Die filmkritische Rezeption des Politischen in City of God. Die

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Die filmkritische Rezeption des Politischen in City of God. Die
Wie wird Gewalt koloriert? - Die filmkritische Rezeption des Politischen in City of God.
Autoren: Claudius Göhring, Nils Kühl, André Rauhofer
Die internationale Berichterstattung über Brasilien war im vergangenen Jahr maßgeblich
durch Massenproteste und Unruhen, vor allem in den brasilianischen Metropolen,
bestimmt. Ein zentraler Ausgangspunkt für die Protestwelle war die Erhöhung der
Ticketpreise für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in vielen brasilianischen
Regionen. Ausgehend vom Kampf um die finanzielle Verträglichkeit von Mobilität, gerade
für die ärmeren Schichten der Gesellschaft, weitete sich der Protest auf Themen wie
Korruption, Polizeigewalt, Straffreiheit und generelle soziale Ungleichheiten aus. Die
Zündkraft der Nahverkehrsthematik ist eine starke Referenz für die räumliche
Beschaffenheit der Unterschiede zwischen Arm und Reich in Brasilien. Soziale
Unterschiede drücken sich in extremer Weise durch eine räumliche Segregation der
Unterschichten aus. Die verarmten Randbezirke, Favelas genannt, sind Räume der
prekären Lebensverhältnisse. Basale Grundversorgungen, Arbeit und soziale Infrastruktur
im Sinne staatlicher Betreuungs- und Sozialeinrichtungen sind Mangelware. Der
öffentliche Nahverkehr bedeutet für die prekär lebenden Schichten der brasilianischen
Metropolen eine kleine Tür hinaus aus der Isolation, hin zu potentiellen Arbeitsplätzen und
dem wenig aussichtsreichen Kampf um den sozialen Aufstieg. Gegen die Beständigkeit
dieser Grenzen, im räumlichen wie auch sozialen Sinne, adressierte eine massive
Protestbewegung ihre Kritik an die brasilianische Regierung, welche, so der Vorwurf, trotz
neo-extraktivistischer1 Wirtschaftspolitik nicht ausreichend Ressourcen zur Verbesserung
kollektiver Lebenssituationen investiert.
Die sozialen Ungleichheiten und die daraus resultierenden Lebenssituationen werden
auch immer wieder vom brasilianischen Kulturbetrieb aufgegriffen und verarbeitet.
Gewichtigste Referenz dessen ist für die lokale Filmproduktion die Strömung des cinema
novo. Vom Namen her auf das diktatorische System des estado novo von 1930 bis 1954
hindeutend, war das stark vom italienischen Neorealismus beeinflusste cinema novo
gegen Ende der 50er Jahre durch seine subversive Kritik an den sozialen Ungleichheiten
aufgefallen.2 Ein Beispiel aktuellerer Filmproduktion, welche das Leben der prekären
Schichten in der Favela aufgreift, ist der 2002 erschienene und international gefeierte Film
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Anm.: Neo-extraktivistische Nationalökonomien decken einen großen Teil ihrer Ausgaben (insbesondere die
Sozialausgaben) über die intensive Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie z.B. Erdöl, Gas und ähnlichem.
Nagib, Lúcia: The new Brazilian cinema. London: Tauris 2003.
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„City of God“ von Fernando Meirelles. Der Film spielt in der Favela Cidade de Deus und
schildert zunächst auf narrativer Ebene den Aufstieg und Fall verschiedener Jugendgangs.
Die Segregation des Raumes wird hier nicht durch die Kontrastierung mit der Darstellung
einer Außenwelt skizziert, sondern vollzieht sich in erster Linie durch das Verweilen im
Raum der Favela. Diese zeigt sich als eine vom Alltag der Gewalt geprägte Konklave,
unberührt und unbeeindruckt von der außerhalb liegenden Welt nationaler Judikative und
Exekutive. Im Gegensatz zu den meist inhärenten ideologisch-didaktischen Vorzugslesarten des politischen Films der 60er Jahre ist für „City of God“ kein klares politisch
-normatives Programm auszumachen.
Generell ist das Filmerlebnis aus Rezipientensicht zuallererst ein subjektiv individuelles
Erlebnis, welches Interpretationsrichtungen, unabhängig von den mehr oder weniger
intendierten Interpretationsanreizen des Films, offen lässt. Grundlegend gilt die Annahme,
dass „ein Film den Rezipienten mit Bedeutungen auf verschiedenen Ebenen konfrontiert
und so polysem (mehrdeutig) strukturiert ist.“ 3 Dies gilt für die ideologisch kolorierten Filme
des cinema novo und umso mehr für Filme wie „City of God“, welche durch ihre
postmoderne Machart eine grundlegende Interpretationsbedürftigkeit provozieren. Diese
Feststellung ist Ausgangspunkt und zugleich Herausforderung der Forschungsarbeit,
welcher sich dieser Artikel widmet. Als Segment einer Forschungsgruppe, die sich mit der
Fragestellung „Welche politischen Aspekte werden in fiktionalen Filmen von den
verschiedenen Rezipientengruppen wahrgenommen?“ beschäftigt, geht dieser Artikel im
Speziellen der Frage nach: „Welche politischen Lesarten zum Film „City Of God“ lassen
sich im Rahmen professioneller Filmkritiken finden?“. Für den Film- oder auch
Kulturkritiker gilt die obenstehende Grundannahme Winters in ähnlicher Form wie für den
durchschnittlichen Verbraucher, denn im Dunkel des Kinosaals ist auch der professionelle
Rezensent zunächst selbst Konsument mit höchst individuellen Ansprüchen, der
audiovisuellen Wirkungsmacht und einer vieldeutig strukturierten Fiktion gegenüberstehend. Von daher ist auch für die mediale Anschlusskommunikation ein weitgefächtertes
Spektrum an Deutungen und Sinnstiftungsangeboten zu erwarten.
Das spezielle Interesse der Forschungsfrage am Politischen der Filmkritiken macht eine
vorherige Klärung der zentralen Begrifflichkeiten notwendig. Unter dem Politischen wird im
3
Winter, Rainer: Filmsoziologie. Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft. München:
Quintessenz 1992, S.34.
2
Folgenden der „Antagonismus, der sozialen Verhältnissen inhärent ist“4 verstanden. Der
Antagonismus, welchen Chantal Mouffe in Anlehnung an Carl Schmitts Freund/Feind
Unterscheidung beschreibt, rekurriert auf die Vielzahl identitärer Unterschiede und
Interessenskonflikte zwischen Gruppen und Individuen. Dieser kann sich „in vielen
verschiedenen Ausformungen manifestieren“ und bildet den untilgbaren Kern jeder Politik,
welche man als Organisationsformation bezeichnen kann, die „aufgrund der Präsenz des
'Politischen' immer konfliktuell ist.“ 5 Der Konflikt, als omnipräsenter Modus des Politischen
und die Gewalt als ein intensiver Ausdruck des Antagonismus treten somit – vor allem im
Hinblick auf „City of God“ – als Indikatoren des Politischen in den Fokus. Hinweisfunktion
hat dafür nicht zuletzt ein Kommentar des Regisseurs selbst:
„Diese endlose Reihe, der in der Blüte ihres Lebens getöteten Jugendlichen und die
Geduld, mit der diese Gewalt von denen, die hier leben, ertragen wird, hat mich am
stärksten [...] fasziniert und bewegt. […] Die Verschwendung von Leben ist das Thema
des Films.“6
Auch wenn Fernando Meirelles mit diesem Kommentar dem Anschein nach ein
vordergründiges Interesse an physischen Formen der Gewalt artikuliert, ist es von Nöten
einen differenzierten Gewaltbegriff und seine Ausprägungen zu klären, um die von
Rezensenten möglicherweise weitläufiger reflektierten Formen der Gewalt hinreichend
beleuchten zu können. In Anlehnung an Johan Galtung liegt dann Gewalt vor, „wenn
Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung
geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ 7 Diese weite Definition von Gewalt
ermöglicht eine lückenlose Erfassung von politisch relevanten Textstellen und kann im
weiteren durch die von Galtung angebotenen Differenzierungen präzisiert werden, denn
Gewalt lässt sich weiter in Formen direkter und struktureller Gewalt unterscheiden. Direkte
Gewalt kann physischer oder psychischer Natur sein und ist maßgeblich dadurch
charakterisiert, dass das Gewalt ausübende Subjekt dem Opfer, durch seine unmittelbare
Anwesenheit im Akt der Gewalt, zumindest als Körper erkenntlich ist. Formen struktureller
Gewalt hingegen weisen kein direkt erkennbares Subjekt auf, sondern drücken sich durch
die „Beschädigung von Menschen an Leib und Leben, […] [als] Konsequenz bestimmter
4
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7
Mouffe, Chantal: Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft radikaler Politik. Wien: Turia + Kant 2005. S.51.
Ebda.
Aus dem offiziellen Werbematerial zum Film.
Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975.
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Verhältnisse bzw. Strukturen“8 aus. Die Sichtbarmachung von strukturbestimmenden
Subjekten einer systemischen Gewaltformation bedarf einer reflexiv investigativen Ebene,
welche die Prozesse einer sekundären, nicht direkt anwesenden, Täterschaft identifizieren
kann.
Im Fokus dieser durch Mouffe und Galtung theoretisch grundierten Kategorien des
Politischen steht ein Datenkorpus aus 19 Rezensionen überregionaler Tages-, Wochenund Filmzeitschriften sowie Onlinekritiken, der die Bandbreite an professionellen 9
Filmkritiken zu „City of God“ im bundesdeutschen Gebiet widerspiegelt. Mit dem
methodischen Inventar der qualitativen Inhaltsanalyse 10 konnte - im Anschluss an die
Theoriebildung und die Zusammenstellung des Datenkorpus - eine Operationalisierung
des Gewaltbegriffes vorgenommen werden. In mehreren Analyseschritten wurden die
relevanten Textstellen isoliert und kategorisiert, um im Anschluss einer reintigrierenden
Gesamtinterpretation der jeweiligen Rezension zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus
hat die Arbeit am Datenmaterial gezeigt, dass die Verhandlung der filmischen Authentizität
und Stilistik durchgängig ein wichtiges Anliegen der Autoren zu sein scheint. Die
politischen Stoßrichtungen der einzelnen Kritiken gelangen zum Teil erst durch die
intensive Auseinandersetzung mit der Dramaturgie, insbesondere in der Frage nach dem
dokumentarischen Charakter des Films, zu einem klaren politischen Statement. Um dem
Rechnung zu tragen, schloss sich dem ersten gewaltspezifischen Analyseschritt eine
induktiv konzeptionierte Isolierung der die Authentizität und Stilistik betreffenden
Textstellen an, welche somit ebenfalls für eine systematische Analyse fruchtbar gemacht
werden konnten.
In der Auswertung der Analyseergebnisse konnten zunächst einige allgemeinere Trends
festgestellt werden: Auf Ebene der Anzahl kategorial extrahierter Texteinheiten sowie der
reinen Anzahl der Wörter überwiegt die Besprechung interpersonaler Gewaltformen
gegenüber der Thematisierung struktureller Gewalt. Hierbei wurde ein Verhältnis von in
etwa zwei Dritteln zu einem Drittel festgestellt. Insbesondere die Kritikerinnen widmen
einen signifikant großen Anteil ihrer Texte der Diskussion direkter Gewalt. Beides mag als
8
9
Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975.
Anm.: Die Entscheidungskriterien bezüglich der Professionalität stützen sich zum Teil auf eine empirische
Untersuchung Patrick Rösslers. Quelle: Rössler, Patrick: Gefangen in der Informationsfalle? Filmkritiker zwischen
Servicefunktion und Meinungsbildung – eine empirische Untersuchung. In: Filmkritik. Bestandsaufnahmen und
Perspektiven. Hrsg. von Irmbert Schenk. Marburg: Schüren Presseverlag 1998, S.196 – 206.
10 Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. Auflage, Weinheim: Beltz 2010.
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Reaktion auch insofern nachvollziehbar sein, als dass der Film selbst die favela-internen
Gewaltexzesse dominant in den Fokus rückt. Rein quantitativ scheint sich dieses
Verhältnis zunächst auf Ebene der professionellen Filmrezeption zu spiegeln. Inhaltlich ist
damit jedoch noch nichts Wesentliches darüber gesagt, wie die einzelnen Autoren ihre
Einlassungen innerhalb der Texte gewichten und zu welchen Schlussfolgerungen sie
gelangen. Eine Aufbereitung wie diese kann innerhalb eines qualitativen Forschungsdesigns ohnehin nur Hinweis- und Überblickfunktionen erfüllen; aus dem interpretationsbedürftigen Kontext gerissen bleibt die Aussagekraft solcher Erkenntnisse zwangsläufig
stark begrenzt.
Als deutlich zielführender erweist sich auf inhaltlicher Ebene die Unterscheidung zwischen
jenen Rezensionen, die über die Erwähnung von Gewalt als Ausdruck der konflikthaften
Verhandlung im soziologischen Sinne tendenziell eher implizit politisch sind und solchen,
die zusätzlich noch explizit auf das institutionell bedingte politische Gefüge Brasiliens
eingehen. Für 17 der 19 Rezensionen konnte anhand von interpretativen Zusammenfassungen die Verhandlung von Gewalt als Ausdruck des antagonistischen Prinzips
nachgewiesen werden, während eine Bezugnahme auf das institutionalisierte Politgefüge
des Nationalstaats oder größerer Politkontexte (z.B. Institutionen der globalisierten Welt)
„nur“ in 11 Texten eine identifizierbare Rolle spielt. Gerade aber das Erkennen struktureller
Gewalt wirkt als Türöffner für Kritik an der institutionellen Ebene, hiermit beschreiten die
Autoren eine höhere reflexive Ebene des Politischen. Verweise dieser Art, und die sich
dadurch eröffnende, u.a. an die nationale Politik adressierte, Kritik, die das Ghetto der
„City of God“ als Symptom einer Ausschlussgesellschaft begreift, fallen je nach Text mehr
oder weniger explizit aus und erfolgen in verschiedenen Intensitätsstufen. Als Tatsubjekte
struktureller Gewalt werden - mehr oder minder vage - u.a. „die da draußen, vor den
Toren“, „das touristische Zuckerhut-Rio“, „das System“, „die größeren Fische im großen
Teich“, „die korrupte Polizei“, „die Behörden“ sowie ein desinteressierter Staat11 bestimmt.
Kritisiert werden anhand der filmischen Realitätsadaption Praktiken der sozialen Exklusion, unterlassene Hilfeleistung sowie ein Mangel an Interesse der wohlhabenderen
Gesellschaftskreise. Die Besprechung von Gewalt und ihren Ursachen erscheint in diesen
Fällen in einem transzendierenden Kontext, der sowohl über den Raum der realen als
auch den der Film-Favela hinausweist.
11 Anm.: Die Subjektbestimmungen in dieser Aufzählung stammen im Einzelnen und in dieser Reihenfolge aus den
Texten von Ulrich Behrens (1,2 und 3), Frank-Michael Helmke (4), Ulrich Kriest (5), Reinhard Kleber (6) sowie
Matthias Matussek (7).
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Nicht unerheblich für die Besprechung des Politischen und die abschließende Beurteilung
erwies sich, ob der jeweilige Autor oder die Autorin „City of God“ grundlegend als
authentisches Erzeugnis, angesiedelt zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, empfindet.
Dies kann insbesondere an den Texten von Anke Leweke (DIE ZEIT) und Ulrich Behrens
(filmstarts.de) illustriert werden: Während Behrens in weiten Teilen seiner Kritik ausführt,
wie gelungen der Film dem Betrachter einen „Spiegel der Welt“ vor Augen halte und ihm
damit einen fast dokumentarischen Charakter bescheinigt, zeigt sich Leweke enttäuscht
von Klischeehaftigkeit, Überstilisierung, Unsachlichkeit sowie einer Unterkomplexität bezüglich der Ursachendarstellung von Gewalt. Selbst in Anbetracht einer erkennbar ähnlich
gelagerten Erwartungshaltung an den Film gelangen die Autoren dennoch zu einer
diametral entgegengesetzten Beurteilung: Die gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen, deren mangelhafte Thematisierung durch den Film Leweke noch kritisiert, findet
Behrens durch den Film aufgegriffen. Wenn man „genau“ hinschaue, erkenne man sogar,
was der Film nicht explizit zeigt: Ein „bewusst inszenierte[s] System von Armut, sozialer
Deprivation und Isolation“, so Behrens. Hiermit sind für die Rezensenten, welche das
Gezeigte transzendieren, lediglich zwei entgegengesetzte Positionen skizziert. Zwischen
diesen Polen lassen sich neun weitere Kritiken einordnen.
Insgesamt bescheinigen immerhin 16 der vorliegenden Texte dem Film einen geglückten
Realitätsbezug, zum Teil jedoch völlig unabhängig davon, ob im Einzelfall über die
Herausstellung struktureller Gewalt explizit auf den größeren politischen Kontext abgestellt
wird. So verortet unter anderen Michael Althen (FAZ), der in „City of God“ vor allem die
realistische Darstellung einer „Welt ohne Mitleid“ sieht, die Gewalt ausschließlich in der
Filmfavela, interpretierbar ganz im Sinne der Herausstellung einer natürlichen Ordnung
und deren Gesetzmäßigkeiten: „Ungerührte[s] Schlachten“ treffe dort auf „ungetrübte
Lebenslust“ - in dieser Welt, in der ein Menschenleben kaum mehr wert sei als das eines
Huhns. Ebenso sieht Janis El-Bira (moviemaze.de) ein darwinistisches Prinzip innerhalb
der filmischen Favelagrenzen am Wirken, kalt und gnadenlos regiere das „Ich-oder-die“.
Allerdings sehe man einer Gesellschaft zu, aus der „eine erdrückende Armut“ bereits
vorab „jegliches Wertesystem herausgepresst“ habe, womit El-Bira im Gegensatz zu
Althen explizit den Raum struktureller Gewalt eröffnet und eine Adressierung an ein
politisches Herrschaftssystem12 impliziert.
12 Vgl. Webers Machtbegriff in Bezug zu Herrschaft bei: Inhetveen, Katharina: Macht. In: Handbuch Soziologie.
Hrsg. Von Nina Bauer, Hermann Korte, Martina Löw und Markus Schroer. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2008, S.254.
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Zwei weitere Beispiele, welche die heterogene Bandbreite der Kritiken exemplarisch
beleuchten können, sind die Texte der Autoren Matthias Matussek (Spiegel) und Ekkehard
Knörer (jump-cut.de). Matussek attestiert dem Film annähernd uneingeschränkt das
Prädikat authentisch. Bezugnehmend auf seine Erfahrungen als Auslandskorrespondent in
Brasilien, schätzt er die reale Situation in den Favelas als eventuell sogar noch
gewalttätiger ein. Trotzdem bescheinigt er „City of God“, was die Abbildung der Realität
angeht, gar Wissenschaftlichkeit, wenn er das Gezeigte als „wie von Darwin skizziert“
wahrnimmt. Die dargestellte Gewalt ist für ihn einer anthropologischen Studie nahe,
welche die Machtverhältnisse, sozusagen den Kern des Politischen zeigt. Knörer hingegen
verweigert sich jeglicher inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Film, zumal er bereits
seine Machart im umfassenden Sinne ablehnt: Zwar gebe „City of God“ vor von der
„bitteren Realität“ zu erzählen, insbesondere durch „Effekthascherei“ und das „Recycling
altbekannter Mythen“ verrate der Film jedoch sein dokumentarisches Aufklärungsversprechen. Im Gegensatz zum Rest des Datenkorpus konnte das Kategoriensystem
bezüglich der Formen der Gewalt hier nicht anschlagen, da Knörer eine inhaltliche
Besprechung kategorisch ablehnt. Nichtsdestotrotz lässt sich seine unversöhnliche
Haltung durchaus auf einer weiteren Ebene, im Sinne einer dem Film unterstellten
Realitätsvernebelung, als politisch deuten.
Auf verschiedenen Ebenen ist damit die Heterogenität der deutschen Filmrezeption zu
„City of God“ im Bezug auf das Politische exemplarisch dargestellt worden. Allgemein lässt
sich das Fazit ziehen, dass die filmsoziologische Grundannahme der Polysemie der
Filminhalte in den Ergebnissen Bestätigung findet und darüber hinaus keine einheitlichen
Vorzugslesarten im Sinne politischer Ideologiekonzepte identifiziert werden konnten.
Vielmehr konnte durch die systematische Erschließung und Auswertung des Materials
eine breitgefächerte Meinungspluralität festgestellt werden. Diese Vielfalt mag auch davon
herrühren, dass es sich bei der Filmkritik um kein homogenes Berufsfeld handelt, es
darüber hinaus weder eine verbindliche Regelgeleitetheit beim Verfassen noch einen fest
bestimmbaren sozialen Adressaten gibt. Naheliegend ist zusätzlich die Vermutung, dass
das Konfliktfeld „Favela“ dem deutschen Kritiker im politischen Sinne nicht direkt
zugänglich ist. Im Gegensatz zu einigen deutschen Filmproduktionen, die hierzulande
beständig geführte Diskurse aufgreifen (wie z.B. „Der Untergang“, „Der Baader Meinhof
Komplex“ oder „Das Leben der Anderen“), handelt es sich hierbei nicht um ein Feld, das in
der deutschen Medienlandschaft dominant thematisiert wird. Das Vorhandensein einer
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etablierten interkulturellen Brücke kann somit nicht ohne Weiteres unterstellt werden.
Diesbezüglich scheint auch die Frage nach einem Vergleich zwischen der deutschen und
der brasilianischen Filmkritik zu „City of God“ interessant oder allgemeiner gefasst: Die
Frage nach den Unterschieden im politischen Zugang zwischen nationaler und
internationaler Besprechung von Filmen. Das bestehende methodische Inventar der
vorgenommenen Studie könnte durch seine feste Regelgeleitetheit gerade in diesem
Bereich zur Anwendung kommen. Weiter wären auch methodisch äquivalente Studien zu
einer ganzen Reihe von Filmen des Genres („Ghetto-Film“) wie z.B. „Boyz n the Hood“,
„Menace II Society“, „Hass – La Haine“ oder „Training Day“ denkbar. Neben der möglichen
Untersuchung der Unterschiede im politischen Zugang auf nationaler und internationaler
Basis
eröffnete
die
Forschungsarbeit
auch
ansatzweise
auf
dem
Gebiet
der
genderspezifischen Rezeption von direkter Gewalt klärungsbedürftige Einsichten.
Abschließend lässt sich konstatieren, dass im Fall der deutschen Kritiken zu „City of God“
oft die Thematisierung der audiovisuellen Inszenierung im Vordergrund steht, während die
Erwähnung des gesamtpolitischen Zusammenhangs der Gewaltproblematik teilweise
hinter dem Genannten zurückbleibt. Auffällig bleibt jedoch, dass die Besprechung
struktureller Gewalt in der Regel als Türöffner für politische Statements und Zuweisungen
fungiert. Der diesbezüglich notwendige reflexive Rahmen wird allerdings nicht von jedem
Rezensenten eröffnet.
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