Lesekompetenz – Nachdenken nach PISA und IGLU Von Erika

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Lesekompetenz – Nachdenken nach PISA und IGLU Von Erika
Lesekompetenz – Nachdenken nach PISA und IGLU
Von Erika Altenburg
„Die Prinzessin stürzte ins Zimmer...“ stand im Text. Die Kinder einer fünften Klasse – Gymnasium setzen diese Aussage in Spielhandlung um, indem sich das entsprechende Kind auf die Erde warf. Auf
Nachfrage, was denn „ins Zimmer stürzen“ bedeute, kam die Antwort: „Stürzen ist hinfallen, ist doch
klar!“. Nicht ein einziges Kind dieser fünften Klasse kannte die Bedeutung von „ins Zimmer stürzen“.
„Der Kommissar glich einem Bären“ stand im Text. – Was meinten die Kinder einer fünften Klasse –
Hauptschule-? „Der Kommissar sieht einen Bären“. Auf Nachfrage wurde deutlich, dass die starke
Verbform „glich“ nicht zum sprachlichen Repertoire dieser Kinder gehörte.
Klasse zehn Realschule: “Was heißt ‚gedämpft’? In einem Text war von „gedämpften Farben“ die Rede.
In einer zweiten Grundschulklasse sollten die Kinder das folgende Gedicht still lesen und dazu malen:
„Das Trampolin stammt aus Berlin/ und ist nur mit Schwung zu betreten./ Man tritt darauf/ und hört nicht
auf;/ es sein denn,/ man wird drum gebeten.“
Ein Kind malte hohe Häuser (Berlin) und ein Trampolin. Darunter eine kniende Kinderfigur mit der
Unterschrift „beten“.
Was haben diese Beispiele aus dem Unterricht mit den Ergebnissen von PISA und IGLU zu tun?
Dieser - und anderen - Fragen möchte ich gemeinsam mit Ihnen nachgehen.
Dazu die folgende Übersicht:
Was sollten und wollten PISA und IGLU?
Worüber sollen und wollen wir nachdenken?
1.
2.
3.
4.
5.
Über unseren Lesebegriff, denn „Lesen ist Verstehen“ (PISA u. IGLU).
Über die Konsequenzen aus dem Lesebegriff von PISA und IGLU.
Über die Unterscheidung von selbstständigem Lesen und Lesevortrag.
Über die Schwierigkeiten, die Kinder beim Verstehen von Texten haben.
Über die Möglichkeiten, die Leseforschung und Textlinguistik bieten,
um das Verstehen von Texten anzuleiten und zu trainieren.
6. Über die Möglichkeiten zur Diagnose von Lesefähigkeiten.
7. Über die Bewertung von Lesefähigkeit.
8. Über die Verbindung von Lesemotivation und Förderung bzw.Training von
Texterschließungsfähigkeiten.
Was sollten und wollten PISA und IGLU?
In Rahmen der PISA –Studie wurde die Lesekompetenz von 15-jährigen Jugendlichen untersucht, bei
IGLU die Lesekompetenz von Kindern der vierten Jahrgangsstufe. Beide Untersuchungen sollten
Aufschluss geben über die Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich.
Der PISA-Studie lag die folgende Definition zu Grunde:
„Lesekompetenz (Reading Literacy) heißt, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu
reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am
gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“(OECD 2000, PISA 2000, S.80).
1
Es sollten Informationen ermittelt, es sollte textbezogen interpretiert sowie interpretiert und bewertet
werden (PISA 2000, S.89).
Wenn also jemand an einer Bushaltestelle steht und den Fahrplan liest,
- dabei herausfindet, dass der Bus in zehn Minuten kommt - dann wurde der Textverstanden, es
wurden Informationen über Abfahrtzeiten entnommen;
- dabei überlegt, dass die zehn Minuten reichen, um noch eine Zeitung zu kaufen und dieses auch tut,
dann wurde der Text genutzt; es wurde textbezogen interpretiert, weil erkannt wurde, welchen Sinn und
Zweck dieser Plan hat und welche Möglichkeiten er bietet (z.B. Wartezeiten zu berechnen!);
- dabei beschließt, demnächst einen Brief an die Verkehrsbetriebe zu schreiben und auf die
Unübersichtlichkeit und die kleine Schriftgröße des Planes hinzuweisen, dann wurde über den Text
reflektiert; er wurde interpretiert und bewertet, weil sich jemand eine Meinung gebildet hat.
Die hier beschriebene Person besitzt Lesekompetenz, denn sie hat den vorhandenen Text verstanden,
genutzt und bewertet, um eigene Ziele zu erreichen.
Der IGLU-Untersuchung lag die folgende Definition von Lesekompetenz zugrunde:
„Das Konzept von Lesekompetenz, an dem sich PISA und IGLU orientieren, stammt aus der
angelsächsischen literacy-Tradition, in der in pragmatischer Absicht grundlegende Kompetenzen
definiert werden, die in der Wissensgesellschaft bedeutsam sind. Mit reading literacy wird die Fähigkeit
bezeichnet, Lesen in unterschiedlichen, für die Lebensbewältigung praktisch bedeutsamen
Verwendungssituationen einsetzen zu können.“ (IGLU S. 73)
Wie man sieht, ist die Definition von Lesekompetenz bei PISA und IGLU identisch.
Wir sollten uns auch darüber klar werden, was im Rahmen von PISA und IGLU nicht überprüft wurde:
- das Vorlesen eines unbekannten Textes
- der handlungs- und produktionsorientierte Umgang mit einem Text
- das Sprechen über Texte
Geprüft wurde vielmehr in beiden Untersuchungen die Lesekompetenz, und zwar im Sinne eines
pragmatischen, funktionalen Lesebegriffs, wie er bei den zitierten Definitionen deutlich wird. Dass dieser
pragmatische Lesebegriff nicht identisch ist mit unseren Traditionen, darauf wird bei IGLU ausdrücklich
hingewiesen:
„Als funktionalistisches Konzept lässt sich literacy nicht gleichsetzen mit dem, was in deutscher Tradition
als (Allgemein-)Bildung verstanden wird, zumal der Begriff ‚Bildung’ mit seinen höchst unterschiedlich
gefassten normativen Ansprüchen auf die deutsche Sprache beschränkt ist.“(IGLU, S. 73)
In diesen unterschiedlichen Ansätzen bei der Betrachtung von Lesekompetenz liegen einige
Schwierigkeiten, die in unserem Bildungssystem im Zusammenhang mit den Reaktionen auf PISA und
IGLU deutlich werden.
Bei PISA und IGLU sollten Texte selbstständig still gelesen und im Anschluss hieran sollten Fragen
beantwortet werden (Multiple choice oder freie Fragen). Die Texte bei PISA waren überwiegend am
Alltagsleben orientiert (Zeitungstexte, Tabellen etc.), in unserem Sprachgebrauch also als Sachtexte zu
bezeichnen. Literarische Texte (fiktionale Texte) wurden in geringerem Maße eingesetzt. Bei IGLU
wurde je zur Hälfte mit literarischen und sachbezogenen Texten gearbeitet. Tabellen kamen hier nicht
zum Einsatz.
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Bei PISA wurden in jedem Bereich fünf Kompetenzstufen unterschieden (Tabelle 2.3: Beschreibung der
typischen Anforderungen pro Kompetenzstufe und Subskala, PISA 2000, S. 89), bei IGLU vier (IGLU S.
90/91). Die Einzelbereiche der Lesekompetenz –verstehen, nutzen, bewerten- werden sozusagen auf
unterschiedlichen Niveaustufen betrachtet. Die vier Kompetenzstufen von IGLU werden zu zwei globalen
zusammengefasst: auf Kompetenzstufe eins und zwei geht es vorrangig darum, Informationen, die direkt
aus dem Text zu entnehmen sind, zu verarbeiten. Auf den Kompetenzstufen drei und vier müssen
indirekt geäußerte Informationen aus dem Text erschlossen werden, es müssen innerhalb des Textes
Verweise verarbeitet und es muss vorhandenes Weltwissen in höherem Maße aktiviert werden wie auf
Stufe eins und zwei.
Ein Beispiel:
Erwachsenen wurde ein Text aus IGLU mit den vorgegebenen Fragen vorgelegt. In diesem Text wurde
von einem Indianer berichtet, der mit einem Weißen spazieren geht. Der Indianer sagt: „Hörst du das
Zirpen der Grillen?“ „Nein,“ sagt der Weiße und ergänzt sofort, dass Indianer ja ein besseres Gehör
hätten. Der Indianer sieht dies anders und lässt ein Geldstück fallen. Schon drehen sich einige Leute
um. Der Indianer:“ Das Geräusch des Geldstückes war kaum lauter als das der Grille.....“
Eine Frage zu diesem Text lautete: „Was war das leiseste Geräusch?“ Hier musste man also „kaum
lauter“ übersetzen in ‚leise’, man konnte diese Frage nicht direkt aus dem Text beantworten. Wir
befanden uns also auf Kompetenzstufe drei bis vier. Das Erstaunliche war, dass die erwachsenen
Lehrpersonen, die diesen Text und Test vorgelegt bekamen, als erste Reaktion meinten: „Die Frage
kann man gar nicht beantworten. Das steht nicht im Text!“ Vielleicht waren diese Erwachsenen schon zu
sehr daran gewöhnt, Texte zu interpretieren, über Texte und ihre Bedeutung zu sprechen und nicht erst
einmal genau hinzusehen und den Text zu erschließen.
Hier wird m.E. deutlich, dass wir nach den Ergebnissen von PISA und IGLU vielleicht andere Akzente
setzen müssen in unserem alltäglichen Unterricht, dass wir die Zielrichtung unserer Aufmerksamkeit im
Hinblick auf den Umgang mit Texten vielleicht unter neuen Vorzeichen reflektieren müssen.
Worüber sollen und wollen wir nachdenken?
Über das schlechte Abschneiden unserer Jugendlichen bei PISA sind wir alle informiert. Die Ergebnisse
von IGLU sind freundlicher, dennoch bleibt einiges zu tun. Denn: 10% der untersuchten Kinder werden
auf Grund ihrer mangelnden Lesefähigkeit nicht in der Lage sein, dem Unterricht in der Sekundarstufe I
zu folgen (IGLU S. 118).
Ich meine, wir sollten uns darauf konzentrieren, dass unsere Kinder und Jugendlichen ihre
Texterschließungsfähigkeiten erweitern und trainieren, das sie einen Zuwachs an Können bekommen
und gleichzeitig eine höhere Motivation für den selbstständigen Umgang mit Büchern.
In diesem Zusammenhang gibt es einige Punkte, über die wir gründlich nachdenken sollten. Nach dem
Nachdenken sollten wir dann entscheidende Konsequenzen ziehen für unseren Unterricht.
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1.
Wir sollten nachdenken über unseren Lesebegriff, denn „Lesen ist Verstehen“
Lesen ist Verstehen, was denn sonst? In den zu Beginn zitierten Definitionen von PISA und IGLU wird
dies deutlich.
So selbstverständlich wie dies scheint, ist das Verständnis des Begriffs „Lesen“ im Schulbereich
keineswegs. Wir sehen oft den Ausdruck „sinnentnehmendes Lesen“, der nach den Definitionen von
PISA und IGLU (und dem aktuellen Stand von Leseforschung und Textlinguistik) eine Tautologie
darstellt (wie: „ein weißer Schimmel“).
Hierzu unser linguistischer „Altvater“ Glinz:
„.......sinnfassendes Lesen, wie es oft genannt wird (als ob es auch ein anderes Lesen geben
könnte!).........“ (Glinz 1977, S. 180)
Und –noch früher- Kurt Singer:
„Lesen heißt Sinn-Erfassung“ (Singer 1969, S. 29)
Und hier einige „populäre“, „tradierte“ Schul-Irrtümer:
„Lesen ist etwas anderes als Verstehen. Erst kommt das Lesen, dann das sinnverstehende oder
sinnentnehmende Lesen.“
„Erst kommt die Technik des Lesens, dann die Sinnentnahme.“
„Die Sinnentnahme kommt erst nach dem Leselehrgang in Klasse 1....nach Klasse 2 .......nach Klasse
4!“
Auch eine Artikelüberschrift wie „Gelesen heißt noch nicht verstanden“ und ein Zeugniszitat „Lesen: gut;
Sinnentnahme: keine“ machen deutlich, dass Defizite im Verständnis des Lesebegriffs vorliegen.
Dass es bei Lehrkräften Personen mit einem unzureichenden bzw. einen anderen als dem der PISAStudie zugrunde liegenden Lesebegriff geben kann, könnte aus folgendem Zitat geschlossen werden:
„Als deutlicher Befund zeigt sich hierbei, dass die meisten der schwachen Leserinnen und Leser von den
Lehrkräften unerkannt bleiben.“ (PISA S. 119). Von der Gruppe der besonders schwachen Leserinnen
und Leser wurden nur 11,4% von ihren Lehrpersonen erkannt (PISA S. 119), es blieben also 88,6% der
ganz schwachen Leserinnen und Leser (unter Kompetenzstufe 1) unauffällig. Das heißt, dass kaum
jemand bemerkt hat, dass diese Jugendlichen so gut wie gar nichts aus einem Text entnommen haben.
Vielleicht wurde flüssiges „Lesen“ –d.h. eventuell nur Artikulieren- als Lesen interpretiert.
Noch einmal PISA:
„Lesen ist ein höchst komplexer Vorgang der Bedeutungsentnahme, der aus mehreren Teilprozessen
besteht. Auf der untersten Ebene besteht Lesen aus dem Erkennen von Buchstaben und Wörtern sowie
aus der Erfassung von Wortbedeutung“ (PISA, S. 71).
Unter Lesen wird in unseren Schulen laut PISA oft die einfache Entschlüsselung oder das laute Lesen,
das Artikulieren von Text, verstanden. Deshalb wurde für die PISA-Untersuchung der Begriff
„Lesekompetenz“ gewählt. Ein Schlichtbegriff von Lesen (Lesen gleich lautes Lesen) wird häufig zum
Entstehen von Analphabetismus in Beziehung gesetzt.
Es ist also nicht legitim, den technischen Vorgang (Buchstaben in Laute übersetzen und zu Wörtern
verschleifen) von der Bedeutungsbeilegung zu trennen! Dies gilt auch für das Erstlesen, das LesenLernen in Klasse eins! Und selbstverständlich für das sog. „Weiterführende Lesen“ in den Klasse 2-10.
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Ohne Bedeutungsentnahme, ohne Sinnentnahme kann also nicht von „Lesen“ gesprochen werden, denn
Lesen ist Verstehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Aspekte in das Blickfeld rücken, die Goodman 1973
thematisiert hat.
Goodman benutzt die Begriffe „rekodieren“ für den technischen Aspekt und „dekodieren“ für die
Bedeutungs- oder Sinnentnahme. Das Rekodieren ist dem Dekodieren untergeordnet, es stellt
sozusagen eine Unterfunktion dar. Entscheidend ist das Dekodieren.
Hierzu einige Zitate:
Die Lesedefinition von Goodman:
„Nichts weniger als das Dekodieren von großen Spracheinheiten bedeutet Lesen. Sogar auf dem
untersten Tüchtigkeitsniveau muß das Kind in der Lage sein, die Bedeutung zu erlangen.“ (Goodman, S.
143) Wir erfassen Texte nicht Wort für Wort, sondern in größeren Sinneinheiten.
Goodman weiter:
„Viele Lehrer stellen fest, daß Leseanfänger tatsächlich keinen Fortschritt im Lesenlernen machen
können, bevor sie nicht das Konzept verstanden haben, daß das, was sie lesen, sinnvoll ist, d.h. daß es
dekodiert werden kann. Voreingenommenheit beim Unterrichten von Kindern im Rekodieren kann
tatsächlich den Leseprozeß kurzschließen und die Kinder vom Verständnis ablenken.“
Als Illustration seine weitere Beschreibung:
„Es ist sogar möglich, daß Kinder ein höheres Tüchtigkeitsniveau im Rekodieren erreichen werden,
indem sie tatsächlich den graphischen Input benutzen und indem sie ihn als sehr natürlich klingendes
Sprechen umformen, mit wenig oder gar keinem Bewußtsein eines Bedürfnisses zum Dekodieren von
Bedeutungen. Es gibt sogar solche Leser in den Sekundarschulen. Ihr orales Lesen klingt so, als ob sie
dieses verstünden, aber sie sind in Wirklichkeit nur sehr tüchtige Rekodierer.
Alle guten Erwachsenenleser können natürlich Passagen aus der Fachliteratur, die sie nicht verstehen,
als orale Sprache rekodieren.“ (Goodman 1973, S. 145; Hervorhebungen von mir)
Der Befund von Goodman findet seine Bestätigung in den Ergebnissen der PISA-Studie.
Und vermutlich auch in eigenen Erfahrungen, die Sie persönlich gemacht haben wie auch bei der
Beobachtung von einzelnen Kindern.
Wir alle wissen –vielleicht aus eigener schulischer Erfahrung in einer Fremdsprache-, dass man einen
Text flüssig und korrekt artikulierend vortragen kann, ohne hinterher den Inhalt wiedergeben zu können.
Das gleichzeitige Sinnentnehmen und Artikulieren von unbekanntem Text (Vor-„Lesen“) ist für einige
Kinder und Jugendliche leistbar, für die Mehrheit stellt dies jedoch eine unnötige Überforderung dar. Es
gibt nicht deutschsprachige Kinder und Jugendliche, deren Text-Vortrag, deren lautes Lesen unauffällig
bleibt, die aber so gut wie nichts verstehen.
Artikulation ohne Sinnverständnis wird im englischen Sprachraum als „barking at prints“ („Bellen zu
Gedrucktem“) bezeichnet! Kindern dies zuzumuten, stellt einen Kunstfehler dar (vgl. Goodman 73,
Altenburg 98). Andere, die zuhören, könnten über das Hören zum Verstehen gelangen. Die Person, die
vor-“gelesen“ hat, bleibt allerdings unwissend. Menschen, die rekodieren können und nicht dekodieren,
werden auch als strukturelle Analphabeten bezeichnet.
In Gesprächen und Diskussionen in Schulen und bei Fortbildungsveranstaltungen wird deutlich, dass es
offensichtlich eine schulische Tradition gibt -und zwar in allen Schulstufen und -formen! - , die beim
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Lesen den technischen Vorgang (das sog. Rekodieren) bereits als „Lesen“ ansieht. Hinzu kommt, dass
Texte, die in unterschiedlichen Fächern thematisiert werden sollen (Schulbuchtexte etc.), häufig laut
vorgetragen werden, da die illusionistische Vorstellung existiert, dass, wenn ein Kind einen Text
artikuliert, damit eine Kontrolle über die Sinnentnahme erfolgt sei. (Wobei die Zuhörenden in jedem Falle
ihr Hörverstehen aktivieren und nicht ihr Leseverstehen!)
2.
Wir sollten nachdenken über die Konsequenzen aus dem Lesebegriff von PISA und IGLU:
Selbstständiges stilles Lesen auch im schulischen Alltag in allen Fächern
Die methodische Konsequenz aus den - nicht gerade neuen - Erkenntnissen der Leseforschung besteht
also darin, das selbstständige Text-Verstehen im individuellen Tempo vom lauten Lesen, vom Vorlesen,
dem Lese-Vortrag, zu trennen. Es kann nicht sinnvoll sein, einen unbekannten, neuen Text laut
vortragen zu lassen, da einige Kinder und auch Jugendliche mit dem nahezu gleichzeitigen Sinnerfassen
und Artikulieren (wobei der „Kopf“ schneller ist als der „Mund“) überfordert sind und sich auf das
Artikulieren konzentrieren und wenig bis gar nichts vom Inhalt erfassen.
Die schulische „Tradition“, eine Schülerin oder einen Schüler einen neuen Text vorlesen zu lassen,
wurde offenbar schon vor fast 50 Jahren (und vermutlich bereits vorher) kritisiert: „Gute Schüler lesen
vor, die anderen lesen mit oder hören zu. Ob der ‚gute’ Vorleser den Sinn versteht, ist fragwürdig. Manch
‚blendender’ Leser hat nach dem Lesen keine Ahnung von dem, was er eben so ‚schön’ vorlas.“ (Kainz
1956, S. 163, zitiert nach Singer 69, S. 29).
„Das Kind ist überfordert...........Es kann sich nicht frei mit dem Sinnfinden befassen, weil es allein darauf
achtet, fehlerfrei zu lesen, vielleicht sogar Angst hat, beim Vorlesen zu versagen. Umgekehrt ist es
möglich, das sich das Kind so sehr dem Inhalt zuwendet, dass es ‚schlecht’ liest.“ (Singer 69, S. 29).
Das Argument, dass das stille selbstständige Lesen die einfachste und naheliegendste Form von
Individualisierung darstellt, wird auch bereits von Singer gesehen: “Die nur Mitlesenden gewinnen wenig
Aufbauendes: Sie werden in ihrer persönlichen Sinn-Entnahme von dem laut Lesenden gestört, weil
jedes Kind ein anderes Lesetempo besitzt“. (Singer 69, S. 29).
Um Texte verstehen zu können, muss das gesamte sprachliche und außersprachliche Wissen einer
Person, müssen alle sprachlichen und außersprachlichen Erfahrungen aktiviert werden. Dies ist ein
komplizierter kognitiver Prozess, der mit emotionalen Bewertungen verknüpft ist (s. Lesebegriff bei PISA
und IGLU). Diesen komplizierten Prozess kann man nur im eigenen Tempo bewältigen. Das Vorlesen
eines unbekannten Textes erfordert dagegen ein schnelles Verstehen mit einem nahezu gleichzeitigen
Sprechen/Artikulieren ohne die Möglichkeit, Denkpausen einzulegen und im Text vor- und
zurückzugehen.
„Daß jedes Kind in seinem persönlichen Tempo lesen und seine ihm eigene Arbeitsweise anwenden
kann, ist ein weiterer Vorzug des stillen Lesens. ................Manch schwacher Schüler war ursprünglich
nur ein langsamer Schüler.“ (Singer 69, S. 31).
Dass das stille Lesen noch weitere alltagstaugliche Vorteile hat, wird in dieser Aussage deutlich
:“Karstädter (1947) hat untersucht, welche Leseleistungen bei lautem und stillem Lesen erzielt werden.
Zunächst stellte er fest, dass das Lesetempo beim stillen Lesen erheblich schneller ist als beim lauten
Lesen.“ (Singer 69, S. 31). Hierzu Goodman: “Der stille Leser nimmt ganze graphische Phrasen in einem
Augenblick wahr, verarbeitet diese Information und schreitet weiter voran.“ (Goodman 73, S. 143).
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Kinder müssen sich für den Inhalt eines Textes interessieren, sie müssen Etwas erfahren können aus
einem Text: Singer hält dies für „....das Grunderlebnis des Lesens: Ich bin gescheiter geworden!“ (Singer
69, S.28).
Hier kommt auch die Motivationsspur zum Tragen, das Interesse an Büchern. Mit Büchern sind hier nicht
nur literarische Texte gemeint, denn dem Aspekt Sachtext bzw. Sachbuch kommt in diesem
Zusammenhang (und lebenspraktisch!) eine besondere Bedeutung zu.
Das, was bei PISA und IGLU getestet wurde, nämlich das selbstständige stille Lesen, das dem Lesen im
Alltag entspricht, muss auch in unseren Schulen praktiziert werden, und zwar in allen Schulformen und
in allen Klassenstufen. Dass dies keineswegs zur Alltagspraxis gehört, wird in Gesprächen mit
Lehrpersonen immer wieder bestätigt. Und findet sich bereits bei Singer: „Mit unglaublich
schulmeisterlicher Blickfeldeinengung wird weithin nicht beachtet, teilweise absichtlich übersehen, wie
die Menschen wirklich lesen: wie Millionen täglich ihre Zeitung lesen.......“ (Singer 69, S. 30).
Im Mathematikunterricht werden oft Textaufgaben vorgelesen und erklärt. In der Situation
„Klassenarbeit“ sind die Kinder dann auf sich alleine gestellt, müssen selbstständig still lesen und haben
dies vorab nicht trainiert.
Ähnlich verhält es sich mit Arbeitsanweisungen: diese werden mündlich oder schriftlich gegeben. Wenn
sie schriftlich gegeben werden, sollten die Kinder sie auch selbstständig rezipieren. Auch hier gehört es
zu einer unreflektierten Unterrichtspraxis, die Arbeitsaufgaben vorlesen zu lassen, damit sie von allen
verstanden werden.
Eine Hilfe für das Sinn-Entnehmen, für die Entschlüsselung von Sinn-Abschnitten stellt die
Strukturierung von Texten nach Sinnschritten dar (die sogenannten Vertikale Segmentierung, wenn dies
in der Senkrechten geschieht). Diese Form des „Flattersatzes“ findet sich oft in Kinderbüchern (für
ganze Lesereihen praktiziert) und Kurztexten für Kinder.
Goodman hat ein Lesestufenmodell entwickelt, das als dritte Stufe, sozusagen als „Kür“, die Fähigkeit
beschreibt, einen unbekannten Text vorzutragen, d.h. Sinn zu erfassen, und zwar blitzschnell und daran
anschließend den Text zu vorzutragen. Dies leisten nur wenige Schülerinnen und Schüler und es
besteht auch kein Anlass, diese spezielle Fähigkeit zu trainieren. Vorrangig kommt es darauf an, das
Alltagshandeln in etlichen Schulen zu verändern, das heißt, das schulische Lesen dem normalen Lesen
im Alltag anzugleichen. Damit nicht an dem vorbeigeführt wird, was wir alle eigentlich erreichen wollen.
Kinder bzw. Jugendliche, die reihum laut lesen, und zwar im Einheitstempo, hat U.Hecker treffend als
„Lesekompanie“ bezeichnet (Hecker 1991). Lassen Sie uns aus unseren Kindern keine
„Lesekompanien“ machen!
Das Vorlesen bzw. laute „Lesen“ eines unbekannten Textes stellt für die meisten Kinder eine
Überforderung dar und ist als Übungsform kontraproduktiv.
3.
Wir sollten nachdenken über die Unterscheidung von selbstständigem Lesen
und Lesevortrag
Wir sollten im Zusammenhang mit allen schulischen Aktivitäten, die aus dem Umgang mit Texten
erwachsen, genau unterscheiden zwischen dem selbstständigen Lesen (geprüft bei PISA und IGLU),
dem „geistigen Zugriff, den jeder einzelne Schüler leisten soll“ (Singer 69, S. 28) und dem Vorlesen. Man
muss sich dabei über folgendes im klaren sein: „So richtig und unanfechtbar das Vorlesen sein mag: mit
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Lesen hat es nichts zu tun; was die Kinder leisten, ist Hören.“ (Singer 69, S. 28). Es geht also darum,
Leseverstehen und Hörverstehen zu unterscheiden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Bedeutung des Vorlesens für das Entstehen und Entfalten
von Lesemotivation ist unbestritten. So sollten Eltern (so sie können) und Lehrkräfte Rituale des
Büchervorstellens, des Vortragens von Texten entfalten.
Folgende Unterscheidung sollte zur Grundlage von unterrichtlichem Handeln werden:
Stilles selbstständiges Lesen –
Lesen für sich selbst, im Alltag, schulisch wie außerschulisch.
Vorlesen – einen Text vortragen für andere.
Wenn im Unterricht ein Text bearbeitet werden soll, wäre folgender Dreierschritt denkbar:
1.
2.
3.
Stilles Lesen jeden unbekannten Textes
Überprüfen des Textverstehens (z.B. durch Fragen, s. PISA und IGLU)
Lesevortrag - vorbereitet durch eine sinnvolle, textbezogene Aufgabenstellung.
1. Stilles Lesen
Das unterschiedliche Lesetempo, das manchmal als Einwand gegen das stille selbstständige Lesen
genannt wird, ist ein Argument dafür: s.o. Stichwort „Individualisierung“.
Eine Differenzierung für die schnell Lesenden ist einfach zu finden durch Zusatzaufgaben wie die
folgenden:
Zusatzaufgaben für schnell Lesende:
Wiederholtes Lesen, schriftliche Fragen zum Text formulieren;
Überschriften für Textabschnitte suchen;
Markieren von wichtigen Wörtern;
Überlegen, was die Kernaussage des ganzen Textes ist; eventuell überlegen,
für wen und warum dieser Text geschrieben wurde;
die eigene Meinung zum Text (Bewertung) aufschreiben ......etc.
Wenn alle Kinder denselben Text bekommen, sollte die Lesezeit an einem langsamen Kind orientiert
sein.
Differenzierung für langsam Lesende:
Die einfachste Form der Differenzierung ist die nach Menge:
Hier kann nur ein Teil des Textes gegeben werden (Anfang oder Ende oder....), der Rest wird in
Kurzform übermittelt (schriftlich oder mündlich, durch die Lehrperson oder ein anderes Kind). Eine
sinnvolle Hilfe kann auch das Markieren („Markern“) des „roten Fadens“ eines Textes darstellen. Dann
kann dieser Teil zuerst gelesen werden, der Rest steht jedoch ebenfalls zur Verfügung.
2. Überprüfung des Textverstehens
Die Überprüfung des Textverständnisses kann durch Fragen zum Text erfolgen (frei formulierte Fragen
oder multiple choice wie bei PISA und IGLU). Dabei kann im Laufe der Entwicklung auf die
verschiedenen Kompetenzstufen Bezug genommen werden: einfache Fragen, die direkt aus dem Text
zu beantworten sind und schwierigere, zu deren Beantwortung man im Text nachsehen bzw. mitdenken
und sein Alltagswissen einbeziehen muss.
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Das Fragen-Stellen zu einem vorher still gelesenen Text kann zu einer Art Klassenkultur bzw. Ritual in
Partnerarbeit entwickelt werden. Kinder, die fertig sind mit Lesen, finden sich zu Paaren zusammen und
stellen sich gegenseitig Fragen zum Text. Gibt es Anlass zu Diskussionen bzw. entsteht Klärungsbedarf,
ist die Lehrperson gefordert.
An dieser Stelle kommt dem Nachfragen nach nicht verstandenen Wörtern eine besondere Bedeutung
zu. Es ist nicht jedes Wort für einen Text bzw. für das gesamte Verständnis gleich bedeutsam. Die
Kinder sollen jedoch lernen zu fragen, sie sollen sich über ihre Verstehensschwierigkeiten klar werden,
letztendlich sollen sie ihren eigenen Verstehensprozess reflektieren.
Eine Kollegin, die diese Fragekultur in ihrer Klasse mit einem hohem Anteil von nicht Deutsch
sprachigen Kindern eingeführt hat, berichtet von einer außerordentlich positiven Entwicklung:
die deutschsprachigen Kinder haben oft Gelegenheit, einen Ausdruck zu erklären, stellen andererseits
fest, dass sie zahlreiche Begriffe auch nicht genau kennen. Die nicht deutschsprachigen Kinder lernen
nachzufragen und erweitern kontinuierlich –gemeinsam mit allen anderen Kindern- ihr sprachliches
Repertoire. (Hierzu s. auch 4.)
Nicht nur als Reaktion auf PISA und IGLU erscheint sinnvoll, eine Fragekultur zu entwickeln, das
Fragenstellen in Partnerarbeit zum „Alltags-Ritual“ zu machen.
3. Lesevortrag
Eine textadäquate Aufgabenstellung für den Lesevortrag zu finden, gelingt sicherlich besser, wenn der
Text bereits bekannt ist. Wenn die Kinder sich also darin üben, einen Text so vorzutragen, dass alle
Zuhörenden davon einen Gewinn haben bzw. gerne zuhören, gilt es, Aufgabenstellungen zu formulieren,
die auf den vorliegenden speziellen Text zugeschnitten sind. Dabei gilt es, Zeichen (Satzzeichen) als
Anweisungen zu realisieren und dies durch die passende Stimmmodulation deutlich zu machen.
Die hiermit verbundene Schulung von Präsentationsfähigkeiten ist sicherlich für das schulische wie
außerschulische Leben außerordentlich nützlich.
4.
Wir sollten nachdenken über die Schwierigkeiten, die Kinder beim Verstehen von Texten
haben
Kinder verstehen viele Wörter und Satzmuster nicht.
Oder es fehlt ihnen der lebenspraktische Hintergrund, um an eigene Erfahrungen anknüpfen zu können
und die verwendeten Begriffe mit Bedeutung verbinden zu können.
Welche Schwierigkeiten haben Kinder? Wo werden diese offenbar? Merken wir, was Kinder nicht
verstehen?
Einige Beispiele kennen Sie bereits vom Anfang. Bei dem Beispiel mit dem Kommissar (der einem
Bären glich) wurde nachgefragt, ob die Kinder schon einmal gehört hätten „die gleicht ihrer Mutter“, „der
gleicht seinem Vater aber gar nicht“ (sic!), „der gleicht seinem Bruder“ etc. Nachdem diese Formen
genannt worden waren, war die Bedeutung klar. Unbekannt war die starke Verbform des Präteritum. Im
Alltagsleben benutzen wir zumeist das Perfekt (Ich bin in die Stadt gegangen und habe eingekauft.....).
Das Präteritum findet sich auf jeden Fall in Märchentexten (Rotkäppchen ging in den Wald...) und könnte
in diesem Zusammenhang gut thematisiert werden.
9
Beim Beispiel „Berliner Trampolin“ malte ein Kind für „gebeten“ ein knieendes Kind mit Händen in
Betstellung. Hier ergab sich eine der seltenen Gelegenheiten, einem Kind sozusagen „in den Kopf“ zu
sehen: es ist dem Kind gelungen, mit Hilfe des vorhandenen Wissens und der vorhandenen
Lebenserfahrung Sinn zu konstruieren (Konstruktivismus). Das Kind kennt ein Trampolin, es weiß, dass
jedes Kind gerne darauf springen möchte. Das Kind weiß, was Beten ist und wie dies stattfindet (im
katholischen Rheinland); es weiß, dass Beten auch damit zu tun haben kann, dass man sich etwas
inständig wünscht. In diesem Falle wünscht sich jemand, dass die Person, die auf dem Trampolin ist,
aufhört und den Platz freigibt.
Ein weiteres Beispiel aus einem Mathematikbuch für Klasse 5 Hauptschule. Dort fand sich folgende
Textaufgabe, die bearbeitet werden sollte:
Bei einem Lokalbesuch entdeckt ein Kind auf der Speisekarte mehrere Vorspeisen, Hauptgerichte,
Nachspeisen und schließt daraus auf zahlreiche Menues. Die Kinder dieser Klasse kannten keinen der
Begriffe und konnten die Aufgabe nicht verstehen und somit nicht bewältigen. Es fehlte ihnen der
lebenspraktische Erfahrungshintergrund. Erst als über das Beispiel von „Sonntagsessen“ (Suppe, Braten
mit Kartoffeln und Gemüse, Pudding) der sachliche Hintergrund geklärt war, wussten die Kinder auch,
was zu rechnen war.
Auch Satzkonstruktionen werden nicht immer erfasst: „Die Mutter reichte einen Bademantel herüber,
den die Kundin anprobieren wollte...“ So stand es in einer Lesebuchgeschichte für Klasse fünf. Das mit
den der Bademantel gemeint war, wurde von den Kindern nicht realisiert.
Bei vielen anderen Satzformen, die nicht in ihrem aktiven sprachlichen Repertoire vorkommen, haben
Kinder und Jugendliche ebenfalls Schwierigkeiten, die der Lehrperson nicht unbedingt auffallen. Wenn
Texterschließungsfähigkeiten trainiert werden sollen, gehört die Reflexion des eigenen Textverstehens
im Hinblick auf die Rezeption unterschiedlicher Satzformen unbedingt dazu.
Wir Lehrpersonen müssen uns bewusst werden, welche unterschiedlichen Erfahrungen Kinder haben
und machen, welch unterschiedliches Wissen vorliegt, welche unterschiedlichen Kenntnisse vorhanden
sind und worauf man beim Erschließen bestimmter Texte zurückgreifen können muss. Ob und in
welchem Maße hier auch schichtenspezifische Prägungen zum Tragen kommen, müsste diskutiert
werden. In jedem Falle kann man nicht davon ausgehen, dass alle Kinder alle notwendigen
lebenspraktischen Hintergrundkenntnisse haben, um bestimmte Texte verstehen zu können.
Lernziel für Lehrpersonen:
Wir müssen sensibel werden für die Verstehensschwierigkeiten von Kindern.
Wir müssen vorab bedenken, wo Schwierigkeiten für das Verstehen eines Textes liegen könnten.
Lernziel für Kinder:
Kinder müssen lernen, sich ihre eigenen Verstehensschwierigkeiten bewusst zu machen und nach
unbekannten Wörtern zu fragen.
5.
Wir wollen nachdenken über die Möglichkeiten, die Leseforschung und Textlinguistik
bieten, um das Verstehen von Texten anzuleiten und zu trainieren
Leseforschung und Textlinguistik bieten uns etliche Möglichkeiten, Texterschließungsfähigkeiten gezielt
zu trainieren. Was in dieser Hinsicht im organisierten Unterricht erarbeitet und geübt wurde, kann dann
bei der selbstständigen Lektüre Anwendung finden. Denn nur wer Lesen kann, wer Texte versteht, liest
auch gerne.
10
5.1. Wörter klären: Worterklärungen aus dem Kontext gewinnen
Eine ganz wesentliche Fähigkeit für den selbstständigen Umgang mit Texten besteht darin, sich bewusst
zu machen, welche Begriffe nicht verstanden werden. Dabei ist nicht jedes Wort für einen Text bzw. in
einem Text gleich bedeutsam. Es ist also wichtig, zuerst einmal den Gesamtsinn eines Textes zu
erfassen, sozusagen „den roten Faden“, die Kernaussage bzw. Mitteilung. Hier gibt es eine Parallele zur
Fremdsprachendidaktik.
Kinder sollten darüber hinaus lernen, nach unverstandenen Begriffen zu fragen.
Auch dies bedeutet „Fragekultur“: im Falle der „gedämpften“ Farben (Beispiel vom Anfang) hätte situativ
geklärt werden können, welche Varianten von „gedämpft“ bekannt sind (gedämpfte Kartoffeln,
gedämpftes Licht), um auf Parallelen und/oder eine Übertragung von Bedeutung zu schließen. Dies ist
der Weg, das Bedeutungsspektrum eines Begriffes zu klären, indem die eigenen sprachlichen und
außersprachlichen Erfahrungen aktualisiert und reflektiert werden.
Worterklärung sind auch aus dem Kontext heraus möglich. Beispiel: „etepetete“, ein Begriff, der in einem
Text von Christine Nöstlinger vorkam und von keinem Kind einer vierten Grundschulklasse (alle
deutschsprachig) verstanden wurde. (Nöstlinger, Geschichten vom Franz, veröffentlicht: Altenburg 96) :
Franz beweist, dass er ein Junge ist, indem er die Hose fallen lässt. Eine Nachbarin sieht dies und liefert
ihn bei der Mutter ab mit den Worten „Den Saubärn lassen Sie nächstens drin!...“. Kommentar der
Mutter: „Nah ja, bei der Etepetete-Sippe ist diese Reaktion nicht verwunderlich...“ Da kein Kind das Wort
„etepetete“ je gehört hatte, haben wir im Textzusammenhang gesucht und herausgefunden, was die
Mutter wohl meint: besonders empfindlich etc. Dann wurde nachgeschlagen und im Lexikon stand
tatsächlich: besonders empfindlich, übersensibel etc. Dieser Weg der selbstständigen
Bedeutungserschließung kann im Unterricht erarbeitet und trainiert werden, um dann bei der
selbstständigen Lektüre Anwendung zu finden.
Kinder können lernen, selbstständig unbekannte Wörter aus dem Kontext zu erschließen.
5.2. Erkenntnisse der Leseforschung und ihre Umsetzung
Beim Lesen von Texten finden Antizipation und Hypothesenbildung statt. Dies passiert unbewusst und
sehr schnell. Nach Goodman stellt Lesen einen „hypothesentestenden Prozess“ dar. Das heißt, man
stellt Vermutungen an über den Fortgang eines Textes, formuliert sozusagen im Kopf die Hypothese,
überprüft, ob diese stimmen kann oder nicht. Dies passiert so lange, bis das Textverständnis erreicht ist.
Hierzu die Aussage von Goodman: „In der Tat ist Lesen eine schnelle Abfolge von Deutungen, ein
probierendes Informationsverarbeiten.“ (Goodman 76, S. 144)
Beim Einsatz des sog. Lesekrokodils wird dies deutlich: Es beginnt mit einem Buchstaben: Was kann
das für ein Wort werden? Alle Kinder einer Klasse haben hier eine Idee. Der nächste Buchstabe kommt,
die eigene Hypothese wird überprüft, bei mangelnder Stimmigkeit eventuell verworfen, es wird eine neue
Hypothese gebildet mit den beiden jetzt vorhandenen Buchstaben. Dann kommt wiederum der nächste
Buchstabe und so weiter. Dasselbe erfolgt dann auch mit der Abfolge von Wörtern, bis der gesamte Satz
bzw. die Äußerung erfasst wurde. In Partnerarbeit ist dies ein lohnendes Spiel zum Training der
Sinnerwartung.
Diese Form der Antizipation funktioniert natürlich auch mit Überschriften, Textabschnitten etc. und ist als
Antizipation von Textteilen zur Schaffung einer Leseaufgabe (stimmt die eigene Vermutung oder kommt
eine Überraschung?), zum Wecken von Interesse an einem Text, seit langem bekannt.
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Antizipation und Hypothesenbildung kann bewusst gemacht und zu Übungszwecken für Wörter wie für
Texte eingesetzt werden (Beispiel: Lesekrokodil).
5.3. Erkenntnisse der Textlinguistik und ihre Umsetzung
Mit Grammatik bezeichnet man das Regelsystem einer Sprache. Auch ein Text ist nach bestimmten
Regeln konstruiert. In einem kompakten Textmodell wird dargestellt, dass ein Text auf Verknüpfungen
basiert, und zwar im Hinblick auf syntaktische Merkmale (Verbindung von unbestimmtem und
bestimmtem Artikel, Nomen und Pronomen etc.), semantische Merkmale (Verknüpfen von Bedeutungen,
d.h. Abrufen von Vorstellungen und deren Festlegung im Kontext) und pragmatische Merkmale
(Verknüpfung von Textteilen). Hat man alle Verknüpfungs- und Vorstellungsleistungen erbracht, kann
man zur „Textkonsequenz“ kommen, d.h., man versteht den Gesamttext, man hat gemerkt, ob er zum
Lachen, Nachdenken etc. führen soll.
Aus diesem texttheoretischen Ansatz ergeben sich Möglichkeiten zur Förderung von
Texterschließungsfähigkeiten durch den Einsatz von Methoden zur Texterschließung.
Erkenntnisse der Textlinguistik können so für ein systematisches Training genutzt werden.
Beispielsweise die Erkenntnis, dass die Festlegung der Bedeutung von Wörtern im Textzusammenhang
erfolgt (Monosemierung im Kontext; Beispiel: sog. „Teekesselwörter“ wie Bank, Birne etc.). Die
diesbezügliche Umsetzung wurde bereits bei der Worterklärung aus dem Kontext vorgestellt (s. auch
Altenburg 1996).
Die Festlegung der Bedeutung durch den Kontext bzw. im Kontext ist auch die Grundlage für die
Texterschließungsmethode „Schlüsselbegriff“ (Altenburg 91), eine Texterschließungsmethode, die einen
zentralen Begriff eines Textes vorab in den Mittelpunkt rückt. Die Lehrperson nimmt einen zentralen
Begriff aus dem Text, die Kinder sammeln alle Bedeutungen, die ihnen einfallen (kleines Beispiel Klasse
2: sauer: Zitrone, Milch, ärgerlich sein...) und erhalten dann den Lese-Auftrag, herauszufinden, was
dieser Begriff im vorliegenden Text meint. In unserem Beispiel springt die Katze von der Mauer auf einen
Igel, leckt die Tatze und ist „sauer“.
Die Ergebnisse werden abgerufen und diskutiert. Auf diese Weise bekommt man Einblicke in das
sprachliche Repertoire von Kindern, man kann ihr Wissen um das jeweilige Bedeutungsspektrum
erweitern, man gewinnt eine Aufgabenstellung für das selbstständige stille Lesen, Kinder lernen zu
argumentieren.
Im Hinblick auf die Umsetzung textlinguistischer Erkenntnisse kann das Training im Bereich
Texterschließung in drei Gruppen zusammengefasst werden:
1 Das Verknüpfen von Textteilen wird trainiert
- bei einer Text-Rekonstruktion
(Texteile richtig zusammenfügen und dies begründen; es gibt nur eine richtige Lösung. Hier findet
„Sprache untersuchen“ statt)
- beim Erschließen eines Textes vom Ende her
Ein Text wird von rückwärts, vom Ende her Satz für Satz verbunden über Fragen und Antworten.
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2 Das Bewusstwerden und Nachdenken über Bedeutungen wird trainiert
- beim Klären des Bedeutungsspektrums eines Schlüsselbegriffes
Vor der Lektüre wird das sprachliche Repertoire aktiviert, es wird eine Leseaufgabe gewonnen. Bei der
Suche nach der speziellen Bedeutung im vorliegenden Kontext kann über Bedeutungen reflektiert
werden (Sprache untersuchen).
- beim Finden von Bedeutungen eines Begriffes aus dem Kontext
Alle im Text gegebenen Hinweise realisieren.
3 Das Realisieren aller Verstehensanweisungen im Text wird trainiert
- bei der Textergänzung
Ein im Text fehlendes, bedeutsames Wort muss im Text ergänzt werden.
- beim Malen zum Text
Das individuelle Textverständnis wird dokumentiert (s.“Trampolin“-Text).
Es werden eigene Schwerpunkte gesetzt.
- beim Umsetzen eines Textes in freies szenisches Spiel
Der Text wird in Szenen gegliedert und mit eigenen Formulierungen umgesetzt.
- beim Umsetzen eines Textes in Handlung
Spezialfall Arbeitsanweisungen:
Durch das richtige Handeln ist eine Überprüfung des Verstehens gegeben.
Lautes Vorlesen von Arbeitsanweisungen ist kontraproduktiv.
6.
Wir sollten nachdenken über Diagnosemöglichkeiten als Basis für Förderung
Das Kern-Ziel von Diagnose ist eine gezielte Förderung.
Alle Verfahren, die angewendet werden, ob Beobachtung oder standardisierte oder selbst erstellte Tests
bzw. Überprüfungen des Textverstehens sollten vorrangig der Förderung dienen und nicht einer
Leistungsfeststellung im Sinne von Notenfindung.
Der Beobachtung von Kindern kommt in unserem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Im
Rahmen eines Lerntagebuches oder eines pädagogischen Tagebuches können alle Auffälligkeiten
(positive wie auftretende Schwierigkeiten) festgehalten und einer Analyse zugänglich gemacht werden.
Wenn Kinder beispielsweise beim Anwenden von Texterschließungsverfahren beobachtet werden, so
können oft weitreichende Aufschlüsse über das Können gewonnen werden.
Beispiel: Textrekonstruktion. Beispiel: szenische Umsetzung „stürzen“.
Stellenwert von Tests
Mit Hilfe von Tests können fundierte Aussagen gewonnen werden über Individuen wie auch über
gesamte Lerngruppen. Aus diesem Grunde sollten Tests nicht von vornherein abgelehnt werden.
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Informelle Tests
Informelle Tests können von der Lehrperson selbst erstellt werden. Hier bieten sich Fragen zum Text an.
Anregungen/Vorgaben für eine Umsetzung finden sich bei PISA, vor allem in der Übersicht über die
Kompetenzen und ihre Stufung (S. 89). Diese Tabelle ist bestens geeignet, um im Team mit Kolleginnen
und Kollegen einen informellen Test auszuarbeiten, vielleicht auch für eine Paralleluntersuchung.
Die Aufgabenstellungen der IGLU-Untersuchung enthalten ebenfalls gute Hinweise bzw. Beispiele!
Standardisierte Tests :
Diese dienen der Gewinnung von Aussagen über die eigene Lerngruppe wie über Individuen.
Derzeit liegen nicht viele Tests vor. (Hamburger Lesetest 3. und 4. Klassen)
Es ist zu erwarten, dass demnächst eine Fülle von Tests auf den Markt kommen wird.
Meine Empfehlung: Die veröffentlichten Aufgaben von PISA und IGLU mit der eigenen Lerngruppe
bearbeiten und für sich auswerten.
7.
Wir sollten nachdenken über die Bewertung von Leseleistungen /Leskompetenz
Es ist nicht sinnvoll, ausschließlich den Lesevortrag zu bewerten. Nach den vorangegangenen
Erläuterungen ist offenkundig, dass eine schwerpunktmäßige Bewertung des Textverstehens notwendig
und sinnvoll ist (siehe PISA und IGLU!). Ich schlage vor: zwei Drittel Sinnentnahme/Verstehen, ein Drittel
bzw. nur ein kleiner Anteil Lesevortrag.
Man könnte in diesem Zusammenhang sicherlich Vieles sagen über eine „ungerechte Lesenote“. Denn
Kinder, die stockend vorlesen – dabei über den Inhalt nachdenken - werden oft negativ beurteilt. Kinder,
die zügig und unauffällig vortragen, verstehen eventuell extrem wenig und bekommen eine gute Note.
Die Zeugnisformulierung „das Kind liest flüssig“ lässt auf einen unzureichenden Lesebegriff schließen!
Unter diesem Aspekt könnte der Einsatz informeller wie standardisierter Tests zu einer notwendigen
Korrektur bzw. selbstkritischen Betrachtung des Eindrucks der Lehrperson führen.
8.
Wir sollten nachdenken über die Verbindung von Lesemotivation und die Förderung der
Texterschließungsfähigkeiten
Das „Training“ im Hinblick auf die Entfaltung von Lesekompetenz, das Üben im Bereich „Textverstehen“,
erfolgt im Unterricht vorzugsweise an kurzen Texten. Methoden der Texterschließung können auf
unterschiedliche Texte in allen Fächern angewendet werden. Über diese im Unterricht gezielt
eingesetzten Texte hinaus hat natürlich das Lesen von Büchern, vor allem in freien Lesezeiten, in
sogenannten „Schmökerstunden“, einen hohen Stellenwert.
Training und freies Lesen (silent reading, free reading) müssen und können sich ergänzen. Denn: nur
wer Lesen kann, wer aus Texten Etwas entnehmen kann, interessiert sich auch für den Umgang mit
Büchern.
Mir geht es in erster Linie darum, Texterschließungsfähigkeiten zu trainieren, das sprachliche Repertoire
zu erweitern durch Reflektieren über Sprache. Sprachförderung ist Leseförderung und Leseförderung
bedeutet Sprachforderung. Dies ist genuine Aufgabe des schulischen Unterrichts. Es gibt Bereiche, in
denen kann nur Schule etwas bieten und weniger das Elternhaus: Die Texterschließung zu trainieren in
Kombination mit der Reflexion über Sprache ist ein solcher Bereich, denn es geht um modernen
Grammatikunterricht- textbezogen.
Der selbstständige Umgang mit Büchern, die Hinführung zur Nutzung von Büchern als
Informationsquelle sowie eine generelle Förderung des Leseinteresses gehören ebenfalls zu den
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Aufgaben der Schule. Vor allem im Hinblick auf die Kinder, die keine positiven Vorgaben aus ihrem
Elternhaus mitbringen. In jeder Schule, in jeder Klasse sollten daher Bücher zur Verfügung stehen, die
den Leseinteressen und –fähigkeiten der Kinder entsprechen und ihre Leselust wecken!
Wenn Eltern ihre Kinder unterstützen können und wollen, so kann eine Empfehlung darin bestehen,
dass die Eltern den Kindern vorlesen, sie zum selbstständigen Lesen ermuntern, dabei die Kinder
allerdings still lesen und den Inhalt erzählen lassen oder selbst interessierte Fragen stellen.
Wir müssen allerdings aufpassen, dass nicht neue Vorurteile gebildet werden gegenüber Kindern, denen
niemand vorgelesen hat, die in Hauhalten ohne Bücher aufwachsen.
Aufgabe der Schule ist es, allen Kindern - unabhängig von deren häuslicher Unterstützung - das
lebenspraktische Rüstzeug im Hinblick auf Lesekompetenz zu vermitteln, und zwar durch eine sinnvolle
Verbindung der Schaffung von Lesemotivation und dem Training von Texterschließungsfähigkeiten.
Literatur:
Altenburg, Erika: Wege zum selbstständigen Lesen. 10 Methoden der Texterschließung. Frankfurt/Main
1991, 7. Auf. 2001.
Dies.: Verstehensfähigkeiten entwickeln: Selbstständig Worterklärungen aus dem Kontext finden. In:
Grundschulunterricht 9/1996.
Dies.:Fordert Qualitätssicherung von Unterricht auch ein Nachdenken über „Kunstfehler“? In: Die
SchulVerwaltung NRW, Nr. 6/7 1998.
Dies.: Regularitäten von Texten mit Kindern entdecken. In: Grundschulunterricht 10/1999.
Badel. Isolde, Valtin, Renate: Lesestrategien verbessern – Lesekompetenz fördern, in: Grundschule
2/2003.
Baumert, Jürgen u.a. (Hrsg.): PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im
internationalen Vergleich, Opladen 2001.
Bos, Wilfried., Lankes, Eva-Maria, Prenzel, Manfred, Schwippert, Kurt, Walther, Gerd, Valtin, Renate
(Hrsg.): Erste Ergebnisse aus IGLU, Münster, New York, München, Berlin 2003..
Glinz, Hans: Textanalyse und Verstehenstheorie, Wiesbaden 1977.
Goodman, Kenneth S.: Die psycholinguistische Natur des Leseprozesses, in: Hofer, Adolph (Hrsg.):
Lesenlernen: Theorie und Unterricht. Düsseldorf 1976, S. 139-151.
Hecker, Ulrich: Von der „Lesekompanie“ zum Recht auf Lektüre, in: Bartnitzky, H./Hecker, U. (Hrsg.):
Was tun mit Texten. Handelnder Umgang mit Texten. Essen 1991, S. 11-18.
Singer, Kurt: Lebendige Lese-Erziehung. Der Leseunterricht als Unterweisung im selbständigen Lesen,
1. Aufl. München 69.
Die Autorin:
Erika Altenburg
ist Dezernentin für Seminare Primarstufe und Sek. I bei der Bezirksregierung Köln, viele Jahre
Fachleiterin für Deutsch und Leiterin eines Studienseminars für die Primarstufe. Zahlreiche
Veröffentlichungen zu den Themen "Lesekompetenz" und "Texte verfassen".
[email protected]
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