sibirische träume

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sibirische träume
Nowosibirsk, Russlands drittgrösste Stadt und Heimat von Valerija Nikolenko
SIBIRISCHE TRÄUME
Die 16-jährige Valerija Nikolenko aus Nowosibirsk ist als Model entdeckt worden,
probehalber darf sie für eine grosse Agentur nach Paris. Findet sie das Glück?
Valerija (links) und ihre Mutter Swetlana in ihrer Wohnung
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Die Nachbarschaft der Nikolenkos in Nowosibirsk
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Text LUZIA TSCHIRKY
Bilder NADJA KILCHHOFER und ROMAIN MADER
Valerija Nikolenko ist angekommen. In Paris, es ist ihr erster Tag
in der Stadt, in der neuen Welt. Sie kommt aus Nowosibirsk, der
sibirischen Hauptstadt, sie spricht weder Französisch noch Englisch. Sie ist sechzehn Jahre alt und Model, das heisst, noch ist
sie es nicht, sie wird es werden, man hat sie ausgewählt. Neben
ihr geht die Mutter, auch sie spricht nur Russisch, 5000 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, sie stehen verloren an der
Réception eines Hotels mitten im Touristenviertel, und der
Réceptionist schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern,
weil er nicht versteht, was das Mädchen und die Mutter wollen.
Seit zwanzig Stunden haben sie nicht geschlafen, die Mutter
ist müde, die Tochter will hinaus aus dem Hotel, in den Frühling,
hinein in dieses Paris und in ihre Zukunft. «Paris! Europa!» Valerija ist aus dem Häuschen. Sie überragt ihre Mutter um zwei
Köpfe – was Swetlana und Valerija, Mutter und Tochter, aber ge­
meinsam haben: den Ehrgeiz. Sie wollen diese Modelkarriere.
«Lera, mein Leralein», sagt die Mutter. «Es ist ein russisches Märchen. Über sein Ende wirst du entscheiden, Lera.» Die Tochter
steht unter Druck, klar. Sie spazieren über die Champs-Élysées.
Vorbei an Nobelboutiquen und Plakatwänden. Da steht die
junge Frau, noch halb Kind, im grauen Kapuzenpullover mit
rosaroten Sternen, sie gehört zu den «neuen Gesichtern» der
weltweit grössten Agentur. IMG. Die Mutter bückt sich. «Diese
Blumen. Solch schöne Blumen haben wir nicht in Nowosibirsk.
Komm, Lera, lass uns Fotos machen neben den Blumen!»
Dann das Hinunterklettern in die Metro («Zieh eine Jacke
an, Lera, es zieht», theatralisches Augenverdrehen der Tochter),
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Touristenfotos vor dem Eiffelturm. Valerija ist wie ausgewechselt, die hellbraunen, leicht nach oben gewinkelten Augen blicken ernst in die Kamera, sie fasst ihre Hüften seitlich mit den
Händen und hält den Kopf schief. Zerbrechlichkeit und Stärke.
Diese melancholischen Augen. «Wollen wir rauf auf den Turm?»,
fragt die Mutter. «Das ist mir viel zu hoch!» Dann sagt die Mutter: «Leralein, heute mach ich dir Hühnchen.» – «Mama, du weisst,
dass ich das nicht essen kann.» Sie darf nicht zunehmen, Mutter und Tochter kaufen Wasser, Joghurt und Milch ein, fettarme
Milch.
Die gefragte Mischung
Entdeckt worden ist Valerija von Global Russian Models, einer
Agentur mit Sitz in Nowosibirsk. Die sucht nach jungen sibirischen Schönheiten, Frauen, die tatarische, asiatische und europäische Vorfahren haben. Sibirien war jahrzehntelang die Region,
wohin politische Gegner und Straftäter und ganze Bevölkerungsgruppen verbannt wurden. Die ethnische Mischung ist eine Folge
dieser Deportationen; für viele junge Frauen ist die schreckliche
Vergangenheit heute die Grundlage für ihre grösste Hoffnung:
es nach Moskau zu schaffen, nach Paris, New York oder Peking.
In Sibirien haben sie keine Perspektive. Global Russian Models
betreibt eine eigene Schule, in der die Mädchen ausgebildet werden – sie lernen das Gehen, Drehen und Posieren.
Zwischen dreizehn und neunzehn Jahre alt sind die Mädchen,
wenn sie sich den Talentspähern im Bikini zeigen. Eine Auswahl
wird in einem Katalog präsentiert: Swetlana, Olina, Anastasia,
Kristina, Natalja – alle aufgeführt nach ihren Massen, nach Haarund Augenfarbe. Die russischen Agenturen versuchen die Mäd-
PLAY
& WIN!
chen weiterzuvermitteln. Im Fall von Valerija hat die 28-jährige
Marina Skopkareva geholfen. Eine sibirische Frau, die den Sprung
auf die grossen Laufstege geschafft hat und heute mit Mann und
Kind in Hamburg lebt. Sie hat Valerija zu IMG vermittelt, wo sie
selbst unter Vertrag steht.
Bevor Valerija nach Paris reiste, hat sie sich Videos ihrer neuen
Konkurrenz angeschaut. IMG dreht Imagefilme der «neuen
Gesichter». Die Mädchen drehen ihre Köpfe und wechseln die
Blicke vor der Kamera im Sekundentakt. Erst nett, dann wütend,
leicht verwegen. Unterlegt ist das Video mit Vivaldis «Jahreszeiten». Marina Skopkareva, die Mentorin, gibt sich zuversichtlich,
macht ihrem Schützling Mut. «Dominik, ein IMG-Agent, hat
gesagt, die Kunden brauchen heute nicht einfach schöne Mädchen. Sie wollen Rosinen, Talente, Persönlichkeiten. Auf den
Fotos sollen einprägsame Gesichter sein, nicht nur Mannequins.
In dir sehen sie das! Du bist die helle Supernova, die den Modehimmel erleuchten wird!» Auf der Webseite der Agentur stehen
Valerijas magische vier Zahlen: 175, 79, 59, 89 – Grösse, Brustumfang, Taille, Hüfte. Diese Zahlen sind ihr Kapital.
«No English, no job!»
Nach zwei Wochen in Paris kann Valerija für das traditionsreiche
französische Label Lanvin arbeiten. Beim Shooting lernt sie die
gleichaltrige Viki aus Polen kennen. Sie freunden sich an, fotografieren sich zusammen in der Maske, gehen Kaffee trinken. Reden
können sie kaum, aber sie verstehen sich ohne Worte, Valerija
scheitert an der Sprache, immer wieder. Sie sagt «Hello» und
«How are you» und «Nice day». Alles ist schwierig und scharf und
kantig. «Turn around!» – dieses Wort kennt sie schon, aber sie
fragt: «Was heisst ‹geradeaus gehen› auf Englisch?» Man hat ihr
klargemacht bei der Agentur: «No English, no job.» Von ihrem
Agenten erhält Valerija E-Mails mit Terminen. Sie füttert die
Google-Übersetzungsmaschine damit, sie versucht zu kapieren,
was die Modewelt von ihr will. Dann ist die Zeit in Paris um.
IMG schickt Valerija nach Mailand. Es gibt ein Foto von ihr, auf
dem sie lacht. «Ich liebe dieses Foto. Auf dem bin ich einfach ich
selbst. Schade, dass es so wenige solche Fotos gibt!»
Was meint ihr Vater zum Leben als Model? Die Eltern sind
ge­schieden, einen Vater gebe es nicht, sagt die Mutter. Valerija
ist im Sommer 1997 geboren, in dieses gefährliche Vakuum hinein, als sich in den Neunzigerjahren in Russland vieles änderte,
von heute auf morgen alles ändern konnte. Die Sowjetunion war
zusammengebrochen, es gab schockartige Privatisierungen, Tausende verloren ihren Job in staatlichen Betrieben, der Alkoholkonsum geriet ausser Kontrolle. Valerija ist ein Kind dieser Zeit.
«Die Grösse hat sie vom Vater.» Sagt die Mutter.
Nach den Wochen in Paris und Mailand fliegt Valerija zurück
nach Nowosibirsk. Sie wisse nicht, was kommt, sagt sie. «Zuerst
gibt es in Nowosibirsk einen Englischkurs für sie, dann geht es
vielleicht weiter nach Japan», erklärt Uchalowa Ljubow, die Direktorin von Global Russian Models. «Nur nicht zurück nach Russland!», hat Valerija wenige Tage vor ihrer Abreise getwittert.
Eine Freundin aus Nowosibirsk hat geantwortet: «Ich vermisse
dich. Wir alle vermissen dich.» Der Vertrag mit IMG läuft für ein
Jahr. Noch ist alles auf Probe.
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LU Z I A TS CH I RKY ist freie Journalistin.
[email protected]
Auf der Suche nach dem perfekten Model in Krasnojarsk:
Von hundert Mädchen kriegen am Schluss fünf bis zehn einen einwöchigen Vertrag.
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Im Vergnügungspark von Nowosibirsk
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Letzte Übungsschritte auf dem sibirischen Laufsteg, bevor es Richtung Paris geht.
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Am Anfang und am Ziel von Valerijas Reise der Hoffnung
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Die Fotografen N A DJA KI LCH H OFE R & ROM A I N M A D E R leben in Lausanne. www.tapisnoir.ch
Mit dieser Reportage sind sie Gewinner des Globetrotter World Photo 2013.
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