sibirische träume
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sibirische träume
Nowosibirsk, Russlands drittgrösste Stadt und Heimat von Valerija Nikolenko SIBIRISCHE TRÄUME Die 16-jährige Valerija Nikolenko aus Nowosibirsk ist als Model entdeckt worden, probehalber darf sie für eine grosse Agentur nach Paris. Findet sie das Glück? Valerija (links) und ihre Mutter Swetlana in ihrer Wohnung 10 DA S M A G A Z I N 1 9/2 0 1 4 Die Nachbarschaft der Nikolenkos in Nowosibirsk 11 12 Text LUZIA TSCHIRKY Bilder NADJA KILCHHOFER und ROMAIN MADER Valerija Nikolenko ist angekommen. In Paris, es ist ihr erster Tag in der Stadt, in der neuen Welt. Sie kommt aus Nowosibirsk, der sibirischen Hauptstadt, sie spricht weder Französisch noch Englisch. Sie ist sechzehn Jahre alt und Model, das heisst, noch ist sie es nicht, sie wird es werden, man hat sie ausgewählt. Neben ihr geht die Mutter, auch sie spricht nur Russisch, 5000 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, sie stehen verloren an der Réception eines Hotels mitten im Touristenviertel, und der Réceptionist schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern, weil er nicht versteht, was das Mädchen und die Mutter wollen. Seit zwanzig Stunden haben sie nicht geschlafen, die Mutter ist müde, die Tochter will hinaus aus dem Hotel, in den Frühling, hinein in dieses Paris und in ihre Zukunft. «Paris! Europa!» Valerija ist aus dem Häuschen. Sie überragt ihre Mutter um zwei Köpfe – was Swetlana und Valerija, Mutter und Tochter, aber ge meinsam haben: den Ehrgeiz. Sie wollen diese Modelkarriere. «Lera, mein Leralein», sagt die Mutter. «Es ist ein russisches Märchen. Über sein Ende wirst du entscheiden, Lera.» Die Tochter steht unter Druck, klar. Sie spazieren über die Champs-Élysées. Vorbei an Nobelboutiquen und Plakatwänden. Da steht die junge Frau, noch halb Kind, im grauen Kapuzenpullover mit rosaroten Sternen, sie gehört zu den «neuen Gesichtern» der weltweit grössten Agentur. IMG. Die Mutter bückt sich. «Diese Blumen. Solch schöne Blumen haben wir nicht in Nowosibirsk. Komm, Lera, lass uns Fotos machen neben den Blumen!» Dann das Hinunterklettern in die Metro («Zieh eine Jacke an, Lera, es zieht», theatralisches Augenverdrehen der Tochter), 13 Touristenfotos vor dem Eiffelturm. Valerija ist wie ausgewechselt, die hellbraunen, leicht nach oben gewinkelten Augen blicken ernst in die Kamera, sie fasst ihre Hüften seitlich mit den Händen und hält den Kopf schief. Zerbrechlichkeit und Stärke. Diese melancholischen Augen. «Wollen wir rauf auf den Turm?», fragt die Mutter. «Das ist mir viel zu hoch!» Dann sagt die Mutter: «Leralein, heute mach ich dir Hühnchen.» – «Mama, du weisst, dass ich das nicht essen kann.» Sie darf nicht zunehmen, Mutter und Tochter kaufen Wasser, Joghurt und Milch ein, fettarme Milch. Die gefragte Mischung Entdeckt worden ist Valerija von Global Russian Models, einer Agentur mit Sitz in Nowosibirsk. Die sucht nach jungen sibirischen Schönheiten, Frauen, die tatarische, asiatische und europäische Vorfahren haben. Sibirien war jahrzehntelang die Region, wohin politische Gegner und Straftäter und ganze Bevölkerungsgruppen verbannt wurden. Die ethnische Mischung ist eine Folge dieser Deportationen; für viele junge Frauen ist die schreckliche Vergangenheit heute die Grundlage für ihre grösste Hoffnung: es nach Moskau zu schaffen, nach Paris, New York oder Peking. In Sibirien haben sie keine Perspektive. Global Russian Models betreibt eine eigene Schule, in der die Mädchen ausgebildet werden – sie lernen das Gehen, Drehen und Posieren. Zwischen dreizehn und neunzehn Jahre alt sind die Mädchen, wenn sie sich den Talentspähern im Bikini zeigen. Eine Auswahl wird in einem Katalog präsentiert: Swetlana, Olina, Anastasia, Kristina, Natalja – alle aufgeführt nach ihren Massen, nach Haarund Augenfarbe. Die russischen Agenturen versuchen die Mäd- PLAY & WIN! chen weiterzuvermitteln. Im Fall von Valerija hat die 28-jährige Marina Skopkareva geholfen. Eine sibirische Frau, die den Sprung auf die grossen Laufstege geschafft hat und heute mit Mann und Kind in Hamburg lebt. Sie hat Valerija zu IMG vermittelt, wo sie selbst unter Vertrag steht. Bevor Valerija nach Paris reiste, hat sie sich Videos ihrer neuen Konkurrenz angeschaut. IMG dreht Imagefilme der «neuen Gesichter». Die Mädchen drehen ihre Köpfe und wechseln die Blicke vor der Kamera im Sekundentakt. Erst nett, dann wütend, leicht verwegen. Unterlegt ist das Video mit Vivaldis «Jahreszeiten». Marina Skopkareva, die Mentorin, gibt sich zuversichtlich, macht ihrem Schützling Mut. «Dominik, ein IMG-Agent, hat gesagt, die Kunden brauchen heute nicht einfach schöne Mädchen. Sie wollen Rosinen, Talente, Persönlichkeiten. Auf den Fotos sollen einprägsame Gesichter sein, nicht nur Mannequins. In dir sehen sie das! Du bist die helle Supernova, die den Modehimmel erleuchten wird!» Auf der Webseite der Agentur stehen Valerijas magische vier Zahlen: 175, 79, 59, 89 – Grösse, Brustumfang, Taille, Hüfte. Diese Zahlen sind ihr Kapital. «No English, no job!» Nach zwei Wochen in Paris kann Valerija für das traditionsreiche französische Label Lanvin arbeiten. Beim Shooting lernt sie die gleichaltrige Viki aus Polen kennen. Sie freunden sich an, fotografieren sich zusammen in der Maske, gehen Kaffee trinken. Reden können sie kaum, aber sie verstehen sich ohne Worte, Valerija scheitert an der Sprache, immer wieder. Sie sagt «Hello» und «How are you» und «Nice day». Alles ist schwierig und scharf und kantig. «Turn around!» – dieses Wort kennt sie schon, aber sie fragt: «Was heisst ‹geradeaus gehen› auf Englisch?» Man hat ihr klargemacht bei der Agentur: «No English, no job.» Von ihrem Agenten erhält Valerija E-Mails mit Terminen. Sie füttert die Google-Übersetzungsmaschine damit, sie versucht zu kapieren, was die Modewelt von ihr will. Dann ist die Zeit in Paris um. IMG schickt Valerija nach Mailand. Es gibt ein Foto von ihr, auf dem sie lacht. «Ich liebe dieses Foto. Auf dem bin ich einfach ich selbst. Schade, dass es so wenige solche Fotos gibt!» Was meint ihr Vater zum Leben als Model? Die Eltern sind geschieden, einen Vater gebe es nicht, sagt die Mutter. Valerija ist im Sommer 1997 geboren, in dieses gefährliche Vakuum hinein, als sich in den Neunzigerjahren in Russland vieles änderte, von heute auf morgen alles ändern konnte. Die Sowjetunion war zusammengebrochen, es gab schockartige Privatisierungen, Tausende verloren ihren Job in staatlichen Betrieben, der Alkoholkonsum geriet ausser Kontrolle. Valerija ist ein Kind dieser Zeit. «Die Grösse hat sie vom Vater.» Sagt die Mutter. Nach den Wochen in Paris und Mailand fliegt Valerija zurück nach Nowosibirsk. Sie wisse nicht, was kommt, sagt sie. «Zuerst gibt es in Nowosibirsk einen Englischkurs für sie, dann geht es vielleicht weiter nach Japan», erklärt Uchalowa Ljubow, die Direktorin von Global Russian Models. «Nur nicht zurück nach Russland!», hat Valerija wenige Tage vor ihrer Abreise getwittert. Eine Freundin aus Nowosibirsk hat geantwortet: «Ich vermisse dich. Wir alle vermissen dich.» Der Vertrag mit IMG läuft für ein Jahr. Noch ist alles auf Probe. • LU Z I A TS CH I RKY ist freie Journalistin. [email protected] Auf der Suche nach dem perfekten Model in Krasnojarsk: Von hundert Mädchen kriegen am Schluss fünf bis zehn einen einwöchigen Vertrag. 14 D A S M A G A Z I N 1 9/2 0 1 4 15 Im Vergnügungspark von Nowosibirsk 16 DA S M A G A Z I N 1 9/2 0 1 4 Letzte Übungsschritte auf dem sibirischen Laufsteg, bevor es Richtung Paris geht. 17 Am Anfang und am Ziel von Valerijas Reise der Hoffnung 18 Die Fotografen N A DJA KI LCH H OFE R & ROM A I N M A D E R leben in Lausanne. www.tapisnoir.ch Mit dieser Reportage sind sie Gewinner des Globetrotter World Photo 2013. D A S M A G A Z I N 1 9/2 0 1 4 19