Gartentor sei unser Kapitän

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Gartentor sei unser Kapitän
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Samstag, 24. Juli 2010 —
Der kleine
Kultur
Gartentor
sei unser
Kapitän
«Die Stadt Bern in der Stadt Thun»:
Der Künstler Heinrich Gartentor macht
aus dem stillgelegten Thunerseeschiff
«Stadt Bern» ein Gesamtkunstwerk.
Thomas Allenbach
Nicht gerade einen Berg hat Heinrich
Gartentor versetzt, aber doch immerhin
die «Stadt Bern». Eine herkulische Leistung, auch wenn es sich dabei nicht um
die Bundesstadt handelt, sondern um
das Motorschiff, das auf deren Namen
getauft wurde, 1956, als es auf dem Thunersee den Betrieb aufnahm. 2004
wurde die «Stadt Bern» aus dem Verkehr
gezogen. Seither lag sie in der Werft der
BLS-Schifffahrt, «werterhaltend stillgelegt», wie das im Fachjargon heisst.
Die Aktion Wertsteigerung begann
am 5. Mai, an einem nasskalten Tag mit
tief hängenden Wolken über dem See,
aber zum Glück kaum Wind. Dieser
nämlich hätte das heikle Unternehmen
empfindlich stören können. Das Schiff,
das die BLS Gartentor für einen Sommer
zur freien künstlerischen Verfügung
überliess, musste von der Werft ins
­Aarebecken zur nicht mehr bedienten
Casino-Ländte am Aarequai geschleppt
werden. Für diese Aktion wurde einzig
das Bugruder der «Stadt Bern» funktionstüchtig gemacht. Als Schlepper
diente die kleine, aber kräftige «Niederhorn». Sie wurde mit der «Stadt Bern»
längsseits vertäut, «verheiratet», wie das
in der metaphernreichen Schifffahrtssprache heisst. Das enge Aarebecken
und der niedrige Wasserstand erforderten höchste Präzision der beiden Crews,
insgesamt 16 Männer.
Die Aktion wurde auf Videos festgehalten, die nun im Führerhaus des Schiffes
zu sehen sind. Stets wieder von neuem
beeindruckt, betrachtet Heinrich Gartentor die Dokumente. Er steht hinter dem
einen der beiden riesigen Steuerräder
der «Stadt Bern», das Glück des Hobbykapitäns leuchtet in seinen Augen und
auch ein bisschen der Stolz eines Menschen, der bewiesen hat, dass sich in der
Schweiz mit Kunst mehr bewegen lässt,
als man gemeinhin annimmt.
«Äs isch guet gange»
Zentimeterarbeit war von den Beteiligten gefragt, nie zuvor war ein Schiff auf
diese Art ins Aarebecken geschleppt
worden. Beim Anlegen wurde es knapp
– die Strömung. «Äs isch guet gange», ist
der lakonische Kommentar des verantwortlichen Kapitäns. Am meisten fasziniert Gartentor jener Moment, da die
Vertäuung zwischen den beiden Schiffen
draussen auf dem See gelöst wurde, weil
die «Niederhorn» die Seite wechseln
musste: «Ein Traum wurde wahr, als die
,Stadt Bern‘ frei auf dem See schwamm.»
Das Bild hat für ihn utopische Dimension: «Mein Wunsch wäre es, dass die
,Stadt Bern‘ in Zukunft als Ausstellungsoder Kulturschiff wieder den See befährt.» Gelingt dies, würde sich die Ge-
Heinrich Gartentor
Heinrich Gartentor, mit bürgerlichem Namen
Martin Lüthi, wurde 1965 in Bern geboren,
wuchs in Kehrsatz auf und lebt heute in
Horrenbach-Buchen. Mit seinen Aktionen und
Interventionen greift Gartentor immer wieder
in den Alltag ein. 2002 sorgte er mit seinem
«Raumschiff» für Aufsehen, einem Schiff,
das er an unerwarteten Orten im öffentlichen
Raum stranden liess. Zu einem Grosserfolg
wurde seine Ausstellung 2008 im Autofriedhof Kaufdorf. Von 2005 bis 2007 war er der
erste und bisher aktivste «Kulturminister»
der Schweiz. Er wurde u. a. mit dem Thuner
Kulturförderpreis (2000), dem AeschlimannCorti-Stipendium (2004) und dem Preis der
Kunstkommission der Stadt Bern (2007)
ausgezeichnet. (all)
schichte der «Blümlisalp» wiederholen:
Der Raddampfer wurde 1971 ausser Betrieb gesetzt und rostete im Kanderdelta
vor sich hin, bis er dank der Initiative
von Dampferfreunden gerettet wurde.
Heute ist die «Blümlisalp» das historische Prunkstück der Thunersee-Flotte.
Vorerst aber liegt die «Stadt Bern» an
der Casino-Ländte, gleich neben dem
Kunstmuseum Thun. Sie fährt zwar
nicht – wer sie betritt, macht dennoch
eine Reise. Eine zum Beispiel in die Geschichte der Schifffahrt auf dem Thunersee, die am 31. Juli vor 175 Jahren exakt
an dieser Anlegestelle – sie hiess damals
noch «Hofstetten» – begann. Auf dem
Oberdeck der 1. Klasse präsentiert Gartentor historisches Material: Schwarzweissfotos der Flotte, Pläne der einst geplanten Hafenanlagen in Thun, die zu
heftigen Auseinandersetzungen führten, Zeitungsartikel zu den politischen
Querelen, dazu alte Auftragsfilme aus
dem BLS-Bestand, die farbenfroh die
heile Seewelt mit Seglern und herausgeputzten Linienschiffen feiern.
Ja nicht zu viel Kunst
Ursprünglich wollte Gartentor auf dem
Schiff nur seine Kunst zeigen. Was er in
den Archiven fand, faszinierte ihn dann
aber derart, dass er sein Konzept revidierte. «Man kann auch zu viel Kunst
machen», sagt er und verweist dabei
auch auf den Schiffskörper, der unter
seinem Zugriff seinerseits zum Ausstellungsobjekt wurde und dessen Innenleben nun auch den Besuchern zugänglich
ist. Das historische Material (siehe auch
Artikel rechts) tat es Gartentor auch deshalb an, weil sich aus ihm eine alternative Thuner Entwicklungsgeschichte ablesen lässt: Was wäre, wenn in den
1920er-Jahren ein Dampfschiffhafen und
nicht der heutige Stichkanal und eine
Brücke zwischen Thunerhof und Bahnhof gebaut worden wäre? In den alten
Plänen entdeckte Gartentor quasi revolutionäre Lösungen für heutige Probleme der Stadt: «Thun hätte keine Verkehrsprobleme, wenn die Pläne von damals verwirklicht worden wären.» Derzeit arbeitet er an einer Fotoserie, die
zeigen soll, wie Thun heute aussehen
würde, wenn damals anders gebaut worden wäre.
Selbstverständlich lässt sich in der
Ausstellung auch in Nostalgie schwelgen. Schiffe sind dazu der perfekte Ort,
gleichen sie doch Zeitinseln: Während
sich die Welt der Mobilität rasant verändert, bleiben sie sich gleich. Sie fahren
nicht nur langsam, sie verändern sich
auch in ihrem Erscheinungsbild kaum –
ein Schiff ist ein Schiff ist ein Schiff. Die
Ausstellung ruft denn auch Erinnerungen bei den Besuchern wach. «Ein Besucher hat mir letzte Woche erzählt, wie er
bei einem Folkloreabend auf der ,Stadt
Bern‘ seine Zukünftige kennen lernte,
und eine Besucherin stellte sich mir als
erste Hostess auf dem Schiff vor», sagt
Gartentor. An diesem Donnerstag
kommt ein älterer Herr, der das Schiff
mit seinem Enkel besucht, auf ihn zu
und erzählt von bizarren Kämpfen zwischen der SBB und der BLS. Gartentor
möchte all die Geschichten, die ihm zugetragen werden, in irgendeiner Form
sammeln und so nachholen, was er bei
dem Projekt verpasste, mit dem er 2008
für Aufsehen gesorgt hatte: der Ausstellung auf dem Autofriedhof in Kaufdorf.
Vom Auto- zum Schiffsfriedhof
Bei der Suche nach einem neuen Projekt
stiess Gartentor auf den «Schiffsfried-
Der Künstler bestimmt den Kurs: Heinrich Gartentor im Steuerhaus der «Stadt Bern». Foto: Valérie Chételat
hof» der BLS und auf die «Stadt Bern»,
die dort einen stillen Tod starb. Dass er
der BLS das Schiff «abläschelen» konnte,
wie er sagt, verdankt er nicht nur dem
175-Jahre-Jubiläum der Schifffahrt auf
dem Thunersee, zu dem sein Projekt
perfekt passte, sondern auch dem Erfolg
seines Autofriedhofs, der über die Landesgrenzen hinaus besprochen wurde
und über 20 000 Besucher anzog. Ein
Stück des Autofriedhofs hat nun auch
auf der «Stadt Bern» Aufnahme gefunden: Auf dem Achterdeck hat Gartentor
einen Fiat Cinquecento aus Kaufdorf in
einem Bretterverschlag platziert. Aus
dem reichen Fundus seines Schaffens
gibt es auf dem Schiff vor allem Videos
zu sehen, darunter bereits bekannte wie
etwa «Anhand der EU-Gurkenvorschrift
zu erklären versucht, was gute Kunst ist»
(2009) oder der Dokumentarfilm, den
Leila Kühni über ihn als Schweizer «Kulturminister» (2005 bis 2007) gedreht
hat. Da sind aber auch neue Arbeiten,
die Gartentor «beim Rumklettern im
Schiff» realisiert hat, wie er sagt – oder
beim meditierenden Blick hinaus auf die
Aare. Dazu zählt etwa «Gewitter», ein Video, das auf den ersten Blick ganz unscheinbar wirkt. Erst beim Vergleich mit
der realen Aare merkt der ortsunkundige Besucher, dass der Fluss im Video
rückwärts fliesst.
Ein Indiz für den Retro-Aspekt von
Gartentors Arbeit? Vielmehr ein Hinweis
auf dessen verspielt-utopische Dimension – «Utopie und Alltag», der Titel der
aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum
Thun, würde auch zum Gesamtkunstwerk passen, zu dem er die «Stadt Bern»
gemacht hat. Wie konkret der als Aktionskünstler bekannt gewordene Gartentor mit seiner Kunst in den Alltag eingreift und den Lauf der Zeit zu beeinflussen sucht, zeigt etwa auch seine Aktion
für einen Neubau des Thuner Lachenstadions, die zum Politikum wurde. Statt
eines Stadions mit einem Einkaufszentrum als Mantelnutzung, wie es nun in
Thun-Süd gebaut wird (die Eröffnung ist
für Herbst 2011 geplant), schlug der bekennende FC-Thun-Fan ein Projekt am
bisherigen Standort mit Hotel, Wohnungen und Kongresszentrum vor. Er liess
seine Idee von Architekten ausarbeiten
und nutzte ein von der Kunstgesellschaft
Thun finanziertes Künstlerleporello, um
sein Projekt mit dem nicht eben bescheidenen Namen «Kolosseum» zu propagieren. Dies gefiel der verantwortlichen
Stadträtin Ursula Haller gar nicht, und
die folgenden Turbulenzen veranlassten
die Kunstgesellschaft, die Publikation
zurückzuziehen. Das Leporello findet
sich nun auf dem Schiff, ebenso die
grossformatige Fotografie von Gartentors Arbeitstisch aus der Zeit, als er an
seinem Stadionentwurf arbeitete. Seine
Arbeitstische dokumentiert Gartentor
regelmässig. Ein zweites Beispiel auf der
«Stadt Bern» stammt vom 10. September
2001, «einer Zeit, als die Welt noch in
Ordnung war», wie er sagt.
Heirat auf dem Schiff
«Eine Handvoll Kunst» gibts auf dem Vorderdeck zu sehen: Die vom Thuner Galeristen Wilfried von Gunten kuratierte
Ausstellung mit diesem Titel präsentiert
auf einer Stelenlandschaft aus Holz handgrosse Objekte, die Gartentor von befreundeten Künstlerinnen und Künstlern
zugeschickt worden sind, ein Video dokumentiert, wie er diese auspackt und
die Begleitbriefe liest. Wie schon beim
Autofriedhof hat Gartentor auch jetzt
wieder ein Quartettspiel produziert, dieses Mal eines mit 36 Schiffen, die seit 1835
auf dem Brienzer- und Thunersee verkehrten und verkehren – «Ich stamme
eben aus der Quartett-Generation», sagt
der Mann mit Jahrgang 1965. Im Quartett
finden sich auch die Angaben zur «Stadt
Bern»: Länge 50,1 Meter, Breite 10,5 Meter, Verdrängung 249,5 Tonnen, Fassungsvermögen 1000 Personen, Höchstgeschwindigkeit 27 Kilometer pro Stunde,
zwei Motoren mit je 395 Pferdestärken.
Selbstverständlich nutzt Gartentor
das Schiff auch als Arbeitsplatz – Leben,
Arbeit und Kunst fliessen in diesem Work
in Progress ineinander über. Sein Atelier
hat er im Salon eingerichtet, der noch im
Originalzustand erhalten ist und seiner
Ansicht nach eigentlich ein Fall für die
Denkmalpflege sein müsste. Ursprünglich wollte Gartentor während dieses
Sommers mit seiner Familie die schwimmende Installation auch bewohnen. Er
verzichtete dann aber darauf, die Infrastruktur auf dem Schiff ist zu rudimentär,
und mit den zwei kleinen Kindern wäre
das auch zu gefährlich gewesen. So pendelt er zwischen seinem Wohnort Horrenbach-Buchen im Thuner Hinterland
und der «Stadt Bern», mit der er in Zukunft weitere Stationen anlaufen möchte.
«Ich glaube nicht, dass man nach den Erfahrungen dieses Sommers das Schiff
noch verschrotten kann», sagt er. Und er
verspricht für nächstes Jahr ein ganz besonderes Gartentor-Happening: «Wenn
ich die ,Stadt Bern‘ auch nächsten Sommer bespielen kann, heirate ich hier
meine Lebenspartnerin.»
«Die Stadt Bern in der Stadt Thun»,
Casino-Ländte, Aarequai Thun, bis
17. Oktober. Öffnungszeiten Mittwoch bis
Sonntag 11 bis 19 Uhr. www.gartentor.ch
BLS-Jubiläumstag: Zum 175. Geburtstag
der Thunersee-Schifffahrt gibt es am
31. Juli Tickets für Fahrten auf Thunerund Brienzersee für Fr. 17.50.
Der kleine
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— Samstag, 24. Juli 2010
Der Cinquecento vom Autofriedhof Kaufdorf auf der «Stadt Bern». Foto: Valérie Chételat
Der «Kulturminister» Gartentor erklärt Kunst: Blick aufs Deck. Foto: Valérie Chételat
Die erste «Stadt Bern» in einer Aufnahme von 1940. Foto: Archiv BLS
175 Jahre Thunersee-Schifffahrt
Pioniergeist, verpasste Chancen und Konkurrenzdenken
Heinrich ­Gartentor zeichnet
die Geschichte der Schifffahrt auf dem Thuner- und
Brienzersee nach.
In Thun beherbergen die Gebrüder
Knechtenhofer ab den Zehnerjahren des
19. Jahrhunderts Gäste und betreiben
seit den Dreissigern die Pension Bellevue. In Interlaken hat der Tourismus
ebenfalls eingesetzt. Der Kanton Bern
plant, Interlaken von Thun aus mit einer
Strasse über die Schattseite, also über
Spiez zu erschliessen. Da besagtes Bellevue auf der Sonnseite liegt, müssen sich
die Knechtenhofers etwas einfallen lassen, um nicht vom Verkehr abgeschnitten zu sein. Sie rechnen dem Kanton vor,
dass man besser die Strasse der Sonnseite ausbauen würde, wo die Ruderund Segelschiffe anlegen. Der Aufwand
sei zwar viermal grösser, die Unterhaltskosten lägen aber bei nur 5 Prozent im
Vergleich zur Strasse an der Schattseite,
zudem sei der Weg über die Sonnseite
zwei Stunden kürzer. Die SchattseitenLobby setzt sich allerdings durch. Da die
Knechtenhofers um ihre Existenz bangen, bestellen sie 1834 ein Dampfschiff
in Paris und schicken Johann an den
Neuenburgersee, um das Dampfschiffsteuern zu erlernen.
Am 31. Juli 1835, dem vierten Jahrestag
der kantonalbernischen Verfassung, findet die Jungfernfahrt des Dampfschiffes
«Bellevue» statt, und 1836 nimmt dieses
den fahrplanmässigen Verkehr Thun–
Neuhaus auf. Es befördert im ersten Be-
triebsjahr gleich 24 657 Passagiere. Bereits 1839 gibt es Konkurrenz. Ein Gespann mit 26 Pferden trifft in Thun ein,
beladen mit dem Dampfschiff «Echo»
vom Genfersee. Die Reise von Vevey nach
Thun soll sehr abenteuerlich gewesen
sein. In Moudon wurde ein Torbogen der
Stadtbefestigung abgebrochen, und unter
dem Torbogen in Payerne musste die
Strasse vertieft werden. Dem für das
eiserne Dampfschiff vorgesehenen Mechaniker John Hook aus England fährt das
Fuhrwerk in Thun über die Fussspitze,
sodass Hook eine Stunde später der Fuss
abgenommen werden muss. Hook stirbt
keine zwei Wochen später an der Verletzung. Hotelier Matti, dem das Hotel
«Giessbach» am Brienzersee gehört, setzt
sein Schiff unter dem Namen «Giessbach»
auf dem Brienzersee ein. Die Proteste
sind gewaltig, denn die Brienzer befürchten, ein Funkenwurf des Dampfers könnte
ihr Dorf in Brand setzen.
Sonderfall Interlaken
Es ist die Zeit, da man in der Schweiz
noch mit Pferd und Wagen und mit dem
Ruderboot unterwegs ist. Es gibt noch
keine Bahn. Von einer solchen spricht
man konkret ab 1842. Sie soll von Thun
nach Rubigen, von dort über die Aare
durchs Belpmoos, bei der Gürbemündung zurück auf die rechte Aareseite und
von dort zur Berner Nydeggbrücke führen. Hätte man die Stecke gebaut, wäre es
eine weitere Pioniertat gewesen, denn
die erste Bahn in der Schweiz verkehrt
erst elf Jahre später von Baden nach Zürich, die «Spanischbrötlibahn». 1859 fährt
erstmals eine Bahn von Bern nach Thun,
aber nicht durchs Belpmoos. Zwecks Errichtung eines neuen Dampfbootes wird
1842 die Vereinigte Dampfschifffahrts-Gesellschaft Thuner- und Brienzersee (VDG)
gegründet. Kaum zwei Monate später
sind alle Aktien verkauft. Ein Jahr später
kauft die VDG die «Niesen» (im Einsatz
bis 1899), versetzt die «Bellevue» auf den
Brienzersee, wo sie unter dem Namen
«Faulhorn» verkehrt. Matti seinerseits
macht es umgekehrt, er lässt sein Schiff
auf den Thunersee verfrachten und verkauft es kurze Zeit später der VDG. Diese
setzt sich auch zum Ziel, die Schwelle in
Unterseen, welche die Schifffahrt der beiden Seen unterbricht, mit einer Schifffahrtsschleuse zu modifizieren und die
Zollbrücke in Interlaken-Ost durch eine
Zug- oder Schiebebrücke zu ersetzen, sodass die Dampfschiffe beide Seen befahren können. Das hätte unter anderem das
Oberländer Holz und die Goldswiler Platten, mit welchen die Berner Lauben belegt wurden, wesentlich verbilligt. Das
Projekt wird aus technischen und finanziellen Gründen nicht in Angriff genommen.
Die Bödeli-Bahn, welche ab 1874 von
Därligen nach Bönigen fährt, unterbindet
das Ansinnen für immer und ewig, indem
man in Interlaken die Aare zweimal quert.
So kann sie auf dem Bödeli das Transportmonopol behalten. Die Bödeli-Bahn betreibt zusätzlich zwei Trajektschiffe
(Eisenbahnfähren), welche vier bis fünf
Güterwagen von Thun nach Därligen
transportieren können und den Güterverkehr der Dampfschiff-Gesellschaft konkurrenzieren. Die Dampfschifffahrts-Gesellschaft ihrerseits erwirbt 1888 ein grös-
seres Aktienpaket der Brünigbahn mit der
Auflage, diese dürfe bis 1900 die Strecke
Brienz–Interlaken nicht bauen. Sie wird
denn auch erst 1916 in Betrieb genommen. Trotz neuer Bahn, trotz neuer Strassen überstieg 1906, 70 Jahre nach Einführung, die Dampfschifffahrt passagiermässig die Millionengrenze: Es werden
1 115 628 Gäste befördert. Im Jahre 1918
sind es noch deren 159 698.
Teurer Schiffspark
1893 machte die neu eröffnete Thunerseebahn die Trajektschiffe überflüssig. Ein
Jahr vorher wurde der 2,75 km lange Kanal vom Thunersee nach Interlaken eröffnet, ein geplanter Durchmesserkanal in
den Brienzersee ist durch den Aufschwung und die dichte Bebauung Interlakens inzwischen unmöglich geworden.
Dieser ungünstige Zustand wird 1918 in
einem Brief der BLS (die VDG hat inzwischen mit der Thunerseebahn fusioniert,
diese wiederum mit der BLS) an den Regierungsrat wie folgt beschrieben: «Unser
Schiffspark muss im Verhältnis zu den
Fahrleistungen erheblich grösser sein, als
auf den anderen Schweizerseen, solches
deswegen, weil wir die nötige Schiffsreserve doppelt (statt einfach) führen müssen» – und zwei Werften betrieben werden müssen. Dieser Umstand ist auch
heute die Hypothek schlechthin.
1921 schreibt der Regierungsrat des
Kantons Bern der BLS, dass die grossen
Ausgabenüberschüsse der Schifffahrt in
den Wintermonaten nicht mehr verantwortet werden können. Die BLS antwortet, sie könnte auf dem Brienzersee ein
Schiff entbehren und würde ohne weite-
res dem Verkauf zustimmen. Es müsste
aber die «Lötschberg» sein, die man 1914
gekauft und nach neun Betriebstagen wegen Kriegsausbruch für Jahre stilllegen
musste. Der Regierungsrat verzichtet.
Aufschwung nach dem Krieg
Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg
reichen die auf dem Thunersee erzielten
Gewinne knapp, die auf dem Brienzersee
eingefahrenen Verluste auszugleichen.
Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ist
geprägt durch die Flottenerneuerung.
Die Dampfer besitzen alte, den Vorschriften der Aufsichtsbehörde nicht mehr genügende Schiffsschalen, Kessel- und Maschinenanlagen, zudem sind dieselbetriebene Schiffe betriebswirtschaftlich
den Dampfern überlegen. Man überlegt
sich, den Schifffahrtsbetrieb auf dem
Brienzersee wegen der dauernden Defizite einzustellen, entscheidet sich aber
wegen der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus im industriearmen
Brienzerseegebiet, die Schifffahrt aufrechtzuerhalten. Die Passagierzahlen
nehmen stetig zu. Bisheriger Höhepunkt
ist 1989 mit 1,77 Mio. Fahrgästen.
Seit 1835 haben 17 Dampf- und 20 Motorschiffe Thuner- und Brienzersee befahren. Zwei Dampfer («Lötschberg»
und «Blümlisalp») und elf Motorschiffe
verkehren noch heute, eines dient als
Werkschiff («Niesen»), zwei sind stillgelegt (der zum Motorschiff umgebaute
Dampfer «Spiez» und die «Stadt Bern»),
und eines liegt seit 1864 vor Oberhofen
auf Grund: die «Bellevue», mit der alles
angefangen hat.
Heinrich Gartentor