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Uraufführung
Kopf oder Zahl
von Katja Hensel
12+
Ein Auftragswerk von THEATER AN DER PARKAUE und
THOC / Staatstheater Zypern
Gefördert durch das Programm "Kultur" der Europäischen Union
B E G L E I T M AT E R I A L Z U M S T Ü C K
Uraufführung
Kopf oder Zahl
von Katja Hensel
12+
Ein Auftragswerk von THEATER AN DER PARKAUE und
THOC / Staatstheater Zypern
Dieses Projekt wird mit Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen Kommission
finanziert.
Es spielen:
MANUELA GRABOWSKI (Mutter / Frau Petschmann / Retsina / Vater / Soufflage) JOHANNES
HENDRIK LANGER (Christopher) DENIS PÖPPING (Der Andere)
REGIE Carlos Manuel BÜHNE Fred Pommerehn KOSTÜME Constanze Zimmermann
THEATERPÄDAGOGIK / DRAMATURGIE Anne Paffenholz LICHT Christian Rösler TON Sebastian
Klemke REGIEASSISTENZ / INSPIZIENZ Anne Richter SOUFFLAGE Manuela Grabowski
TECHNISCHER DIREKTOR Eddi Damer BÜHNENMEISTER Marc Lautner MASKE Ilonka Schrön
REQUISITE Wolfgang Jentsch ANKLEIDEREI Ute Seyer REGIEHOSPITANZ Malte Bündgen
Herstellung der Dekoration unter der Leitung von Jörg Heinemann in den Werkstätten der Stiftung
Oper Berlin – Bühnenservice / Herstellung der Kostüme durch die Firma GEWÄNDER / Maren FinkWegner
Die Aufführungsrechte liegen bei der Autorin.
PREMIERE am 3. Oktober 2009
BÜHNE 3
Dauer: ca. 65 Minuten
Mit freundlicher Unterstützung
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INHALT
VORBEMERKUNG
4
DAS THEATERSTÜCK KOPF ODER ZAHL
6
Zum Text
6
Stückentwicklung und Materialrecherche: Projekttage mit Schülern
6
"Emotionaler Analphabetismus" – Die Autorin Katja Hensel über ihren Text
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DIE INSZENIERUNG
HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZU DEN STÜCKTHEMEN
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11
Forschungsbericht zur Jugendgewalt 2009: Neun Thesen
11
Gewalt-Definitionen
11
Gewalt und Gesellschaft: Amokläufer
13
Übersicht: Amokläufe an Schulen
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ANREGUNGEN FÜR IHREN UNTERRICHT
19
Unterrichtsprojekt 1: Gewalt
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Unterrichtsprojekt 2: Interkultureller Konflikt
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Unterrichtsprojekt 3: Inszenierungsgespräch und Diskussion
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ANHANG
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LITERATURHINWEISE
27
INTERNETLINKS
27
IMPRESSUM
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3
VORBEMERKUNG
"Jugendlicher krankenhausreif geschlagen. Wieder Opfer von brutaler Jugendgewalt. Jugendliche Gewalt
eskaliert." Täglich von Neuem überschlagen sich die Schlagzeilen über aktuelle Fälle von Jugendgewalt.
Die Stichworte lauten Mobbing, Amoklauf, Totschlag. Warum kommt es zu Jugendgewalt? Hat sie tatsächlich zugenommen? Und in welchem Zusammenhang steht das alles mit der Gesellschaft, in der wir
leben? Diese Fragen brachten uns als Theater dazu, gemeinsam mit unserem Kooperationspartner, dem
Staatstheater Zypern, der Autorin Katja Hensel einen Stückauftrag zu geben: ein Stück über Jugendgewalt
für 12-15-Jährige. Entstanden ist der Text KOPF ODER ZAHL.
Das vorliegende Begleitmaterial zur Inszenierung richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihren Schülerinnen und Schülern (Klassenstufe 7 bis 9) eine Vorstellung am THEATER AN DER PARKAUE besuchen
und diese vor- oder nachbereiten möchten. Besonders eignet sich der Theaterbesuch in den Fächern
Deutsch, Ethik, Sozialkunde bzw. Sozialwissenschaften und Darstellendes Spiel. Das Material bietet Ihnen einen Überblick zum besonderen Entstehungsprozess des Stücktextes sowie zum Inszenierungsansatz des Regisseurs Carlos Manuel. Neben Hintergrundinformationen zu den Themen Jugendgewalt und
Amoklauf enthält es weiterführende Literaturhinweise und Internetlinks. Darüber hinaus finden Sie in einem
gesonderten Kapitel Anregungen für den Unterricht in Form verschiedener Projekte.
Wenn Sie Fragen zum theaterpädagogischen Begleitmaterial oder zur Inszenierung KOPF ODER ZAHL
haben oder wenn Sie mir Ihre Kritik und Anmerkungen mitteilen möchten, können Sie sich gerne mit
mir in Verbindung setzen. Kommentare zur Inszenierung können Sie auch auf unserer Internetseite
www.parkaue.de schreiben.
Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen und wünsche Ihnen und Ihren Schülern einen anregenden Theaterbesuch und spannende Diskussionen danach.
Anne Paffenholz
Theaterpädagogin & Dramaturgin
Tel. 030 – 55 77 52 -67
E-Mail: [email protected]
4
Szenenfoto mit Denis Pöpping und Johannes Hendrik Langer
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DAS THEATERSTÜCK KOPF ODER ZAHL
Zum Text
Christopher, 15, hat einen türkischen Jungen brutal zusammengeschlagen. Bei seiner Rückkehr aus dem
Jugendarrest will er alles anders machen. Er sagt sich von seinen früheren Freunden los und strengt sich
in der Schule an. Damit niemand erfährt, warum er eine Klasse wiederholen muss, behauptet er, zur Kur
an der Nordsee gewesen zu sein. Christopher wird begeisterter Verfechter der Europäischen Union. Das
friedliche, vorurteils- und gewaltfreie Miteinander der Kulturen wird sein neues Ideal. Aber das neue Leben
will sich nicht einstellen: Die Schule ist eine einzige Baustelle. Seine Eltern haben nie Zeit. Die ehemaligen Freunde sorgen dafür, dass er sie nicht vergisst. Die neuen Mitschüler sabotieren ihn. Darüber hinaus
erscheint der Andere auf der Bildfläche und macht ihm das Leben schwer: Ständig kommentiert er Christophers Handlungen und Aussagen, entlarvt ihn als Lügner und wettet, dass Christopher in kürzester Zeit
wieder im Knast landet. Ein anstrengender, bis an die Grenzen gehender Kampf zwischen beiden beginnt.
In ihrem Zweipersonenstück bedient sich Autorin Katja Hensel eines besonderen Kunstgriffs: Den inneren
Konflikt eines heranwachsenden Jungen kehrt sie nach außen, indem die beiden unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile durch zwei Figuren dargestellt werden: Während Christopher für das Vernünftige, Angepasste, Kontrollierte und Aufgeklärte steht, für jemanden, der alles richtig machen möchte, personifiziert
der Andere Charaktereigenschaften wie Direktheit und Emotionalität und lebt nach dem Lustprinzip. Mal
hat der eine, mal der andere die Oberhand – Kopf oder Zahl. Christophers innerer Widerspruch lässt sich
nicht auflösen und ihm erscheint es in der gegebenen Gesellschaft nicht möglich, konsequent nach den
Prinzipien des "Gutseins" zu leben. Schließlich entscheidet er sich zu einem folgenschweren Schritt: Er jagt
seine Schule und seine Mitschüler in die Luft.
Stückentwicklung und Materialrecherche: Projekttage mit Schülern
Der Stückauftrag an Katja Hensel wurde möglich durch finanzielle Förderung durch die Europäische Kommission. Die Kooperation von THEATER AN DER PARKAUE und THOC Nikosia findet im Rahmen des
Großprojektes "Young Europe – Young Creation and Education in Theatre" statt, mit dem sich die European
Theatre Convention (ETC) bei der Europäischen Kommission beworben hat. Die ETC ist ein Netzwerk mit
über 40 Mitgliedstheatern aus 25 Ländern. Innerhalb von "Young Europe" entstehen 2009 in vier binationalen Koproduktionen neue Theatertexte für Jugendliche in Großbritannien, Norwegen, Frankreich, Zypern,
Deutschland und der Schweiz.
Ausgangspunkt für die Kooperation von Berlin und Nikosia war das gemeinsame Interesse am Thema
Jugendgewalt. Die Autorin Katja Hensel wurde beauftragt, ein entsprechendes Stück für jugendliche Zuschauer in der Altersgruppe 12+ / 7. – 9. Klasse zu schreiben. Hierzu fanden sowohl in Berlin als auch in
Nikosia Projekttage mit der Autorin und der jeweiligen Theaterpädagogin / Dramaturgin statt. In Berlin
waren folgende Schulen beteiligt: Wolfgang-Amadeus-Mozart-Gemeinschaftsschule / Marzahn (7. Klasse),
Kurt-Schwitters-Oberschule / Prenzlauer Berg (8. Klasse) und Kant-Gymnasium / Lichtenberg (9. Klasse).
Bei den Projekttagen ging es darum, einen Einblick in die Erfahrungs- und Lebenswelten der Jugendlichen
zu bekommen: Welche Meinungen haben sie zum Thema Gewalt? Welche Erfahrungen physischer und
psychischer Gewalt haben sie schon gemacht? Wie wird in ihrer Schule mit dem Thema umgegangen?
Wie hängen Klischees und Vorurteile mit Gewalt zusammen? Welche Haltung haben sie zu dem Schulsystem, in dem sie täglich unterrichtet werden und viel Lebenszeit verbringen? Es fanden Gespräche und
Diskussionen statt, die Schüler erarbeiteten Theaterszenen und beantworteten einen Fragebogen. Da die
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Recherche nicht nur in zwei unterschiedlichen Ländern stattfand, sondern auch in verschiedenen Altersgruppen, Schultypen und Stadtteilen, ist ein umfassendes Material entstanden, das Aufschluss darüber
gibt, welche Perspektiven heutige Jugendliche auf Gewalt haben. Auf dieser Grundlage entwickelte Katja
Hensel ihr Stück KOPF ODER ZAHL. Ihre eigenen Erfahrungen in diesem Prozess hat sie im folgenden Text
wiedergegeben.
"Emotionaler Analphabetismus" –
Die Autorin Katja Hensel über ihren Text
Gewalt an Schulen. Fast jedes deutsche Stadttheater hat inzwischen seinen Klassenzimmer-Monolog für
einen Amokläufer oder überforderten Lehrer. Noch eins braucht es wirklich nicht. Und dann soll es ja auch
in Zypern relevant sein, einem Land mit einer Amoklauf-Quote von null Prozent. Ich hatte eine vage Vorstellung davon, wovon mein Text handeln sollte, als ich im Frühjahr nach Nikosia flog, um dort in Schulen an
Workshops zum Thema teilzunehmen. Als ich wiederkam, hatte ich zehn neue Ideen. Nach den Workshops
an Berliner Schulen hatte ich erst mal gar keine mehr. Die Lebenswelten der zypriotischen Jugend und jener in Berlin waren noch unterschiedlicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Oberflächlich betrachtet, ist die
zypriotische Gesellschaft viel intakter, dafür aber durch den Teilungskonflikt politisch weitaus aufgeladener,
auch unter den Jugendlichen. Die ehemalige Teilung Deutschlands hingegen ist für Berliner Jugendliche
(nicht miterlebte) Geschichte. In Bezug auf Gewalttätigkeiten untereinander zeigte sich für mich in Nikosia
ein Bild der Vertuschung, des Deckelns von Konflikten, der Angst vor Ächtung der Gemeinschaft, wenn
Gewalt offen problematisiert wird. In Berlin wiederum konnte ich zwei Meter daneben stehen und ein Schüler warf wie selbstverständlich seinem Mitschüler das vorgekaute Brot auf den Kopf und trat ihm in den
Rücken. Waffen in der Schule – in Berlin fast schon der Regelfall, in Zypern unvorstellbar. Was sie aber alle
einte, war die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln. Hier wie dort wurde Gewalt als destruktiv, bedrohlich und inakzeptabel abgelehnt. "Gewalt ist keine Lösung", "Die tun mir leid, die das nötig haben" waren
die Standardaussagen, die kurz darauf durch Schlagen, Treten und Mobben auf dem Schulhof konterkariert
wurden. Ich bin mir sicher, dass bei vielen der Wunsch, besser mit sich und den anderen umzugehen, ehrlich war. Aber die Dynamik in der Gruppe und die mangelnde Selbstreflexion waren immer stärker.
Eine zypriotische Kinderpsychologin nannte das größte Problem den "emotionalen Analphabetismus" bei
Jugendlichen. Davon sollte mein Text handeln. Von einem Jungen, der sich "bessern" will und an seinen
eigenen "schlechten" Gefühlen und destruktiven Gedanken fast scheitert.
Katja Hensel verfasste diesen Text im Juli 2009, kurz nachdem sie ihr Stück fertig geschrieben hatte.
Katja Hensel, 1967 in Hamburg geboren, ist Autorin und Schauspielerin. Nach ihrer Ausbildung an der
Schule für Schauspiel in Hamburg war sie am Landestheater Schleswig-Holstein, am Schauspiel Essen
und bei der bremer shakespeare company engagiert. Seit 1997 arbeitet sie als freischaffende Schauspielerin, u.a. an den Schauspielhäusern Zürich und Hamburg sowie an den Berliner sophiensælen und am
théâtre repère, Québec (Kanada). Katja Hensel ist außerdem als Regisseurin sowie als Synchron- und
Hörfunksprecherin tätig. Die folgenden Stücke sind im S. Fischer Verlag erschienen: ALICE, KRÖTEN, INS
WEITE SCHRUMPFEN und VAMPIRU.
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Szenenfoto mit Denis Pöpping
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DIE INSZENIERUNG
Regisseur Carlos Manuel interessiert sich in seiner Theaterarbeit stark für gesellschaftliche Systeme und
die Spielregeln, die ihnen zugrunde liegen. Entsprechend ging es in der Probenarbeit zu KOPF ODER ZAHL
im Wesentlichen darum, das System zu untersuchen, dem Christophers Leben unterworfen ist: Was hat
ihn dazu bewogen, nach dem Jugendarrest anders leben zu wollen, sein neues Leben aber auf einer Lüge
aufzubauen? In welchen Momenten kann er Dinge beeinflussen und ändern? Wie wird "Gutsein" definiert,
woran wird es bemessen und beurteilt? Was ist der offizielle Diskurs der Gesellschaft? Wie verhalten sich
ihre Mitglieder tatsächlich? Was passiert, als Christopher die Spielregeln der Gesellschaft durchschaut,
sich aber nicht mit ihnen einverstanden erklärt? Ein weiterer wesentlicher Punkt der Inszenierungsarbeit
bestand in der Untersuchung der Beziehung von Christopher und dem Anderen: Auch wenn das Konstrukt
des Stückes darin besteht, zwei unterschiedliche Persönlichkeitsanteile aufeinander treffen zu lassen, kann
man den Text als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Freunden, die bei allen Widersprüchen nicht
ohne einander leben können, inszenieren – im Prinzip also als eine Hassliebe. Aufgabe für die beiden
Schauspieler war es, ihr jeweiliges Charakterprinzip im Kampf um die Gunst des Publikums bis aufs Äußerste durchzuspielen und zu behaupten – um genau so den tragischen Konflikt in Christophers Persönlichkeit auf der Bühne zum Ausdruck zu bringen. Die Kernthese von Carlos Manuel besteht darin, dass man
das Fremde in sich annehmen muss, um nicht alleine zu sein: "Das Fremde in dir ist dein echtes Ich, dein
bester Teil. KOPF ODER ZAHL ist ein Stück über die Sehnsucht, alles richtig zu machen. Eine Wette mit
sich selbst. Das Morgen beginnt jetzt."
KOPF ODER ZAHL ist als Zweipersonenstück geschrieben. Christophers Bezugspersonen – Mutter, Vater,
Lehrerin, ein Mädchen und die ehemaligen Freunde – werden durch unterschiedliche Mittel dargestellt: Die
Mutter ist über den Anrufbeantworter zu hören, der Vater über Radiointerviews, die er in seiner Rolle als
Soldat im UNO-Einsatz gibt, von den anderen Figuren sprechen Christopher und der Andere. In der Inszenierung werden diese "Rollen" von einer weiteren Darstellerin eingelesen oder andeutungsweise gespielt,
unterstützt durch einzelne Kostümversatzstücke wie eine Perücke, eine Sonnenbrille oder einen Stahlhelm.
Darüber hinaus übernimmt sie die Funktion der Souffleuse. Sie ist mit einem Mikroport ausgestattet und
die ganze Zeit auf der Bühne sichtbar.
Der Bühnenraum von Fred Pommerehn verwandelt die BÜHNE 3 in eine Spielfläche, die durch transparente
Plastikvorhänge markiert wird. Durch weitere Vorhänge kann die Spielfläche in bis zu sechs Räume unterteilt
werden. Nur in wenigen Momenten können die Darsteller das Spielfeld verlassen. In den einzelnen Räumen
befindet sich eine Reihe von verschiedenfarbigen Plastikobjekten, die im Verlauf der Inszenierung von den
Schauspielern je nach Bedarf in den unterschiedlichen Situationen bespielt werden. Sie werden verwendet,
um Ordnungsprinzipien zu behaupten, um Krieg zu spielen oder dienen als Wohnungseinrichtung.
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Szenenfoto mit Denis Pöpping und Johannes Hendrik Langer
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HINTERGRUNDINFORMATIONEN
ZU DEN STÜCKTHEMEN
Zur vertiefenden Beschäftigung mit den Themen Jugendgewalt und Amoklauf finden Sie in diesem Kapitel
Texte und Materialien, die unterschiedliche Perspektiven auf das Thema bieten.
Forschungsbericht zur Jugendgewalt 2009: Neun Thesen
Unter dem Titel "Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt" ist der Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesinnenministeriums und des Kriminologischen Forschungsinstituts
Niedersachsen (KFN) erschienen. Die folgenden Thesen fassen den Bericht zusammen und geben so einen
Überblick, wie die aktuelle Jugendgewalt de facto einzuschätzen ist.
1. Für mehr als drei Viertel aller Jugendlichen gehörte Gewalt in den zwölf Monaten vor der Befragung nicht
zu ihrem persönlichen Erfahrungsbereich.
2. Zur Entwicklung der Jugendgewalt zeigen die Befunde der Dunkelfeldforschung seit 1998 insgesamt
betrachtet eine gleichbleibende bis rückläufige Tendenz.
3. Die überwiegend positiven Trends zur Entwicklung der selbstberichteten Jugendgewalt in und außerhalb
von Schulen finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender Faktoren und im Sinken Gewalt fördernder Lebensbedingungen der Jugendlichen.
4. Die Befunde der Dunkelfeldforschung zum Anzeigeverhalten der Gewaltopfer relativieren die Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik in mehrfacher Hinsicht.
5. Sowohl aus Opfer- wie aus Tätersicht zeigen die Daten zur selbstberichteten Jugendgewalt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger Gewalttaten begehen als deutsche Jugendliche.
6. Der stärkste Einfluss auf Jugendgewalt geht von der Zahl der delinquenten Freunde aus, mit denen die
Jugendlichen in ihrem sozialen Netzwerk verbunden sind.
7. Sowohl der Querschnittsvergleich der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008 als auch die Längsschnittanalyse der vom KFN seit 1998 in Großstädten durchgeführten Schülerbefragungen belegen, dass
sich die Verbesserung von Bildungschancen präventiv auswirkt.
8. Der Konsum von Alkohol und illegalen Drogen, der einen eigenständigen Risikofaktor für gewalttätiges
Verhalten darstellt, ist unter Jugendlichen weit verbreitet.
9. Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus prägen das Weltbild einer Minderheit
von Jugendlichen; in einigen Gebieten fällt deren Anteil allerdings alarmierend hoch aus.
Der vollständige Bericht kann auf der Seite des KFN als PDF-Dokument heruntergeladen werden: http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf
Gewalt-Definitionen
UNSCHLAGBAR: DAS BUCH, DAS DICH GEGEN GEWALT STARK MACHT ist ein Ratgeber, in dem Kinder
und Jugendliche erfahren, wie sie mit Gewalt- und Mobbing-Erfahrungen umgehen können. Dort finden
sich folgende Definitionen zu "Gewalt" und "Mobbing".
Gewalt
Gewalt ist, wenn etwas gegen den Willen anderer getan wird. Oftmals werden dabei Grenzen überschritten
und Macht ausgeübt. Gewalt kann sich gegen Menschen oder auch Sachen richten.
Gewalt wird dir angetan, wenn du gegen deinen Willen bedrängt oder geschädigt wirst, wenn du Nein sagst
und der andere trotzdem weitermacht.
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Gewalt äußert sich in unterschiedlichen Formen, z.B. durch körperliches Bedrängen, durch Schläge oder
Prügeleien. Auch Diebstahl, Erpressung und Mobbing sind Formen der Gewalt. Daneben gibt es auch seelische oder psychische Gewalt, dazu gehört z.B. jemanden links liegen zu lassen, nicht mehr mit ihm zu
sprechen, ihn zu beleidigen oder zu verleumden. Diese Form von Gewalt ist für Außenstehende nur schwer
erkennbar und kann schlimme Folgen haben. (S. 146)
Mobbing
"To mob" bedeutet: anpöbeln, angreifen, schikanieren, verletzen. Mobben ist nichts, was nur einmal passiert, sondern es bezeichnet Handlungen, Situationen, Intrigen, körperliche Gewalt oder Beschimpfungen, die sich ständig und über einen längeren Zeitraum wiederholen. Beim Mobbing herrschen ungleiche
Machtverhältnisse: Es gibt einen überlegenen Täter und jemand, der unterlegen ist, das Opfer. (S. 147)
Schüler über Gewalt
Im Fragebogen, den die Schüler der Projektklassen beantwortet haben, lautete eine Frage: Wie würdest du
Gewalt in einem einzigen Satz beschreiben bzw. definieren?

Wenn man zu jemandem etwas sagt oder etwas macht, das ihm schadet.

Jemandem (unabhängig von Geschlecht bzw. Mensch oder Tier) Schmerz zufügen.

Eine Person verliert die Kontrolle über sich selber und beleidigt oder schlägt Mitmenschen.

Wenn man jemanden mit Absicht verletzt, sei es verbal oder körperlich.




Gewalt kann körperlich oder psychisch ausgedrückt werden, womit man den anderen / die
anderen Menschen sehr verletzt und auch kaputtmachen kann.
Man provoziert den einen oder die anderen, bis er jemanden schlägt, oder jemanden
beleidigen – und am Ende jemand im Krankenhaus ist oder im Himmel.
Gewalt ist ein körperlicher und seelischer Angriff auf eine Person / einen Menschen oder auf
ein Lebewesen.
Die Gewalt beschreibt, dass man Leute nicht so akzeptiert, wie sie sind, oder dass manche
Menschen ihre Wut woanders rauslassen wie zusammenschlagen oder schießen usw., weil sie
es einfach so gelernt haben und nicht anders.

Einen Menschen zerstören, seinem Geist wehtun.

Gewalt entsteht aus Hass zu anderen Menschen.
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Gewalt und Gesellschaft: Amokläufer
Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl stellt Amoktaten von Jugendlichen in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang und weist auf eine Reihe von Ursachen und Kausalitäten hin. Der Textauszug entstammt einem Interview, das der ZEIT-Journalist Thomas Assheuer mit ihm geführt hat.
Krieg im Frieden
Amokläufer erklären "die anderen", "das System", "die Gesellschaft" zum Feind. Warum? Ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Joseph Vogl
DIE ZEIT: Herr Vogl, nach jedem Amoklauf suchen wir nach Gründen. Warum finden wir keine?
Joseph Vogl: Weil es für die sogenannten Amokläufe keine hinreichenden Gründe, allenfalls diffuse Motive
und Anlässe gibt. Die Kriminologen und Psychiater bestätigen das und behelfen sich mit Statistik. Man
stößt an die Grenzen der Individualpsychologie. Weder alltägliche Verletzungen wie Liebeskummer, Mobbing, Schulversagen noch das Spektrum von Krankheitsbildern – von Depression bis zur Schizophrenie
– reichen hin, den Sprung von möglichen Ursachen zu dieser Art Massenmord zu erklären.
ZEIT: Warum suchen wir ständig nach Gründen?
Vogl: Weil Gründe, auch angesichts dieser Katastrophen, die Welt zusammenhalten und wenigstens nachträglich die Verstörung minimieren. Aber damit kommt man hier nicht weiter. Man hat es weder mit Wahnsinnigen noch mit "gefährlichen Individuen" zu tun. Kaum oder keine Anzeichen einer "abweichenden Persönlichkeit". Es bleibt eine erschreckende Doppelgestalt von Harmlosigkeit und Gefährlichkeit, scheinbar
normale Jugendliche, die etwas völlig Irrsinniges tun. Daran zerbricht alle Vernunft, auch die therapeutische.
ZEIT: Amokläufer scheinen das einzukalkulieren.
Vogl: Ja. Es gibt einen äußerst verstörenden Satz in den Notizen eines der Täter an der Columbine Highschool, die 1999 zwölf Menschen ermordeten. Kurz vor der Tat schrieb er: "Alles ist meine Schuld. Nicht
die meiner Eltern, nicht die meiner Brüder, nicht die meiner Freunde, nicht die meiner Lieblingsbands, nicht
die der Computerspiele, nicht die der Medien. DIE SCHULD GEHÖRT MIR!" Das heißt: Diese Täter haben
die erwartbaren Erklärungsgründe selbst schon zum Gegenstand ihrer Taten gemacht und zudem alle Verantwortung reklamiert. Sie fordern die Zurechnung ihrer Anschläge ein und diese Ausdrücklichkeit macht
das Verbrechen nur umso rätselhafter.
ZEIT: Trotzdem geben die Täter Erklärungen ab.
Vogl: Sie legen, wenn überhaupt, oft unmissverständliche Fährten. Man darf nicht übersehen: Amokläufe,
vor allem die school shootings, sind oft als Medienereignisse geplant und werden als solche vollzogen.
Man sagt, was man tut. Es sind scheinbar kalte Taten, die mit Kalkül durchgeführt werden. Man erklärt sich
und kündigt die Tat an. Und der Selbstmord, meist eingeplant, radikalisiert diese Hinterlassenschaft: "Ich
habe euch alles gesagt, bin zu weiteren Erklärungen nicht mehr bereit."
ZEIT: Trotzdem gibt es Täterprofile.
Vogl: Die gibt es und sie sind so stereotyp, dass man sie im Zweifelsfall nachträglich ergänzen, retuschieren kann. Dennoch bleibt die Frage bestehen, warum hier mögliche private und persönliche Krisen mit aller
Gewalt den Weg in die größte Öffentlichkeit suchen. Warum werden zivile Ortschaften – Schulen, Univer-
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sitäten, Einkaufszentren – in Kriegsschauplätze verwandelt? Und zwar mit dem Anspruch auf Infamie, auf
ein berüchtigtes Nachleben?
ZEIT: Was vermuten Sie?
Vogl: Was man im Augenblick beobachten kann, insbesondere mit den school shootings, erscheint mit
seinem neuen und besonderen Format auf Kulturkreise beschränkt, auf Mittel- und Nordeuropa, Nordamerika.
ZEIT: Also gibt es doch kulturelle Erklärungen für Amokläufe?
Vogl: In den USA heißt Amoklaufen unter anderem auch going postal, aufs Postamt gehen. Diese Taten
fielen mit der Privatisierung der staatlichen Post, dem Sieg der Reaganomics und ihrer ökonomischen Deregulierung seit den achtziger Jahren zusammen. Ehemalige Postangestellte kehrten an ihren privatisierten
Arbeitsplatz zurück und schossen um sich. Zwischen diesen Gewalttaten und der wirtschaftlichen Deregulierung gab es einen zumindest statistisch bemerkbaren Zusammenhang.
ZEIT: Das waren erwachsene Täter. Wir sprechen von Jugendlichen.
Vogl: Und die geben durchaus Anlass zur Spekulation. In amerikanischen Untersuchungen wird zum Beispiel vom toxischen Klima der Highschools gesprochen, vom Anpassungsdruck in den weißen Vorstädten
und kleinstädtischen Mittelschichtmilieus. Auffällig ist ja, dass die Tatorte mit großer Regelmäßigkeit solche
Anstalten wie eben Schulen sind. Und in Schulen entscheidet man über die Verteilung von Chancen und
Zukunftsaussichten.
ZEIT: Aber früher gab es mehr autoritäre Lehrer.
Vogl: Zweifellos. Dennoch zirkulieren in den Chatrooms alle möglichen Feindschaftserklärungen. Und hier
wie in anderen Fällen scheinen die Täter keinen Zweifel daran aufkommen lassen zu wollen, dass man es
mit Feindschaftsdeklarationen gegen "die anderen", gegen "das System", "die Gesellschaft" zu tun hat
– also mit einer besonders hässlichen Grimasse von Rebellion, mit einer allgemeinen Feindseligkeit.
ZEIT: Wollen Sie damit sagen: Vor 1989 war der Feind außen. Heute ist er in der Gesellschaft?
Vogl: Das weiß ich nicht. Überraschend ist allerdings, dass unsere Gesellschaften offenbar im hohen Maß
aufgerüstet sind, fast zehn Millionen Waffen sind in Privatbesitz. Man kann das durchaus Amerikanisierung
nennen. Und seit dem 19. Jahrhundert sind die Schützenvereine mit einer Geschichte des deutschen Militarismus verknüpft. Zudem ist ja der Krieg heute nicht ferner, sondern näher gerückt. Wie kaum zuvor ist
die deutsche Innenpolitik mit Maßnahmen gegen innere, verborgene, unkenntliche Feinde beschäftigt, gegen Bedrohungen, die innen wie außen gleichermaßen lauern. Feindschaftsadressen haben sich jedenfalls
eher vervielfältigt als reduziert.
ZEIT: Warum erklärt der Täter der Gesellschaft den Krieg? Fühlt er sich nicht anerkannt?
Vogl: Soziales Überleben hängt heute mit Sichtbarkeit und diese mit Aufmerksamkeitsökonomien zusammen. Wer nicht gesehen wird, existiert nicht. Der Bedarf geht nicht auf weniger, sondern auf mehr Selbstdarstellung und Öffentlichkeit. Man muss auffällig sein, Unauffälligkeit hat keine gute Konjunktur. Jedes
Unternehmen, jede Filiale hat ihre hall of fame, prämiert den Mitarbeiter der Woche. Dazu kommt eine
verordnete Rundumevaluation, in pädagogischen wie in professionellen Milieus. Damit werden fortlaufend Aufsteiger und Absteiger, Sieger und Verlierer produziert. Kein Status, kein Erfolg bleibt auf Dauer
gesichert; das ist die andere, die krisenhafte Seite der sogenannten Dauermotivation. Bemerkenswert ist
jedenfalls, dass man den Amokläufern bis zur Tat oft eine erstaunliche Unauffälligkeit nachsagt.
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ZEIT: Sind Konkurrenzgesellschaften besonders anfällig für Amokläufer?
Vogl: Ich würde ungern in die Falle der Verallgemeinerung gehen. Aber zweifellos ließe sich sagen, dass der
Wettbewerb und die Konkurrenz auf allen Gebieten in den letzten Jahrzehnten vielfältiger und feinmaschiger geworden sind. Kaum ein Lebensbereich kann sich dem entziehen und das ist so gewollt. Wir leben
tatsächlich in Gesellschaften, die den Titel von "Wettbewerbsgesellschaften" in jeder Hinsicht verdienen,
und was man in der Wirtschaft Deregulierung nennt, hat längst die Lebenswelten besetzt. Das ist ein Sozialexperiment, dessen Ausgang noch offen und ungewiss ist.
ZEIT: Für Ihre These spricht, dass sich die Gesellschaft nach einem Amoklauf auf seltsame Weise gemeint
fühlt. Sie macht sich selbst zum Thema.
Vogl: Ich weiß nicht, ob ich dazu wirklich eine haltbare These habe. Allerdings werden gerade die sogenannten Amokläufe, und das ist bemerkenswert, mit einer diagnostischen Überaktivität beantwortet. Das
gilt nicht so sehr für Eifersuchtsdramen, Kindsmorde oder rechtsradikale Gewalt. Obwohl also diese Amokläufe, statistisch gesehen, höchst selten sind, obwohl größere Gefahr in den Formen häuslicher Gewalt
lauert, gerät sogleich das Gesamt der Gesellschaft in den Blick, in konzentrischen Kreisen. Man redet von
der Krise der Familie und der Kinderzimmer, von einer Krise der Schule und der sozialen Beziehungen, vom
Unheil der Medien und ihres unlauteren Gebrauchs. Unsere Einbildungskraft, unser Gefahrenbewusstsein
werden offenbar durch diese Taten ganz besonders herausgefordert und aufgeregt. Als ob es darum ginge,
hier wie nirgendwo sonst die Frage nach dem Zusammenhalt, nach den Sollbruchstellen und nach dem
Zerfall dieser Gesellschaft aufwerfen zu müssen.
ZEIT: Amokläufer alarmieren unser Krisengefühl?
Vogl: Offenbar. Und das umso mehr, als man es hier eben nicht mit sozialen Dunkelzonen, Problembezirken, Verwahrlosung und Prekariat zu tun hat, sondern mit Wohlstandsregionen, intakten Familien, Vereinsmilieu und kleinstädtischer Nachbarschaft. Und gerade da wird plötzlich ein Ernstfall, ein Ausnahmezustand, ein namenloses Unglück manifest. Die ganze hektische Berichterstattung, die Kommentarsucht und
das diagnostische Aufgebot scheinen es jedenfalls nahezulegen, dass hier ein diffuses Krisengefühl mit
einem Mal scharf gestellt wird und eine krasse, symptomatische Gestalt erhält.
aus: DIE ZEIT Nr. 13, 19. März 2009
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Übersicht: Amokläufe an Schulen
Datum
Ort
Täter
Bemerkungen
29. Januar 1979
Cleveland /
USA
Brenda Ann Spencer Die 16-jährige Schülerin tötet zwei Erwachse-
13. März 1996
Dunblane /
Schottland
Thomas Hamilton
24. März 1998
Arkansas /
USA
20. April 1999
Colorado /
USA
9. November 2000
Meißen /
Deutschland
Ein 15-jähriger Schüler stürmt maskiert in das Klassenzimmer der 9. Klasse des Gymnasiums Franziskaneum und ersticht vor den Augen seiner Mitschüler seine Lehrerin mit 22 Messerstichen. Der Schüler
wird nach kurzer Flucht gestellt. Als Motiv gibt der
Schüler Hass auf die Lehrerin an.
8. Juni 2001
Osaka /
Japan
Ein 37-jähriger Japaner überfällt eine Grundschulklasse, ersticht acht Kinder und verletzt 20
weitere zum Teil schwer.
26. April 2002
Erfurt /
Deutschland
ne an der Cleveland Elementary School in San
Diego (Kalifornien) mit einer Schusswaffe; ein
weiterer Erwachsener (Polizist) sowie acht Kinder werden verletzt. Ihre Begründung für die offensichtlich sinnlose Tat lautet: "Ich mag keine
Montage." Die Rockgruppe BOOMTOWN RATS
nimmt diese Äußerung später zum Anlass für
das Lied "I don't like Mondays", in welchem der
betreffende Amoklauf anklagend geschildert
wird.
Der 43-jährige Thomas Hamilton erschießt 16 Erstklässler und deren Lehrerin in der Turnhalle einer
Grundschule. Bevor der Mann Suizid begeht, verletzt
er noch weitere zwölf Schüler und zwei Lehrer.
Ein elf- und ein dreizehnjähriger Schüler lösen falschen Feueralarm an ihrer Schule in Jonesboro aus.
Als die Schüler ins Freie rennen, werden sie aus dem
Hinterhalt von den beiden Amokläufern mit einem
Kugelhagel angegriffen. Dabei sterben vier Mädchen
und eine Lehrerin. Zehn Menschen werden schwer
verletzt.
Eric Harris /
Dylan Klebold
Robert Steinhäuser
Mit Schusswaffen und Sprengsätzen bewaffnet, töten
die beiden Schüler im Schulmassaker von Littleton
an der Columbine High School (US-Staat Colorado)
vierzehn Mitschüler sowie einen Lehrer und verletzen 20 Menschen, bevor sie Selbstmord begehen.
Die Ursachen für diesen Amoklauf werden später
im Film BOWLING FOR COLUMBINE zu analysieren
versucht. Nach der Tat wurde ein Video gefunden, in
dem die beiden Schüler mitteilen, dass sie 250 Menschen umbringen und durch die Tat berühmt werden
wollten.
Der 19-jährige Robert Steinhäuser tötet im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen, bevor
er sich selbst tötet. Wenige Wochen vorher war
er aus der Schule entlassen worden.
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21. März 2005
Red Lake /
USA
Jeff Weise
Der 16-jährige Jeff Weise tötet bei einem Amoklauf an der Red Lake Senior High School im Indianer-Reservat Red Lake im US-Bundesstaat
Minnesota neun Menschen und tötet sich danach selbst. 13 Menschen werden verletzt.
2. Oktober 2006
Nickle Mines /
USA
Charles Roberts
Der 32-jährige Amokläufer dringt in die Dorfschule in
Nickle Mines im Bundesstaat Pennsylvania ein. Dort
ermordet er fünf Mädchen der Religionsgemeinschaft
der Amish. Nach der Tat nimmt er sich selbst das Leben.
20. November 2006
Emsdetten /
NordrheinWestfalen
Sebastian B.
Der 18-jährige Täter stürmt seine ehemalige Schule
und schießt auf Schüler, Lehrer und den Hausmeister. Außerdem zündet er mehrere Rauchgasbomben.
Anschließend tötet er sich selbst. 37 Menschen (darunter 16 Polizeibeamte) erleiden Rauchvergiftungen
oder werden durch Schüsse verletzt.
16. April 2007
Blacksburg /
USA
Cho Seung Hui
Der 23-jährige Südkoreaner erschießt an der USHochschule Virginia Tech in Blacksburg 27 Studenten und 5 Dozenten. 29 weitere Menschen werden
verletzt. Der Amokläufer erschießt sich anschließend
selbst.
7. November 2007
Tuusula /
Finnland
Pekka-Eric Auvinen
Der 18-jährige Abiturient erschießt an seinem Gymnasium acht Menschen, bevor er sich selbst tötet.
14. Februar 2008
Chicago /
USA
Steven Kazmierczak
In einem vollbesetzten Uni-Hörsaal in Chicago im
US-Bundesstaat Illinois schießt ein ehemaliger Soziologiestudent um sich. Er tötet fünf Menschen und
sich selbst, 15 weitere werden verletzt.
23. Februar 2008
Kauhajoki /
Finnland
Matti Juhani Saari
An einer Berufsschule der südwestfinnischen Kleinstadt Kauhajoki erschießt ein 23-Jähriger neun Klassenkameraden und einen Lehrer, bevor er sich selbst
tötet.
11. März 2009
Winnenden /
BadenWürttemberg
Tim K.
Der 17-jährige Realschüler schießt mit einer Beretta
92 auf Mitschüler und Lehrer in seiner Schule. Acht
Schülerinnen, ein Schüler sowie drei Lehrerinnen
sterben. Neun weitere Schülerinnen und eine Lehrerin
werden verletzt. Auf der Flucht erschießt der Schüler
drei weitere Erwachsene und verletzt zwei Polizeibeamte schwer. Tim K., der von Schüssen der Polizei
verletzt wird, erschießt sich schließlich selbst.
17. September 2009
Ansbach
Bayern
/ Georg R.
Der 18-jährige Abiturient verletzt mit einer Axt und
Brandbomben zehn Schüler. Er selbst wird durch
Schüsse der Polizei schwer verletzt. Er ist mittlerweile (Oktober 2009) zwar vernehmungsfähig, verweigert aber die Aussage. Ein Sachverständiger ist
beauftragt, die Schuldfähigkeit von Georg R. zu untersuchen.
17
Szenenfoto mit Johannes Hendrik Langer und Manuela Grabowski
18
ANREGUNGEN FÜR IHREN UNTERRICHT
Die folgenden Unterrichtsprojekte sind sowohl zur Vor- als auch zur Nachbereitung des Inszenierungsbesuches geeignet. Sie nähern sich auf unterschiedliche Weise dem Thema Jugendgewalt und Amoklauf und
bearbeiten es mit verschiedenen Mitteln: von der Recherche über Diskussionen bis zu szenischen Ansätzen. Die Projekte können je nach Interesse im Rahmen der Unterrichtsfächer Deutsch, Ethik, Sozialkunde
bzw. Sozialwissenschaft und Darstellendes Spiel durchgeführt werden.
Unterrichtsprojekt 1: Gewalt
Zur Vorbereitung des Vorstellungsbesuchs empfiehlt sich als Einstieg die Verständigung über das Thema
Gewalt. Hier haben Sie verschiedene Möglichkeiten: Wenn Sie sich dem Thema über den Begriff annähern
möchten, können Sie die Schüler eigene Gewaltdefinitionen erarbeiten lassen, die sie anschließend in der
Gruppe besprechen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den aktuellen Gesprächsstand in den Medien
zu recherchieren: Über welche gewalttätigen Ereignisse wird in welcher Form berichtet? Was haben diese
Ereignisse und die Berichterstattung mit der Realität der Schüler zu tun? Was sagen die aktuellsten Forschungsberichte zur tatsächlichen Situation? Als Einstieg können Sie auch die Texte und Materialien aus
dem vorhergehenden Kapitel verwenden und diese in einer Diskussion in einen Zusammenhang stellen.
Als Hinführung auf eine theaterpraktische Beschäftigung können Sie auf die folgenden Ansätze zurückgreifen.
Gewaltspirale
Ausgehend von der Frage "Was ist Gewalt?" sammelt die Klasse Gewaltaktivitäten, die an der Tafel notiert
werden. Hier geht es noch nicht um Bewertungen der unterschiedlichen Aktivitäten, sondern darum, möglichst viele unterschiedliche Gewalttaten zusammenzustellen. Sollten die Schüler nicht von selbst auf psychische Gewalt kommen, können Sie entsprechend nachhelfen. Wenn Sie eine Liste mit 15 – 20 Begriffen
haben, teilen Sie die Schüler in Gruppen (4 – 6 Schüler) ein. Die Gruppen haben 5 – 10 Minuten Zeit, sich
darüber zu verständigen, welche fünf Gewalttaten sie am schlimmsten finden. Danach treffen sich alle in
der gesamten Klasse wieder und jede Klasse stellt ihr "Gewalt-Ranking" vor. Wichtig ist dabei, dass jeweils
Gründe angegeben haben, warum etwas als schlimm oder weniger schlimm empfunden und bewertet
wird. Einen Einfluss darauf kann auch das aktuelle Tagesgeschehen haben: Die erste Projektklasse, die an
den Projekttagen mit Katja Hensel teilgenommen hat, einigte sich einstimmig darauf, dass Vergewaltigung
die heftigste und schlimmste Form von körperlicher Gewalt darstellt. Die nächsten beiden Projektklassen
hatten ihre Projekttage nach dem Amoklauf von Winnenden – bei ihnen stand entsprechend Amok ganz
oben auf der Liste.
Das Sammeln und Sortieren der Begriffe bietet sich sehr gut an, um in eine vertiefende Diskussion über das
Thema Gewalt einzusteigen: Wovor hat man Angst? Wie ist das Verhalten von Opfern und Tätern? Wie lebt
man mit den Folgen einer Gewalttat? Wie verhält man sich als Zeuge einer solchen? Wo kann man Hilfe
holen? In welchen Situationen traut man sich, einem anderen zu helfen, in welchen nicht und warum?
Als Erweiterung dieser Übung suchen die Gruppen eine körperliche Übersetzung für ihre Gewaltkette: Das
heißt, sie suchen für jede Gewaltaktivität einen körperlichen Ausdruck (eine Geste oder eine bestimmte
Körperhaltung). Wenn für jede Gewaltform eine bildliche / körperliche Umsetzung gefunden ist, wird diese Gewaltkette den anderen präsentiert: angefangen bei der am wenigsten schlimmen Gewalttat bis zur
schlimmsten. Dies kann wiederum die Grundlage für eine Theaterszene sein, in der es um Gewalteskalation
bzw. um eine Gewaltspirale geht: Die unterschiedlichen Gewaltaktivitäten und ihre körperliche Umsetzung
werden als szenische Bestandteile genommen und zusätzlich durch eine Geschichte verbunden: A beleidigt B – B schubst C – C schlägt D usw.
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Jede entstehende Szene wird von den Zuschauern anschließend genau beschrieben: Welche Gewaltaktivitäten waren zu sehen? Durch welche Geschichte waren die jeweiligen Handlungen miteinander verbunden? Wie hat sich die Eskalation ergeben? Wie kommt es dazu, dass jemand auf eine Beleidigung mit einer
Ohrfeige reagiert, was löst das wiederum beim anderen aus usw.? In einem weiteren Schritt kann die Diskussion über die gesehenen Szenen inhaltlich vertieft werden: Wie hätte man die Gewaltspirale verhindern
können? Wer hätte sich dafür anders verhalten müssen?
Statusspiel
Das Stück KOPF ODER ZAHL besteht im Wesentlichen aus einer Auseinandersetzung von zwei Charakteren bzw. Charakteranteilen: Permanent wird ausgefochten, wer gerade stärker ist, wer überzeugender ist
und das Publikum mehr auf seine Seite ziehen kann. Um einen Blick für den Status von Bühnenfiguren und
ihr Kräfteverhältnis zu trainieren, können Sie Ihre Schüler das sogenannte Statusspiel spielen lassen.
Für das Spiel benötigen Sie 4 – 6 Schüler. Sie schreiben die Zahlen 1 bis 6 (1 bis 4) auf je einen Zettel und
verlosen diese unter den Schülern, die nicht verraten dürfen, welche Zahl sie gezogen haben. Wer die 1 hat,
hat den höchsten Status, wer die 6 hat, entsprechend den niedrigsten. Die Schüler haben nun die Aufgabe,
sich auf der Bühne (oder in einem abgeteilten Raum der Klasse) zu begegnen und in den Begegnungen
herauszubekommen, wer welchen Status hat. Das Ganze erfolgt ohne Sprache und funktioniert allein über
den körperlichen Ausdruck: Wer weicht zurück? Wer versperrt einem anderen den Weg? Wer macht sich
groß / klein? etc. Die Zuschauer beobachten jede Begegnung genau, bis sie herausbekommen haben, wer
welche Nummer gezogen hat. Ein Schüler kann dann seine Mitschüler auf der Bühne nach ihren Nummern
sortieren und begründen, wie er / sie auf diese Reihenfolge kommt. Wenn die Auswahl stimmt, wechseln
die Spieler auf der Bühne. Wenn es Unstimmigkeiten gibt (was am ehesten im "Mittelfeld" wahrscheinlich
ist, da die Nr. 1 und die Nr. 6 meistens am klarsten erkennbar sind), müssen sich die nicht geklärten Positionen noch einmal begegnen. Indem mehr als zwei Schüler an dem Spiel beteiligt sind, vermeidet man
eine Reduzierung auf zwei entgegengesetzte Positionen. Stattdessen müssen sich die Schüler – sowohl
beim Darstellen als auch beim Zuschauen – mit den unterschiedlichen Facetten oder Graustufen zwischen
Hoch- und Tiefstatus auseinandersetzen.
Unterrichtsprojekt 2: Interkultureller Konflikt
Ein im Stück wiederkehrendes Thema ist Interkulturalität: Ausgehend von der Beschäftigung mit Jules
Vernes' IN 80 TAGEN UM DIE WELT hält Christopher wiederkehrende Plädoyers dafür, dass Gewalt zwischen unterschiedlichen Kulturen verhindert werden könne, wenn sich diese besser kennen. Klären Sie
mit den Schülern die Begrifflichkeiten Vorurteil und Klischee und lassen Sie sie anschließend Beispiele
sammeln, die sie kennen. Als Inspiration können Sie die Klasse auch den folgenden Textauszug aus KOFF
ODER ZAHL lesen und diskutieren lassen. Interessant an dieser Gesprächssituation ist der schnelle Wechsel zwischen Sätzen, die politisch korrekt sind, und solchen, von denen man glaubt, sie im offiziellen Diskurs nicht laut aussprechen zu dürfen.
20
Textauszug aus KOPF ODER ZAHL
8. Klassenraum. Der ganze Klassenraum ist eine einzige Baustelle.
Christopher spricht zur Klasse, während er sich bemüht, den Anderen unter dem Teppich
zu halten.
C
Vor hundertvierzig Jahren, als dieses Buch geschrieben wurde, hatten die
Leute noch viele Klischees im Kopf über fremde Kulturen. Dass die
Chinesen alle Opium rauchen zum Beispiel, und die Inder fanatisch sind
und Frauen verbrennen, und dass die Indianer bewaffnet aus dem
Hinterhalt kommen.
A
Heute weiß man, es sind die Türken, die bewaffnet in den Hauseingängen stehen, –
C
Heute halten sich auch noch viele Klischees, –
A
Dabei stimmen sie nur zum Teil –
C
zum Beispiel, dass Polen Autos klauen, –
A
Sie klauen auch Handys und Fahrräder.
C
Oder dass alle Asiaten freundlich sind, –
A
Dabei sind sie bloß zu klein, um sich zu prügeln.
C
Dass alle Afrikaner ungebildet sind und mindestens zehn Kinder haben,
A
weil sie nirgends schwarze Kondome finden.
C
Dass die Deutschen keinen Arsch in der Hose haben, weil sie zu viel Fahrrad fahren.
A
Dabei haben sie auch keinen Arsch in der Hose, wenn sie eine Monatskarte
haben. Sie sind einfach feige.
C
Dass die Moslems alle Attentäter sind.
A
Und die Latinas alle Schlampen.
C
Aber heute weiß man, dass das alles bloß Vorurteile sind und Vorurteile
entstehen aus Unwissenheit. (GUT CHRISTOPHER) Deshalb hab ich einen
Vorschlag –
A
Wir gehen alle zu Retsina und fragen, ob sie einen Slip trägt.
C
Wir hängen ein großes Plakat auf, mit den Umrissen –
A
von Retsina
C
von Europa. Und dem Rest der Welt. Da kann dann jeder draufschreiben,
was er über diese Länder weiß, auch Fotos natürlich. Und wenn die
Europakarte voll ist –
21
A
zerreißen wir sie und wischen uns mit den Fetzen den Arsch ab, weil uns
Europa und alle Anderen am Arsch vorbeigehen.
C
Kommt es in die Pausenhalle.
A
Genau, das machen wir in der Pausenhalle.
C
Wenn die Schule fertig ist –
A
Und nur noch ein großer Schutthaufen ist.
C
Als Info-Point für alle.
A
Als Performance für die Neuen. Damit sie gleich wissen, in was für eine
Schule sie kommen.
C
Gemeinsam gegen Rassismus.
A
Und Verlogenheit! Ab heute sind wir echt!
Eine gute Leitfrage für den Einstieg in die Diskussion dieser Szene ist es, sich mit dem Verhältnis von tatsächlicher Meinung und vorgeschobener Political Correctness zu beschäftigen. Bei den Vorstellungen von
KOPF ODER ZAHL fällt auf, dass die Schüler sehr über die Vorurteile lachen, sich im anschließenden Publikumsgespräch aber möglichst davon distanzieren. Im Prinzip wird hier im Zuschauerverhalten genau das
wiederholt, was Katja Hensels Beobachtung bei den Projekttagen war: Die eigenen Handlungen decken
sich nicht mit dem, was die Schüler an moralischer Bewertung formulieren. Es wird z.B. über den Satz "Alle
Polen klauen" herzhaft (und zustimmend) gelacht, anschließend werden die Schauspieler kritisiert, dass
sie solche Sätze überhaupt in den Mund nehmen. Nach der Diskussion können die Schüler probieren, die
Szene selbst umzusetzen. Alternativ können sie eine eigene Szene zu einem interkulturellen Konflikt entwickeln. Auch hier gilt wieder, dass die Zuschauer anschließend genau beschreiben, was sie gesehen haben,
was der Konflikt war und wie er dargestellt wurde.
22
Unterrichtsprojekt 3: Inszenierungsgespräch und Diskussion
Sollten Sie nicht an einem Publikumsgespräch im Theater im Anschluss an eine Vorstellung teilnehmen,
können Sie sich an den folgenden Fragen orientieren, um selbst ein Inszenierungsgespräch mit Ihren Schülern zu führen.


Wie beschreibt ihr die Beziehung zwischen Christopher und dem Anderen? Was haben die
beiden miteinander zu tun? Wie gehen sie miteinander um?
Christopher und der Andere vertreten unterschiedliche Prinzipien. Wie würdet ihr diese
beschreiben / benennen und wie kommen diese zum Ausdruck? Bitte zunächst genau
beschreiben, bevor die jeweiligen Prinzipien bewertet werden.

Für wen und warum ergreift ihr lieber Partei – für Christopher oder den Anderen?

Wofür könnte der Titel KOPF ODER ZAHL stehen?




Neben den Schauspielern von Christopher und dem Anderen gibt es eine weitere Darstellerin.
Welche Funktion übernimmt sie auf der Bühne?
Aus welchen Elementen besteht der Bühnenraum? Wie spielen die Schauspieler mit und in
diesem Raum?
In der Inszenierung spielt die Sound- und Musikebene eine wichtige Rolle. Welche Geräusche
sind euch aufgefallen? Wie wird Musik verwendet?
Wie würdet ihr die Geschichte des Stücks in fünf Sätzen zusammenfassen? Was sind für euch
die wesentlichen Handlungsmomente und Entwicklungen?

Welche Menschen und Faktoren beeinflussen Christophers Verhalten? Inwiefern?

Was erfahrt ihr über das Schulsystem und Christophers Haltung dazu?





Wie beschreibt ihr Christophers inneren Konflikt – den Widerspruch zwischen dem, was er
sagt, und dem, was er denkt und tut?
Ein wesentlicher künstlerischer Ansatz für Autorin und Regisseur war die Untersuchung
dessen, was man als "das Fremde im Eigenen" bezeichnen kann. Auf welche Art und Weise
behandelt Christopher seinen "anderen" Persönlichkeitsanteil, also das Fremde in ihm?
Welche Konsequenz folgt daraus?
Was passiert am Schluss? Wie interpretiert ihr das Ende der Inszenierung? Warum kommt es
zur großen Explosion?
Welches alternative Ende könnt ihr euch vorstellen? Wie hätte sich Christopher eurer Meinung
nach anders verhalten können?
Die Amokläufer von Columbine bekannten sich in verschiedenen Texten vorab zu ihrer Tat:
"DIE SCHULD GEHÖRT MIR" (vgl. das Interview mit dem Kulturwissenschaftler Joseph Vogl
auf S. 13). In welchem Verhältnis steht dieser Satz zum Inszenierungsansatz, was hat das mit
der Figur Christopher zu tun und was mit der Weltsicht der Jugendlichen als Zuschauer?
23
Szenenfoto mit Johannes Hendrik Langer
24
ANHANG
In der Inszenierung wird das Musikstück "Freude schöner Götterfunken" von Beethoven verwendet. Die zugrundeliegende Ode "An die Freude" stammt von Friedrich Schiller aus dem Jahre 1786, die Komposition
von 1824. 1972 wurde das Hauptthema des letzten Satzes offiziell zur Europahymne bestimmt und 1985
von der Europäischen Gemeinschaft als deren offizielle Hymne angenommen.
Freude schöner Götterfunken
O Freunde, nicht diese Töne!
Sondern lasst uns angenehmere
anstimmen und freudenvollere.
Freude! Freude!
Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein;
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer's nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!
Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.
Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt'gen Plan,
Laufet, Brüder, eure Bahn,
Freudig, wie ein Held zum Siegen.
25
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder, überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.
Ihr stürzt nieder, Millionen?
Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such' ihn überm Sternenzelt!
Über Sternen muss er wohnen.
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder, überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.
Seid umschlungen,
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Freude, schöner Götterfunken, Götterfunken.
26
LITERATURHINWEISE
Götz Eisenberg. AMOK – KINDER DER KÄLTE. ÜBER DIE WURZELN VON WUT UND HASS. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 2000.
Volker Faust. "Amok". – In: PSYCHIATRIE HEUTE: SEELISCHE STÖRUNGEN ERKENNEN, VERSTEHEN,
VERHINDERN, BEHANDELN. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Gesundheit. 2002.
(http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/amok.html)
Ines Geipel. "FÜR HEUTE REICHT'S": AMOK IN ERFURT. Berlin: Rowohlt 2004.
Max Hermanutz und Joachim Kersten. "Amoktaten aus kriminalpsychologischer Sicht". – In: DER AMOKLAUF VON ERFURT. Hrsg. vom Archiv der Jugendkulturen. Berlin 2003. S. 93 – 108.
Lothar Mikos. "Amok in der Mediengesellschaft". – In: DER AMOKLAUF VON ERFURT. Hrsg. vom Archiv
der Jugendkulturen. Berlin 2003. S. 47 – 75.
Elsa Pollmann. TATORT SCHULE: WENN JUGENDLICHE AMOK LAUFEN. Marburg: Tectum 2008.
Elisabeth Zöller, Andreas Schick und Anne Bischoff. UNSCHLAGBAR: DAS BUCH, DAS DICH GEGEN
GEWALT STARK MACHT. Frankfurt / M.: Fischer Verlag 2008.
INTERNETLINKS
http://www1.bpb.de/themen/AIPQC2,0,Jugendgewalt_und_Gesellschaft.html
Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung stellt Joachim Kersten in seinem Artikel mit dem gleichnamigen Titel den
Zusammenhang von "Jugendgewalt und Gesellschaft" her.
http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf
Als PDF-Dokument steht hier der vollständige Forschungsbericht "Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt" zum
Download bereit.
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/amok.html
Hier ist eine ausführliche psychologische und medizinische Begriffsklärung zum Thema 'Amok' zu finden.
http://forum-kritische-paedagogik.de/start/request.php?592.
Über diesen Link kommt man zum Artikel "Sieger sein, indem man Verlierer schafft / Jugendgewalt: Von der Leistungskonkurrenz zu
Selbstbild und gekränkter Ehre".
27
IMPRESSUM
Spielzeit 2009/2010
Intendant: Kay Wuschek
Redaktion: Anne Paffenholz
Gestaltung: Roswitha Weber
Fotos: Christian Brachwitz
Titelfoto mit Denis Pöpping und Johannes Hendrik Langer
THEATER AN DER PARKAUE
Junges Staatstheater Berlin
Parkaue 29
10367 Berlin
Tel. 030 – 55 77 52 -0
www.parkaue.de
Kontakt Theaterpädagogik:
Anne Paffenholz: 030 – 55 77 52 -67
[email protected]
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