AP Nr. 8- 34 und Einwilligung

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AP Nr. 8- 34 und Einwilligung
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Arbeitspapier Nr. 8
WS 2014
Einwilligung
Die h.M. sieht in der Einwilligung einen Rechtfertigungsgrund.
Der Grundgedanke der Einwilligung ist danach folgender:
Das Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 I GG) des Einzelnen gestattet es, dass
jedermann seine Rechtsgüter preisgeben darf und dadurch das Unrecht ihrer
Verletzung entfällt. Im Rahmen dieser Autonomie müssen auch für einen objektiven Beobachter „unvernünftig“ erscheinende Entscheidungen gebilligt
werden, so z.B. eine Einwilligung in „Sado-Maso Praktiken“, solange die
Grenzen des § 228 nicht überschritten werden, (es also nicht zu einer Lebensgefährdung oder zu dauernden Beeinträchtigungen kommt). Der Einzelne darf
in den Grenzen des Art. 2 I GG nicht einer Bevormundung ausgesetzt werden,
wie er mit seinen Rechtsgütern zu verfahren hat.
Die rechtfertigende Einwilligung ist nach h.M. von dem
tatbestandsausschließenden Einverständnis
abzugrenzen. Der Verzicht auf ein Rechtsgut kann nämlich in bestimmten Fällen schon den Tatbestand ausschließen, und zwar dann, wenn sich der Unwert
einer Handlung gerade daraus ergibt, dass man gegen oder ohne den Willen
des Berechtigten handelt:
z.B. kann man keine Sache i. S. d. § 242 I StGB wegnehmen, wenn der Besitzer damit einverstanden ist, man kann nicht in ein fremdes Haus i. S. d. § 123 I
StGB eindringen, wenn der Hausherr einem die Tür aufhält. Also: Bei einem
Einverständnis des Berechtigten ist ein solches Tatbestandsmerkmal bereits
nach seinem Wortlaut nicht verwirklicht.
Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung sind,
1. dass es sich bei dem verletzten Rechtsgut um ein disponibles Rechtsgut
handelt (also kein Rechtsgut der Allgemeinheit oder das Leben, vgl. § 216
StGB),
2. dass der Einwilligende dispositionsbefugt ist (also i.d.R. der Träger des
Rechtsguts),
3. dass er einwilligungsfähig ist (konkrete Einsichts- und Urteilsfähigkeit bzgl.
der Bedeutung und Tragweite des Rechtsgutsverzichtes, auf volle Geschäftsfähigkeit oder volle Zurechnungsfähigkeit kommt es nicht an),
4. dass die Einwilligung frei von wesentlichen Willensmängeln zustande gekommen ist,
5. dass sie vor der Tat ausdrücklich oder konkludent erklärt wurde (eine nachträgliche Genehmigung ist im Strafrecht bedeutungslos; die Einwilligung ist
bis zur Tatbegehung frei widerruflich),
6. dass der Täter im Rahmen der Einwilligung und – als subjektives Rechtfertigungselement – in Kenntnis der Einwilligung handelt.
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Rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB
Grundgedanke des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB ist das Prinzip des überwiegenden Interesses. Einen Eingriff in ein Rechtsgut hat der
Betroffene aus dem Grundgedanken der (Mindest-) Solidarität und dem
Utilitaritätsprinzip zu dulden, wenn das zu rettende Interesse eindeutig überwiegt. Der Eingriff stellt sich dann als sozial nützlich dar.
Die Struktur des § 34 StGB ist:
1. Notstandslage: gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut
(objektive ex-ante-Prognose),
2. Notstandshandlung: Erforderlichkeit („nicht anders abwendbar“ im Wege
eines objektiven ex-ante-Urteils), also geeignet und das relativ mildeste Mittel;
Interessenabwägung und Angemessenheit,
3. Rettungswille.
Insbesondere die Interessenabwägung zwischen Eingriffs- und Erhaltungsgut
bedarf einer ausführlichen Prüfung. Neben dem Rang der kollidierenden Güter
spielen vor allem die Intensität und Nähe der Gefahr, der Umfang der drohenden Einbuße, die Ursache der Gefahr sowie Gefahrtragungs- und Schutzpflichten eine Rolle. Auf keinen Fall darf man die Abwägung auf den abstrakten
Vergleich der beiden Rechtsgüter beschränken (ein häufiger Mangel)!
Merke: Das Leben eines Menschen ist kein quantifizierbares Rechtsgut!
Zu 1.:
a) Notstandsfähig sind Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit, die
in der konkreten Situation schutzwürdig und schutzbedürftig sind.
b) Gefahr:
Ein Zustand, der bei ungestörter Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.
Darunter kann auch eine Dauergefahr fallen, also ein gefahrbedrohender Zustand von längerer Dauer, der jederzeit in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann.
c) Gegenwärtig ist diese, wenn sie so dringend ist, dass sie nur durch unverzügliches Handeln wirksam abgewendet werden kann.
Die Gegenwärtigkeit einer Gefahr reicht damit weiter als die Gegenwärtigkeit
des Angriffs (§ 32 StGB), da das Angriffsstadium eine akute Zuspitzung der
Gefahr voraussetzt, also mindestens Versuchsnähe.
Zu 2.:
a) Nicht-anders-Abwendbarkeit:
Bevor in fremde Rechtsgüter eingegriffen wird, muss zuerst jede erreichbare
Hilfe zur Abwendung der Gefahr in Anspruch genommen werden. Denn beim
Notstand geht es um die Abwendung von Gefahren und nicht um Rechtsbewährung.
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b) Interessenabwägung:
Bei einer Abwehrhandlung im Defensivnotstand, die allein in die Gütersphäre
dessen eingreift, von dem die Gefahr ausgeht, sind qualitativ und quantitativ
weitergehende Beeinträchtigungen zulässig (als bei einem aggressiven Notstand, der unbeteiligte Dritte in Mitleidenschaft zieht), so dass hierbei der entstandene Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr stehen darf.
Beim Aggressivnotstand dagegen muss der drohende Schaden gegenüber
dem durch die Einwirkung entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß
sein.
→ WICHTIG: Der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes ist immer zu
beachten! Das Leben ist kein quantifizierbares Rechtsgut.
→ Innerhalb der Interessenabwägung ist auch der Fall einzustellen, dass die
Gefahr verschuldet wurde; die Anwendbarkeit von § 34 StGB wird aber, wie
ein Vergleich mit § 35 I 2 StGB zeigt, dadurch nicht ausgeschlossen.
Vgl. die speziellen Ausprägungen des § 34 StGB in §§ 228 (Defensivnotstand)
und 904 BGB (Aggressivnotstand).
Problem: Nötigungsnotstand
Beim Nötigungsnotstand ist der Täter zugleich Opfer einer Nötigung, die zu
einem rechtswidrigen Verhalten seinerseits führt.
Beispiel: A zwingt den B mit vorgehaltener Pistole, eine Urkunde des C zu
vernichten.
Eine gegenwärtige Gefahr für das vorrangig zu schützende Rechtsgut „Leben“,
die von einem Menschen ausgeht, liegt vor, so dass man eine Rechtfertigung
des B gem. § 34 StGB annehmen könnte, mit der Folge, dass C gegen die Urkundenvernichtung keine Notwehr üben dürfte.
Umstritten ist, wie diese Konstellation zu behandeln ist:
Eine Ansicht bejaht die Rechtfertigung mit dem Argument, dass es keinen Unterschied machen könne, ob die Gefahr von einem Menschen oder einer Naturgewalt ausgehe. B wäre dann ein rechtmäßig handelndes Werkzeug des
rechtswidrig handelnden A, der als mittelbarer Täter für die dem C zugefügte
Sachbeschädigung verantwortlich ist.
Die Gegenansicht kritisiert, dass hiermit dem B das Notwehrrisiko abgenommen wird und den C ins Unrecht setzt, wenn dieser sich verteidigt. B trete
schließlich auf die Seite des Unrechts und werde zum verlängerten Arm
des A. Das Vertrauen in die Geltungskraft der Rechtsordnung würde erschüttert, wenn der C sich nicht wehren dürfte. Ein Nötigungsnotstand rechtfertigt
somit nicht das Verhalten des Genötigten, sondern entschuldigt ihn nur gem. §
35 StGB.
Fall 1
P sucht zur Behandlung seines schlechten Allgemeinzustands eine Klinik auf.
Der behandelnde Arzt hält eine Blutuntersuchung einschließlich eines HIV-
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Tests für medizinisch indiziert. P willigt in die Blutentnahme ein. Über den
HIV-Test wird jedoch nicht gesprochen. P geht daher auch nicht davon aus,
dass einer durchgeführt wird. Hätte er es gewusst, hätte er die Blutentnahme
nicht vornehmen lassen.
Am selben Tag, an dem der Arzt P über das negative Ergebnis des HIV-Tests
informiert, wird ein Schwerverletzter in die Klinik eingeliefert, der dieselbe
seltene Blutgruppe wie P hat. Um das Leben des Verletzten zu retten, ist eine
sofortige Bluttransfusion notwendig. Da keine Blutkonserve dieser Blutgruppe
vorhanden ist, bittet der Arzt P um eine Blutspende. Dieser ist dazu jedoch
nicht bereit, da er sich über das eigenmächtige Verhalten des Arztes bei seiner
Blutuntersuchung mächtig ärgert. Daraufhin entnimmt der Arzt mit tatkräftiger
Hilfe eines Pflegers dem sich heftig sträubenden P unter Anwendung von Gewalt die für die Transfusion benötigte Menge Blut. Der Arzt und der Pfleger
glauben, aufgrund der Notlage zu diesem Verhalten berechtigt zu sein.
Nach Verlassen der Klinik erstattet P Strafanzeige. Strafbarkeit des Arztes
nach den Körperverletzungsdelikten?
I. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB durch die erste Blutentnahme
Der Arzt könnte sich gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er P zur Blutentnahme mit der Nadel durch die Haut in die Vene
stach.
1. Objektiver Tatbestand
Dann müsste der Stich durch die Haut von P, einer anderen Person, eine körperliche Misshandlung sein. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und
unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. Der Einstich
beeinträchtigt das körperliche Wohlbefinden, zumindest aber die körperliche Unversehrtheit.
Diese Beeinträchtigung ist auch objektiv gesehen mehr als unerheblich, da
ein Nadelstich in eine Vene (Venenpunktion) mehr als eine bloße Bagatelle ist,
vor allem, weil damit auch ein Verlust an Körpersubstanz (Blut) verbunden ist.
Fraglich ist jedoch, ob diese Beeinträchtigung auch übel und unangemessen
ist, da es sich um einen ärztlichen Heileingriff handeln könnte.
Ein ärztlicher Heileingriff ist ein körperlicher Eingriff, der medizinisch
angezeigt ist, nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausgeführt und mit
Heilungswillen vorgenommen wird. Hier war die Blutentnahme aufgrund des
schlechten Allgemeinzustands von P indiziert; der Arzt hat sie auch lege artis
vorgenommen, um eine Diagnose fällen zu können, also mit Heilungswillen.
Somit lag ein ärztlicher Heileingriff vor.
Nach h.L. ist eine solche ärztliche Heilbehandlung nicht übel und unangemessen, weshalb keine körperliche Misshandlung vorlag.
Die Gegenansicht sieht auch in einer solchen Heilbehandlung eine tatbestandliche Körperverletzung, da objektiv betrachtet eine solche Beeinträchtigung als
Übel empfunden wird. Ärztliche Heilbehandlungen bedürfen daher einer
Rechtfertigung, i.d.R. durch Einwilligung des Patienten.
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Heileingriffe sind nicht nur therapeutische Maßnahmen sondern auch diagnostische und prophylaktische. Keine Heilbehandlung und daher nach allgemeiner
Ansicht eine tatbestandliche Körperverletzung sind jedoch z.B. kosmetische
Operationen, Heilversuche, Transplantationen auf Geberseite und Doping, auch
wenn sie von einem Arzt kunstgerecht durchgeführt wurden.
Für die h.L. spricht, dass sie den Vorgang bei einem ärztlichen Heileingriff
einer Gesamtbetrachtung unterzieht und dabei den sozialen Sinn einer Handlung berücksichtigt; schließlich dient ein ärztlicher Heileingriff der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit und schadet ihr gerade nicht. Dagegen
spricht jedoch, dass ein solcher positiver Zweck, der mit einer Handlung verbunden ist, i.d.R. erst bei der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen ist; der Eingriff – isoliert betrachtet: ein Stich mit einem spitzen Gegenstand durch die
Haut – ist objektiv eine körperliche Misshandlung. Ferner spricht für diese –
namentlich von der Rspr. vertretene – Ansicht, dass nur so eigenmächtige
Heileingriffe strafbar sind; eine solche Strafbarkeit erscheint notwendig angesichts des schützenswerten Selbstbestimmungsrechts eines Patienten.
Die besseren Gründe sprechen somit für die Annahme einer körperlichen
Misshandlung auch bei medizinischen Heileingriffen.
Ferner könnte eine Gesundheitsschädigung vorliegen, also durch den Einstich
ein pathologischer Zustand geschaffen oder gesteigert worden sein. Zwar muss
auch eine solche marginale Einstichstelle verheilen; der dadurch verursachte
minimale krankhafte Zustand ist jedoch eine Bagatelle, vergleichbar einer kleinen Hautabschürfung, die für die Annahme einer Gesundheitsbeschädigung zu
unerheblich ist.
Die Spritze könnte ferner ein gefährliches Werkzeug gewesen sein. Ein gefährliches Werkzeug ist ein Gegenstand, der nach der Art und Weise seiner Verwendung im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen.
Zwar kann man mit einer Nadel, wenn man z.B. damit jemandem ins Auge
sticht, erhebliche Verletzungen herbeiführen; mit einer von einem Arzt sachgerecht als medizinisches Instrument benutzten Spritze ist dies jedoch nach der
konkreten Art und Weise der Verwendung – für eine Blutentnahme – nicht
möglich, so dass die Spritze – geführt von einem Arzt – kein gefährliches
Werkzeug ist. Somit hat der Arzt lediglich den objektiven Tatbestand der einfachen Körperverletzung und nicht den der gefährlichen Körperverletzung
verwirklicht.
2. Subjektiver Tatbestand
Da der Einstich notwendiges Zwischenziel zur Erreichung des Endziels (Blutprobengewinnung) ist, handelte der Arzt bzgl. der Verwirklichung des objektiven Tatbestands mit Absicht.
3. Rechtswidrigkeit
Der Arzt könnte jedoch gerechtfertigt gewesen sein, wenn P wirksam in die
Körperverletzung eingewilligt hat.
a) Die körperliche Unversehrtheit ist als Individualrechtsgut disponibel, sofern
die Körperverletzung nicht gegen die guten Sitten verstößt (vgl. § 228 StGB);
dies ist bei einem ärztlichen diagnostischen Eingriff nicht der Fall.
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b) P war als Träger dieses Rechtsguts auch dispositionsbefugt.
c) Zweifel an seiner Einwilligungsfähigkeit sind nicht erkennbar.
d) Er hat die Einwilligung auch vor der Tat erklärt.
e) Fraglich ist jedoch, ob die Einwilligung frei von Willensmängeln zustande
gekommen ist, da P nicht wusste, dass das Blut u.a. dazu verwendet werden
sollte, einen HIV-Test durchzuführen. Dazu ist erforderlich, dass der Einwilligende die Erklärung in Kenntnis von Art und Tragweite des Eingriffs abgibt. Bei ärztlichen Heileingriffen bedarf es deshalb einer ärztlichen Aufklärung.
Umfang und Intensität dieser Aufklärung richten sich nach den konkreten Umständen. Hier stellt sich nun die Frage, ob der Arzt P über den HIV-Test hätte
aufklären müssen.
Eine Ansicht verneint eine Aufklärungspflicht über diesen Test. Bei einer Einwilligung ist über die Risiken des Eingriffs aufzuklären, also über die rechtsgutsbezogenen Umstände; in diesem Fall also über die Venenpunktion und
deren Tragweite und Risiken (z.B. die Gefahren einer Embolie oder eines Hämatoms).
Was mit dem Blut später passiert, betrifft das Rechtsgut nicht unmittelbar und
ist deshalb für die Einwilligung in die körperliche Misshandlung nur eine
Randfrage. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Arzt mit dem Blut ausschließlich einen HIV-Test durchgeführt hätte, weil er dann P über den objektiven Sinn der körperlichen Misshandlung insgesamt getäuscht hätte.
Für die Gegenansicht spricht, dass die Kenntnis von einer HIV-Infektion existentielle Folgen für den Patienten haben kann. Die Folgen eines möglichen
positiven Ergebnisses des Tests für Psyche und Leben des Patienten sind erheblich. Nicht jeder ist einem positiven Befund gewachsen. Allein die Anordnung eines Tests kann zu einer Stigmatisierung führen, da dadurch beim Pflege- und Hilfspersonal sozial-negative Assoziationen ausgelöst werden können.
Die Angst bis zum Erhalt des Ergebnisses kann lebensbedrohlich sein. Schließlich betrifft eine HIV-Infektion den Intimbereich des Patienten, so dass eine
Aufklärung über die Vornahme eines solchen Tests zu erwarten ist. Dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Art. 1 I, 2 I GG wird nur dann ausreichend
Rechnung getragen, wenn der Patient das Wahlrecht hat, ob er einen Test
durchführen lassen will, oder nicht. Nach dem hier Ausgeführten handelt es
sich bei dem HIV-Test um keine übliche medizinische Routinemaßnahme, in
dessen Vornahme P automatisch mit eingewilligt hätte. Das Selbstbestimmungsrecht über die Vornahme von körperlichen Eingriffen wird nur dann
uneingeschränkt gewährleistet, wenn der Rechtsgutsinhaber auch über den
Zweck des körperlichen Eingriffs vollumfänglich aufgeklärt wurde, da dieser
Zweck gerade seine Entscheidung mitbestimmt.
Angesichts dessen, dass im Rahmen des § 223 StGB aber lediglich die Selbstbestimmung über die körperliche Unversehrtheit maßgeblich ist und nicht die
generelle Selbstbestimmung des Menschen, kann man hier jedoch vertreten,
dass die Einwilligung frei von wesentlichen Willensmängeln zustande gekommen ist, insbesondere auch deswegen, weil der Arzt den HIV-Test wegen des
schlechten Zustandes von P für mit indiziert hielt und nicht nur auf Grund von
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Infektionsangst (für sich und das Krankenhauspersonal) diesen Test durchführen ließ.
f) Da der Arzt im Rahmen und in Kenntnis der Einwilligung gehandelt hat,
liegen die Voraussetzungen der Einwilligung vor, so dass er gerechtfertigt war.
4. Ergebnis: Durch die erste Blutentnahme hat sich der Arzt nicht wegen einer
Körperverletzung strafbar gemacht.
Eine Verneinung der Strafbarkeit schließt jedoch Schadensersatzansprüche
wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach § 823 BGB
nicht aus!
Wichtig: Sie können auch zu einem anderen Ergebnis kommen, solange Sie es
gut begründen!
Literaturhinweise zu diesem Fall: Staatsanwaltschaft Mainz, NJW 1987, S.
2946 ff.; Janker, NJW 1987, S. 2897 ff
II. §§ 223 I, 224 I Nr. 4 StGB durch die erzwungene Blutspende
Durch die zweite Blutentnahme könnte sich der Arzt wegen einer gefährlichen
Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 4 StGB strafbar gemacht haben.
1. Objektiver Tatbestand
Durch die mit der Blutentnahme verbundene Venenpunktion hat der Arzt –
weil es sich hier um keinen ärztlichen Heileingriff bei P handelte – nach allgemeiner Ansicht eine körperliche Misshandlung bei P, einer anderen Person,
objektiv zurechenbar verursacht.
Da der Pfleger ihn dabei unterstützte, könnte er die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begangen haben. Der Pfleger ist ein
Beteiligter und er hat auch mit dem Arzt unmittelbar am Tatort zusammengewirkt. Fraglich ist jedoch, ob § 224 I Nr. 4 StGB vorliegt, da eine medizinische
Behandlung in einem Krankenhaus oft arbeitsteilig vorgenommen wird, ohne
dass die für § 224 I Nr. 4 StGB charakteristische besondere Gefährlichkeit der
Körperverletzung gegeben ist. Hier lag der Fall aber anders als bei einem normalen Eingriff, da der Arzt und der Pfleger gewaltsam gegen den Patienten
vorgingen und daher tatsächlich für diesen wegen ihrer Übermacht besonders
gefährlich waren. § 224 I Nr. 4 StGB liegt somit objektiv vor.
2. Subjektiver Tatbestand
Der Arzt handelte auch mit Wissen und Wollen und somit vorsätzlich; da die
Venenpunktion notwendiges Zwischenziel zur Erreichung seines eigentlichen
Ziels – der Blutspende – war, handelte er absichtlich.
3. Rechtswidrigkeit
Der Arzt könnte jedoch wegen Notstands gemäß § 34 StGB gerechtfertigt gewesen sein, da er das Blut zur Versorgung des Schwerverletzten benötigte.
Zur Wiederholung, Struktur des § 34 StGB:
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a) Notstandslage: gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut
(objektive ex-ante-Prognose),
b) Notstandshandlung: Erforderlichkeit („nicht anders abwendbar“ im Wege
eines objektiven ex-ante-Urteils), also geeignet und das relativ mildeste Mittel;
Interessenabwägung und Angemessenheit,
c) Rettungswille.
a) Notstandslage
Es müsste eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut vorgelegen habe. Das Leben des Schwerverletzten ist ein solches Rechtsgut, das
auch in gegenwärtiger Gefahr schwebte, da ohne alsbaldige Abwehrmaßnahmen der Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens bei dem
Schwerverletzen zu befürchten war, schließlich war bei diesem eine sofortige Bluttransfusion nötig.
b) Notstandshandlung
Die Gefahr dürfte nicht anders abwendbar gewesen sein, d.h. die Notstandshandlung muss erforderlich gewesen sein. Sie war geeignet, den Schwerverletzten zu retten; ein gleich wirksames milderes Mittel war nicht vorhanden,
insbesondere gab es keine Blutkonserven und eine freiwillige Blutspende durch
P war nicht zu bekommen.
c) Das geschützte Interesse – das Leben des Schwerverletzten – müsste nun das
beeinträchtige Interesse – die körperliche Unversehrtheit von P – wesentlich
überwiegen.
Bzgl. des Rangs der Rechtsgüter überwiegt das Leben eindeutig; die Gefahr für
das Leben war äußerst bedrohlich, wobei die körperliche Misshandlung bei P
dagegen nur sehr unerheblich und ungefährlich war. Ein Überwiegen des zu
rettenden Interesses liegt also vor.
Die Rettungshandlung musste jedoch auch ein angemessenes Mittel gewesen
sein. Das Verhalten muss demnach nach den anerkannten Wertvorstellungen
der Allgemeinheit als eine sachgemäße und dem Recht entsprechende Lösung
der Konfliktlage erscheinen. Hier ist dies deshalb zweifelhaft, da zwar einerseits ein Mindestmaß an Solidarität in einer Rechtsgemeinschaft zu verlangen
ist; andererseits muss ein essentieller Kern von Grundrechten des Menschen
unangetastet bleiben und einer Interessenabwägung entzogen sein. Mit der
Würde des Menschen ist es daher unvereinbar, ihn quasi als Ersatzteillager
für die Rettung irgendeines anderen Menschen zu betrachten, es sei denn, er
hat eine besondere Garantenpflicht gegenüber dem in Gefahr schwebenden
Menschen. Da dies hier nicht der Fall war, war die Notstandshandlung kein
angemessenes Mittel, so dass der Arzt – da auch andere Rechtfertigungsgründe
nicht ersichtlich waren – rechtswidrig gehandelt hat.
Hinweis: Die Menschenwürde ist somit das letzte Korrektiv im Rahmen des §
34. Materiell können gegen die Menschenwürde verstoßende Handlungen auch
dann nicht gerechtfertigt sein, wenn dies zur Rettung eines im Übrigen wesent-
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lich überwiegenden Erhaltungsguts (hier: Leben des Schwerverletzten) führen
würde.1
A.A.: Geringe körperliche Zwangseingriffe zum Schutze anderer Rechtsgüter
verstoßen nicht per se gegen die Menschenwürde. Nach §§ 81 a I 2; 81 c StPO;
372 a ZPO sind zwangsweise Blutentnahmen sogar zur Aufklärung relativ geringfügiger Delikte bzw. zur Feststellung der Abstammung zulässig. Ein ähnlicher Eingriff muss dann aber auch zulässig sein, wenn er der Rettung eines
Menschenlebens dient (Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 16 Rn. 49).
4. Schuld
Der Arzt war auch nicht nach § 35 StGB entschuldigt, da der Schwerverletzte
kein Angehöriger des Arztes oder eine andere ihm nahestehende Person war.
Er könnte sich jedoch in einem Verbotsirrtum gemäß § 17 S. 1 StGB befunden
haben, da er glaubte, zu diesem Verhalten berechtigt gewesen zu sein. Zwar
wusste er, dass eine Venenpunktion an sich unerlaubt war, ihm fehlte jedoch
die Einsicht, Unrecht zu tun, weil er meinte, wegen der Notstandslage des
Schwerverletzten sei dies ausnahmsweise erlaubt. Er befand sich somit in einem indirekten Verbotsirrtum oder Erlaubnisirrtum, der auch nach § 17 S.
1 StGB zu behandeln ist. Dieser Irrtum müsste nun für den Arzt unvermeidbar
gewesen sein. Zwar war in der Situation schnelles Handeln erforderlich, so
dass keine Zeit zu Erkundigungen blieb. Bei Anspannung aller seiner Geisteskräfte hätte er jedoch erkennen können, dass er auch zur Rettung von Menschen einen anderen Menschen nicht als reines Objekt in Form eines Reservoirs für fehlende Rettungsmittel benutzen durfte. Da der Irrtum somit vermeidbar war, handelte er schuldhaft; die Strafe kann jedoch nach § 17 S. 2
StGB gemindert werden.
5. Ergebnis: Der Arzt hat sich durch die erzwungene Blutspende wegen einer
gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 4 strafbar gemacht.