da ist es! – sie sind
so schön!
Er hatte es wirklich drauf, uns Dinge brauchen zu lassen, von denen wir nie wussten,
dass wir sie wollten.
Ich zum Beispiel hatte gar nicht gewusst, dass ich ein Laptop brauche, das so dünn
ist, dass ich damit Brot schneiden kann. Das wusste ich einfach nicht. Aber dann habe
ich es gesehen. Und wollte es.
Er imitiert Brotschneiden
Und ich weiß, ein paar von Euch hier im Dunkeln schauen mir zu und denken: „Mike
… benutz doch einfach ein Messer.“
Ich aber sage Euch: In einer besser designten Welt würde ich nur ein einziges
Werkzeug brauchen: Das Werkzeug, das STEVE mir gegeben hat.
Er imitiert nochmal das Brotschneiden
Und wenn ich mir die Keynotes anschaue, erfüllt mich das mit einem merkwürdigen
Schauer aus Lust und Geekerei. Ich starre auf den Schirm, in einem Fenster der LiveStream, in dem die Geräte vorgestellt werden, in anderen Fenstern die Chat-Rooms voll
fremder Menschen – wie ich in Unterwäsche – in ihren Wohnungen verstreut über die
ganze Welt, die wie die Blöden in ihre Tastaturen hacken. Und nach dem Ende stehe ich
auf, verwandelt, und wandle in das andere Zimmer unserer Wohnung, wo meine Frau ist
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– die, wie ich vielleicht anmerken sollte, etwas normaler ist als ich – und versuche ihr
zu erklären, was ich gesehen habe … und das ist, als würde ich Ägyptisch sprechen:
Mit der Stimme eines gefräßigen Konsumenten
“Ich will einen neuen Router! Ich will einen neuen Router! Denn der, den wir bisher
haben – haha! – den, der wir bisher haben ist 802.11.g . G! Das ist das letzte!
Sooooooooooooooooooo laaaaahm! Ich fass es nicht, wie lahm der ist. Mir war
überhaupt nicht klar, dass er lahm war, bis vor ein paar Minuten, aber jetzt, wo ich es
weiß … Ich ertrag nicht mal mehr den ANBLICK von dem Scheiß-Teil! Ich will ihn
rausreißen aus unserem System, ihn gegen unser Toilettenbecken schleudern und
wegspülen. Der neue Router – ahhhh! – der neue Router ist 802.11.n. N! N ist schnell.
Mit N wird alles endlich so funktionieren, wie man es uns immer versprochen hat. Mit
N werden wir endlich überall in unserer Wohnung HD-Videos kabellos von unserem
RAID Array Server streamen können!“
Und in meinem Hinterkopf meldet sich diese Stimme der Vernunft:
„Michael. Du besitzt gar keinen RAID Array Server. Und streamst überhaupt gar
keine HD-Videos. Mal ehrlich: Du benutzt deinen Router doch nur, um Webseiten
anzusurfen.“
Und ich spreche mit dieser Stimme, und ich sage ihr, sie soll DIE KLAPPE
HALTEN.
Denn: Ich will es haben! Es ist klein, und weiß, und viereckig … und das in diesem
perfekten Bauhaus-Design.
Und bevor wir weitermachen, sollten wir uns kurz darüber unterhalten, was ein Geek
ist.
Denn Geeks sind in etwa wie Flachlandgorillas: Sie kämpfen um Dominanz. Und
irgendwo da draußen ist, da bin ich sicher, irgendwer der glaubt, er sei noch geek-ier als
ich. Ihr sitzt da draußen im Dunkeln, gerade jetzt, schaut mir zu und denkt …
Auf eine schrille und nasale Art:
„Ej der Typ hat doch keine Ahnung von Steve Jobs. Ich hab mir Steve Jobs Gesicht
auf den Hinterkopf tätowiert. Wenn ich einen USB-Stick habe, der nicht so funktioniert,
wie ich mir das vorstelle, dann schreib ich mir einen eigenen Treiber dafür in
Maschinensprache.“
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Du hast gewonnen.
Du bist ein größerer Geek als ich.
Du, da draußen im Dunkeln.
Aber … schön, dass du es überhaupt geschafft hast, heute Abend Deine Wohnung zu
verlassen.
Aber für unsere Geschichte ist es wichtig, eine Vorstellung davon zu haben, wo ich
in dieser Hierarchie bin, und das kann man am besten so beschreiben: ich bin auf einem
Level der Geekness, auf dem ich manchmal, zur Entspannung, nach Abenden wie
diesem hier, nach Hause gehe und mein MacBook Pro in seine 43 Einzelteile zerlege.
Ich reinige die dann mit Druckluft und setze sie wieder zusammen.
Das beruhigt mich.
Die Wahrheit ist: Ich hätte diese Religion nie in Frage gestellt, ich hätte mir dieses
Glaubenssystem nie genauer angeschaut – weil es mir so viel Freude bereitete – wären
da nicht diese Fotos gewesen.
Denn eines Tages, als ich mich gerade im Internet entspannte – was für mich heißt:
Ich habe Macintosh News Seiten durchgelesen, die, das sollte ich vielleicht erklären, in
Wirklichkeit gar keine Nachrichten enthalten. Statt dessen sind sie voller Gerüchte, was
Apple wohl als nächstes tun wird, ausschließlich geschrieben von Leuten, die absolut
keinen blassen Schimmer haben, was Apple wohl als nächstes tun wird, aber aus
irgendeinem Grund beruhigt mich das.
Also: Ich treibe mich gerade auf solchen Seiten rum, als auf einmal dieser Artikel
gepostet wird. Und darin geht es darum, dass irgendwer ein iPhone gekauft hat, dass
nicht leer war, als er es gekauft hat – es waren Informationen darauf, aus der Fabrik.
Und da waren doch tatsächlich Fotos drauf. Aus der Fabrik. Die Fotos wurden in dem
Artikel gepostet, und ich habe mir diese Fotos angeschaut, und mir stockte der Atem.
Das sind natürlich keine besonders guten Fotos – da testet jemand, ob die Kamera
funktioniert, das sind keine Fotos von irgendetwas, aber ich werde sie nie vergessen. Es
waren vier.
Das erste zeigte einen Stapel Holzpaletten; das zweite war der Rand eines
Fließbandes; das dritte war komplett unscharf – vielleicht zeigte es einen riesigen Raum
– und das vierte war eine Frau. Sie weiß nicht, dass sie gerade fotografiert wird. Sie
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guckt in eine andere Richtung, sie trägt einen sauberen Arbeitsanzug, ihr Gesicht ist
ausdruckslos.
Und ich habe mir diese Fotos angeschaut und sie auf meinen Desktop geladen, und
sie in einen Ordner auf meinem Desktop gepackt, und in den folgenden Wochen bin ich
wieder und wieder zu ihnen zurückgekehrt, fast zwanghaft. Ich fahre mit der Maus
drüber, ich öffne den Ordner, ich verwende Exposé, ich verteile die Fotos über meinen
Desktop und schaue sie mir an.
Wer sind diese Menschen?
Weil, es ist so: Ich habe einen beschämend großen Teil meines Lebens dem
Studieren dieser Maschinen gewidmet. Ich bin ein Amateur, aber einer, der sich den
Dingen ernsthaft widmet. Ich verstehe ziemlich gut, wie die Hardware funktioniert, und
wie die Software darauf aufbaut, aber nie, bis ich die Fotos sah, – ich habe erst da
begriffen, dass ich noch nie wirklich darüber nachgedacht hatte, also: mit derselben
Ernsthaftigkeit, wie sie hergestellt wurden.
Es ist gar nicht so einfach zu rekonstruieren, WAS ich mir vorgestellt hatte. Ich
glaube, ich dachte, sie würden von Robotern hergestellt.
In meinem Kopf hatte ich ein Bild, von dem ich heute weiß, dass ich es von einer
Fernseh-Reportage über Japanische Automobilfabriken gestohlen hatte. Das habe ich
einfach im Copy&Paste Verfahren übernommen, einfach so, schwanzschaukeln,
COMMAND-V … so sieht´s aus.
Nur kleiner.
Weil´s ja Laptops sind. Keine Autos.
Ich hab drüber nachgedacht: Wenn auf diesem Telefon vier Fotos sind, von Hand
gemacht zu Testzwecken, dann sind ja auf jedem iPhone vier Fotos, handgemacht zu
Testzwecken, auf jedem iPhone, das es gibt. Von Hand. Ich fing an, nachzudenken. Und
das ist immer ein Problem, bei jeder Religion.
Der Moment, in dem man anfängt, nachzudenken.
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3- Die Frucht der frühen Piraten
AM ANFANG gab es zwei Steves, und das ist jetzt wichtig: es gab Steve Jobs und es
gab Steve Wozniak.
Wozniak war der Geek der Geeks, der Nerd der Nerds, so eine Art Geek-Version
vom Weihnachtsmann; wirklich dick, wirklich grundgutgelaunt, und er konnte
programmieren wie blöd. Er trank Mountain Dew, das ist so eine Art Sprite, nur mit
Geschmack, und dann WHARRRRRRRRRGGGGGGHHHHH! – dann programmierte
er die ganze Nacht. Totaler Geek, totales Genie.
Steve Jobs war eine ganz andere Nummer. Der war noch nicht mal wirklich ein
Geek, der war viel eher ein Showman, ein Erfinder-Unternehmer, und er schwebte über
der Tech-Industrie.
Heute gibt’s kaum noch solche Giganten wie Steve Jobs. Wen gibt’s denn heute?
Ballmer? Von Microsoft?
Macht ein schreckliches Geräusch, als würde eine Katze kotzen
Ballmer ist ein blöder Affe! Der wirft mit Stühlen nach seinen Untergebenen, wenn
er wütend wird.
Steve Jobs hatte es nie nötig, Stühle zu werfen.
Steve Jobs konnte so einen Scheiß mit seinen Gedanken tun.
Wenn Steve Jobs einen Untergebenen nur auf eine bestimmte Art anschaute, stand
der Untergebene auf, nahm sich einen Stuhl … und hat sich damit selbst erschlagen.
Das ist Macht. Das ist wirkliche Macht.
Jobs wurde von einer Arbeiterfamilie adoptiert. Er war immer ein Getriebener, und
eigenwillig. Er fing an zu studieren, brach das nach einem Semester wieder ab, blieb
aber auf dem Campus und besuchte die Vorlesungen, die er hören wollte, während er
sich bei wechselnden Freunden einquartierte, und er begann, eine doppelte Existenz zu
leben: die eine Hälfte an der Nordwestküste des Pazifik, wo er vegane Gemeinschaften
besuchte und ziemlich viel Acid einschmiss, die andere Hälfte in dem, was heute das
Silicon Valley ist, wo er immer besessener wurde von Elektronik.
Und dann verschmolz er diese zwei Teile seiner Existenz und wurde so eine Art
techno-libertärer Hippie – einer, der leidenschaftlich an die Macht von Technologien
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glaubte, unser aller Leben zu verändern, und der glaubte, dass diese Veränderung nach
humanistischen Werten geformt werden könne. Und er hakt sich bei Wozniak unter, und
das erste, was sie bauen, ist eine Blue-Box: Eine Box, mit der man sich bei
Telefongesellschaften einhacken kann, um kostenlos Ferngespräche zu führen.
Davon bauen die nicht nur eine – die bauen davon Hunderte, und verkaufen sie an
jeden, aber vorher müssen sie sie testen, also bringt Jobs Wozniak dazu, die Box zu
testen, indem er einen Anruf beim Vatikan durchführt – den Anruf aber so aussehen
lässt, als käme er vom Weißen Haus.
Wozniak tut das also und sagt: „Hallo Vatikan, hier ist das Weiße Haus. Ich habe
Henry Kissinger in der Leitung, er will den Papst sprechen.“
Und der Kardinal – oder werimmersonst mitten in der Nacht das Telefon im Vatikan
abnimmt – sagt: „Seine Heiligkeit schläft, aber bitte warten Sie, wir werden ihn
wecken.“
Und Wozniak sagt: „OH MEIN GOTT ENTSCHULDIGUNG TUN SIE DAS
NICHT ICH HAB MICH VERWÄHLT BITTE WECKEN SIE NICHT DEN PAPST
TSCHÜSS!“
Und weil er ein ordentlicher Geek ist, er so:
„Scheiße, es funktioniert, Proof of Concept. Himmelherrgott.“
Aber: Hätte Jobs angerufen, Jobs hätte gesagt:
„Wunderbar. Bitte wecken Sie ihn.
Und wo ich Sie schonmal in der Leitung habe, hören Sie doch ein bisschen dem
Klang meiner Stimme zu …“
Ihr nächstes gemeinsames Projekt ist der Apple I. Das ist ein Computer, aber der
sieht kein bisschen so aus, wie wir uns heute einen Computer vorstellen. Denn am
Anfang war die Personal-Computer-Revolution eine Hobby-Bewegung. Das heißt, die
Typen, die Computer kauften, waren die Typen, die mit Chemiebaukästen
experimentierten oder mit Amateur-Radios.
Der Apple I ist also einfach eine Platine; im Handbuch werden sogar alle Anschlüsse
erklärt, weil erwartet wurde, dass die Käufer es hacken oder modifizieren oder sonstwas
damit machen würden.
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Es gibt noch nicht mal immer ein Gehäuse, und es gibt ganz gewiss keine Tastatur –
und das ist ein Feature, kein Fehler. Denn die Typen, die das kauften, waren Typen, die
sagten: „Kein Keyboard? Heißt das etwa, ich darf mir selbst eins bauen? Großartig!“
Aber ihr nächstes Projekt, der Apple II, ist vollständig anders. Der sieht aus wie ein
Produkt, wie etwas, das man in einem Geschäft kaufen kann, und genau das passiert:
Tausende Amerikaner gehen los und kaufen es. Und sie machen zum ersten Mal diese
nie zuvor gemache Erfahrung, die Erfahrung, dass man losgeht und eine unfassbar teure
Maschine kauft, sie komplett richtig aufbaut, sie anmacht … und nichts passiert. Alles,
was passiert, ist das hier:
Imitiert den Sound eines Apple II, der bootet, das Diskettenlaufwerk rödelt, dann
imitiert er das Blinken des Cursors
Das liegt daran, dass Rechner im Prinzip Geräte sind, und Geräte, dafür sind sie ja
da, tun nur eine Sache: Ein Mixer mixt, ein Bügeleisen bügelt, und ein Rechner rechnet
– er führt die Programme aus, die darauf laufen. An einem Rechner ist aber anders, dass
er ein Chamäleon ist: Er wird zu dem, was auf ihm ausgeführt wird – also steigt der
Wert eines Rechners exponentiell mit den Programmen, die für ihn geschrieben werden.
Und der Apple II erscheint genau in dem historischen Moment, in dem eine kritische
Masse von Amerikanern anfängt, sich mit Computern zu beschäftigen, und es sind sie –
die User – sie sind es, die dieser Maschine ihren Wert verleihen, die diesen Computer
einen Erfolg werden lassen.
Denn sie denken sich Programme aus, auf die Apple nie gekommen wäre, wie z.B.
für Tabellenkalkulation.
Die Leute so „Hey, weißt du, was toll wäre? Wenn man Tabellenkalkulation auf dem
Computer durchführen könnte. Das wäre echt viel besser als diese Schiefertafeln, die
wir im Moment benutzten.“
Und dann wird der Apple II der bestverkaufte Computer in der Geschichte der
Menschheit, und ein Virus verbreitet sich quer durch Amerika, und infiziert die Eltern
allerorten mit dem Gedanken, dass ihr Kind am Arsch ist, wenn sie ihm keinen
Computer kaufen.
Und überall fallen Eltern diesem Virus zum Opfer – sie haben keinen blassen
Schimmer, was sie da tun, aber irgendwie sagen die so, „Hey, Kleiner, dies hier war
wirklich verdammt teuer … Ich hoffe, du weißt, was zum Teufel man damit anstellt!“
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Und so habe ich meinen ersten Computer bekommen.
Mein erster Computer war ein Apple IIc.
Den hat mein Großvater, dem es ganz gut ging, für meine Familie gekauft – meine
Familie war selbst ziemlich arm, und deshalb war der Apple IIc, als er in unser Haus
kam, mit Abstand das Teuerste, was je die Türschwelle überschritten hat, und wurde
auch mit einer entsprechenden Ehrfurcht behandelt: Er bekam seinen eigenes Zimmer –
das Computerzimmer - , wo er auf seinem eigenen Tisch stand, und wir mussten um
Erlaubnis fragen, wenn wir mit ihm sprechen wollten.
Die Maschine war wunderschön. Ich bin überzeugt, dass ich alles, was ich über
Industrie-Design weiß, gelernt habe, als ich auf diese Maschine sah und mit ihr
arbeitete. Sie hatte dieses wunderschöne halbweiße Platin-Finish, und es gab diese
perfekt vertikal in den Deckel eingefügten Schlitze … die Tasten gaben einem bei jeder
Berührung dieses wunderschöne Gefühl mit, und die Schrift war Garamond – eine
Typo, der ich mich immer noch verbunden fühle. Das Diskettenlaufwerk öffnete und
schloss sich mit einem satten Chunk. Und auf dieser Maschine habe ich gelernt. Ich fing
an mit Tutorials, habe stundenlang Lemonade Stand gespielt, und ging dann dazu über
in Basic und Pascal zu programmieren, indem ich Programme aus Magazinen abtippte.
Auf dieser Maschine wurde ich zum Schreibenden. Ich und die Maschine lernten,
spät in die Nacht zusammen zu schreiben, in die kalte Nacht in Maine, USA, alle
anderen schliefen schon längst, aber ich war da, saß vor dem Computer, die Gedanken
meines fiebrigen Hirns reisten meine Arme entlang, aus meinen Fingern, rein in die
Tasten, rauf in den Computer, rein in den Schirm und strahlten auf mich zurück als
Licht, dieser circulus virtuosus, ich und der Computer, wir lernten zusammen.
Ich erinnere mich noch an jedes Detail dieser Maschine. Ich weiß noch, wie das
Netzteil oszillierte … in den Tiefen der Nacht konnte man hören, wie sie heulte, hoch
und tief, hoch und tief. Ich weiß noch, dass man Kissen auf dem Drucker legen musste,
wenn man mitten in der Nacht etwas drucken wollte, weil das ein Nadel-Drucker war,
und der klang so:
Emittiert eine grauenhafte, stechende Personifizierung eines Matrix-Druckers
AIIIIIEEEAAAAAAAAA! AIIIIIEEEAAAAAAAAA! AIIIIIEEEAAAAAAAAA!
Das Publikum erholt sich von dem grauenhaften Matrix-Drucker-Sound
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Und es gab zwei Achsen, die mitten durch Steve Jobs´ Charakter liefen. Die eine war
seine Leidenschaft für Design, die andere seine Skrupellosigkeit beim Business. Und
diese beiden Achsen schneiden sich idealtypisch in der Breakout-Story:
Ganz am Anfang, als Apple gerade erst aus der Garage krabbelt, geht Jobs zu
Wozniak und sagt: „Hör mal, ich hab einen Auftrag für uns. Es muss schnell gehen, wir
müssen in 72 Stunden fertig sein. Wir sollen so ein Spiel, Breakout, für Atari
programmieren. Der Deal ist: Kriegen wir das Spiel auf 50 Chips, bekommen wir 700
Dollar. Kriegen wir es aber auf 40 Chips … dann kriegen wir 1000 Dollar.“
Wozniak hört sich das an, und trinkt drei Liter Mountain Dew, dannso
“WHARRRRGGG!”! Und dann fängt er an zu programmieren – Tag und Nacht und
Nacht und Tag – und drei Tage später ist er fertig, geht zu Jobs –
Unverständliches, groggy-Bär-ähnliches Geek-Geräusch
– und hat das Spiel auf 38 Chips untergebracht. Die Typen bei Atari verstehen bis
heute nicht, wie er das geschafft hat. Die so „Was zum Henker! Das kapier ich nicht …
her damit, los, her damit!“
Und erst Jahre später, als Apple ein Global Player ist, und alle Beteiligten sind MultiMulti-Millionäre, erst da entdeckt Wozniak, dass Jobs 5000 Dollar für das Projekt
bekommen hatte.
Und außerdem gab es überhaupt keine Anforderungen an die Anzahl der Chips, die
benutzt werden sollten.
Jobs wollte es einfach nur effizient haben.
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4 – Vor den Toren von Foxconn
Shen-Zhen ist eine Stadt ohne Geschichte.
Die Menschen, die dort leben, erzählen Ihnen das, weil Shen-Zhen vor 30 Jahren
noch ein Fischerdorf war. Mit kleinen reedgedeckten Hütten, kleinen reedbedeckten
Pfaden dazwischen, und die Männer fischten bis zum späten Nachmittag – wie ich höre,
war es idyllisch. Heute ist Shen-Zhen eine Stadt mit 14 Millionen Einwohnern. Also
größer als New York. Es ist die drittgrößte Stadt Chinas, und es ist der Ort, wo fast der
gesamte Scheiß herkommt, den Ihr besitzt.
Und das erstaunlichste ist: Fast niemand kennt auch nur den Namen dieser Stadt.
Ist das nicht bemerkenswert?
Dass es einen Ort gibt, wo unser ganzer Scheiß herkommt, und niemand kennt auch
nur den Namen?
Klar, wir glauben, dass wir wissen, wo der ganze Scheiß herkommt – wir glauben,
der ganze Scheiß kommt aus China.
Stimmt, oder? So ganz allgemein? „China.“
Aber er kommt nicht aus „China“ – er kommt aus Shen-Zhen. Das ist eine Stadt, ein
ORT, und dort bin ich, in einem Aufzug, auf dem Weg zur die Empfangshalle, um mich
mit meiner Übersetzerin Cathy zu treffen.
Cathy fasziniert mich: Sie ist sehr klein, hat rundliche Schultern, und trägt eine
Brille, die viel zu groß ist für ihr Gesicht, und deshalb ständig runterrutscht und sie
muss sie andauernd wieder hochschieben. Außerdem hat sie die nervige Angewohnheit,
sich nach vorne zu lehnen, wenn sie einem zuhört – und zwar immer weiter. Man
bekommt das Gefühl: Wenn man sich zu lange mit ihr unterhält, knallt sie einem
irgendwann gegen die Brust, und man muss sie dann wieder aufrichten.
Wir gehen raus, nehmen ein Taxi und fahren durch die Straßen des Stadtzentrums
von Shen-Zhen.
Shen-Zhen sieht aus, als hätte Blade Runner sich selbst wieder ausgekotzt.
LEDs, Neonlichter, und 15 Stockwerke hohe Video-Projektionen mit gruseliger
chinesischer Werbung: halt genauso, wie man uns die Zukunft versprochen hatte.
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Wir fahren an den Rand des Herzens von Shen-Zhen und kommen an die Tore. Denn
vor 33 Jahren, als Deng Xiaoping dieses Areal mit einen großen roten Stift aus dem
restlichen China herausschnitt, sagte er: „Dies wird unsere Sonderwirtschaftszone“, und
er machte einen Deal mit den Unternehmen, er sagte: „Benutzt unsere Leute, macht mit
ihnen, was ihr wollt, aber gebt uns ein modernes China.“ Und die Unternehmen nahmen
das Angebot an und quetschten sie aus wie Zitronen, und was sie bekamen ist das ShenZhen, das wir heute vorfinden.
Und auf der anderen Seite der Tore liegt das Industriegebiet, und WHOO! – das ist,
als ginge man von den Eloi zu den Morlocks: Alles ist anders. Sowas habe ich noch nie
gesehen. Eine einzige Baustelle. Jede Straße hat eine Umleitung, jede Umleitung hat
eine Umleitung – Umleitungen, soweit man sehen kann. Ich schwöre Euch, ich sehe,
wie Gebäude auf der einen Seite noch hochgezogen, während sie auf der anderen schon
wieder eingerissen werden.
Wir biegen auf eine erhöhte Schnellstraße, und wir fahren unter einem vergifteten
Silberhimmel, denn die Luft in Shen-Zhen … sie ist nicht besonders gut in HongKong,
aber in Shen-Zhen FÜHLT man sie. Wie einen Stiefeltritt auf der Brust. Schon
erstaunlich, woran Menschen sich gewöhnen können, oder?
Denn schon nach wenigen Tagen
Er atmet tief ein
fällt es dir gar nicht mehr auf.
Und wir fahren vorbei an einer Arkologie nach der anderen. Diese riesigen Gebäude
sind so groß, dass mein Sinn für Dimensionen sich dauernd neu justiert, und dann
nimmt das Taxi eine Ausfahrt und hält an.
Weil die Ausfahrt aufhört. Mitten in der Luft.
Ein paar einzelne Betonstabstähle ragen aus dem Asphalt … und dann geht´s 30
Meter in die Tiefe.
Der einzige Hinweis, dass die Ausfahrt jetzt aufhört, ist ein einfaches, einsames,
orangenes Verkehrs-Hütchen.
Steht da, als wollte es sagen:
„Wir arbeiten dran … ? Vorsicht … ?“
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Macht eine elaborierte Geste der Offizialiät
Wir setzen zurück auf die Schnellstraße und fahren weiter, als Cathy sich auf einmal
zu mir umdreht, ihre Brille hochschiebt und sagt: „Entschuldigung, aber ich glaube
nicht, dass das funktionieren wird.“
Und ich versichere ihr, dass alles ganz wunderbar funktionieren wird, aber ich
labere Scheiße, weil ich keine Ahnung habe, ob es funktionieren wird; in Wirklichkeit
spricht viel dafür, dass es nicht funktionieren wird. In Wirklichkeit kann man in den
Gesichtern all der Menschen, mit denen ich mich in Hong Kong unterhalten habe,
sehen, wie sie damit kämpfen, wie sie ausdrücken sollen, wie komplett irre meine Idee
ist, wenn ich ihnen erzähle, was ich vorhabe.
Meine Idee ist: Wir sitzen im Taxi, im Industriegebiet und fahren zu Foxconn.
Foxconn ist der größte Konzern, von dem Ihr noch nie gehört habt – oder doch?
Foxconn produziert etwa 50% aller Elektronikartikel, weltweit. Wenn Ihr Euch also
fragt, wie viel von Eurem Kram von Foxconn kommt, sammelt einfach alle Technik
zusammen, die Ihr in Eurem Haus findet, werft sie auf einen großen Haufen, teilt den in
der Mitte: Das ist Foxconn.
Und in dieser Fabrik produzieren sie alles Mögliche für alle möglichen Firmen,
darunter auch MacBooks und iPhones und iPads, und deshalb habe ich vor, mit meinem
Taxi vor das Haupttor zu fahren, dort mit meiner Übersetzerin auszusteigen, vor dem
Haupttor zu stehen und mich dann dort mit jedem zu unterhalten, der dazu bereit ist.
Und wenn ich mich mit Menschen in HongKong über diese Idee unterhalte, sagen
sie:
„So äh … geht das nicht. So läuft das hier in China nicht … ah …. Das ist wirklich
keine gute Idee – “
Aber ich hab echt keine Ahnung, was ich sonst tun soll. Ich hab versucht, es „auf die
offizielle Tour“ zu machen. Nur komm ich so nirgendwo hin. Ich hab einen Kontakter
der BBC engagiert – alle Türen sind verschlossen.
Und dann erreicht man an einen Punkt, an dem einem klar wird, dass man seinen
natürlichen Neigungen folgen muss.
Und alles in allem bin ich groß.
Ich bin ein Weißer Westlicher Wohlstandsbürger.
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Ich trage ein lächerliches Hipster-T-Shirt.
Und wir fahren zum Haupttor.
Aber ich gebe zu, als wir dort ankommen … schwankt meine Zuversicht dann doch
ein bisschen.
Denn die Fabrik von Foxconn in Shen-Zhen ist unfassbar groß. In der FoxconnFabrik arbeiten 430.000 Arbeiter.
Es ist schwer, diese Zahl zu begreifen. Ich finde es hilfreich, sich die 25 Kantinen
dieser Fabrik vorzustellen. Dabei ist es so, dass in manchen bis zu 10.000 Menschen
Platz finden.
Jetzt braucht Ihr Euch nur noch eine Kantine vorzustellen, in der 10.000 Menschen
sitzen.
Ich warte solange.
Nein, echt jetzt. Ich warte.
Wisst Ihr, was Ihr tun könnt? Stellt euch mal eine Kantine vor, die ihr kennt – eine
Schul- oder Uni-Mensa, zur Not auch einen von diesen widerlichen Autobahn-Burgern,
jedenfalls eine, in die ihr tausende Male gegen Euren Willen gehen musstet – das wäre
in etwa angemessen. Beschwört sie innerlich herauf.
Ok. Jetzt haltet das Bild fest.
Und jetzt schiebt die Wände weit nach draußen … Klont den Raum wie mit einem
Photoshop-Tool, wieder und wieder und wieder, bis da tausende Leute hineinpassen.
Und jetzt stellt Euch 25 solcher Räume vor, alle genauso groß, alle direkt
nebeneinander.
Und jetzt stellt Euch vor, sie seien immer voll – denn das sind sie. Wenn man sich
verspätet nach seiner Schicht, und sei es nur ein kleines bisschen, bekommt man nichts
mehr zu essen.
Und ich komme zum Haupttor, wir steigen aus dem Taxi, und als erstes sehe ich die
Wachen.
Und die Wachen sehen sauer aus. Man, sehen die sauer aus.
Und ich schaue mich um nach dem Taxi, das bereits wegfährt … und denke
unfreiwillig an diesen Google News Alert, der wenige Wochen zuvor bei mir aufpoppte,
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über diesen Fotografen von Reuters, der Fotos machte – nicht von der Foxconn-Fabrik,
sondern nur in der Nähe der Foxconn-Fabrik, und die Foxconn-Security zog los,
sammelte ihn ein und verprügelte ihn.
Ich hoffe, die sind heute besser drauf.
Und ich schaue mir an, was hinter dem Tor und den Wachen ist, ich schaue an den
Gebäuden hoch, diesen riesigen Gebäuden, die sind wirklich gewaltig, und an jeder
Dachkante dieser gewaltigen Gebäude sind Netze.
Denn genau zu der Zeit, als ich meinen Besuch mache, gibt es diese SelbstmordEpidemie in der Foxconn-Fabrik.
Woche für Woche, Monat für Monat, kraxeln Arbeiter den ganzen Weg bis auf das
Dach dieser gewaltigen Gebäude, und dann schmeißen sie sich vom Dach und bringen
sich so brutal und öffentlich um, ohne sich darum zu scheren, dass das ein wirklich
schlechtes Licht auf Foxconn wirft.
Foxconns Antwort auf die monatelangen Selbstmordserien war: diese Netze zu
spannen.
Schweigen.
Das ist, glaube ich, Foxconns Version von Corporate Responsibility.
Schichtwechsel. Die Arbeiter kommen raus aus der Fabrik, und ich stehe da, unter
der heißen Monsun-Sonne, im Blickfeld der Wachen. Ich komme mir lächerlich vor. Ich
sehe lachhaft aus in dieser Landschaft – ganz ehrlich: Ich würde mit mir nicht reden.
Und dann überrascht mich Cathy – sie ist ein Hitzkopf, wer hätte das gedacht! – sie
schaltet in Angriffsmodus, wer hätte das erwartet – sie rennt einfach auf den ersten
Arbeiter los, packt seinen Arm, zieht ihn zu uns rüber, wir fangen an zu reden – und, um
es kurz zu machen: Wir kommen kaum hinterher.
Erst wartet da ein Arbeiter, dann zwei, dann drei, und schon nach kürzester Zeit sind
die Wachen, so,
„mrrrrrr??? RRRRRR“,
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und wir treiben immer weiter weg von der Fabrik, aber alle wollen reden! Als kämen
sie jeden Tag zur Arbeit und dächten
„Wisst ihr, was ich toll fände? Ich fände es echt toll, wenn einer von den Typen, die
diesen ganzen Scheiß, den wir herstellen, den ganzen lieben langen Tag benutzen, mal
vorbeikommen würde und uns fragen würde, was hier eigentlich vor sich geht. Dem
könnten wir Geschichten erzählen!“
Und ich improvisiere Fragen, lauter Fragen, die total erwartbar sind: „Aus welchem
chinesischen Dorf kommst du? Wie lange arbeitest du schon für Foxconn? Was genau
tust du in der Fabrik? Wie gefällt dir dein Job? Was würdest du bei Foxconn verändern,
wenn du könntest?“
Die letzte Frage haut die jedesmal um. Die reagieren alle, als wäre ihnen eine Biene
ins Auge geflogen, und dann sagen sie was zu Cathy, und Cathy sagt: „Er sagt, darüber
hat er noch nie nachgedacht.“ Jedes Mal. Jedes Mal.
Und ihre Geschichten sind faszinierend. Ich rede mit einer jungen Frau, die in der
iPhone-Montage arbeitet. Sie reinigt die iPhone-Displays per Hand, an diesen großen
Gestellwägen, tausende und abertausende am Tag, und sie zeigt mir, wie sie das macht,
und ich gebe ihr mein iPhone – ich mache ein Foto, wie sie mein iPhone hält – und ich
sage zu ihr: „Wasweißich, vielleicht hast du auch mein iPhone gereinigt, als es auf dem
Band an dir vorbeilief, kannjasein.“ Und blitzschnell nimmt sie mein iPhone, reibt es an
ihrer Hose und sagt: „Bitte, jetzt habe ich es noch einmal gereinigt.“
Und Geschichten über China verzetteln sich oft in Zahlenkolonnen, dann wird alles
so riesig, dass es unglaublich wird. Deshalb rede ich jetzt von einer konkreten
Geschichte, deshalb rede ich jetzt über eine konkrete Person, deshalb rede ich jetzt von
Sun Danyong.
Sun Danyong war Arbeiter in genau der Foxconn-Fabrik, vor der ich jetzt stehe. Er
kam aus einem Dorf, das hunderte von Kilometern nördlich liegt, wo sein Vater
Steinmetz war, und er machte einen Abschluss als Elektroingenieur – und hey, das ist
eine Revolution, in nur einer Generation von einem Steinmetz-Vater zu einem
Elektroingenieurs-Sohn zu kommen. Es gibt Hunderttausende Arbeiter mit solchen
Abschlüssen. Sie machen diese Abschlüsse, verlassen ihre Heimat und alles, was sie
kennen, um Geld zu verdienen, das ihr Leben und das aller anderen in dem Dorf, aus
dem sie kommen, verändern kann.
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Und nach allem, was ich gehört habe, war Sun Danyong ehrlich, mutig, aufrichtig,
eine Hoffnung seiner Familie, und er stieg auf bei Foxconn und ihm wurde eine
verantwortungsvolle Aufgabe übertragen: Er war verantwortlich für 12 iPhone
Prototypen.
Und eines Tages ging einer dieser Prototypen verloren.
Lustigerweise passierte dasselbe Monate später bei Apple in Cupertino. Genau
dieselbe Sorte iPhone-Prototyp ging verloren.
In dem Fall war das während eines Feldversuches, bei dem ein Apple-Arbeiter im
nachgebauten „deutschen“ Hofbräuhaus in Palo Alto war, dort nachgebrautes
„deutsches“ Bier trank, genau wie ihr, und den iPhone-Prototyp liegen lässt.
Und ich glaube, wir kennen das alle, wenn wir zu viel trinken und unser iPhone
irgendwo liegen lassen. Und dieser schreckliche Augenblick, wenn uns klar wird
Plötzlich Hysterisch
„Oh Scheiße … ICH KANN NICHT MEHR SMSN, ICH KANN NICHT MEHR
TWITTERN, ICH KANN NICHTS MEHR AUF FACEBOOK POSTEN!“
Und dann kriegen wir das Schwarze Zittern und rennen zurück in die Bar.
Aber wenn es Steve Jobs´ SuperSecretSurprise iPhone ist, das du liegengelassen hast,
nun, dann läuft das etwas anders. Wenn das passiert, kriegen das die Tech-Sites in ihre
Krallen, und sie brechen es auf, stellen es online wie einen Porno und die ganze Welt
schaut es sich an und macht
Im „Sabernder Geek“-Mode
IPHONE IPHONE IPHONE IPHONE
Und die Überraschung ist KAPUTT, Steve´s Überraschung ist KAPUTT.
Stell Euch vor … wie es für diesen Arbeiter gewesen sein muss, am Montag morgen.
Imaginiert ihn, wie er in seinem Cubicle sitzt.
Seine Kollegen? Meiden ihn jetzt schon, FÜR UNS BIST DU TOT, die schauen ihn
nicht mal mehr an. Weil er tot ist, komplett erledigt.
Weil sie fühlen, wie sich der Luftdruck verändert.
Die sind wie Rehe im Scheinwerferlicht.
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Sie wissen … dass ER kommt!
Er kommt auf sie zu, Schritt für Schritt. Die Wände krümmen sich, dort, wo er geht,
das ist wie in Matrix, während er NÄHER und NÄHER kommt …
Wenn er dann den Raum betritt, muss er den Kleinen Wixer nicht mal mehr
angucken!
Sein Schädel wird sich spalten und grünes Feuer wird herauslodern!
Wie bei „Jäger des verlorenen Schatzes“.
Pause. Danach.
Das. Ist eine Hyperbel.
Das ist eine rhetorisches Stilmittel: Die Hyperbel.
Nichts davon passiert tatsächlich.
Tatsächlich passiert dem Arbeiter überhaupt nichts. Tatsächlich verliert er noch nicht
mal seinen Job.
Großes Indianerehrenwort.
Aber für Sun Danyong sieht das etwas anders aus. Er wird 12 Stunden lang
ununterbrochen geprügelt und verhört, und Foxconn Security teilt ihm am Ende mit,
dass er am Morgen den Chinesischen Behörden übergeben wird. Er weiß genau, was
das bedeutet. Es bedeutet, er kommt ins Gefängnis, für viele viele Jahre,
möglicherweise für den Rest seines Lebens.
Und er verlässt den Raum, überquert den sonnenlichtüberfluteten Platz vor Foxconn,
geht zu den öffentlichen Computer-Terminals, loggt sich ein und postet eine StatusMeldung in einem Forum, damit seine Freunde wissen, was passiert ist.
Und nur deswegen kennen wir überhaupt seine Geschichte. Deswegen haben wir
seine kleine elektronische Spur. Die meisten hinterlassen nichts, gar nichts. Foxconn ist
da sehr gründlich. Die haben ein Entsorgungsteam, das sich nur um solche Fälle
kümmert. Die spazieren durch die Gegend und verteilen Geld in Größenordnungen, die
für uns irrelevant wären, die dort aber gewaltig sind, und das ist gebunden an sehr
strikte Schweigeklauseln. Suns Verlobte wird für ihre Unannehmlichkeiten und ihr
Schweigen ein MacBook bekommen.
Und dann beginnt er den langen Aufstieg auf das Dach eines jener Gebäude.
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Und wie wird sich das angefühlt haben, dort oben, am Ende?
Können wir uns das überhaupt vorstellen?
Ich glaube nicht, dass wir das können. Ich glaube, genau an diesem Punkt verlässt
uns unsere Vorstellungskraft.
Weil wir hier in diesem Raum … wir haben so viele Möglichkeiten. Wir sind
besoffen vor Möglichkeiten. Schaut Euch doch mal um. Schaut Euch an.
Wir können alles tun.
Wir sind so verdammt frei.
Stellt euch vor, wie er da steht, wie seine ganze Welt sich auf einen schmalen Pfad
verengt, auf einen kleinen Punkt. Stellt euch vor, wie er eines Tages den Punkt erreicht,
an dem dies tatsächlich seine letzte und beste Option ist. Seine beste Wahl.
Den letzten Schritt zu gehen –
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5 – Die Welt ändern
Xerox PARC ist ein ThinkTank, und als ThinkTank ist er der Ort, an den Ideen
gehen, um zu sterben.
Denn damit Ideen gedeihen können, muss man sie unter die Leute bringen – wenn
man Ideen einschließt, geht es ihnen wie Fischen im Aquarium – sie mögen das nicht
besonders.
Im Xerox PARC gab es ein paar wirklich erstaunliche Ideen, aber niemand hatte eine
Ahnung, was man damit anfangen könnte. Die so „Man, hey, erstaunlich, dieses Ding,
das du da erschaffen hast! Weißt du, was du damit machen solltest? Du solltest dieses
Ding nehmen und IN DEN STAHLSCHRANK DA DRÜBEN EINSCHLIESSEN!“
Und es dauerte nicht lange, da waren alle Stahlschränke voll, und es hatte immer
noch niemand eine Ahnung, was man damit anfangen könnte. Also veranstalteten sie
Tage der offenen Türen und luden das ganze Silicon Valley ein und sagten so:
„Hey, Tag der offenen Tür bei uns dieses Wochenende! Wir haben hier wirklich
durchgeknallte Scheiße rumliegen! Und … es gibt Tapas!“
Und die Leute kamen, und die Leute von Apple kamen, und in einer der
Stahlschränke sahen sie etwas, dass ihnen die Augen übergehen ließen, und sie gingen
zu Steve Jobs und sie sagten: „Steve, Steve. Du musst sofort zu Xerox PARK, du musst
sofort dieses Ding sehen, das wir gesehen haben“, und Steve Jobs sagte: „Nein.“
Denn eine der Kategorien, in denen Steve Jobs das Universum organisierte, war, dass
er das ganze Universum in Genies und Schwachköpfe unterteilte – und es gab nur sehr
wenige Genies und Lastwagen voller Schwachköpfe. Und alle, die diesen Vorschlag
unterbreiten, waren gerade Schwachköpfe.
Es dauert also ein bisschen, bis jemand, der gerade ein Genie ist, sagt: „Im Ernst,
Steve. Du solltest wirklich zu Xerox PARC gehen, du solltest dir das wirklich dringend
mal angucken.“ In dem Moment sagt Steve Jobs:
„Ich habe eine Idee.
Ich glaube, wir sollten zu Xerox PARC gehen.
Ich glaube, dort könnte was im Gange sein.“
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Und das, was sie in dem Raum sahen, wird Euch nicht erstaunlich vorkommen, weil
Ihr in der Welt lebt, die danach entstand. Aber heute Abend bitte ich Euch, es zu
versuchen – versucht mal, es so zu sehen, wie die es sahen, versucht, es mit frischem
Blick zu sehen.
Ihr geht in einen Raum, da steht ein Computer, er sieht normal aus, er ist aus. Nur
eins ist neu: Eine kleine Schachtel mit einem Kabel dran kommt da raus? Sie nennen es
eine Maus.
Das ist nicht das Verrückte.
Das Verrückte passiert, wenn Ihr diesen Computer anmacht – denn bis zu diesem
Zeitpunkt herrschte allgemein die Vorstellung, dass ein Computer im Prinzip eine
elektronische Schreibmaschine sei.
Darüber hat kaum jemand je nachgedacht, weil es immer schwierig ist, ein allgemein
herrschendes Bild von der Welt, in das man eingebunden ist, aus dem Inneren heraus
überhaupt zu sehen, aber im Prinzip war jeder Computer eine Schreibmaschine, die
zufällig elektronisch funktioniere. Bis jetzt.
Ihr schaltet den Computer an und … ahhhh,
Das ist keine einfache Schreibmaschine.
Statt dessen gibt es Fenster auf dem Bildschirm … und einen Cursor …
Und es ist großartig, in dem Augenblick dabei zu sein, wenn ein Weltbild sich
ändert.
Jeder von Euch da draußen im Dunkeln, der genauso technikverliebt ist wie ich, Ihr
wisst, wovon ich rede: Der Moment, wenn Euch der Boden unter den Füßen
weggezogen wird, wenn Euch klar wird, dass für Euch nichts mehr so sein wird wie
vorher.
Und Steve Jobs verlässt den Raum, verändert, er geht zurück zu Apple und fängt an,
ein Team zusammenzustellen, wie in Ocean´s Eleven.
Er klaubt sich Leute zusammen aus allen möglichen Zusammenhängen, all die
Freaks und Spinner und Misfits, die besten Leute aus allen möglichen
Zusammenhängen – er klaubt sie zusammen und steckt die ganzen Spinner zusammen
in eine Geheimbasis. Er mietet ein Gebäude weit weg vom Apple Campus – niemand
hat auch nur die geringste Ahnung, was dort vor sich geht – er steckt die Spinner in eine
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Geheimbasis und beschließt dann, dass Geheimhaltung überschätzt wird, und hisst eine
Piratenflagge aufs Dach der Geheimbasis, als wollte er sagen
Wie ein echter Pirat
„ARRRRRRRRRRR! Fickt Euch alle, ARRRRRRRR!“
Und er sagt ihnen: „Eure Aufgabe ist es, Apple zu zerstören. Eure Aufgabe ist es,
Apple, wie wir es kennen, zu zerstören.“
Und das meint er ernst.
Denn Steve Jobs war schon immer ein Feind der Nostalgie. Er wusste, dass die
Zukunft Opfer brauchte. Steve Jobs hatte nie Angst, sein Baby zu schlachten.
Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren war das iPod Mini das meistverkaufte AppleProdukt. Das meistverkaufte! Es war großartig. Es war ein iPod, nur in Mini! Alle
liebten den iPod Mini.
Und eines Tages gibt Steve Jobs eine seiner fabelhaften Keynotes und sagt:
„Das iPod Mini … existiert … seit heute … nicht mehr.“
Und alle so
wie ein verstörter, bettelndender Gollem-artiger Konsument:
„NAAAAAAIIIIIN! Verschone uns, Steve! Nimm´s uns nicht weg, wir werden auch
immer immer artig sein … “
Wieder als Steve „Stattdessen … überreiche ich Euch … das iPodNano.“
Gollum weiß nicht, was er davon halten soll, schaut hin und her zwischen Mini und
Nano, und bricht unvermittelt in einen wahnwitzigen Applaus aus „Jaaaaayyy! Nano ist
noch kleiner als Mini! Jaaaaayyyy! Das wollte ich schon immer! Den verliere ich jetzt
noch schneller!“
Alle sind begeistert, und die Fachmagazine spritzen ab vor Begeisterung … es ist ein
magischer Moment.
Und später unterhalten sich die Menschen mit den Apple-Repräsentanten, und sie
sagen: „Wow, das iPod Nano ist kleiner, und es ist dünner, und es passen sogar noch
mehr Songs drauf als auf den iPod Mini!“ Und die Apple-Typen sagen „Ähm – also
naja … mehr Songs passen nicht drauf.“
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Und dann sagen sie: „Oh. Naja. Aber es ist kleiner, und es ist dünner, und es passen
genau so viele Songs drauf wie auf das iPod Mini!“
Und die Apple Typen sagen: „Ähm – also naja … es passen sehr viel weniger drauf.“
Und die Leute sagen: „Oh. Dasja Scheiße.
… hey, kann ich denn immer noch ein iPodMini bekommen?“
NEIN! Sie wurden noch am selben Tag aus den Geschäften entfernt, du kriegst sie
nicht mehr, weder für Geld noch für Liebe – du kriegst ein iPod Nano, und du wirst es
verdammt nochmal lieben!
Und ich frage Euch: Könnt Ihr Euch irgend ein anderes Unternehmen vorstellen, egal
wo auf der Welt, das sich auch nur annähernd so ähnlich verhält?
Das seinen absoluten Verkaufsschlager über Nacht aus den Geschäften nimmt, um
ihn durch ein neues Produkt zu ersetzen, das zwar technisch innovativer ist, aber nur
halb so viel kann … und wenn sich jemand darüber beschwert, sagt man ihm sehr
energisch, dass er sich ins Knie ficken soll.
Das ist schon irgendwie radikal, würde ich sagen.
Also: Steve Jobs meint es ernst, wenn er sagt, er will, dass sie Apple zerstören –
Apple baut zu der Zeit auf der Apple II Platform auf, das gesamte Imperium besteht
daraus, und er sagt ihnen:
„Nein, es muss damit nicht kompatibel sein, scheißt drauf! Wischt es vom Tisch!
ERSCHAFFT etwas NEUES!“
Und diese Leute erschaffen den Macintosh.
Und 1984 erblickt er das Licht der Welt. Er wird der wichtigste Computer seiner
Generation. Nicht nach Marktanteilen – marktbeherrschend wird der Mac nie – aber
nach bezüglich der Bedeutung.
Nach und nach entwickelt sich jeder Computer, der kein Mac ist, dahin, wie ein Mac
auszusehen, zu denken und zu funktionieren. Es ist ein Hirnvirus, der sich überall hin
verbreitet.
Mein Lieblings-Mac war der Macintosh SE/30. Ich besaß nie einen, aber es gab
einen in dem Wachbüro, in dem ich während des Studiums arbeitete, und ich ließ mich
für Nachtschichten einteilen, damit ich mehr Zeit mit dem SE/30 verbringen konnte.
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Eine wundervolle Maschine. Sie hatte den Formfaktor2 des Original-Macintoshs;
wenn man davorsaß und schielte, sah sie aus wie ein kleines anthropomorphes
menschliches Gesicht, das zurücksah. Und ich tippte in seinen kleinen SchwarzweißMonitor … es war der erste Computer, an dem ich regelmäßig arbeitete, der echtes
Netzwerk anbot, und ich verband mich via Telefon mit den Schatzkammern der
Information rund um den Globus; Ich hinterließ Nachrichten an virtuellen Pinnwänden,
und Menschen aus anderen Städten – und anderen Ländern! – antworteten darauf, und
wir redeten über die Zukunft … und wie die Zukunft, dieses „Netz“, das gerade
entstand, wachsen würde, bis es eines Tages jeden überall erreichen würde, und wie,
wenn das passierte … Information frei sein würde. Und wie die Menschen überall frei
sein würden.
Wir waren ziemlich jung.
Aber wir hätten recht haben können.
Pause
Und Steve Jobs war vieles, aber zwei Dinge war er mehr als alles andere,
unauflöslich miteinander verschweißt: er war ein
Linke Hand visionäres
Rechte Hand Arschloch.
Und das eine gab´s nicht ohne das andere: Beide Seiten kommunizieren miteinander.
Er war ein unmöglicher Manager. Ich würde meinem ärgsten Feind nicht wünschen, ihn
als direkten Chef zu haben. Er war kein Micro-Manager, er war ein Nano-Manager – er
drang in die Körper seiner Untergebenen und versuchte, sie mit der Kraft seines Geistes
zu bewegen.
Das einzige, was der Leiter des Macintosh-Projektes jemals öffentlich über Steve
Jobs´ Management-Stil sagte, war:
„Er wäre ein exzellenter König von Frankreich.“
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In der Computertechnik ist der Formfaktor eigentlich eine Angabe über Größe und
Befestigungsmöglichkeiten eines Bauteils, das in einem Computer Verwendung findet. Durch diese
Standardisierung können verschiedene Komponenten einfach zusammengefügt und ausgetauscht werden.
Oft ist mit dem Begriff „Formfaktor“ nichts anderes gemeint als mit dem Begriff „Format“, manchmal
auch so viel wie „Standard“ oder „Spezifikation“. Obwohl insofern der Wortbestandteil „Faktor“ etwas
irreführend ist, wird der Begriff sehr oft als wörtliche Übersetzung aus dem Englischen (form factor)
verwendet. – Hier wird der Begriff aber wohl eher so verwendet, dass gemeint ist: „ist geformt wie“
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Aber immerhin, es funktioniert. Und wie! Die einzigen, denen das ein bisschen auf
den Sack geht, ist der Vorstand von Apple; denen geht das echt auf den Sack. Die so:
„Ja, verdammt, ICH WEISS, dass er ein absolutes Genie ist, ich wünschte nur
manchmal, dass er aufhören würde, uns in Sitzungen zu beschimpfen, und ich wünschte
manchmal, dass er wenigstens gelegentlich Schuhe tragen würde in den Sitzungen.“
Also entwickelten sie eine Idee: Sie dachten, hey, wär doch toll, wenn es jemanden
an Steves Seite geben würde, jemanden, der ein wenig älter ist, jemanden, der die
Investoren nicht so verschreckt, jemand, der gut aussieht in einem Anzug … halt
jemand, der Schuhe trägt.
Und sie überzeugten Steve davon, und Steve und der Vorstand machen sich auf die
Suche, und am Ende finden sie Scully.
Und Scully war bei Pepsi, und Scully hatte nicht den Schimmer einer Ahnung von
Computern, aber er sah phantastisch aus im Anzug.
Also geht Jobs zu Scully und sagt: „Komm. Mach mit bei Apple.“
Und Scully sagt
Wie ein widerspenstiger Scully:
“Äh … ich weiß nicht so recht … ich kenn mich nicht aus mit dem
klickediklickediklick, also, ich weiß nicht …”
Und Jobs sagt: „Was? Willst du dieses Scheiß Zuckerwasser für den Rest deines
Lebens verkaufen, oder willst du DIE WELT VERÄNDERN?!“ und er schaut ihn mit
seinem Steve-Jobs-Todeslaser-Blick an – DA-DA-DDD-DA! DA-DA-DDD-DA! Und
Scully macht: „ACK! Die-Welt-verändern, Die-Welt-verändern – !“ und kommt und
macht mit bei Apple.
Und alles läuft super.
Eine Zeitlang.
Und das passiert oft bei Steve-Jobs-Geschichten. Alles läuft immer super! … eine
Zeitlang.
Und dann fliegt auch Scully durch die unausweichliche Falltür … vom Genie zum
Schwachkopf.
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Und Jobs wird klar, dass er ihn dringend aus der Firma schmeißen muss, und Jobs
inszeniert einen coup d´etat
Und wenn man einen coup d´etat inszeniert, muss man wirklich gewinnen wollen.
Denn sonst hat es irgendwie so einen schalen Geschmack. Am nächsten Tag im
Büro.
Und der Vorstand unterstützt Scully, und kurz darauf wird Jobs aus seiner eigenen
Firma geschmissen. Er ist die größte Witzfigur des gesamten Silicon Valley – das
Weltbild hat sich plötzlich verwandelt.
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6 – Wo unser ganzer Scheiß herkommt
Ermutigt durch meinen Erfolg bei Foxconn, beschließe ich, einen neuen Plan
auszuprobieren. Aber dafür brauche ich, soll er Erfolg haben, Cathys Hilfe, also treffe
ich sie in der Hotellobby und sage zu ihr:
„Cathy, du arbeitest mit vielen amerikanischen Geschäftsleuten, oder?“ Und sie sagt,
„Ja, das tue ich“, und ich sage, „Toll. Ich will folgendes von dir: Ich will, dass du alle
Fabriken anrufst, zu denen du Beziehungen hast, ich will, dass du sie anrufst und ihnen
sagst, dass ich ein Amerikanischer Geschäftsmann bin und kaufen will, was sie
herstellen.“
Und sie hört sich das an und sagt: „Aber … du bist kein Geschäftsmann?“
Und ich sage: „Das stimmt, ich bin kein Geschäftsmann.“
Und sie sagt: „Und du … wirst auch ihre Produkte nicht kaufen?“
Und ich sage; „Das stimmt. Ich werde auch ihre Produkte nicht kaufen.“
Sie sagt: „Du …wirst sie anlügen.“
Und ich sage: „Ja, Cathy. Ich werde ziemlich viele Leute anlügen.“
Und einen Augenblick lang denke ich: Das wird nicht funktionieren.
Und dann kann man zuschauen, wie die Idee den Synapsensprung von einem
Problem zu einer Aufgabe, die es zu lösen gilt, macht.
Sie sagt:
Sehr langsam, vorsichtig, klar und ruhig
„Du wirst … eine Menge … Visitenkarten brauchen.“
Zwei Tage später rasen wir ins Industriegebiet. Vor jeder Fabrik instruiert mich
Cathy, was sie dort herstellen und was genau ich zu kaufen vorgebe.
Die Fabriken sind alle unterschiedlich, aber in Wirklichkeit ähneln sie einander
mehr, als sie sich voneinander unterscheiden – immer gibt es Tore und Wachen, und
dahinter immer ein Rasen, groß und grün und saftig – niemand geht drauf, niemand
benutzt ihn. Dann geht es in die Empfangshallen – das sind immer riesige, leere
Kubrick-Räume, vollständig leer bis auf einen kleinen Tisch mit der Rezeptionistin.
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Man überquert diese RIESIGE leere Empfangshalle, geht zu dem kleinen Tisch mit der
Rezeptionistin, stellt sich vor, und dann kommen die Manager immer schnatternd
herunter luulululu alle miteinander luululuulu, sie sammeln dich ein luululuulu und
gehen mit dir luululuululuuluuluuluulu in einen Konferenzraum. Um die Visitenkarten
auszutauschen.
Und Cathy hatte mir gesagt, wie wichtig es sein würde, dass es sehr formal zugeht,
wenn wir in den Raum kommen, und dass jeder einzeln zu mir kommen würde und mir
seine Visitenkarte mit zwei Händen überreichen würde und dass es sehr wichtig sei, sie
mit zwei Händen anzunehmen, und sie dann gründlich zu untersuchen:
„Mmmmmmm … Lucida Grande. Exzellente Schriftarten-Wahl. Mmmmmmmmm
…“
Und nachdem jeder einzelne das getan hat, starren sie mich alle an. Denn jetzt bin ich
dran. Und ich greife in meine Tasche und was ziehe ich heraus … ein paar schäbige
Streifen schmuddeliges Papier.
Denn es ist echt schwierig, in Shen-Zhen einen Copyshop zu finden!
Und das Büro in meinem Hotel stammt noch aus der Zeit vor der Revolution, und die
Frau dort macht mir wirklich Angst, und die Tastatur ergibt überhaupt keinen Sinn, und
das Papier ist schäbig und schmuddelig, und Scheren haben sie auch nicht,
wahrscheinlich, damit Kinder sich nicht verletzen können – die ganze Aktion ist so im
Arsch, ich kann´s euch gar nicht sagen, wie sehr sie im Arsch ist.
Sie ist total im Arsch.
Also nehme ich mein schäbiges Stück Papier und ich so
Streckt mit zwei Händen die Visitenkarte aus, während er das peinlich-verzerrte
Gesicht wegdreht
Gottseidank haben die Chinesen eiserne Benimmregeln! Die zucken mit keinem
Muskel. Sie nehmen mein schäbiges Stück Papier und machen „Mmmmmmm …
interessanter selbstgebastelter Unternehmensname mit falscher Adresse.
Mmmmmmmmm …“. Und dann ist es Zeit für die PowerPointPräsentation.
Und einer der Gründe, warum ich mich für das Leben entschieden habe, das ich lebe,
ist, damit ich nicht zu Scheiß PowerPointPräsentationen gehen muss.
Darum ging es mir bei all dem hier eigentlich.
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Ironie des Lebens, oder?
Und dafür habe ich bezahlt, in Shen-Zhen. Oh ja, das habe ich. Denn ich bin zu allen
PowerPointPräsentationen gegangen. Bis zur allerletzten, denn PowerPoint ist ein Tool,
das Microsoft entworfen hat.
Microsoft, deren Motto sein sollte: „Wir erschaffen Tools, die Sachen machen, die
alle eh schon immer tun.“
Denn wofür PowerPoint da ist, ist: Es ermöglicht Menschen, die im selben Raum
sind, miteinander zu kommunizieren.
Er illustriert diesen Prozess mit einer Geste
Und wie ihr an meiner Performance-Präsentation merkt, bin ich überzeugt, dass wir
bereits ein Tool haben, das das kann; man nennt es „Stimme“. Ist eingebaut und stürzt
fast nie ab.
Aber warum würden wir miteinander reden wollen, wenn wir statt dessen
PowerPoint mit all seinen Scheiß-Funktionen nutzen können – ClipArt zum Beispiel?
AARRRGH … ClipArt treibt mir das Blut in die Tränenkanäle!
Und dann die Schriftarten! Ohhhhhh, sie benutzen alle Schriftarten. Comic Sans?
Nichts ist komisch an Comic Sans.
Sie präsentieren die erste Folie mit einem großen JPEG drauf, das total verpixelt ist;
als würde mir jemand mit einem Hammer auf die Retina dreschen. Und dann macht der
Typ, der die PowerPointPräsentation durchführt langsam und absichtsvoll einen MausButton drückend … Kliiiiiiiiick. Und dann erscheint eine einzige Textzeile auf Englisch,
die mir mitteilt:
„Diese Fabrik verbraucht 100.000 Liter Wasser am Tag.“
Und dann gibt’s ne Pause.
Und dann sagt der Klicker:
„Diese Fabrik verbraucht 100.000 Liter Wasser am Tag.“
!!! Und dann passiert gar nichts! Bis und nur wenn – ich explizit nicke. Ich muss
wirklich so machen
Großes, übertriebenes Nicken
„Mmmmmm …“
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Und nur dann macht er ….kliiiiiiick, und eine weitere Textzeile erscheint.
Und das geht unendlich so weiter. Und weiter und weiter. Ich schwöre, manchmal
wache ich immer noch nachts auf, schrecke hoch und denke:
„Geht es immer noch weiter? Bin ich noch immer bei der Präsentation?“
Es dauert so lange, dass ich ernsthaft anfange zu glauben, dass ich ein Schauspieler
bin, der die Rolle eines amerikanischen Geschäftsmannes spielt ...
Aber es gibt sie wirklich! Geschäftsmänner! Deren Leben genau daraus besteht!
Wie kann einem das passieren?
Man geht zur Schule, verliebt sich, und mit dem Scheiß, mit dem Scheiß verbringt
man sein wertvolles Leben?
Was ist denn mit Euch los?!
Die müssen ein Schweitzer Messer in der Tasche haben, einfach so, nur damit sie
sich an irgendetwas fest halten können, um daran rumzurubbeln, während die Folien
durchrauschen, damit sie damit werfen können, falls es ihnen mal zu viel wird, nur
damit sie sich damit selbst die Kehle aufschlitzen können, wenn es ihnen mal viel zu
viel wird.
Der schlimmste Job der Welt.
Nach der PowerPointPräsentation geht’s runter in die Fabrikhalle. Und ich korrigiere
meine letzte Behauptung, denn das ist der schlimmste Job der Welt.
Industrieräume mit 20, 25, 30 Tausend Arbeitern in einer einzigen riesigen Halle
können auf eine widerliche Weise faszinierend sein – Industrialisierung in dieser
gewaltigen Dimension ist schön. Das muss man gar nicht leugnen – es ist
beeindruckend, so viel Ordnung vor sich ausgebreitet zu sehen, und während einem die
herumwuselnden Menschen von der Seite Statistiken ins Ohr wispern, kann man schnell
so eine Art stalinistischen feuchten Traum bekommen. Ich versuche, das zu
unterwandern, indem ich mich auf konkrete Gesichter konzentriere, während sie mich
durch die Fabrikstraßen führen.
Es ist so still.
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Bei Foxconn wird man unehrenhaft entlassen, wenn man am Fließband nur ein
einziges Wort spricht. In keiner Fabrik, die ich besucht habe, hat irgendjemand am
Fließband auch nur ein einziges Wort gesprochen – aber das ist nicht alles.
Als Geschöpf der Ersten Welt erwarte ich von einer Fabrik, die komplexe Elektronik
herstellt, vor allem Maschinensounds; aber an einem Ort, wo die Arbeitskosten fast bei
Null liegen, gilt: alles, was von Hand hergestellt werden kann, wird auch von Hand
hergestellt.
Entspannt Euch also, egal wie kompliziert Eure Elektrospielzeuge sind, sie werden
zusammengesteckt vom Gleichtakt tausender und abertausender kleiner Fingerchen, und
das einzige Geräusch in den weiten Hallen dort ist der Klang von Körpern in
ununterbrochener, unaufhörlicher, unendlicher Bewegung.
Und er ist unendlich. Sie arbeiten eine chinesische Stunde, und eine chinesische
Stunde hat 60 chinesische Minuten, und eine chinesische Minute hat 60 chinesische
Sekunden – das ist was anderes als eine Stunde bei uns.
Wie lang ist eine Stunde bei uns? 46 Minuten? Pinkelpause, Rauchpause, oder, falls
man Nichtraucher ist, eine Yoga-Pause …
Das hier sieht ganz anders aus. Dem ähnelt nichts, was wir im Laufe des letzten
Jahrhunderts gesehen haben. Die arbeiten am Fließband, und das kann sich nur so
schnell bewegen wie der langsamste Arbeiter, also lernt jede Person, sich perfekt zu
bewegen, so schnell wie möglich – und wenn sie das nicht packen, stehen Leute hinter
ihnen, die sie beobachten, und Kameras beobachten diese beiden Personengruppen, und
Leute, die die Kameras beobachten – es gibt kein Entrinnen. Das wird auf die Spitze
getrieben, bis dort, wo die Klinge extrem fein und scharf ist, jede einzelne Stunde, und
die Stunden sind lang.
Offiziell dauert ein Arbeitstag in China 8 Stunden. Das ist ein Witz. Ich habe nie
irgendwen getroffen, der von einer 8-Stunden-Schicht auch nur gehört hätte. Alle, mit
denen ich mich unterhalten habe, haben 12-Stunden-Schichten gearbeitet, regulär. Und
meist sehr viel länger: vierzehn Stunden am Tag, fünfzehn Stunden am Tag, und
manchmal, wenn ein hot new gadget rauskommt – ihr wisst genau, wovon ich rede –
manchmal schaukelt es sich hoch auf 16 Stunden am Tag und dabei bleibt es dann für
Wochen und Monate am Stück, Monat um Monat 16 Stunden durch – und manchmal
noch länger.
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Während ich im Land bin, stirbt ein Foxconn-Arbeiter nach einer 34-StundenSchicht. Und ich kann noch nicht mal sagen, dass das ungewöhnlich wäre, denn das war
nicht das erste Mal. Ich erwähne das überhaupt nur, weil es passierte, als ich gerade dort
war.
Und viele leben in Wohnheimen direkt bei den Fabriken. Meist Betonklötze, 4 x 4
Meter – und dadrin werden Betten gestapelt wie bei Jenga, diesem HolzklötzchenStapel-Spiel, bis unter die Decke. Zwischen ihnen ist so wenig Platz, das keiner von uns
da rein passen würde – die müssen sich da reinrutschen lassen wie in Särge. Die Flure
werden kameraüberwacht, alles wird kameraüberwacht, wie bei Amazon.
Und warum auch nicht? Nicht wahr, wenn wir von einer deregulierten Zukunft
schwafeln, und die Konzerne endlich frei über uns hinwegsegeln dürfen, müssen wir
uns keinen dystopischen Blade-Runner-1984-Scheiß vorstellen. Steigt in den Flieger,
Ihr könnt morgen nach Shen-Zhen reisen – die stellen Euren Scheiß heute schon genau
so her.
Und ihr müsst wissen, dass die Menschen dort zu den besten und klügsten ihrer
Generation gehören. Ihr müsst wissen, dass wenn ich sie vor den Toren der Fabrik
interviewe, jeder einzelne von denen genau so smart und individuell ist wie Ihr hier im
Dunkeln. Ihr müsst wissen, dass es sich um genau die Leute handelt, die sich ihren Weg
aus ihren Dörfern erkämpft haben, um sich ein neues Leben zu schaffen in den Städten.
Es handelt sich um genau die Leute, die den Geist haben könnten, über Demokratie
nachzudenken.
Aber welch ein Glück für Peking, dass sie diese Kühlrippe im Süden des Landes
haben, diese ökonomische Fliegenfalle, die all diese Leute aufsaugt und beschäftigt hält,
zu beschäftigt, um über Freiheit nachzudenken, zu beschäftigt, unser ganzes Zeug
herzustellen.
Als ich die Fabrik verlasse, merke ich, wie mein Weltbild unter mir zusammenbricht.
Ich merke, wie ich von innen nach außen neu geschrieben werde; die Art, wie ich alles
sehe, verändert sich.
Ich denke daran, wie oft wir uns darüber unterhalten, dass wir uns wünschten, es
wäre mehr von Hand gemacht.
Das sagen wir dauernd, oder?„Wär´s doch wie früher. Als alles noch von Hand
gemacht war.“
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Aber das stimmt nicht. Heute gibt es mehr Handgemachtes als je zuvor auf der Welt.
Alles ist handgemacht. Ich weiß das. Ich war dort. Ich habe die Arbeiter gesehen, wie
sie Teile einbauten, die dünner sind als ein Menschenhaar, eines nach dem anderen,
nach dem nächsten, und immer so weiter.
Alles ist handgemacht. Wenn man genau hinschaut.
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7 Die Wiederkunft des Heilsbringers
Zu diesem Zeitpunkt finden alle bei Apple Scully toll. Man findet, es sei langsam
Zeit, dass Apple erwachsen wird.
Was niemand versteht, ist, dass während Steve Jobs vielleicht ein megalomanisches
Arschloch ist und ein kleiner brutaler Tyrann, ist er zugleich das Gespinst, das den
Konzern zusammenhält – und erst als er weg ist, wird ihnen klar, dass Apple voller
verrückter Genies ist.
Tausende und abertausende verrückte Genies. Und sobald Steve Jobs raus ist, denken
die alle
„MWAHAHAHAHAHAHAHA! Endlich! Mein Plan wird verwirklicht! Endlich
kann ich einen Affen und ein Pony paaren! MWAHAHAHAHAHAHAHA!“
Und Scully? Was macht Scully? Scully rennt die Gänge auf und ab, so
Mit übertrieben zurückhaltender Scully-Stimme
„Hey … will irgend jemand vielleicht mal was in die Läden bringen? Okay, dann …
sagt halt Bescheid, wenn ihr irgendwas in die Läden bringen wollt. Ich bin dann mal in
meinem Büro und trink ´ne Pepsi.“
Und die ganze Unerbittlichkeit geht zur Tür raus, und ab da wird’s richtig bizarr, und
das richtig schnell. Und Steckenpferdchen, die klein bleiben sollten, werden auf einmal
größer und größer und größer weil niemand da ist, der die Babys schlachtet. Wie zum
Beispiel, als Apple versuchte, seine eigene Version des Internets zu schaffen … hat
nicht so gut funktioniert.
Oder, am bekanntesten, der Newton.
Der Newton ist eine Geschichte, die einem für alle Zeiten das Herz bricht, weil der
Newton eine fantastische Maschine war. Der Newton war ein Personal Electronic
Organizer – und wenn man das erzählt, sagen alle immer: „Oh, wie der Palm Pilot?“
Naaaaaain. Fick den Palm Pilot – der Palm Pilot bestand aus Legosteinen und
Arschlecken.
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Der Newton war großartig. Der Newton konnte deine verschissene Handschrift lesen.
Du schriebst einfach nur egal was, und er packte das automatisch ins Adressbuch, in den
Kalender …
Das war die Zukunft! In deinen Händen!
Tja … hat nur nicht funktioniert.
Und was haben sie sich bemüht! Was haben sie sich bemüht! Und ihn verschoben
und verschoben und dann endlich in die Läden gebracht, und alle Apple-Jünger rennen
los und kaufen das Ding und dann so, „Mein Schatz! Mein Schatz!“, und nehmen es mit
nach Hause, „Schatz, Schatz, komm her, das musst du dir angucken! Ich halte die
Zukunft in meinen Händen! Schau her:
tut so, als würde er auf den Newton schreiben Arzttermin morgen um 14 Uhr.“
Und dann sagt der Newton …
HÄMORRHOIDEN METTWURST
Studiert total konsterniert den Newton, sichtlich verloren
„Das ist nicht das, was ich geschrieben habe …
… man ist das peinlich …
… ich habe keine Ahnung, warum die Zukunft nicht funktioniert … Vielleicht liegt´s
ja an mir.“
Darin sind Apple-User verprügelten Ehefrauen ziemlich ähnlich.
Sie suchen die Schuld bei sich selbst. „Ich kann mich ändern! Ich kann meine
Handschrift ändern, bis der Newton sie mag! Ich weiß, dass unsere Beziehung
funktionieren kann, ich krieg das hin!“
Schreibt jetzt dieselben Worte, aber grotesk übertrieben
Arzttermin morgen um 14 Uhr
Und der Newton sagt …
GEILER ARSCHLECKER.
Das passiert in der Zeit des PowerBook 5300 – das flammende PowerBook. Das
heißt nicht, dass das Laptop warm wird oder heiß – das heißt, dass da tatsächlich
Flammen aus der Tastatur kommen! Das Laptop fängt Feuer! Die werden alle
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zurückgerufen, die Akkus werden alle ersetzt … jetzt fangen sie kein Feuer mehr, aber
dafür reicht der Akku nur noch 17 Minuten.
Das passiert zu der Zeit, wo auf Apples damaligen Internet-Auftritt eine offizielle,
freigegebene Trouble-Shooting-Tech-Note steht, die den Usern empfiehlt, das
betroffene Gerät in beide Hände zu nehmen, es 15 cm über der Schreibtischoberfläche
zu halten … und dann fallen zu lassen.
Schafft. Kein. Vertrauen.
Zu dieser Zeit ist Apple am Arsch. Keine High-Tech-Firma hat sich je von so einem
Tiefpunkt erholt.
Das Magazin WIRED füllt einen gesamte Ausgabe mit dem Titel „Apples Tod“,
gespickt mit Todesanzeigen, geschrieben von prominenten Computer-Experten, die
trauerten, weil Apple weg vom Fenster war. Und Apple muss sich soweit erniedrigen,
dass es mit einer Presseerklärung antworten muss, in der steht:
„Ha-ha-ha, alles gar nicht wahr, alles ist in Ordnung, ha-ha-ha.“
Das ist wie ein Feuerbegräbnis, bei dem die Leiche sagt:
„Oh! Alles in Ordnung! Ich glaub, mir geht´s gut!“
Und alle anderen sagen, „Nein, es geht dir nicht gut“, und sie schieben den Sarg in
den Ofen und zünden das Feuer an.
Und dann erscheint der unwahrscheinlichste Retter:
Apple bittet Steve Jobs zurückzukommen.
Und wenn es Euch geht wie mir …
… wünscht Ihr Euch nicht auch, ihr hättet diesen Anruf belauscht?
Wie Bob Newhart bei seinen berühmten einseitigen Telefon-Anrufen
„Hey Steve! Lang nicht gesehen! … Jaja, so ungefähr zwölf Jahre (hört zu) seit wir
dich rausgeschmissen haben, ja, das stimmt, das stimmt. Aber hey, du hattest echt viel
um die Ohren, und wir auch, wir hatten auch echt viel um die Ohren (hört zu) damit, die
Firma zu ruinieren, das stimmt, das stimmt.
Hör zu, Steve. Der Vorstand hat mich gebeten, dich anzurufen, um auszuloten, ob du
interessiert wärst an der Möglichkeit …
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Legt eine Hand auf das Telefon und gestikuliert wild mit den anderen
Vorstandsmitgliedern, mimt einen stummen Streit mit ihnen, bittet sie auf krasseste
Weise, mit seinem Arschloch zu reden. Nach dieser Nummer kehrt er zurück ans Telefon
– der Vorstand hat mich gebeten, dich anzurufen, um auszuloten, ob du interessiert
wärst an der Möglichkeit …
Genau wie eben, aber noch animierter, weinend und aufgewühlt, bis er zurück zum
Telefon geschleift wird und durch seine zusammengepressten Zähne sagt:
– BITTEBITTEKOMMZURÜCKUNDRETTEDIEFIRMA!“
Legt auf
Denn beide Seiten haben genau das, was die jeweils andere braucht.
Apple … braucht den verdammten Jesus Christus.
Aber ER steht dafür nicht zur Verfügung …
… also muss wenigstens Steve Jobs her.
Apple braucht ebenso dringend ein funktionierendes Betriebssystem der nächsten
Generation, denn während sie damit beschäftigt waren, hunderte von Millionen von
Dollar die Toilette hinunterzuspülen, indem sie versuchten, eine Rundschwanzseekuh
mit einem Walross zu paaren, haben sie einfach vergessen, ein funktionierendes
Betriebssystem der nächsten Generation zu entwickeln.
Steve Jobs hat währenddessen, während seiner Jahre im Exil, seine eigene
Computerfirma nach seinem Ebenbild erschaffen: NeXT Computers.
Und NeXT Computers verkörpert in gewisser Weise alles, was einerseits fantastisch
als auch, was andererseits frustrierend ist an Steve Jobs. Es ist so etwas wie die
narzisstische Supernova Jobs´scher DNA.
Zu der fantastischen Seite gehört: Das Betriebssystem ist erstaunlich: Es ist weltweit
das erste objektorientierte Betriebssystem. Es ist seiner Zeit ziemlich genau 10 Jahre
voraus. Das Problem mit Dingen, die ihrer Zeit 10 Jahre voraus sind? Sie sind ihrer Zeit
10 Jahre voraus.
Also: Nicht kompatibel mit all dem anderen Scheiß, den man sonst gerade benutzt.
Zu der frustrierenden Seite gehört: Es handelt sich hier um Steven P. Jobs, einen
Mann, der die Bedeutung des Wortes „Kompromiss“ nicht kennt.
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Seine Vorstellung von einem vernünftigen Computer, der in den heiß umkämpften
Computermarkt der späten 80er einbrechen sollte, ist der NeXT Cube.
Das ist ein starrer kompakter schwarzer Block aus gebürstetem Magnesium.
Es ist ein TRIUMPH des Industrie Designs.
Es ist kompatibel mit gar nichts von dem, was du an Peripheriegeräten besitzt!
Es kann mit deiner gesamten Software NICHTS anfangen.
Und es kostet VIERZEHNTAUSEND DOLLAR!
Es läuft nicht so besonders gut. Es läuft sogar überhaupt gar kein bißchen besonders
gut, und zu diesem Zeitpunkt verfügt NeXT über keine nennenswerten Aktiva, außer
diesem Wahnsinns-Betriebssystem der nächsten Generation. Und so kauft Apple NeXT
– aber in Wirklichkeit fühlt es sich eher so an, als würde das winzige NeXT irgendwie
Apple schlucken.
Steve Jobs kommt zurück, und eine seiner ersten Maßnahmen sind ein paar kleine
Änderungen im Vorstand, damit ihm so´n Scheiß nie wieder passiert. Dann installiert er
seine Leute, die sofort die Kontrolle übernehmen, und er interviewt jeden bei Apple, auf
der Suche nach den Perlen der Säue. Auf diese Weise findet er Jonathan Ive, einen
Junior Industrie Designer. Er befördert ihn und eine neue Firmenordnung nimmt
Konturen an.
Den Mac OS mit dem lächelnden Mac-Gesicht und seinen freundlichen
Fehlermeldungen … den bringen sie hinter die Scheune, schießen ihm in den
Hinterkopf, und werfen seine Leiche in einen Graben.
Und dann nehmen sie das NeXT-Betriebssystem, das ja, wie ich bereits sagte, seiner
Zeit 10 Jahre voraus war, naja … inzwischen ist es 10 Jahre später. Also genau die
richtige Zeit.
Sie transplantieren es ins Herz des Mac und es wird zu Mac OS X – also zu dem
Betriebssystem, das heute alle Geräte von Apple antreibt.
Und ein neues Apple entsteht aus der Asche. Ein Apple, das viel stärker vom Design
bestimmt wird, das viel stärker fokussiert ist, das viel skrupelloser ist, eleganter, und …
geheimniskrämerischer. Das alte Apple war im Prinzip ein Open Shop, da konnte man
einfach fragen, was so vor sich ging, und man bekam Auskunft. Aber jetzt sind die Tore
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geschlossen, die Türen zu, kein Schwanz hat eine Ahnung was da in Cupertino vor sich
geht. Wie Willy Wonka nach der Sache mit Slugworth.
Und dann kommen Geräte auf den Markt, die das alte Apple niemals auch nur in
Erwägung gezogen hätte – Lifeystyle-Geräte wie kleine Schachteln, die deine komplette
Musik spielen und sowohl mit Macs als auch PCs kompatibel sind, und die legen sich
wie ein Heiligenschein um die ganze Welt und verändern die Vorstellung in den Köpfen
der Menschen davon, was Apple für eine Firma ist.
Und dann, als Jobs uns das iPhone zeigte … wir alle, die technische Entwicklungen
verfolgen, haben gefühlt, wie sich das Weltbild erneut änderte. Das Ding war neu. Der
Cursor war weg, die Fenster-Oberflächen – alles war so einfach, dass jedes Kind es
benutzen konnte. Aber die Veränderungen gehen viel, viel tiefer. Jedes TouchscreenGerät ist hermetisch verschlossen. Man kommt nicht ran an das Betriebssystem, das
gehört Apple, und zwar nur Apple. Man kann keine eigenen Programme installieren,
statt dessen muss man sie von den Apple-Servern runterladen, und Apple entscheidet,
was angeboten wird und schneidet sich bei jedem Vorgang ein gesundes Stück vom
Kuchen ab. Wenn man die Geräte nicht jailbreaked, wird man nie wirklich ihr
Eigentümer.
Und ein umzäunter Garten erhebt sich um all die Apple User, die herumtollen und
spielen … und eine neue Übereinkunft zwischen Apple und seinen Usern wird
geschlossen, und die Bedingungen dieser Übereinkunft sind:
Mit Apple-Zeus-trifft-Charles-Heston-Stimme
WIR SIND APPLE. Haben wir Euch nicht immer mit den besten Geräten versorgt?
Haben wir Euch nicht immer die schönsten Benutzer-Erfahrungen verschafft?
Das konnten wir, weil wir so einen exzellenten Geschmack haben.
Den habt ihr … nicht.
Wir werden Euch vor Eurem schlechten Geschmack beschützen.
Wir werden unseren Scheiß für Euch hermetisch verschließen, ein für allemal. Und
damit das klar ist: Ihr werdet lieben, was danach kommt, aber jedenfalls ist dies das
Ende der Garagen-Romantik, dies ist das Ende der Bastel-Nerds, dies ist das Ende von
Wozniak – es erhebt sich: Der Konsument.
Und das wird Eure Aufgabe sein. Ihr werdet konsumieren.
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Und Ihr werdet trinken von Apples Servern – ein neuer Bund der Tugend zwischen
Euch und der Konzern-Entität die da heißt Apple, Ihr werdet verbunden sein, und mit
jeder App, die Ihr herunterladet, werdet Ihr Euch noch ein wenig enger binden.
Aber das wird Euch nichts ausmachen … denn Ihr werdet nie, nie gehen wollen.
Warum auch? Es sind die allerbesten Geräte der Welt, nicht wahr?
Ihr werdet sie benutzen, und ihr werdet sie lieben.
Ihr werdet sie lieben, und sie werden Euch besitzen.
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8 – Der Geheimbund
Ich sitze in einem Restaurant im Industriegebiet, an einem Tisch mit Cathy, und ich
kriege diesen Aphorismus nicht mehr aus meinem Kopf – keine Ahnung, wer den
ursprünglich mal gesagt hat – dass Verfolgungswahn kein Verfolgungswahn ist, wenn
sie tatsächlich hinter dir her sind.
Und ich gehe meine Checkliste noch einmal durch: Ich habe alle meine Taschen
durchwühlt und jedes einzelne Stück Papier mit einer Telefonnummer oder
Emailadresse gefunden und zerstört. Alle meine Notizen haben ich fern von meiner
Person versteckt und die Festplatte meines Computers gelöscht, und alles, was ich nicht
löschen konnte ist auf einer verschlüsselten Partition, von der ich hoffe, dass sie
verschlüsselt genug ist. All diese Dinge habe ich getan, weil ich jetzt in einem
Restaurant sitze und mich mit einem Gewerkschaftsmitglied treffen will.
Denn es gibt Gewerkschaften in China.
Es gibt solche, die Kulissen für die Kommunistische Partei sind, und es gibt echte
Gewerkschaften, denen es um Arbeitsreformen geht. Man nennt sie
„Geheimgewerkschaften“, denn in China wird man ins Gefängnis gesteckt, wenn man
als Gewerkschaftsmitglied oder deren Sympathisant identifiziert wird. Man wird für
viele Jahre ins Gefängnis gesteckt, deshalb waren diese Vorsichtsmaßnahmen
notwendig.
Um dieses Treffen zu ermöglichen, wurde ich von Hinterzimmer zu Hinterzimmer
gereicht, musste Treffen um Treffen absolvieren, und bei jedem Schritt meine
Absichten überzeugend darlegen und sehr klar machen, dass ich ein
Geschichtenerzähler bin, und nichts weiter will als die Geschichten der Menschen
hören, ich will einfach nur hören, was sie zu sagen haben.
Und dann kommen die Gewerkschaftsmitglieder und setzen sich, und am Anfang ist
die Stimmung unbehaglich. Sie erzählen mir von zwei Honda-Fabriken im Norden der
Provinz, die bestreikt werden, und ich mache mir Gedanken darüber, was es heißt, in
einem Land in den Streik zu treten, in dem schon die Mitgliedschaft in eine
Gewerkschaft Gefängnis bedeutet – was muss passieren, damit man unter solchen
Bedingungen so weit gebracht wird zu streiken?
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Und ich frage sie: „Woher wisst ihr, mit wem ihr arbeiten könnt? Wie findet ihr
Leute, die euch helfen, das zu organisieren, was ihr tut?“
Und das ist der Wendepunkt, sie schauen sich verschämt an, und sagen dann: “Naja,
wir unterhalten uns halt viel – wir treffen uns in Cafés, wir tauschen Papiere aus,
manchmal gibt es Bücher …“
Und mir wird schlagartig klar, dass sie einfach improvisieren.
Wie die meisten.
Wie Piraten. Wie Rebellen.
Wie die ganzen Verrückten, die die Welt verändern – sie alle improvisieren ihren
Weg.
Dann kommen die Arbeiter rein. Einer nach dem anderen.
Und wir reden. Wir reden über all die Sachen, über die ich während meines ganzen
Aufenthaltes in Hong Kong und Shen-Zhen schon geredet habe, wie zum Beispiel
Hexan.
Hexan ist ein iPhone-Display-Reinigungsmittel; es ist großartig, weil es sich noch
etwas schneller als Alkohol verflüchtigt, was bedeutet, dass man das Fließband noch
etwas schneller laufen lassen kann beim Versuch, die Zielvorgaben einzuhalten. Nur
leider ist Hexan ein ziemlich kräftiges Nervengift, und im Norden waren Hunderte
Menschen dem ausgesetzt. Deren Hände zittern unkontrollierbar, die meisten können
noch nicht mal mehr ein Glas hochheben.
Wir reden über Menschen, die am Fließband arbeiten und dieselbe Handbewegung
hunderte und aberhunderte von tausenden Malen ausführen. Wie ein
Karpaltunnelsyndrom, das wir uns kaum vorstellen können. Und man macht mir
deutlich, dass das ohne weiteres vermeidbar wäre: Wenn all diese Menschen monatlich
zu einer anderen Aufgabe rotieren würden, würde das nicht passieren – aber dazu
müsste es jemandem geben, den das kümmerte. Und bei den Menschen, die mit 16 oder
17 angefangen haben zu arbeiten, sind mit 26, 27 die Hände ruiniert.
Und wenn sie erstmal gründlich ruiniert sind, wenn sie erstmal nichts weiter mehr
tun können – ihr wisst ja, was man mit defekten Maschinenteilen einer Maschine tut, die
Maschinen herstellt.
Man schmeisst sie weg.
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Und all diese Menschen verbindet miteinander, dass sie die Art von Menschen sind,
die einer Gewerkschaft beitreten in einer Gesellschaft, in der der Beitritt zu einer
Gewerkschaft einem das Leben versauen kann.
Ich rede mit einer Frau – nervös wie ein Wellensittich – die versucht, mir zu
erklären, wie sie Gewerkschaftsmitglied wurde. Weil sie nie vorhatte, in eine
Gewerkschaft zu gehen, aber sie schaffte es einfach nicht, ihren Arbeitgeber dazu zu
bewegen, ihr Überstunden zu bezahlen. Und sie beschwert sich die ganze Zeit, all das
sei über Wochen und Monate so gegangen – bis Cathy zu ihr mit eine gewissen Schärfe
sagt: „Warum haben Sie sich denn nicht bei der Arbeitsbehörde beschwert? Dafür gibt
es die doch. Sie hätte sich bei der Arbeitsbehörde beschweren müssen!“
Und die Frau sagt: „Das habe ich getan. Ich bin zur Arbeitsbehörde gegangen und
habe dort von meinem Problem erzählt, und die haben meinen Namen, meine Adresse
und meinen Arbeitgeber aufgeschrieben, und haben meinen Namen dann auf die
Schwarze Liste gesetzt. Und mich gefeuert.“
Und dann zeigt sie mir eine Kopie dieser Schwarzen Liste – einer ihrer Freunde aus
der Buchhaltung hatte sie kopiert und für sie rausgeschmuggelt. Sie gibt sie mir, ich
reiche sie rüber zu Cathy, damit sie übersetzt. Nun ist es so: In einem faschistoidien
Land, das von einer Verbrecherclique regiert wird, muss man nicht diplomatisch sein.
Man kann ganz genau das sagen, was man denkt. Das Blatt ist sehr deutlich, oben steht
als Überschrift: „Diese Liste enthält Störenfriede. Wenn Sie einen davon eingestellt
haben, entlassen Sie ihn sofort.“
Und dann steht da Spalte um Spalte um Spalte mit Namen, Seite um Seite um Seite.
Cathys Hand zittert, während sie übersetzt.
Ich unterhalte mich mit einem etwas älteren Arbeiter mit lederner Haut. Seine rechte
Hand ist verdreht, sie wurde von irgendeiner Maschine verstümmelt. Er sagt, er ist
medizinisch in keiner Weise versorgt worden und so ist sie halt geheilt, und als er damit
wieder arbeiten konnte, war er zu langsam geworden, und sie haben ihn gefeuert.
Heute arbeitet er in der holzverarbeitenden Industrie. Er sagt, das gefällt ihm besser.
Er sagt, die Leute dort sind netter und die Arbeitszeit vernünftiger. Er arbeitet ungefähr
70 Stunden die Woche.
Und solche Geschichten höre ich den lieben langen Tag.
Aber … warum solltet ihr mir das glauben?
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Schließlich bin ich, wie ihr alle wisst, ein Fabulierer. Vielleicht ist nichts von dem
wahr, was ich hier sage.
Wäre das nicht beruhigend?
Vielleicht werden eure Elektrospielzeuge von Oompa-Loompas hergestellt.
Ein umnachteter Stamm Oompa-Loompas, gerettet vom heiligen Steve Jobs, die in
einer wunderschön eingerichteten Fabrik arbeiten. Und diese Heinzelmännchen haben
alle eine schwere Zwangserkrankung, so dass sie alle es lieben, winzig kleine
Elektrobauteilchen auf immer und immer und immer dieselbe Weise
zusammenzusetzen, und alles funktioniert ganz wunderbar.
Mir müsst ihr nicht glauben.
Der New York Times könntet ihr glauben. Zwei Jahre nach mir finden die dort
Dinge, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Sie
finden Arbeiter bei Foxconn, die regelmäßig doppelte Schichten ableisten – das
bedeutet 24 Stunden kontinuierlicher Arbeit – bis sie am Band zusammenbrechen.
Sie finden Vorgaben von Apple, die so unglaublich strikt sind, dass iPad-Fabriken
gezwungen sind, den Betrieb aufzunehmen, noch bevor die Fabrik überhaupt fertig
gebaut ist – sie machen Dampf, weil sie damit in die Apple Stores wollen zum
angekündigten Verkaufsstart. Und so kommt es, dass die erste iPad-Fabrik explodiert
und dabei ein paar Arbeiter tötet und andere verstümmelt. Apple entschuldigt sich,
Foxconn entschuldigt sich, das darf nie wieder passieren … bis es wieder passiert, drei
Monate später, in einer anderen iPad-Fabrik, auf genau dieselbe Art und Weise.
Als das National Public Radio die Explosion untersucht, stellt es fest, dass Apple
diese Fabrik inspiziert hatte – am Morgen, als sie explodierte … eine offizielle
Inspektion, die nicht mehr als 10 Minuten gedauert hat.
Mir müsst ihr nicht glauben.
Ich muss sogar eine Lüge gestehen, die in die Struktur dieses Monologes eingewoben
ist. Ich habe Euch vorhin von den Fotos erzählt, durch die ich mehr über Shen-Zhen
wissen wollte. Das stimmt zwar, aber danach habe ich was ausgelassen – wie ihr
entdecken werdet, ist das die gefährlichste Form der Lüge – ich bin dann nicht einfach
sofort nach China geflogen.
Ich bin doch nicht verrückt. Was glaubt Ihr denn, was ich dann getan habe?
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Ich bin ein eingefleischter Westler – ich habe gegoogelt.
Kennt ihr Google? Unser zweites Gehirn, das alle unsere Vorurteile bestätigt?
Ich habe gegoogelt … und was glaubt ihr, was ich gefunden habe?
Ich habe allgemein bekannte, seriöse, bestätigte Studien von NichtRegierungsorganisationen gefunden, die bis zu 10 Jahre zurückgehen und zahlreiche
Missstände detaillreich belegen, die weitaus ernster sind als alles, was wir hier heute
abend besprochen haben. Bei Foxconn, quer durch die ganze Sonderwirtschaftszone.
Will sagen: Wann werden wir endlich erwachsen? Wir wissen doch alle, dass die
ganzen Lichterketten, die wir für unsere Weihnachtsbäume kaufen, aus chinesischer
Gefängnisarbeit stammen – das wissen wir doch alle, oder? Und ich muss Euch nicht
wirklich erzählen, wie viel schlimmer chinesische Gefängnisarbeit ist, oder?
Pause
Das alles ist nicht neu.
War es noch nie.
Neu ist das bloß insofern, als es uns nicht interessiert.
Denn ich kann Euch versichern: Es interessiert uns nicht. Wir tun alles, damit es uns
nicht interessiert, wir tun alles, um eine Welt zu bauen, ein Weltbild zu formen, dass wir
das nicht sehen müssen. Wir wollen das nicht sehen.
Und das ist keine Unwissenheit. Unwissenheit ist ein Geschenk, das man sich selbst
nur ein einziges Mal machen kann.
Und es gibt niemanden hier im Dunkeln innerhalb der Reichweite meiner Stimme,
niemand, der mir jetzt zuschaut, der heute abend hier in diesen Raum kam und dachte
„China … ist ein Arbeiter-Paradies.“
Ihr wisst es alle.
Ihr habt es schon immer gewusst. Genau wie ich, schon bevor ich hinflog, schon
bevor ich die Reportagen gelesen haben, die auf meinem Laptop aufleuchteten. Wir
haben es schon immer gewusst.
Und das ist die Lüge.
Die Lüge, die uns bindet, die Lüge, die uns zwingt ein Weltbild zu formen, das alles
ausradiert, was ausradiert werden muss, das uns jede Ausrede greifen lässt, die wir
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finden können, und sie uns soange verbiegen lässt, bis wir entschuldigt sind, alles, um
das nicht sehen zu müssen.
Weil uns nicht passt, was es über uns aussagt.
Wir wollen nicht sehen, dass alles, was wir berühren, alles was wir besitzen und
tragen und benutzen von hunderten Hände betatscht wurde, die es berührt haben, die
uns berührt haben, und all diese Hände sind mit uns mit einer Münze verbunden, deren
Währung wir uns weigern, anzuerkennen.
Bis wir das sehen, werden wir uns selbst nicht kennen. Bis wir das sehen, werden wir
nicht frei sein können.
Schweigen.
Acht Monate, nachdem ich China verlassen habe, sitze ich in einem anderen
Restaurant am anderen Ende der Welt. Ich bin in Berkeley, Kalifornien, und auf der
anderen Seite des Tisches sitzt Steve Wozniak.
Und man soll ja nie seine Helden treffen, und das verstehe ich gut, denn Mr.
Wozniak hatte diesen Monolog, den Ihr jetzt seht, ein paar Nächte vorher gesehen …
und mir war der Gedanke gekommen, dass er mich wegen Beleidigung drankriegen
könnte, so, wie ich ihn als autistischen Bär gezeichnet hatte.
Zum Glück sind die Gesetze, was die Rufschädigung betrifft, in meinem Land
ziemlich klar, und sie setzen Unwahrheit voraus.
Und Steve Wozniak ist … ein autistischer Bär.
Ein schlauer, wagemutiger, brillianter, nerdiger … autistischer Bär.
Und er sitzt mir gegenüber und trägt den offiziellen Anzug eines Geeks – er trägt
eine Outdoorweste. Diese Weste hat so abgefahren viele Taschen, mindestens fünfzig,
und das ist nicht übertrieben! Und aus jeder einzelnen Tasche holt er ein Handy! Der
Typ hat, ich verarsche Euch nicht, SIEBEN HANDYS!
Und er breitet sie alle vor mir aus, eins nach dem anderen, und erklärt mir sehr
ernsthaft, dass wenn wir alle die Resourcen hätten, die er hat, es für uns alle die einzig
logische Art und Weise wäre, durchs Leben zu gehen, mit SIEBEN HANDYS.
Er hat zwei iPhones, eins von Verizon, und eins von AT&T – und wisst Ihr was: Das
verstehe ich.
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Ich habe selbst ein AT&T-iPhone – und das ist fast dasselbe, als hätte man kein
iPhone.
Wenn ich wirklich sicher sein will, dass jemand eine SMS von mir bekommt, tippe
ich sie ein … und dann werfe ich das Handy zu der Person, die die Nachricht
bekommen soll.
Nur so kann man sicher sein, dass sie auch ankommt.
Er hat den neuesten Androiden, ein Nokia … er breitet sie alle vor sich aus, und sie
sehen aus wie umgedrehten Tarotkarten, denn Apple hat diesen viralen Krieg der Ideen
auch gewonnen: sie alle sind schwarze Rechtecke aus geheimnisvollem Glas.
Und sie werden alle auf dieselbe Art und Weise hergestellt, in denselben Fabriken,
von denselben Händen.
Und ich war beunruhigt, denn ich hätte Mr. Wozniak nach der Show treffen sollen,
aber statt dessen ist er auf und davon … und das ist nie ein gutes Zeichen.
Aber als wir da saßen, erklärte er mir, dass er von der Aufführung überwältigt war
und weinen musste, und das Theater verlassen hätte und durch die Gegend gefahren sei.
Er ist hoch in die Hügel über Beverly Hills gefahren, wo die Fauna das ganze Jahr über
blüht und ihren speziellen Geruch in die Nacht verbreitet, er ist den alten Campus
entlanggefahren, er ist die Landschaft seiner Jugend abgefahren – unser aller Jugend.
Denn dort ist es passiert – dort haben Männer und Frauen in Garagen und Computer
Clubs die Architektur der Welt kreiert, in der wir heute leben.
Und emotional hat er so weit aufgemacht; wie er so vor mir sitzt, kommen ihm
Tränen, und er sagt:
„So hat es nie sein sollen. Nie. Wir müssen was tun. Jemand müsste was tun.“
Und das sagt er, als hätte niemand je zuvor daran gedacht.
Das ist fast naiv, wie er das sagt. Er sagt das, als sei es tatsächlich eine neue Idee.
Und vielleicht ist es das ja.
Vielleicht haben wir einfach diesen Synapsensprung noch nie gemacht … von einem
Problem zu einem Problemlösungsverfahren.
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Vielleicht haben wir das ungeheure Gewicht dieser Dinge noch nie auf unseren
Schultern gespürt, noch nie wirklich gespürt, was wir da kreiert haben, und dann,
endlich, angefangen, uns aufzurichten.
Er ist ein wunderbarer Gesprächspartner.
Er redet so, wie alle Geeks das tun – in sich verzweigenden Strukturen mit multiplen
Pfaden, zwischen denen er hin- und herspringt. Ich kann kaum mithalten. Er macht eine
diffenrenzierte Feststellung über die Natur des Programmierens, die mein Verständnis
weit übersteigt, und ich höre ihm zu, und erwische mich dabei wie ich denke, dass in
einem gewissen Sinn, er mein Vater ist.
Wozniak ist der letzte seiner Art. Er ist der letzte, der wirklich einen kompletten
Computer vollständig entworfen hat – der Apple II war sein Entwurf. Und ich wurde
durch diese Maschine in diese Mysterien eingeführt. Er gab mir das Werkzeug, und mit
diesem Werkzeug habe ich eine ganze Welt kennengelernt.
Dieses Werkzeug hat mich an diesen Tisch gebracht, an dem ich mit ihm rede.
Es hat mich hierhergebracht, um mit Euch zu reden.
Seine Hände bewegen sich, während er spricht. Sie sind groß und prankenhaft und
unfassbar expressiv. Präzise zeichnet und zeigt er alles, was er sagt, formt jeden
einzelnen Punkt. Alles hat einen Platz, und alles ist an seinem Platz.
Hände wie diese sieht man hier nicht mehr viele.
Hände eines Machers.
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9 – Ein Gedankenvirus
Früher hat sich Steve Jobs bei mir gemeldet.
Also, nie direkt.
Ich glaub nicht mal, dass er wusste, dass er sich bei mir meldete.
Statt dessen haben manchmal Menschen, die auf den Plätzen sitzen, auf denen Ihr
jetzt sitzt, in Theatern überall auf der Welt, nachdem sie die Worte gehört haben, die ihr
gerade gehört habt, ihm manchmal geschrieben.
Und manchmal haben sie mich in CC: gesetzt und manchmal in Blindcopy, und dann
sah ich hunderte Nachrichten auf einen einzigen Fixpunkt zufließen, alle voller Fragen.
Und immer mal wieder kam eine Antwort zurück.
Und manchmal wurde diese Antwort an mich weitergeleitet.
Und darunter war alles Mögliche. Manchmal ein kurzer, scharfer Satz, manchmal ein
Link, manchmal eine einfache Textzeile:
„Mike versteht die Komplexität der Situation nicht.“
Und ich habe jede einzelne Antwort hoffnungsvoll gelesen.
Und ich blieb in Deckung.
Und ich erzählte meine Geschichte, Nacht um Nacht, Stadt um Stadt.
Und heute – kennen wir die Wahrheit.
Heute ist sie viel größer als diese BlackBox je aufnehmen könnte. Es steht in der
Zeitung, es steht im Netz, es wird im Radio gesendet – die Geschichte verbreitet sich
überall hin und wird sich nicht mehr verstecken und ist so viel mehr.
Wir wissen heute, dass die Apple-Manager ihre Arbeiter schon vor langer Zeit im
Stich gelassen haben. Und sie ihre Gewinnmargen so ausgequetscht haben, dass vieles
von dem, was Ihr heute gehört habt, inzwischen noch schlimmer ist.
Und sie haben sich selbst zum profitabelsten Unternehmen in der Geschichte der
Welt gemacht.
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Und Steve Jobs – dieses Form-und-Design-Genie – hat seine Augen vor dem
wichtigsten Designgesetz verschlossen: Dass die Art, wie etwas hergestellt wird, teil des
Designs ist.
Das hat er vergessen. Und ich auch.
Aber Ihr werdet das nicht vergessen.
Ihr werdet das nicht vergessen … weil der heutige Abend ein Virus ist.
Mit der ersten Szene fing es an, aber das habt ihr nicht gemerkt.
Und ab der dritten Szene hat er Eure Firewall durchbrochen, und seitdem springt es
von Systemsoftware zu Systemsoftware.
Er hat Eure Programmierung von innen heraus überschrieben und ich sage Euch, ihr
werdet ihn nie wieder los.
Er steckt in Euch, so wie er in mir steckt, zappelt und windet sich. Und wenn das
Licht angeht, wenn dieses Theater-Konstruckt wegfällt, steckt er immer noch in Euch.
Ihr werdet ihn durch die Tür tragen, ihr werdet seine Vektoren sein. Ihr werdet ihn in
Eure Häuser tragen, und wenn Ihr vor Eurem Laptops sitzt und sie aufklappt, werdet ihr
das Blut sehen, das aus der Tastatur quillt. Ihr werdet wissen, dass die von
Menschenhänden hergestellt wurden. Ihr werdet das immer wissen.
Wenn Ihr draußen Eure Handys rausholt um zu sehen, wie spät es ist, und das Licht
Euer Gesicht beleuchtet, werdet Ihr wissen, wie sie hergestellt wurden. Ihr werdet es
wissen.
Und Ihr werdet damit leben. Genau wie ich damit lebe. Genau wie wir alle damit
anfangen werden müssen, uns zu entscheiden, ob wir diesen Weltbildwandel mitmachen
wollen.
Heute ist die Tür offen, wenn Ihr durchgehen wollt.
Heute wurden wir gejailbreakt.
Heute sind wir frei.
ENDE
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