BESPRECHUNGEN Émile BENVENISTE, Dernières leçons

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BESPRECHUNGEN Émile BENVENISTE, Dernières leçons
BESPRECHUNGEN
Émile BENVENISTE, Dernières leçons. Collège de France 1968 et 1969. Édition établie par JeanClaude Coquet et Irène Fenoglio; préface de Julia Kristeva; postface de Tzvetan Todorov
(Hautes Études), Paris: EHESS/Seuil/Gallimard, 2012, 210 S.
Il faut rappeler ici l’épisode de l’étudiant américain qui, au cours d’une séance de la Société Linguistique, avait déclaré innocemment: « Le plus grand linguistique de France,
Martinet, a dit que… », Benveniste s’est alors levé pour déclarer: « Le plus grand linguiste
français, c’est moi ! ». (Martinet 1993, 83)
Einem größeren Publikum ist Émile (Ezra) Benveniste (1902–1976) – zumindest in Deutschland – erst nach Erscheinen der beiden mit Problèmes de linguistique générale überschriebenen
Bände (Benveniste 1966, 1974) bekannt geworden. Hierzulande wird er vor allem als Begründer einer besonderen Form der Diskurslinguistik wahrgenommen, der sog. linguistique de
l’énociation. Sein Ruf als „bedeutendster Sprachwissenschaftler Frankreichs“, den er glaubte
gegenüber seinem Widerpart André Martinet verteidigen zu müssen, beruhte jedoch auf Forschungen in einem ganz anderen Bereich. Er galt als herausragender Vertreter der historischvergleichenden Sprachwissenschaft, vor allem als Sanskritforscher und Iranologe. Seine erste
wissenschaftliche Arbeit, die er unter Leitung des heute fast vergessenen Joseph Vendryes
angefertigt hatte, behandelte die „sigmatischen Konjunktiv- und Futurformen des archaischen
Lateins“. Die Bio-Bibliografie von Georges Redard am Ende des Bandes (S. 151–174) informiert ausführlich über seine Feldarbeit bei den Indianern West-Kanadas und Alaskas sowie
bei den Inuit im äußersten Norden des Kontinents, durch die er hoffte, sich von den durch die
indoeuropäischen Sprachen vermittelten Denkmustern zu befreien. Dass er darüber hinaus ein
Verehrer Rainer Maria Rilkes war, gelegentlich Artikel für L’Humanité, das Organ der kommunistischen Partei, schrieb und dass er zusammen mit den Surrealisten Louis Aragon, André
Breton und Paul Éluard ein Manifest gegen die französisch-spanische Intervention in Marokko
unterzeichnet hat, muss erwähnt werden, um deutlich zu machen, dass er nicht der unscheinbare
Schreibtischgelehrte war, als der er in seinen letzten Jahren erscheinen mochte.
Der hier vorzustellende Band gilt den letzten Vorlesungen, die Benveniste vom Dezember
1968 bis Dezember 1969 am Collège de France gehalten hat, bis ihn am 6. Dezember 1969 ein
Gehirnschlag traf, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Die 15 Vorlesungen des Winters
1968/69 wurden von den beiden Herausgebern in zwei mit „Sémiologie“ und „Langue et écriture“
überschriebene Kapitel gegliedert. In der letzten Vorlesung verspricht Benveniste, das Thema
des vorangegangenen Zyklus wieder aufzunehmen. Diese 16 von den beiden Herausgebern
editierten Texte (dazu später) bilden den Kern des Bandes. Von dessen gut 200 Seiten entfallen
etwa 60 auf Paratexte: Ein Vorwort von Julia Kristeva, die Benveniste freundschaftlich verbunden war, eine Einführung der beiden Herausgeber Jean-Claude Coquet und Irène Fenoglio,
die bereits erwähnte Bio-Bibliografie von Georges Renard, eine Übersicht über Benvenistes
nachgelassene Manuskripte von Émilie Brunet und schließlich ein Nachwort von Tzvetan
Todorov. Benvenistes Vermächtnis wird somit umrahmt von Beiträgen zweier Wissenschaftler
bulgarischer Herkunft. Das ist sicherlich kein reiner Zufall. Benvenistes Eltern waren lange
Jahre für die Alliance Israélite Universelle in Bulgarien tätig, seine Mutter ist dort gestorben.
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Er hat wiederholt seine Verbundenheit mit diesem Land zum Ausdruck gebracht. Schon mit elf
Jahren hatte er seinen Geburtsort Aleppo verlassen, der damals noch zum Osmanischen Reich
gehörte, um mit einem Stipendium der Organisation, für die seine Eltern tätig waren, in Paris
eine Ausbildung zum Rabbiner zu beginnen. Daraus wurde nichts. Er schlug die Universitätslaufbahn ein, studierte historisch-vergleichende Sprachwissenschaft bei Vendryes und Meillet,
dessen Nachfolger er gleich zweimal wurde, zuerst an der École pratique des hautes études,
dann am Collège de France. Nachdem er die französische Staatsangehörigkeit erhalten hatte,
änderte er seinen Vornamen von Ezra in Émile.
Julia Kristeva bietet in ihrem Vorwort einen Paralleltext zu Benvenistes letzten Vorlesungen.
Ihr Stil ist immer ein wenig schillernd, sie tänzelt souverän auf der Scheidelinie zwischen Paraphrase und Kommentar. Benveniste wird als Bewunderer und gleichzeitig als „Überwinder“
Saussures eingeführt. In seiner terminologisch eigenwilligen Unterscheidung zwischen le sémiotique und le sémantique (nur der Artikel weist darauf hin, dass keine Disziplinen, sondern
nomina qualitatis gemeint sind) artikuliere sich, so Kristeva, seine Kritik an Saussure, der nicht
habe zeigen können, wie mit dem rein negativ-differenziell definierten Zeichensystem langue
‚Sinn‘ ausgedrückt und vermittelt werden könne. Durch eine bloße ‚Anwendung‘ des Systems
in Form der parole könne dies nicht erklärt werden. Zu Recht geht sie besonders ausführlich auf
den Komplex langue et écriture ein, denn zu diesem Thema findet sich noch so gut wie nichts
in den Problèmes de linguistique générale.
Der Inhalt der Einzelvorlesungen, so wie er von den Herausgebern präsentiert wird, setzt sich
aus Benvenistes eigenen Notizen und Aufzeichnungen der wenigen Hörer seiner Vorlesungen
zusammen; die zuletzt genannten wurden in kleinerer Drucktype gesetzt. 29 Reproduktionen
der (erstaunlich gut lesbaren) handschriftlichen Notizen des Gelehrten runden das Ganze ab.
Die Kürze der einzelnen Vorlesungen überrascht; in einigen Fällen hätten Benvenistes Aufzeichnungen für eine Vorlesungsstunde ohne die erwähnten ‚Zutaten‘ auf einer Druckseite Platz gefunden. Bei der folgenden knappen Inhaltsangabe kann nicht konsequent zwischen Benvenistes
eigenen Notizen und den Aufzeichnungen der Hörer unterschieden werden.
Die ersten sieben Vorlesungen (2.12.1968–27.1.1969) sind einer Einführung in die sémiologie gewidmet. Der Gegenstand der Allgemeinen Sprachwissenschaft, die Sprache, so Benveniste, bedeute (signifie) „en dehors de tout emploi“ (S. 60). Es geht ihm also auch im Hinblick
auf die Sprache nicht – wie etwa Martinet oder Georges Mounin – um eine „sémiologie de la
communication“, sondern um eine „sémiologie de la signification“. In diesem Punkt und in der
Betonung der Notwendigkeit der Existenz eines ‚Interpretanten‘ bei allen Zeichensystemen weiß
er sich mit Peirce einig. Ansonsten werden zunächst Peirce und dann Saussure vorgestellt und
gewürdigt, im Anschluss daran jedoch entschieden kritisiert. Die fünfte Vorlesung (S. 77–80)
ist wohl die wichtigste des ersten Teils. Hier werden Grundüberzeugungen des Vortragenden
in reichlich apodiktischer Form geäußert: Die Sprache sei das einzige Zeichensystem, das im
Hinblick auf sich selbst als ‚Interpretant‘ fungieren könne (eine Analogie zu Peirces thirdness
wird zurückgewiesen). Dies sei entscheidend für das (viel diskutierte) Verhältnis von Sprache
und Gesellschaft: Gesellschaftliche und sprachliche Strukturen seien, wie schon Sapir erkannt
habe, „anisomorph“: „il faut abandonner l’idée que le langage reflète la société“ (S. 78). Nach
Ansicht des Berichterstatters lässt sich das in deutscher Syntax unter Vermeidung der aktiven
Diathese treffender ausdrücken: „In der Sprache spiegelt sich die Gesellschaft nicht wider“.
Im Anschluss wird nämlich gleich betont, dass die Sprache umgekehrt die Gesellschaft interpretieren könne. Die Sprache enthalte die Gesellschaft. Durch die Personalpronomina je/tu
einerseits und il andererseits würden die Relationen des Dialogs und der Alterität gestiftet, ohne
die keine Gesellschaft möglich sei (vgl. Benveniste 1966, Kap. 18 und 20; Benveniste 1974,
Kap. 5). In den beiden folgenden Lektionen wird die Einzigartigkeit der Sprache im Vergleich
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zu anderen Zeichensystemen nochmals hervorgehoben. In der etwas schlichten Ausdrucksweise
des Berichterstatters: Nur die Sprache kann ihre eigene Metasprache sein. Dies alles wird in
einer zugleich allusiven und apodiktischen Form vorgetragen, die bei den Hörern erhebliche
Vorkenntnisse voraussetzt.
Vergleichbares gilt auch für die Lektionen, die sich mit dem Thema „Sprache und Schrift“
beschäftigen (Nr. 8–15). Zunächst wird darauf hingewiesen, dass zur Erfindung der Schrift eine
außerordentliche Abstraktionsleistung notwendig war. Die Schrift gebe nicht die tatsächlich
gesprochene, sondern die „innere Sprache“ wieder, ohne der Prosodie und der das Sprechen
begleitenden Gestik Rechnung zu tragen (S. 91); sie sei kein „Abbild der Sprache“, sondern
Abbild der Vorstellungen der Sprecher von ihrer Sprache (S. 110). Die im Cours de linguistique
générale (CLG, S. 45) vertretene Ansicht, die Schrift sei lediglich ein Substitut der gesprochenen
Sprache, wird als „idée banale“ zurückgewiesen (S. 95). Es folgt eine knappe Geschichte der
verschiedenen Schriftsysteme. Alle seien unabhängig voneinander entstanden, es gebe keine
kontinuierliche Entwicklung, sondern nur einen engen Zusammenhang zwischen Sprach- und
Schrifttyp. Dieser sei im Chinesischen, wo das Prinzip ‚eine Silbe = eine (lexikalische) Bedeutung
= ein Zeichen‘ herrsche, besonders stark ausgeprägt. In der Frühphase der Schrift war diese nie
Abbildung des Diskurses, sondern immer Abbildung der Gegenstände des Diskurses. Langsam
macht sich, vor allem bei mehrsilbigen Sprachen, das phonetische Prinzip geltend, bis es sich
bei den Griechen mit Einführung der Vokalzeichen völlig durchgesetzt hat.
All das ist nicht neu. Bemerkenswert ist lediglich die Art und Weise, wie wohlbekannte
Fakten kommentiert und in welchen Zusammenhängen sie gesehen werden: Ursprünglich sei die
Schrift ein Mittel neben der Sprache gewesen, Dinge und Sachverhalte mitzuteilen, die sich in
räumlicher und zeitlicher Distanz zu den Gesprächspartnern befinden; erst mit der Einführung
des phonetischen Prinzips sei sie ein ‚Abbild‘ der sprachlichen Form der Botschaft geworden.
In der Schrift ‚semiotisiert‘ die Sprache sich selbst. Die Sprache wird nun selbst ein Gegenstand des Sprechens und Denkens. Einige Jahre später sollte Walter J. Ong diesen Gedanken
ausführlich entwickeln (Ong 1982, Kap. 4); er zitiert allerdings nur Derrida, Benveniste wird
nicht erwähnt. Wer einen Eindruck davon gewinnen wolle, versichert dieser, wie das Verhältnis von Sprache und Schrift vor der Entstehung einer Sprachwissenschaft gesehen worden
sei, solle – statt den allzu häufig zitierten Kratylos zu bemühen – lieber einen Blick in Platons
Philebos werfen, wo die Entstehung der grammatikē technē beschrieben werde (S. 117 ff.).
Manche Gedanken bestechen durch ihre Plausibilität: In der Didaktik komme heute das Lesen
vor dem Schreiben, in genetischer Hinsicht gelte jedoch die umgekehrte Reihenfolge (S. 121).
In den Benennungen für ‚schreiben‘ sowie im Mythos, in der Literatur und in der Philosophie
spiegele sich die Wertschätzung der Schrift in verschiedenen Kulturen wider: Hochschätzung
im Osten, Geringschätzung im Westen. „[…] littera enim occidit, Spiritus autem vivificat“, hatte
Paulus an die Korinther geschrieben (2 Kor 3,6). Er nimmt damit ein Motiv auf, das Platon im
Phaidros entworfen hatte: die ‚Festnagelung‘ und damit Abtötung der lebendigen Rede durch
ihre schriftliche Fixierung (S. 125).
In der letzten Vorlesung des ersten Zyklus wird noch einmal auf die Behandlung der Schrift
im CLG Bezug genommen (S. 45 f.). Dort wird am Beispiel des Litauischen demonstriert, dass
die Schriftlosigkeit einer Gesellschaft keineswegs mit beschleunigtem Sprachwandel einhergehen
müsse. Der archaische Charakter dieser Sprache zeige, „combien la langue est indépendante
de l’écriture“ (ebd.). Dieser Objektsatz wird von Benveniste völlig aus dem Zusammenhang
gerissen, in Form eines Hauptsatzes zitiert und damit zu einer Behauptung erhoben, der man
seines Erachtens nicht zustimmen könne. Alle Fragen nach dem Zusammenhang von Sprache
und Schrift zeigten sich in einem neuen Licht, wenn man von dem Prinzip ausgehe, dass die
Schrift eine sekundäre Form der Rede (parole) sei (S. 131). Soll damit gesagt werden, dass die
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Schrift ein Phänomen sei, dem man nur in actu, nicht in potentia gerecht werden kann? Zwar
sollte man an Vorlesungsnotizen nicht den Maßstab anlegen, der für eine sorgfältig ausgearbeitete Abhandlung angemessen wäre; dennoch muss es erlaubt sein, auf zahlreiche Unklarheiten
und Widersprüche zu verweisen. So wird immer wieder gezeigt, dass mit Hilfe der Schrift
homophone Formen disambiguiert werden: vin, vingt, vint, vain, vainc… (S. 134). Manchmal
‚disambiguiert‘ die gesprochene Sprache jedoch auch homographe Formen, wie etwa im Fall
von dt. modern und modern.
Die allerletzte Vorlesung, mit der der neue Zyklus beginnt und die wenige Tage vor dem
Schlaganfall des Vortragenden gehalten wurde, kündigt Erläuterungen zu zentralen Punkten
von Benvenistes Sprachauffassung an, die allerdings zum Teil bereits in den Problèmes de
linguistique générale angelegt waren:
[…] il est impossible de passer du « signe » à la « phrase », impossible de faire coïncider
cette distinction avec la distinction saussurienne de « langue » et « parole », parce que le
signe est discontinu et la phrase, continue. L’énonciation n’est pas une accumulation de
signes: la phrase est d’un autre ordre de sens. (S. 142)
Damit erhalten die berühmt-berüchtigten Sätze des Cours, „La phrase est le type par excellence
du syntagme. Mais elle appartient à la parole, non à la langue“ (CLG, S. 172), eine völlig neue
Fassung. Dieser Passus begründet die bereits erwähnte Unterscheidung von le sémiotique und
le sémantique, die den Hörern der letzten Vorlesung noch nicht geläufig war. Man gewinnt den
Eindruck, Benveniste kombiniere die beiden klassischen Dichotomien des CLG, langue vs. parole
einerseits und syntagmatique vs. associatif (später paradigmatique) andererseits, in ähnlicher
Weise wie Hjelmslev (System vs. Verlauf [Prozess]) oder Halliday (System vs. Struktur). In
beiden Fällen bleibt das Analogon der langue auf ein Inventar beschränkt, aus dem Elemente
ausgewählt und anschließend auf der nachgeordneten Ebene kombiniert werden können (vgl.
Albrecht 2007, S. 139 f., 84 f.). Aber diese Vermutung beruht auf flüchtigen Spekulationen
des Berichterstatters, und die angedeutete Analogie greift sicherlich zu kurz (vgl. jedoch das
Nachwort von Todorov, S. 192 f.). Für eine gründlichere Untersuchung der Gemeinsamkeiten
und Unterschiede ist hier nicht der Ort.
Todorovs Nachwort ist weniger ‚theorielastig‘ als das Vorwort Julia Kristevas. Weit häufiger
werden die veröffentlichten Arbeiten Benvenistes zitiert als die Vorlesungen, um die es in diesem Band geht. Am Ende wird ein Gedanke geäußert, der es verdient, hier referiert zu werden:
Benveniste hat nicht die Zeit (und möglicherweise auch nicht den Mut) gefunden, ein wirklich
großes, in allen Einzelheiten ausgearbeitetes Werk zu verfassen:
[…] du coup il n’est jamais disponible pour un travail de longue haleine, qui couronnerait ses recherches de plusieurs décennies, et doit se contenter de ces études dispersées,
porteuses d’aperçus fulgurants, mais fragmentaires et répétitives. (S. 195)
Das klingt nicht sehr schmeichelhaft am Ende einer Würdigung, trifft jedoch sehr genau zu.
An wen wendet sich der hier vorgestellte schmale Band? An die Wissenschaftshistoriker im
Allgemeinen und an die Schüler und Verehrer Benvenistes im Besonderen. Saussure, mit dem
Benveniste sich immer wieder verglichen und an dem er sich gerieben hat, war noch weniger
publikationsfreudig, und dennoch ist er zum Gegenstand einer kaum mehr zu überblickenden
Sekundärliteratur geworden. Ein wenig ‚Benveniste-Pflege‘ neben so viel ‚Saussureologie‘ kann
dem Wissenschaftsbetrieb nicht schaden.
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Bibliografie
ALBRECHT, Jörn, Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick.
3., erweiterte Auflage, Tübingen: Narr, 2007. (= TBL 501).
BENVENISTE, Émile, Problèmes de linguistique générale I, Paris: Gallimard, 1966.
BENVENISTE, Émile, Problèmes de linguistique générale II, Paris: Gallimard, 1974.
CLG = Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, Paris: Payot, 1971.
MARTINET, André, Mémoires d’un linguiste. Vivre les langues. Entretiens avec Georges Kassai
et avec la collaboration de Jeanne Martinet, Paris: Quai Voltaire, 1993.
ONG, Walter J., Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, New York: Methuen, 1982.
Heidelberg
Jörn ALBRECHT
Hélène BOUGET, Écritures de l’énigme et fiction romanesque. Poétiques arthuriennes (XIIe–XIIIe
siècles) (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge, 104), Paris: Champion, 2011, 533 S.
Die umfangreiche Studie von Hélène Bouget stellt eine gekürzte und überarbeitete Fassung
ihrer Dissertation dar, die 2007 an der Université Rennes 2 eingereicht wurde. Sie befasst sich
mit der Frage des Rätselhaften im französischen Artusroman nach Chrétien de Troyes, genauer: mit Werken des Zeitraums 1190–1240, einem beachtlichen Textkorpus, das einerseits die
Gralromane umfasst (von den Continuations de Perceval hin zum Tristan en prose), andererseits die „récits sans Graal“ (wie etwa Le bel inconnu von Renaut de Beaujeu und die Raoul de
Houdenc zugeschriebenen Romane). Einleitend wird die Bedeutung des Themas für die Artusliteratur insgesamt herausgestellt, in der zahllose Protagonisten mit wundersamen, rätselhaften
Erscheinungen konfrontiert werden, deren senefiance sie – zusammen mit dem Leser – im Zuge
ihrer queste zu entschlüsseln versuchen. Bisweilen scheint darin gar die wichtigste Intention
der Autoren zu liegen: „susciter l’énigme et faire croire à une réponse“ (S. 10). Während die
Forschung sich dem Aspekt des merveilleux als solchem bereits ausgiebig gewidmet hat, blieb
eine Untersuchung der Struktur und der Funktion des Rätselhaften bislang ein Desiderat (S. 11).
Entsprechend macht es sich Bouget zur Aufgabe, die „enjeux littéraires, rhétoriques, stylistiques,
poétiques, voire génériques“ des Phänomens zu eruieren, um auf diesem Wege der Faszination,
die bis heute vom Artusroman ausgeht, auf den Grund zu gehen (S. 12).
Ein erster Teil der Arbeit (S. 23–140) ist terminologischen Aspekten, der Definition verschiedener Kategorien von ‚Rätseln‘ sowie der Stilanalyse des „discours énigmatique“ gewidmet.
Auch wenn der französische Terminus énigme selbst erst ca. 1370 begegnet und die untersuchten
Romane die Begriffe merveille und devinaille verwenden, sind doch die mit dem lateinischen
Konzept des aenigma verbundenen Vorstellungen in den Texten durchaus präsent. Seit Cicero
wird aenigma vor allem als rhetorische Figur begriffen, die – etwa in Form der Metapher – eine
„parole mystérieuse, mais porteuse de sens“ darstellt (S. 15). Im Zuge der theologisch-philosophischen Umdeutung nähert sich die Figur der Allegorie bzw. dem Symbol – einer semblance,
deren senefiance auf die christliche Heilslehre verweist, so dass sich die rhetorische zu einer
hermeneutischen Verwendung erweitert. Die lateinischen Poetiken entwickeln die Theorie
des involucrum bzw. integumentum: Der rätselhafte Diskurs, die paroles obscures, dienen als
‚Hülle‘ bzw. ‚Decke‘, unter denen sich die zu erschließende ‚Wahrheit‘ verbirgt (welche in den
Romanen meist die Themen Tod und Schicksal betrifft, so etwa in den Reden Merlins). Zum Teil
konkretisieren die Texte dieses Verfahren auf der Handlungsebene anhand von „coffres fermés“
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oder „tombeaux à soulever“ – Gegenstände, deren ‚Öffnung‘ dem Helden Antworten verspricht.
Dabei bleibt dessen queste (und jene des Lesers) jedoch meist ohne endgültige Aufklärung,
wie etwa im Fall des Gralsrätsels: „Le trope sert ici de programme de lecture, avertissant que
les tentatives d’élucidation sont vaines parce que le seul langage possible sur le Graal est le
langage par énigme“ (S. 33). Damit scheint die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der Rätsel in
der Artuswelt weniger ein Erkenntnisproblem zu sein als vielmehr eine Strategie der Autoren,
das heißt eine „manipulation“ des Publikums, mittels derer die Spannung erhalten und die
Fortsetzbarkeit des „genre romanesque en pleine expansion“ gewährleistet werden soll (S. 63).
Einen Sonderfall unter den énigmes stellt die devinette (Rätselfrage) als autonome Gattung
dar, eine „définition dialoguée“ (Todorov), die in die Handlung eingelagert wird, so etwa im
Tristan en prose, wo die Reihe der devinailles in Versform erscheint und schon dadurch eine
„forme figée et archaïque“ darstellt (S. 85), ein „rituel“ mit einem kodifizierten Ablauf (S. 87).
Von diesem Fall abgesehen erweisen sich die ‚Rätsel‘ der Artusromane meist als „échange problématique“ (S. 94), als Kombination aus einer höchst subjektiven Frage, die ein Protagonist
aus persönlicher Betroffenheit, aus Angst oder Neugier stellt, und einer verspäteten, unbefriedigenden, vorläufigen Antwort, die erst am Ende einer langen Reihe von aventures gegeben wird,
was die Komplexität der Problematik unterstreicht. Eine Analyse der Syntax ergibt sowohl für
die devinette als auch für den „échange problématique“ den Befund, dass einerseits Frage wie
Antwort sehr differenziert und vielschichtig ausfallen und andererseits eine direkte Fragestellung beinahe vollständig fehlt: Es dominiert ein indirekter Diskurs, in dem eine Vielzahl von
sprachlichen Varianten durchdekliniert wird. Als Beispiel mag auch hier die Gralsfrage dienen:
„[L]a question cruciale ‚qu’est le Graal?‘ ne se pose jamais en ces termes“ (S. 116) – stattdessen
wird der Leser bzw. Hörer mit einer „prolifération de questions“ überschüttet, die gezielt der
„confusion“ Vorschub leistet (S. 127). Percevals Fragen sind „floues, interchangeables“: „Perceval énumère des sujets sans rien demander réellement“ (S. 129), so dass eine verbindliche
Antwort nirgends wirklich intendiert ist.
Der zweite Teil der Untersuchung (S. 141–212) erörtert zunächst das Romanpersonal, das im
Besitz eines höheren Wissens ist und sich dem suchenden Ritter als Aufklärer anbietet. Bouget
unterscheidet einerseits diabolische Figuren, die absichtlich falsche Erklärungen geben und
damit die Anbindung der semblance an die senefiance verhindern („Le diable est l’ennemi du
sens“, S. 157), und andererseits Vertreter der göttlichen Wahrheit, meist Mönche und Einsiedler,
die in der Lage sind, Zeichen lesbar zu machen, Träume zu interpretieren und das Schicksal
vorauszusagen, und das heißt auch: den Sinn des Romans selbst zu entschlüsseln. Allerdings
machen diese Auserwählten von ihrem „pouvoir d’élucidation“ letztlich kaum Gebrauch: Ihre
Auskunft erschöpft sich meist in moralisierenden „bon conseils“, die bei den Fragenden keine
wirkliche Erkenntnis anstreben, vielmehr verhindern sie ein „apprentissage individuel“ durch
gezielte Zurückhaltung von Wissen. Auch dies hat erzähltechnische Gründe: „Le maintien du
secret relance la quête herméneutique“ (S. 165), wir haben es prinzipiell mit „œuvres ouvertes“
zu tun. So wie Merlin seine Gesprächspartner verlacht, amüsieren sich die Autoren in ihrem
„statut démiurgique“ über die „confusion“ ihrer Leser (S. 176). Im Falle des Gralsrätsels ist das
Wissen des Roi Pêcheur gar „incommunicable“, „sa parole sera toujours empêchée“ (S. 171)
– jedoch nur, weil im Zuge der Christianisierung des Motivs die Antwort derart auf der Hand
liegt, dass es sich um ein „secret de polichinelle“ (S. 173) handelt, denn „le Roi Pêcheur n’a
plus rien à révéler et son savoir en creux n’existe que dans la référence littéraire au Conte du
Graal“ (ebd.).
Den „figures du savoir“ gegenüber stehen die „quêteurs de sens“, die Bouget als „sujet pensant
et interrogeant“ definiert, ausgezeichnet durch „humanité“ und „subjectivité“ (S. 187). Doch in
ihrer „recherche herméneutique“ sind Perceval, Gauvain und Galaad paradoxerweise durch ihr
Schweigen gekennzeichnet bzw. durch eine problematische Kommunikation: „questions sans
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réponse ou réponses jamais demandées, décalées, incomplètes ou inadéquates“ (S. 197). Entsprechend besteht das eigentliche Anliegen der Gralromane nicht darin, die „fausses énigmes“
des Grals, der Lanze etc. inhaltlich zu klären („une énigme tuée dans l’œuf“, S. 199), sondern
im Aufzeigen eines Weges, das richtige Fragen zu lernen („apprendre à questionner“, ebd.).
Dabei handelt es sich jedoch um einen per definitionem unabgeschlossenen Prozess: Wenn die
Continuations alle Fragen zu beantworten scheinen, werfen ebendiese Antworten neue Rätsel
auf, die der „apparente clôture du texte“ entgegenstehen (S. 205). Durch diesen erzähltechnischen ‚Trick‘ („astuce romanesque“, S. 210) entstehen immer neue Rätsel und damit immer neue
Gralromane, „à la manière d’infinies boîtes gigognes“ (S. 211). Das Rätsel ist eine Maschine
zur Generierung von Literatur: „L’enjeu ne sera pas d’éclaircir ces questions, mais d’ouvrir le
cycle à tous les possibles narratifs“ (S. 224).
Der dritte Teil der Publikation (S. 215–336) widmet sich den „effets d’énigme“ als „mode
d’écriture“, und zwar mit Blick sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption. Die
Autoren kreieren gezielt eine „atmosphère d’attente“, indem sie dem Leser/Hörer Antworten
versprechen, die ihm letztlich vorenthalten werden – nicht weil der Sinngehalt für eine Erklärung zu komplex wäre, sondern weil ein solcher Sinn gar nicht existiert, es sich somit um
einen „symbolisme sans signifiance“ handelt (S. 218). Diese Verweigerung einer Aufklärung
des Mysteriösen verschafft dem Rezipienten einerseits ein Lesevergnügen („la beauté et le
plaisir d’une situation obscure“, S. 219) und andererseits die Erfahrung der Frustration („réception déceptive où l’attente jamais comblée se transforme en leurre“, ebd.), aus der dann die
Motivation für weitere Lektüren erwächst: Der Autor „ment et deçoit le lecteur, pris au piège
d’un roman qui refuse de livrer des réponses“ (S. 227). Dieser „appel à la continuation“, der
aus der konstitutiven Offenheit der Werke resultiert, stellt folglich das Grundprinzip des „fonctionnement de l’œuvre“ dar: Das Versteckspiel („jeu de cache-cache“, S. 215), das die Autoren
mit der Offenbarung einer vermeintlichen ‚Wahrheit‘ treiben, stellt sich als die grundlegende
Kompositionsregel der Artusliteratur heraus („trait constitutif du genre romanesque“, S. 227).
In ihrem Versuch, eine „poétique de l’énigme“ herauszuarbeiten (S. 249), untersucht Bouget
zunächst die konkreten Erzählmechanismen. So hat das Rätselhafte zum einen eine „fonction
dramatique“: Es dient als Ankündigung oder Rahmen einer aventure, die sich als Umsetzung
des Rätsels lesen lässt (etwa die Träume Galehauts im Lancelot en prose). Zum anderen spielt
das Rätsel eine strukturierende Rolle, es stellt bisweilen den ‚roten Faden‘ dar und trägt zur Kohärenz der Werke bzw. der Romanzyklen bei. Besonders die Gralsrätsel stellen solche „facteurs
d’unité et de continuité“ (S. 260) dar (in der Continuation Gerberts gar ein „squelette de la
narration“, S. 266), aber auch die rätselhafte Identität des Helden kann als „énigme directrice“
dienen, etwa im Lancelot en prose oder im Bel inconnu (etliche tabellarische Übersichten verdeutlichen dies). Le bel inconnu kann sogar als regelrechter „roman à énigme“ gelten, da er das
Rätsel bereits im Titel trägt und dies von Anfang an zum Hauptthema macht (wie auch L’Âtre
périlleux und Le Chevalier aux deux épées). Darüber hinaus materialisieren einige Autoren ihre
‚rätselhafte‘ Kompositionstechnik („écriture de la faille ou de la béance“, S. 268) in einem Bild,
etwa in der Metapher des zerbrochenen Schwertes in den Continuations. Auf intertextueller
Ebene kann ein Rätsel auch als „motif narratif“ begegnen, das im Prozess der „ré-écriture“ von
einem Werk zum nächsten übernommen und dabei ‚resemantisiert‘ wird („repris, transformé
et réactualisé“, S. 287), wie etwa jenes der kahlen Gralsbotin (Perlesvaus, Lancelot en prose).
Vielfach werden auch Einzelaspekte zu einem Motivkomplex kombiniert, wie in der Suite du
Roman de Merlin, in der die Motive Lanze/Schwert, Verletzung des Königs, verwüstete Erde,
Heilung des Königs und Wiederherstellung der Herrschaft zusammengefügt werden. Bisweilen
werden diese Elemente auch miteinander verschmolzen: So findet sich im Chevalier aux deux
épées ein blutendes Schwert.
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Besprechungen
Auf der Seite der Rezipienten bleiben diese Kompositionstechniken nicht ohne Folgen
(„lectures de l’énigme“, S. 295). Wie Perceval auf seiner queste versucht der Leser vergeblich,
die Leerstellen der Texte zu füllen, er partizipiert also an der Sinnsuche, die auf diese Weise
ein spielerisches Moment erhält. Zugleich ist das Mysteriöse eine ästhetische Erfahrung: Wie
Perceval und Gauvain vor der Schönheit des Grals verstummen, ist der Leser von der „beauté
inhérent[e] à la lecture d’un propos voilé“ gefangen (S. 297). „La démarche herméneutique se
double de cet aspect esthétique“ (ebd.): Der Artusroman intendiert also eine „double réception,
ludique et transcendantale“ (S. 301). Auf der Ebene des Spielerisch-Ästhetischen ist auch die
Fiktionalität der Romane zu erklären: Die imaginäre Welt eines Textes erscheint dabei als eine
von vielen möglichen Welten, auf welche die ungelösten Rätsel verweisen. Die zahlreichen
„suites“, „continuations“ und „cycles“ aktualisieren immer nur eine aus dieser Vielzahl von
potentiellen Welten. So ist fiktionale Literatur immer ‚unvollständig‘, und der Artusroman setzt
mittels des Rätselhaften genau diese „incomplétude“ in Szene und macht damit seine „nature
fictive“ explizit (S. 329). Entsprechend ‚verbietet‘ er dem Leser durch das ungelöste Rätsel, an
die Illusion einer geschlossenen Welt zu glauben, was einen revolutionären Umgang mit den
Konventionen des Erzählens darstellt („un cas de subversion narrative“, „une mise en cause
des cadres de l’intrigue romanesque“, ebd.). Die Autoren fordern vom Leser die Bereitschaft,
stets „d’autres bifurcations, d’autres focalisations, d’autres ouvertures du récit“ mitzudenken
(S. 331) und sich dieser Potentialität bewusst zu sein, deren Grenzen die Romane gezielt austesten (S. 332). In diesem Sinne bescheinigt Bouget den Autoren eine „modernité romanesque“
(ebd.), die – trotz des theologischen Hintergrunds – die Autonomie der Kunst, „l’espace de
liberté voué au rêve“ (S. 333) privilegiert.
Der vierte und letzte Teil untersucht detailliert die beiden großen „paradigmes énigmatiques“:
den Gral und die Identitätssuche (S. 337–472). Beide Paradigmen werden in den Gralromanen
miteinander verknüpft, so dass sie weniger „concurrentiels“ als vielmehr „complémentaires“
erscheinen und dem Artusroman damit den „plus haut degré d’énigmaticité“ verleihen (S. 473).
Für Perceval, Lancelot und Galaad stellt die „quête du Graal“ zugleich eine „quête de soi“ dar
(S. 474); erst in den späten Romanzyklen, im Tristan en prose und in der Post-Vulgata, findet
eine „nette déflation du paradigme du Graal et un infléchissement de celui de l’identité“ statt
(ebd.). Hier werden diese allenfalls noch ironisch anzitiert, um den überholten Charakter dieser
Romantradition hervorzuheben und diese durch neue Erzählmuster zu überwinden: „[L]a tradition
arthurienne est reprise pour mieux voler en éclats“ (S. 475). Damit endet eine langlebige ‚Poetik
des Rätselhaften‘, deren Mechanismen sich offenbar erschöpft haben, so dass sie höchstens noch
aus der Negation heraus neue Romanzyklen zu generieren imstande sind.
Insgesamt kann man der Arbeit von Bouget bescheinigen, dass sie ein höchst komplexes,
wenn nicht ‚rätselhaftes‘ Thema systematisch und erschöpfend behandelt und dabei zugleich das
Kunststück vollbringt, die gezielt verworrenen Erzählstränge des umfangreichen Textkorpus auf
anschauliche, gut lesbare Art zu entwirren. Indem sie die „écriture énigmatique“ als intentionelle
Erzählstrategie der Autoren entlarvt, die den Leser gezielt in Verwirrung stürzen, um ihn mit
dem – nicht eingelösten – Versprechen einer Auflösung zur weiteren Lektüre anzuhalten und
damit die Fortschreibung des Artusromans zu legitimieren, praktiziert Bouget eine erfrischend
unorthodoxe Textanalyse, die in der mediävistischen Literaturwissenschaft über die Galloromanistik hinaus sicherlich Schule machen wird. Zugleich liefert die Autorin das Werkzeug für
die Auseinandersetzung mit der aktuellen Wiederbelebung des Interesses an mittelalterlichen
Erzählstoffen, deren Zauber offenbar ungebrochen ist – eine Faszination, deren Funktionsmechanismen auch dem neuzeitlichen Leser nunmehr offenkundig geworden sind.
Münster
Karin BECKER
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Besprechungen
Corin BRAGA, Les Antiutopies classiques (Lire le XVIIe siècle, 11), Paris: Classiques Garnier,
2012, 350 S.
Mit dem vorliegenden Band schließt Corin Braga ein über einen langen Zeitraum verfolgtes
Forschungsprojekt vorläufig ab, das von der Beschäftigung mit den, vom Autor so genannten,
„quêtes initiatiques manquées“ ausgegangen ist und zunächst zu zwei Büchern geführt hat, die
dieses „scénario archétypal“ (S. 9) in der mittelalterlichen Literatur verfolgt haben: La Quête
manquée de l’Éden oriental (2004) und La Quête manquée de l’Avalon occidentale (2006).
Auf der Grundlage dieser scheiternden Reisen setzte sich Braga in der Folge mit den Gründen
auseinander, die zum Umschlag der Utopie in ihre negative Schwestergattung geführt haben,
was wiederum in zwei Bände mündete, die ein „diptyque“ bilden (S. 7). In beiden Studien geht
es ihm um die „antiutopies classiques, du XVIIe et du XVIIIe siècle, beaucoup moins connues et
commentées que les plus célèbres antiutopies du XXe siècle“ (S. 305); diese tatsächlich mitunter
vernachlässigten Texte stärker in den Fokus der Forschung zu rücken, ist eines der Verdienste
dieser Forschungen Bragas.
Der rumänische Komparatist führt drei Hauptgründe für das Entstehen dieser „antiutopies
classiques“ an: Während er im ersten Buch des Diptychons, Du paradis perdu à l’antiutopie
aux XVIe–XVIIIe siècles, das 2010 in derselben Reihe bei Garnier erschienen ist, die religiösen
Gründe samt der Rolle der Kirche in den Blick nahm, was sehr überzeugend ausfiel, verfolgt
er im hier zu besprechenden zweiten Band zwei philosophische Strömungen, die das utopische
Denken unterhöhlten: Er möchte aufzeigen, wie „le rationalisme et l’empirisme […] ont porté
aux XVIIe–XVIIIe siècles des coups décisifs à l’optimisme utopique et ont déterminé l’apparition
des contre-utopies classiques“ (S. 7).
Dieses interessante Unterfangen fordert allerdings bereits in diesem Eingangszitat eine
grundlegende Überlegung heraus, denn man muss sich fragen, ob diese beiden philosophischen
Schulen den utopischen Vorstellungen tatsächlich „des coups décisifs“ versetzt haben, wenn
doch gerade das 18. Jahrhundert, das ohne Zweifel einen Höhepunkt beider Strömungen darstellt, gleichzeitig seit langer Zeit als „âge d’or“ der Utopie gilt, wie etwa Raymond Trousson
in seiner nach wie vor maßgeblichen Utopiegeschichte festhält und andere Autoren bestätigen.1
Daher muss man den ersten Teil der zitierten Aussage wohl als etwas übertrieben werten,
was aber keineswegs für den zweiten gilt, denn Braga legt schlüssig dar, wie Rationalismus
und Empirismus in der Tat das Aufkommen früher anti-utopischer Werke maßgeblich befördert
haben. In den beiden Teilen, in die sich seine Studie aufteilt, stellt er die zwei Strömungen und
ihre Folgen für Utopien und voyages imaginaires ausführlich vor, wobei er zunächst jeweils die
philosophischen Grundlagen anschaulich und umfassend referiert. Dabei gelingt es ihm immer
wieder, interessante Querverbindungen zwischen den Denkrichtungen herzustellen, die sich
gegen utopische Schriften wenden: Etwa dass die Philosophen des Rationalismus die Verurteilung der Fantasie der Kirche in gewisser Weise fortführten und so utopiekritisches Schreiben
in vergleichbarer Weise anregten (S. 22): „La deuxième attaque contre l’imaginaire utopique
et fantastique est venue de la nouvelle science cartésienne. […] La démarche du philosophe
français [Descartes] concordait, paradoxalement, avec celle de la théologie chrétienne.“
1
Vgl. Raymond Trousson, Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique,
Brüssel: Éditions de l’Université de Bruxelles, 31999, S. 113: „On le dit volontiers, le XVIIIe siècle est
l’âge d’or de l’utopie.“ Vgl. dazu auch Hans-Günter Funke, „Die Utopie der französischen Aufklärung:
Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung“, in: ders., Reise nach Utopia. Studien
zur Gattung Utopie in der französischen Literatur, Münster: LIT, 2005, S. 61, wo Funke prägnant
herausstellt, wie die Utopieproduktion im 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebt, wie es sie erst Ende
des 19. Jahrhunderts noch einmal geben sollte.
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Die profund dargelegten theoretischen Hintergründe fließen sodann in die umfangreichen
Textanalysen ein, in denen Braga die Auswirkungen von Empirismus und Rationalismus auf die
utopische Literatur anhand zahlreicher Beispiele des 17. und 18. Jahrhunderts verfolgt. Dabei
ist zunächst das große Korpus der Studie hervorzuheben; dieses Korpus findet sich zudem am
Ende des Bandes chronologisch aufgelistet und vermittelt einen guten Überblick über Texte mit
anti-utopischen Tendenzen vor 1800. Beeindruckend ist die genaue Kenntnis der Primärwerke
durch Braga wie auch sein Vermögen, Verbindungen zwischen den Werken und den zuvor
referierten (wissenschafts-)philosophischen Traktaten der Zeit sichtbar zu machen. Besondere
Anerkennung gebührt Bragas umfassenden Kenntnissen der mittelalterlichen Literatur, die er
immer wieder gewinnbringend einbringt, wodurch er manchen bisher nicht erkannten Bezug
der frühneuzeitlichen Texte hervortreten lässt. Weiterhin kann man hervorheben, dass Braga
durch seine Analysen einige Werke erschließt, die bisher recht unbekannt waren (wie etwa
Les Fourmis des Schweizers Emerich de Vatel). Etwas schade ist nur, dass er nicht auf die vor
einigen Jahren entdeckten spanischen Beispiele von Cándido María Trigueros („El mundo sin
vicios“) oder Andrés Merino (Monarquía columbina. Su gobierno y causa de su ruina) eingeht,
die sein Spektrum früher gegenutopischer Texte, das sich nahezu ausschließlich auf französische, englische und wenige italienische Beispiele beschränkt, wertvoll ergänzen und in einen
weiteren Zusammenhang hätten rücken können; dies gilt umso mehr, als zwischen diesen beiden
spanischen Texten und den von Braga kommentierten Werken von Mandeville und Tiphaigne
de la Roche interessante Querverbindungen bestehen.2
Schwerer als diese – in der Forschung ohnehin weit verbreitete – Vernachlässigung der
spanischen (anti-)utopischen Literatur wiegt indes eine gewisse Beliebigkeit bei der Auswahl
der Werke, die unter dem Oberbegriff „antiutopies“ verhandelt werden. So wird über viele
Seiten hinweg Rétifs La Découverte australe par un homme volant analysiert, obwohl Braga
selbst zum Ausdruck bringt, dass der Text eher der positiven Gattung zuzuschlagen ist, und
sogar ausführt, dass „Rétif de la Bretonne entre […] parfaitement dans le schéma de l’utopie“
(S. 145). Ebenso kann die Einordnung von Jean Bodins La République als Anti-Utopie überraschen: Braga bezeichnet diese Schrift, deren theoretischen Charakter er nicht in Abrede stellt,
als „une antiutopie, dans le sens etymologique et polémique du terme“ (S. 52).
Gerade diese Erwähnung eines „sens etymologique et polémique“ des Terminus „antiutopie“
ist dabei bedeutsam, denn die konstatierte Beliebigkeit der Textauswahl liegt wohl in erster Linie
in der unklaren Terminologie begründet, die Braga verwendet; man hätte gerne gewusst, was er
denn nun genau unter einer „antiutopie“ versteht, was leider an keiner Stelle erschöpfend erläutert wird. Obgleich gerade auf dem Gebiet der Utopieforschung so viele verschiedene Termini
existieren, die von verschiedenen Autoren verschieden ausgelegt werden, erachtet es Braga nicht
als nötig, seine Verwendung der Begriffe näher zu erklären. Dieses Problem verschärft sich noch
dadurch, dass er neben „antiutopies“ auch von „contre-utopies“ und „dystopies“ spricht, wobei
die ersten beiden Termini für ihn Synonyme zu sein scheinen und wohl Texte meinen, die sich
primär gegen positive Utopien richten (wobei dies auch die Frage aufwirft, weshalb er nur in
der einen Variante den Bindestrich verwendet…), während „dystopies“ scheinbar Welten bezeichnen, die durch die Versammlung negativer Eigenschaften der realen Welt gebildet werden.
Dies deuten jedenfalls die Beschreibungen auf S. 117 an, während die Unterschiede auf S. 68
wie an vielen anderen Stellen eher wieder nivelliert scheinen, was zu einer nicht unerheblichen
Verwirrung des Lesers führt. Die zusätzliche Einführung des Begriffs „hétérotopie“ (S. 157),
2
Vgl. dazu Matthias Hausmann, Die Ausbildung der Anti-Utopie im Frankreich des 19. Jahrhunderts.
Von Charles Nodier über Emile Souvestre und Jules Verne zu Albert Robida (1833–1882), Heidelberg:
Winter, 2009, S. 90–94.
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ohne jeden Bezug auf Foucault und mit reichlich unklarer Verwendung, erhöht diese Konfusion
noch, zumal es hier zum einen heißt, Sades Tamoé sei „une hétérotopie“, zum anderen aber
auch „une utopie […] construite en défi et aux antipodes des utopies classiques, c’est-à-dire
[…] une contre-utopie, syntagme où chacun des termes conserve son sens […]“ (S. 157, kursiv
im Orig.), so dass die Handhabung der Bezeichnungen weiter verschwimmt.
Diese reichlich vage Terminologie ist bedauerlich, da sie der Argumentation Bragas mitunter
deutlich schadet, die andererseits so viele interessante Überlegungen bietet. So entwickelt Braga
ein Schema, das helfen soll, die Klassifikation von (Anti-)Utopien systematischer zu fassen.
Er baut dabei auf Arbeiten von Carmelina Imbroscio und Martin Schäfer auf, indem er sich auf
die Einstellung des Erzählers wie des Autors zur utopischen Gesellschaft konzentriert. Braga
definiert vier mögliche Fälle (S. 68):
1. L’auteur et le narrateur s’accordent pour penser que la cité décrite est une topie positive; 2. L’auteur la voit comme une topie positive, mais le narrateur la ressent comme une
topie négative; 3. L’auteur l’imagine comme une topie négative, alors que le narrateur
est convaincu de sa positivité et de son excellence; 4. L’auteur et le narrateur s’accordent
pour dire que la cité est une topie négative.
Während der erste und der vierte Typus klar der (reinen) Utopie bzw. Anti-Utopie zuzuordnen
sind, interessieren Braga vor allem die beiden Fälle in den Mittelpositionen, als deren Merkmal er jeweils den „narrateur en position dystopique“ herausstellt. Für den zweiten Typ führt
er Veiras’ L’Histoire des Sévarambes als Beispiel an, für den dritten Foignys La Terre australe
connue und Swifts Gulliver’s Travels. Das Auseinanderklaffen der Ansichten von Autor und
Erzähler sei ein zentrales Merkmal, um in Texten einen Wechsel von Utopie zu Anti-Utopie
zu erkennen, wie er im Folgenden noch genauer ausführt (S. 69 f.): „Le critère décisif pour la
tendance antiutopique reste la contradiction entre auteur et personnage, la dénégation par le
premier de l’attitude du second.“ Dieser Ansatz, der ein Kategorienspektrum von der reinen
Utopie zur reinen Anti-Utopie ermöglichen möchte, hat auf den ersten Blick einiges für sich,
indes scheinen zwei Probleme auf, die kurz kommentiert seien. Das erste betrifft die Beurteilung der Position des Autors, die in vielen Texten nicht einfach zu bestimmen und von der des
Erzählers abzugrenzen ist. Bereits bei seinem ersten Beispiel, nämlich Veiras, räumt Braga dies
auch ein, als er zugibt, wie schwer es sei, „de cerner ses vraies intentions [de Veiras]“ (S. 68),
aber er reflektiert dies nicht weiter, sondern folgt der Ansicht nicht genauer genannter „commentateurs“ des Werks. Auch bei späteren Analysen werden mitunter einfach Meinungen des
jeweiligen Autors postuliert, ohne dies näher zu begründen, oder dessen Meinung als letztlich
unentscheidbar dargestellt, was in der Analyse von Tiphaignes L’Histoire de Galligènes auftritt,
wo es heißt (S. 133): „Quoiqu’il en soit de l’intention de l’auteur, euphorique ou dysphorique
[…].“ Damit aber wird dieses Kriterium jeden Werts beraubt, und es bleibt fraglich, ob die
Aufspaltung der Meinung von Erzähler und Autor ein gangbarer Weg für die Einteilung dieser
Texte sein kann, zumal gerade im Bereich der frühen (Anti-)Utopien nach wie vor nicht wenige Autoren unbekannt sind, so dass die Meinung des Autors bzw. deren Trennung von der des
Erzählers mitunter äußerst spekulativ bleiben muss.
Zum zweiten kann man sich fragen, ob es solche Aufspaltungen in gegenläufige Positionen
zwangsläufig nur in Texten gibt, die auf dem Weg zur Anti-Utopie sind. Nicht zuletzt Stephen
Greenblatt hat in seiner luziden Deutung der Utopia ja herausgestellt, wie gerade deren Autor
in diesem Werk unter Verwendung der Erzählerfiguren zwischen self-cancellation und selffashioning schwankt.3 Dort, in der ersten positiven Utopie der Neuzeit, wird demnach ein
3
Vgl. Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London:
University of Chicago Press, 1980, S. 33–58 zur genauen Analyse der Utopia, wobei der stetige
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permanenter Widerstreit zwischen Erzähler und Autor ausgefochten, wie er von Braga nur als
typisch für den Übergang zur Anti-Utopie angesehen wird. Daher scheint Bragas Einteilung ein
interessanter Ansatz, um den Weg von Utopie zu Anti-Utopie näher zu fassen, der aber wohl
noch einer weiteren Verfeinerung bedarf. Dass ein entsprechend adaptiertes Modell durchaus
nützlich sein kann, weist Braga nach, indem es ihm in der Folge gelingt, dank seines Schemas
einige negative Seiten in bekannten Utopien des 17. Jahrhunderts noch schärfer herauszustellen, als dies lange erfolgt ist. Dabei verweist er insbesondere darauf, dass sich problematische
Seiten einer vermeintlich perfekten Welt vor allem dadurch andeuten, dass der Erzähler nicht
mehr in diese Gesellschaft integriert werden kann, was ab dem Ende des 17. Jahrhunderts in
immer mehr Texten der Fall ist.
Den Endpunkt von Bragas Überlegungen bilden Werke von Jules Verne, an denen er einige
Aspekte bespricht, die er zuvor anhand von Texten des 17. und 18. Jahrhunderts analysiert hatte.
Dabei präsentiert Braga interessante Fluchtlinien, indem er etwa die Verbindungen von Voyage
au centre de la terre und Les Indes noires zu den vorherigen utopischen Reisen ins Erdinnere
aufzeigt und deren Weiterentwicklung durch Verne kommentiert, denn „[l]e voyage souterrain
ne sera plus jamais le même après Jules Verne“ (S. 248). An manchen anderen Stellen lässt
die Behandlung von Vernes Texten allerdings zu wünschen übrig: So wird Michel Verne nie
erwähnt, obwohl Braga L’étonnante aventure de la mission Barsac, wo Michels Beteiligung
sicher, und Eternel Adam, wo sie immerhin nicht auszuschließen ist, anspricht; die potentiellen Eingriffe des Sohnes hätten zumindest bedacht werden müssen, gerade wenn man Eternel
Adam als „œuvre en quelque sorte conclusive de Jules Verne“ wertet (S. 312). Dass Stahlstadt
wenig später unter die „paradis artificiels“ (S. 312 und 313) Vernes gezählt wird, hätte wohl
selbst den so selbstsicheren Stadtgründer Herrn Schultze überrascht, ist doch diese Stadt das
vielleicht deutlichste Beispiel einer infernalen Stadt in Vernes Romankosmos (wenn man von
der weitgehend Michel Verne zuzuschreibenden Ausgestaltung von Blackland in L’étonnante
aventure de la mission Barsac absieht).
Letztlich sei am Werk Vernes noch ein abschließender Punkt diskutiert: Dessen Texte gelten
Braga als paradigmatisches Beispiel für die Veränderungen der anti-utopischen Literatur im
19. Jahrhundert, weshalb er sie in der abschließenden „Conclusion“ unter dem Untertitel „Les
antiutopies à l’âge moderne“ verhandelt. Hier könnte man indes einwenden, dass just die Texte,
die Braga von Verne anführt, keine sonderlich guten Beispiele für moderne Anti-Utopien sind.
Dafür wäre Paris au XXe siècle sicher der geeignetste Text gewesen, da dieser von Hetzel abgelehnte Roman in vielerlei Hinsicht die Struktur der großen Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts
vorwegnimmt. Andererseits ist es vielleicht bezeichnend, dass Braga eben nicht Paris au XXe
siècle als Beispiel einer ‚modernen‘ Anti-Utopie auswählt, denn er betont zwar abschließend,
dass es sich bei den von ihm analysierten Texten, mithin also den von ihm so bezeichneten
„antiutopies classiques“, um ein „(sous)genre bien démarqué de l’utopisme“ handele (S. 315),
aber gerade die hier erwähnte eindeutige Trennlinie wird nie klar angesprochen. Diese entscheidende Trennlinie zwischen den gegenutopischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts und
den voll ausgebildeten Vertretern des 20. Jahrhunderts ist in der von Braga nie angesprochenen
Zeitdimension zu sehen. Die echte Ausprägung der Anti-Utopie zeichnet sich durch ihre Warnfunktion aus, wie etwa Hinrich Hudde aufgezeigt hat, der die „warnende Funktion“ als „das
Ethos der Antiutopie“ bezeichnet.4 Eine solche Warnfunktion ist aber nur über eine Situierung
4
Widerstreit von self-fashioning und self-cancellation auf S. 57 f. noch einmal zusammenfassend
verhandelt wird.
Hinrich Hudde, „Groteske Satiren auf utopische Gleichheit. Wilhelm Busch: ‚Eduards Traum‘ und
Jerome K. Jerome: ‚The New Utopia‘“, in: arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft
16 (1981), S. 55–61, S. 59.
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der fiktiven Welt in der Zukunft zu leisten, denn erst die zeitliche Situierung gibt dem Leser
das Gefühl, die bedrohliche Gesellschaft komme zwangsläufig auf ihn zu, was den Aufforderungscharakter der Anti-Utopie ermöglicht. Diese über die Zeitdimension bestehende Grenze
zwischen den beiden Formen des gegenutopischen Schreibens wurde von Michael Winter schon
frühzeitig herausgearbeitet:
Im „Weiterdenken“ der eigenen Gegenwart liegt allerdings der Unterschied zwischen
politisch-utopischer Satire und „Anti-Utopie“. Während die politische Satire die negativen Gegenwartselemente ins Groteske überzeichnet und in die „negative Idealität“ eines
historisch gleichzeitig gedachten, phantastischen Narrenstaates überträgt, verlängert die
„Anti-Utopie“ die negativen Elemente ihrer Gegenwart in einem angenommenen negativen, historischen Entwicklungsprozeß zu der unausweichlichen Katastrophe eines total
schlechten Zukunftsstaates.5
Daher kann man sich fragen, ob man nicht noch stärker zwischen den von Braga hier beschriebenen Texten und der echten Anti-Utopie, die in der Folge von Emile Souvestres Le Monde tel
qu’il sera entsteht, trennen sollte. Dies könnte man auch mit dem bereits angesprochenen Punkt
der Terminologie verbinden und fragen, ob generell der Terminus ‚antiutopies‘ für diese Texte
schon zutreffend ist oder ob man sie nicht unter einem anderen Begriff subsumieren sollte, der
sie stärker von den späteren Ausprägungen abhebt (wozu mir die von Braga vorgeschlagene
Lösung, mit einem unterscheidenden Adjektiv, nämlich „antiutopies classiques“, zu arbeiten,
nur begrenzt sinnvoll erscheint).
Die zitierten Ansichten Huddes und Winters sind Braga aber wohl schon allein daher entgangen, da er in seiner Arbeit keinen einzigen deutschsprachigen Forschungsbeitrag berücksichtigt
(außer der zwar sicher bedeutenden, nicht aber gerade aktuellen Studie von Schulte-Herbrüggen
aus dem Jahre 1960…). Aus der deutschen Forschung sind in den letzten Jahren einige Impulse
zur Erforschung von Utopie und Anti-Utopie gekommen (neben den bereits zitierten Studien
von Funke, Winter und Hudde könnte man auch an die Arbeiten von Till R. Kuhnle, Richard
Saage und einigen anderen denken), aber Bragas Studie ist ein Beispiel dafür, wie wenig dies
mitunter selbst von Komparatisten wahrgenommen wird.
Um mit einer etwas positiveren Note zu enden, sei zusammenfassend ausgeführt, dass Braga
in seinen beiden Werken zu den Frühformen anti-utopischen Schreibens wichtige Aspekte erhellt,
die zum Umschlag der positiven Utopie in ihre negative Schwestergattung geführt haben und
die bisher noch nicht derartig umfassend und systematisch beschrieben worden sind. Er zeigt
anhand eines großen Korpus, dass der Pessimismus, der zur Attacke auf utopische Modelle führte,
„est beaucoup plus ancien que les contestations adressées aux utopies totalitaires du XIXe et du
XXe siècle“ (S. 315). Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass der erste Band des die Gründe dieser
Entwicklung beschreibenden Diptychons (zu den religiösen Ursachen) der empfehlenswertere ist.
Wien
5
Matthias HAUSMANN
Michael Winter, Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. Teilbd. 1:
Von der Antike bis zur deutschen Frühaufklärung, Stuttgart: Metzler, 1978, S. 41. „(Utopisch-)
politische Satire“ bezeichnet im Sprachgebrauch Winters Werke wie diejenigen, die Braga in seiner
Studie beschreibt, während er „Anti-Utopie“ nur auf die kanonischen Texte des 20. Jahrhunderts
bezieht.
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Sylvain DETEY/Jacques DURAND/Bernard LAKS/Chantal LYCHE (Hgg.), Les variétés du français
parlé dans l’espace francophone. Ressources pour l’enseignement (L’essentiel français),
Paris: Ophrys, 2010, 295 S. + DVD.
Um den bekannten Ausruf zu Malherbe etwas abzuwandeln, auch wenn sonst keine Gemeinsamkeiten festzustellen sind: „Enfin une vue d’ensemble des variantes diatopiques de la langue
française parlée!“. Der Band von Sylvain Detey, Jacques Durand, Bernard Laks und Chantal
Lyche füllt eine große Lücke für alle diejenigen, die nach einer übersichtlichen Darstellung
und gut dokumentierten Materialien und Dokumenten für den Unterricht gesucht haben. Mit
der vorliegenden Arbeit verfügen wir jetzt über eine umfangreiche, die gesamte Frankophonie
erfassende Sammlung von diatopischen Varianten des gesprochenen Französisch. Das Besondere,
Neue an dem Band ist die Kombination von gedrucktem Buch und auf DVD gespeicherten Daten und Unterlagen, wobei Ersteres den theoretischen Teil bildet, während die DVD die Daten,
Sprachaufnahmen von Gesprächen mit 30 verschiedenen Sprechern und einer Dauer von jeweils
gut fünf, gelegentlich auch über zehn Minuten, insgesamt 2,5 Std., und ihre Transkription sowie
Informationen zu den Sprechern mit Kommentaren und Erläuterungen liefert. Entstanden ist
die Arbeit im Zusammenhang mit dem Projekt PFC, Phonologie du français contemporain; für
mehr Informationen über das Projekt siehe http://www.projet-pfc.net.
Der gedruckte Teil beginnt mit einer Einführung in Methodik, Grundlagen und Ziele des
Werkes. Es folgen Überlegungen zur Stellung der Mündlichkeit im Varietätenraum sowie zu
Varietäten und Registern und schließlich zum Umgang mit der phonetisch-phonologischen und
der prosodischen Ebene, die im Mittelpunkt der Arbeit mit den Texten stehen sollen. Hier wird
dann eine Auswahl der Aussprachevarianten der 94 Referenzwörter des PFC exemplarisch vorgestellt und kann von der DVD abgehört werden. Exemplarisch werden Unterschiede aufgezeigt
und diskutiert. Es folgt eine Diskussion wesentlicher Aspekte der mündlichen Syntax. Ansätze
zur Kritik bieten sich hier kaum, es sei denn Überlegungen dazu, wie speziell und detailliert
diese Aspekte in einem Einführungswerk behandelt werden sollten und ob hier nicht vielleicht
gelegentlich zu viele Details zur Sprache kommen; es geht ja schließlich um l’essentiel, wie der
Titel der Reihe sagt. In Kapitel 5 werden dann didaktische Ansätze diskutiert und dafür auch
persönliche Daten der Sprecher und der Inhalt der Interviews aufgelistet, Aufgabenstellungen
werden vorgeschlagen und Texte exemplarisch analysiert. Dabei zeigt sich, dass ein wichtiger
Aspekt der Dokumente auch in ihrem Inhalt liegt, in dem es überwiegend um das tägliche Leben
der Sprecher geht.
Im zweiten noch im Buch enthaltenen Teil geht es um Fragen der Norm und des français
de référence sowie um die Frage, bei welchen Sprechern dieses Französisch zu finden ist.
Die Sprachproben selbst, die in sechs Gruppen bzw. Kapiteln zusammengestellt sind, werden
zusammenfassend vorgestellt, die Charakteristika der betreffenden Gebiete bzw. der Sprecher
herausgearbeitet: Éléments de synthèse. Die Transkription der Gesprächstexte und genauere
Informationen zu den Sprechern und den Gesprächen befinden sich neben den Sprachaufnahmen dann auf der DVD. Es beginnt mit La France hexagonale septendrionale, gefolgt von
der méridionale, dann La Belgique und La Suisse, und schließlich L’Afrique et les DROM und
L’Amérique du Nord. Die Sprachaufnahmen sind von hoher Qualität und dazu vom Inhalt von
Interesse und mit Bezug zu ihrem Ursprung.
Erwähnt seien schließlich noch die Bibliographien, zunächst spezieller ausgerichtet am
Ende eines jeden Kapitels und dann eine sechsseitige Bibliographie générale am Schluss des
Werkes, auf die noch ein Glossaire und der Index folgen.
Natürlich könnte man es auch ganz anders machen, aber hier liegt jetzt endlich ein Werk vor,
das kompakt einen Überblick über die diatopischen Varietäten des français parlé bietet, wobei
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in
elektronischen Systemen.
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Besprechungen
bei der Auswahl der Sprecher auch die diastratische Ebene berücksichtigt wurde. Wir verfügen
damit für Seminare zur gesprochenen (französischen) Sprache, deren konkrete Ausrichtung dann
sehr vielfältig sein kann, über eine wertvolle Grundlage. Das Buch und die begleitende DVD
sollten in keiner Seminarbibliothek – und nicht nur dort – fehlen.
Die Erfahrungen im Umgang mit der DVD waren weniger erfreulich, die erste funktionierte
nur begrenzt, um sich schließlich als beschädigt zu erweisen. Der Verlag reagierte auf meine
Anfrage nicht, erst über die ZfSL kam Ersatz. Offensichtlich war ich nicht der einzige Betroffene, denn einer der Mitarbeiter berichtete mir von ähnlichen Erfahrungen mit seiner DVD. Die
neue DVD funktioniert jetzt, braucht aber für den Start weiterhin allzu lange, bei einer erneuten
Benutzung sind weiterhin regelmäßig zwei von drei Ports belegt, sodass nur ein Neustart des PC
hilft (vielleicht liegt es ja an meinem PC). Mit dem auf der DVD befindlichen Firefox portable
scheint das Problem lösbar zu sein, aber den muss ich eigens von der DVD starten. Für größere
Benutzerfreundlichkeit bleibt also einiges zu tun, denn man möchte ja einen möglichst raschen
Zugriff auf die Dokumente haben, gerade auch bei der Verwendung im Unterricht.
Riethnordhausen
Peter STEIN
Joëlle DUCOS/Olivier SOUTET, L’ancien et le moyen français (Que sais-je?, 3935), Paris: Presses
Universitaires de France, 2012, 127 S.
Es ist in der Que sais-je?-Reihe üblich, dass alte Darstellungen nach einem gewissen Zeitraum gegen neue ausgetauscht werden. So folgen in unserem Fall auf Guiraud 1963 und Zink
1987 nun Ducos/Soutet (zu den beiden Vorgängerveröffentlichungen vgl. die Rezension von
P. Wunderli in RF 103, 1991, 270–274). Bei der vorliegenden Publikation ist neu, dass der
bisher auf zwei Bändchen verteilte Stoff auf ein einziges komprimiert wird und dass sich zwei
Autoren die Aufgabe teilen.
Die Einleitung (3–8) lässt sich nicht auf explizite Äußerungen zum Thema ,Neukonzeption‘
ein, sondern befasst sich mit der zeitlichen und räumlichen Begrenzung des Gegenstandes –
nun abweichend vom Titel als français médiéval zusammengefasst. Wenn auch als terminus a
quo die Straßburger Eide genannt werden, so hält sich die weitere Darstellung nicht streng an
diese Grenzlinie, sondern schließt auch – vor allem im Phonetikkapitel – die vorausgegangene
Entwicklung in die Betrachtung ein: „Du latin au protofrançais“ (15–19). Ähnliches gilt für
die Endbegrenzung fin du XVe siècle. Auch hier werden Ereignisse, die jenseits der Jahrhundertwende liegen, wie z. B. der Erlass von Villers-Cotterêts, in die Darstellung aufgenommen.
Das Spannungsverhältnis von Synchronie und Diachronie ist als Konflikt virulent: Zunächst
ist zwar von état und tranche chronologique die Rede, dann schiebt sich jedoch immer mehr
die Beschreibung von évolutions in den Vordergrund, was beim Umfang der zu behandelnden
Epoche nicht sonderlich überraschend ist.
Auf die Introduction folgen vier Kapitel, von denen das erste mit seinem Titel „De la variété des dialectes à la stabilisation de la langue“ nicht ohne Weiteres zu erkennen gibt, dass
neben der Beschreibung der dialektalen Vielfalt vor allem die großen Linien der phonetischen
Entwicklung skizziert werden. Mit dem Lautwandel ist die Frage der Ausgliederung eng verbunden; in der Debatte geben die Autoren einer sprachimmanenten Argumentation, wie sie von
G. Straka vertreten wurde, den Vorzug gegenüber Substrat- und Superstraterklärungen. Bei der
Behandlung der altfranzösischen Dialekte wird besonders auf die jüngere francien-Kontroverse
eingegangen und von Lodges Spoken Koiné Hypothesis berichtet.
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung
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Wie schon bei der Periodisierungsfrage angeklungen, kommt neben der linguistique interne
auch die linguistique externe zum Zuge. Sie ist vor allem im zweiten Kapitel vertreten, das den
Status- und Funktionswandel des Französischen zum Thema hat. Die Autoren beschreiben in
drei Etappen untergliedert, wie die einzelnen schriftsprachlichen Domänen von der Vernakularsprache erobert werden (35–59). Im Rahmen dieses sprachsoziologischen Kapitels handelt
ein kurzer Abschnitt von der französischen Graphie. Der code graphique wird trotz seiner auffälligen und erklärungsbedürftigen Verselbstständigung nur als wenig Beachtung verdienendes
Randphänomen angesehen.
Den Schwerpunkt bildet das dritte, den évolutions morphosyntaxiques gewidmete Kapitel;
es ist nicht nur das umfangreichste, sondern auch das detaillierteste und dichteste (60–106). Mit
einer streng gegliederten Beschreibung der tief greifenden Umstrukturierungen im Bereich der
Morphosyntax bietet sich für O. Soutet die Gelegenheit, seine besondere Vertrautheit mit der
Materie brillant unter Beweis zu stellen. Hier gelingt es der Darstellung am besten, der ständigen
Gefahr eines bloßen Aufzählens und Katalogisierens zu entgehen. Die verwirrende Faktenfülle
wird in die großen Entwicklungslinien eines Paradigma- und Alternanzabbaus sowie eines
Ausbaus der Analytisierungsverfahren eingeordnet. Über diesen „évolutions lourdes“ kommen
die auch vorhandenen, jedoch gerne übersehenen gegenläufigen Phänomene wie z. B. die „réfection des adjectifs épicènes“ nicht zu kurz. Den in jüngerer Zeit besonders interessierenden
Grammatikalisierungsphänomenen wird im Zusammenhang mit der Bildung von Adverbien und
Präpositionen ebenfalls Beachtung geschenkt. Das Kapitel endet mit einem Ausblick zum Thema
Wortstellung und berichtet unter Bezugnahme auf C. Marchello-Nizia von sich abzeichnenden
typologischen Veränderungen.
Mit lediglich 17 Seiten wird der Lexik (Kapitel IV) der geringste Raum zugestanden, was
eine äußerste Reduzierung des Beispielmaterials erforderlich macht. Am Anfang steht eine Vorstellung der repräsentativen Wörterbücher des mittelalterlichen Französisch (glaubt man einem
ärgerlichen Druckfehler, so erfasst der Godefroy nur den Zeitraum bis zum 11. Jahrhundert).
Weitere Themen sind die historische Zusammensetzung des Wortschatzes, eine Übersicht über
die hauptsächlich genutzten Möglichkeiten der Wortschatzerweiterung sowie einige Bemerkungen zur lexikalischen Diversität (Fachwortschätze, Diastratik).
Das Bändchen schließt, ohne dass die Darstellung mit einer resümierenden Konklusion abgerundet wird. Es folgt jedoch noch eine kompakte Bibliographie, in der aktuelle Handbücher
genannt werden, die als Grundlage gedient haben und sich auch für eine vertiefende Lektüre
eignen. Offen bleibt, an welchen Leserkreis sich der summarische Überblick wendet, der sich in
seiner gedrängten Form mit zahlreichen Andeutungen begnügen muss und gleichzeitig gewisse
linguistische Vorkenntnisse voraussetzt. Die Autoren haben die Schwierigkeiten der Auswahl
und Präsentation gesehen und äußern ihre Skrupel bei verschiedenen Gelegenheiten (u. a. 60
oder 103).
Berlin
Klaus HUNNIUS
Claudia ECKHARDT-KAMPS, Das Implizite im Text. Untersuchungen zur Kriegsberichterstattung
im Irakkonflikt 2003 in der französischen Tageszeitung Le Monde (Bonner Romanistische
Arbeiten, 104), Frankfurt am Main u. a.: Lang, 2011, 184 S.
Dass jede sprachliche Äußerung in ihrer jeweils der Situation angepassten Realisationsform
bestimmte Informationen nicht nur explizit und direkt, sondern vor allem auch implizit und
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indirekt vermittelt, gehört zum Grundwissen alltäglichen Sprachhandelns und bildet das Fundament jeder Kommunikation. Die Erkenntnis, dass sprachliche Zeichen grundsätzlich vage
Bedeutungskonturen haben, die erst im jeweiligen Kontext je nach Intention der Kommunikationspartner spezifisch gefüllt werden, führt die Linguistik von der Semantik in die Pragmatik,
wodurch ab den 70er Jahren völlig neue, stets auf den Sprachgebrauch orientierte Sichtweisen in
den Vordergrund treten und mit zahlreichen, meist interdisziplinär abgeleiteten Theorien erklärt
werden. Die Tatsache, dass zwischen Sagen und Meinen oft große Diskrepanzen bestehen, hat
aber nicht nur linguistische, sondern vor allem angewandte Relevanz und wird soziokulturell,
sozialpsychologisch, politisch, pädagogisch u. ä. unter den verschiedensten Gesichtspunkten
geltend gemacht: Was zwischen den Wörtern vermittelt wird oder ‚zwischen den Zeilen‘
steht, wird als die eigentliche Handlungskraft der symbolischen Äußerungen angesehen und
im Spannungsfeld zwischen sozialer Schonung und Verschleierung zum einen und gezielter
Meinungsbildung oder gar Manipulation zum anderen immer wieder neu nutzbar gemacht. Die
Aufmerksamkeit gilt dabei nicht mehr den ‚greifbaren‘ sprachlichen Formen selbst, sondern den
‚Mitgemeintes‘ auslösenden Mechanismen und dem damit verbundenen Wirkungspotenzial im
Gefüge verbalen Alltagshandelns. Mit dem zunehmenden Interesse für die omnipräsente und
sich ständig differenzierende Medientextualität bekommt die Rolle impliziter oder indirekter
Aussagen gesellschaftspolitische und marktrelevante Bedeutung, die Aufdeckung spezifischer
Formen der Produktion und Rezeption des Impliziten ist aber noch kaum zentrales Thema einer
sich mittlerweile breit etablierenden Medienlinguistik.
Diese Lücke versucht die vorliegende Arbeit von Claudia Eckhardt-Kamps (fortan CEK)
aufzugreifen. Dass sie nicht geschlossen oder wenigstens systematisch überzeugend abgehandelt
werden kann, liegt an der Schwierigkeit und Komplexität eines solchen Unterfangens: Zwar
rührt die Auseinandersetzung mit dem „Impliziten im Text“ an das – philosophische – Wesen
von Sprache, dieses ist aber immer nur außersprachlich bedingt und als solches spezifisch zu
klären. Die Fragestellung kann daher nicht rein linguistisch gelöst und verallgemeinert werden;
sie stellt demnach auch keine linguistische Thematik im eigentlichen Sinne dar. Es nimmt daher
nicht wunder, dass sich die Arbeit in einer gewissen Widersprüchlichkeit verfängt und meines
Erachtens vergeblich versucht wird, aus rein kontextinhärenten Erkenntnissen allgemein systematische Regularitäten oder Prinzipien für sprachliche Gangarten des Impliziten abzuleiten.
Dennoch setzt CEK mit diesem Versuch, sprachliche Mittel in ihrer Funktion als „Trojanisches
Pferd“ (S. 10) zu identifizieren, einen wichtigen Baustein im Schnittpunkt zwischen Semantik
und Pragmatik, der im Folgenden näher vorgestellt und gewürdigt werden soll.
Zumal die gegebene fuzziness der Fragestellung analytisch nur sehr begrenzt behandelt
werden kann, schränkt sich die Autorin sowohl thematisch als auch funktional und damit
textspezifisch stark ein auf „die Kriegsberichterstattung im Irak-Konflikt 2003 in der französischen Tageszeitung Le Monde“. Sie greift damit a priori einen problematischen Bereich der
öffentlichen Medienkommunikation auf, in dem zwei Positionen – die amerikanische Pro- und
die europäische Contra-Kriegsposition (mit Frankreich als Wortführer) – aufeinanderprallen und
demnach gerade die implizite Informationsvermittlung und -verwertung eine wichtige Rolle
spielt bei der scheinbaren Ausbalancierung von Divergenzen als Spiegel nicht nur politischer
Tendenzen, sondern vor allem zweier gegensätzlicher Welten. Wie in den Vorbemerkungen
(Kapitel 1, 9–14) ausgeführt wird, verleitet die Vorliebe und Häufigkeit von Euphemismen in
der Kriegsberichterstattung – sie wurde von CEK in ihrer Qualifikationsschrift festgestellt –
zur Ausweitung der Fragestellung auf weitere sprachliche Katalysatoren des Impliziten. Diese
Zielsetzung wird daher theoretisch neu untermauert (Kapitel 2 und 3, 15–68), führt zur Erstellung eines Untersuchungsdesigns bzw. eines anwendbaren Analyseinstrumentariums (Kapitel 4,
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69–78) und wird schließlich analytisch auf ein kleines Korpus aus drei verschiedenen Textsorten
(anhand je zweier Texte) angewandt (Kapitel 5, 79–157).
Die erweiterte Aufgabenstellung, sprachlichen Konstruktionen nachzuspüren, die Implizitheitscharakter haben und diesen im Text auch strategisch geltend machen, führt die Autorin
automatisch von der Semantik in die Pragmatik. Demnach gibt diese das Hauptgerüst zur
Erstellung einer Theorie des Impliziten in der Sprache ab, wobei die wichtigsten Ansätze – so
der Eindruck beim Lesen der Arbeit – in einem ersten Teil in Form von grundlegendem Handbuchwissen aufgearbeitet bzw. deren zentrale Erkenntnisse auf die analytische Brauchbarkeit
hin schrittweise abgeklopft werden: Klarerweise kommt dabei der Sprechakttheorie und den
Konzepten der Performativität, der Illokution und ihren Modifikationssignalen sowie der Indirektheit ein besonderes Augenmerk zu. Ihre Verdienste führen die pragmatische Linguistik in
zwei verschiedene theoretische Richtungen, der kognitiven Pragmatik auf der Basis von Grice
(mit dem Konzept der Implikatur) und Sperber/Wilson (mit dem Konzept der Relevanz) einerseits, und der integrierten Pragmatik französischer Prägung (Ducrot, Anscombre, Moeschler/
Reboul u. a. mit den spezifischen Auslegungen von argumentation und polyphonie) andererseits.
Diese hier gut beleuchtete Differenzierung ermöglicht die Erfassung des Impliziten generell als
ökonomisches Inferenzverfahren, das sich aus situationsgesteuerter Relevanzsetzung einerseits
und sprachgeleiteten Hinweisen sowie bekannten Diskursstrukturen andererseits speisen kann.
Außerhalb der Tatsache, dass beide Pragmatik-Richtungen hier sehr gut anhand der wichtigsten Erkenntnisse aufgearbeitet werden und daher auch für Laien verständliche Einblicke in
die schwierigen Theorienkonstrukte im Spannungsverhältnis zwischen sprachlichen und außersprachlichen Phänomenen anbieten, kommt aus den – oft sehr redundant gehaltenen, aber
dadurch gut lesbaren – Ausführungen wenig Neues oder gar konkret analytisch Umsetzbares
für eine allgemeine Definition des Impliziten heraus: Das Fazit liegt nach wie vor in der NichtWörtlichkeit beabsichtigter Zeichensetzung, die allen Texten auf allen Sprachebenen immanent
sein kann, in den jeweiligen Situationen aber unbedingt ersichtlich und damit für die Rezipienten
entsprechend deutbar sein muss. Nachdem solche Verfahren vor allem in der Sprache der Politik
und ihrer Vertextungsformen in der Presse vermutet werden, widmet sich das 3. Kapitel mit
dem Titel „Zeitungssprache – Politikersprache“ diesen beiden Bereichen in kursorischer und
aus der Sicht des heutigen – medienlinguistischen – Forschungsstands in banaler Weise. Dabei
überwiegt wieder der klassische semantische Blick auf die wertenden Schlagwörter und deren
Manipulationspotenzial. Unter „Zeitungssprache“ wird unreflektiert die von Lüger in den späten
70ern präsentierte, auf den dominierenden Sprechhandlungsmustern beruhende, aber mittlerweile
längst überholte Textsortentypologie subsumiert, aus der schließlich Berichte, Leitartikel und
Interviews mit dem Ziel ausdifferenziert werden, möglichst viele und möglichst unterschiedliche
Verfahren impliziten Sprachgebrauchs ‚dingfest‘ machen zu können.
Das theoretisch breit vorbereitete Vorhaben klafft mit der empirischen Realität auseinander:
Nicht einzelne Sprachformen vermitteln Implizites, sondern deren komplexe Verbindungen
untereinander in Vernetzung mit Kontext und Subjekten, deren Vorwissen, Gemeinsamkeiten
und emotionaler Beteiligung. So sind die aus der Theorie abgeleiteten Untersuchungskategorien
eigentlich enttäuschend, umfassen sie doch inklusive Konzepte, die da aufgezählt werden als
zum einen die erwartbaren, weil altbekannten lexikalisch-semantischen Einheiten wie Schlagwörter, Euphemismen, Metaphern und Redewendungen (Kapitel 4.2., 71–77), die in Form von
Isotopieketten auch satz- und textsemantisch wirksam sein können (wie, wird allerdings nicht
vorab geklärt und erst aus der Analyse anhand einer ganz anderen Wortklasse, nämlich der
synsemantischen Funktionswörter, ersichtlich. Hier müsste dringend der gut entwickelte Forschungsbereich der Konnektoren und Partikel eingearbeitet werden, der z. B. auch bei Ducrot
eine wichtige Rolle spielt!); zum anderen geht es um das pragmatische Konzept der Präsup-
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positionen als den stets mitgemeinten (und nie kontroversen) Voraussetzungen, die mit jedem
sprachlichen Ausdruck – ganz egal welcher Natur – unterschwellig mittransportiert werden.
Ein derartig unkonturiertes Analyseinstrumentarium zwingt geradezu zur minutiösen Überprüfung in der Textrealität und kann dort nur anhand einzelner ausgewählter Textbeispiele
genauer nachvollzogen werden: Kapitel 5 besteht daher aus der schrittweisen, hermeneutisch
gehaltenen Analyse von 1. zwei Leitartikeln, 2. zwei Berichten bzw. Nachrichtenformaten (eine
Vermischung der Begriffe ist aus der Sicht der Medienlinguistik problematisch), und 3. zwei
Interviews, die in Le Monde zur Situation des Irak-Kriegs von 2003 veröffentlicht wurden. Dabei
werden die Texte einer Translatierung gleich in alle Ebenen zerlegt, die Struktur des Impliziten
grafisch nachskizziert, dann im Zusammenspiel aller Textebenen und der Rekonstruktion des
Vorwissens Schritt für Schritt herausgeschält und schließlich in Bezug zur Textsorte funktional (im Sinne der Hermeneutik eher traditionell ‚intuitiv‘) interpretiert. Es bestätigt sich, dass
Implizites grundsätzlich durch die verschiedensten Sprachmittel evoziert werden kann. Viele
Formen sind allerdings dabei, die keineswegs vorab als zentrale Instrumentarien aufbereitet
worden sind; andere wiederum sind dabei, die in der traditionellen Lexikologie und Grammatik
viel zu wenig eine Rolle spielen oder in der Textlinguistik und Textpragmatik schon vielfach
behandelt worden waren und so neue Akzente setzen könnten. CEK geht darauf nur punktuell
ein. Sie fasst die Heterogenität der Formen und Funktionen in einem 6. Schlusskapitel (161–169)
zu drei Gruppen zusammen: den wortimmanent, den satzimmanent und den satzübergreifend
evozierten impliziten Informationen, womit wir eigentlich vor keiner neuen Erkenntnis stehen.
Damit schafft die Autorin schwammig definierte Kategorien (161), die ihr aber eine Quantifizierung ermöglichen und in den jeweiligen Textsorten prozentuell nachgewiesen werden. Es
entstehen drei Tabellen mit Messergebnissen, die den jeweiligen Textintentionen entsprechend
eine Zunahme des Impliziten vermerken und zwar in direkter Proportionalität zur Subjektivität bzw. zur gewollten Meinungsbildung (d. h. Interviews wären am reichsten an impliziten
Sprachmitteln). Dieses durchaus einsichtige Ergebnis entbehrt jedoch jeglicher Wertigkeiten,
Relationen etwa zur Textlänge etc. sowie vergleichbaren Forschungsergebnissen. Es bleibt auch
fraglich, ob mit dieser sehr schmalen Analyse und dem begrenzten Datenmaterial tatsächlich
Regularitäten impliziten Sprachgebrauchs abgeleitet worden sind, die zu einer angemessenen
Interpretation der gegebenen Informationen und damit „zum besseren Verständnis von Zeitungsartikeln“ (so 167) führen. Was man schmerzlich vermisst, sind intermediale, interkulturelle und
intertextuelle Vergleiche sowie Bezüge zur journalistischen Kultur Frankreichs im Gegensatz
etwa zu anderen etc.
Das Verdienst der Arbeit liegt demnach lediglich in der Bewusstmachung einer zwar allgegenwärtigen, aber bisher wenig bemerkten, weil empirisch schwer greifbaren Thematik, die weit
über die Linguistik hinausführt. Das angefügte Literaturverzeichnis zeigt eine Ansammlung von
Überblicks- und Grundlagenwerken aus Journalistik und (vorrangig deutschsprachiger) Sprachund Textwissenschaft, aus denen zwar erste theoretische Bausteine zur möglichen Charakteristik
des Impliziten herausgefiltert werden können, die aber bis auf wenige Ausnahmen (man denke
dabei an das hier m. E. viel zu wenig kritisch referierte Werk von Kerbrat-Orecchioni L’implicite
von 1986) mit dem eigentlichen Thema wenig zu tun haben – Beweis genug, dass man die Arbeit
von CEK lediglich als Anstoß verstehen muss für ein noch weitgehend unbestelltes, zukunftsträchtiges Forschungsfeld, um das sich vor allem die Medienlinguistik weiter bemühen muss,
und das in synchroner, diachroner und komparatistischer Hinsicht.
Salzburg
Gudrun HELD
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Susanne FRIEDE/Dorothea KULLMANN (Hgg.), Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische
Chanson de geste im europäischen Kontext (Germanisch-Romanische Monatsschrift, 44),
Heidelberg: Winter, 2012, VII + 458 S.
Der Band ist das Ergebnis eines 2008 in Göttingen veranstalteten Kolloquiums. Nicht nur
der Titel Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext, sondern auch der Umfang von 19 Aufsätzen (davon drei in französischer Sprache) machen
deutlich, dass es sich hierbei um ein Projekt mit hohem Anspruch handelt. Diesen formulieren
die Herausgeberinnen Susanne Friede (Göttingen) und Dorothea Kullmann (Toronto) – nachdem
sie die bisherige Forschung zur europäischen Rezeption der Chansons de geste als mangelhaft
charakterisiert haben – auch explizit in ihrer Einleitung: „Eine Absicht des vorliegenden Bandes
ist daher, zu einem nuancierten und vertieften Verständnis der Gattung der altfranzösischen
Chanson de geste selbst beizutragen“ (S. 2 f.).
Als Fundament ihrer Herangehensweise wählen sie das Konzept des Transfers und begreifen
die Gattung der Chanson de geste vor allem als Ergebnis und Motor vielfältiger Transferprozesse.
Dabei eröffnen Friede und Kullmann ausgehend von den altfranzösischen Chansons de geste
vier zentrale Interessengebiete. Sie fragen erstens nach Transferphänomenen und Reihenbildungen innerhalb des altfranzösischen Ausgangskanons selbst. Zweitens streben sie mithilfe einer
breiten komparatistischen Herangehensweise an, Transfers nicht nur als bilaterale, sondern als
multilaterale Veränderungsprozesse zu untersuchen. Neben altfranzösischen und mittelhochdeutschen Werken stehen mittellateinische, italienische, niederländische und altnordische Texte
im Fokus der einzelnen Aufsätze. Drittens wird die Frage nach der Art und Weise gestellt, wie
Transferprozesse verlaufen. Hier soll vor allem die Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
in den Blick genommen werden. Viertens machen Friede und Kullmann darauf aufmerksam, dass
auch die jeweils sich verändernden (religiösen, politischen und sozialen) Funktionalisierungen
der einzelnen Bearbeitungen bei der Analyse von Transferprozessen zu berücksichtigen sind.
Nicht nach diesen Interessengebieten, die eher als wiederkehrende Fragestellungen punktuell die einzelnen Aufsätze verbinden, sondern einer anderen Systematik folgend ist der
Band in vier unterschiedlich große Teile gegliedert. Das erste Kapitel, Entwicklungslinien von
altfranzösischer Chanson de geste und mittelhochdeutscher Epik, versammelt drei Aufsätze
mit verschiedenen Herangehensweisen. François Suard beschäftigt sich in seinem Beitrag „La
chanson de geste: raisons d’un succès“ mit den Ursachen für den Erfolg der Chansons de geste
in Europa, die er vor allem in der Grundkonstitution der Gattung sieht. Ulrich Mölk schlägt
hingegen in seinen „Remarques philologiques sur les gestes autoréférentiels du narrateur dans les
premières chansons de geste“ vor, autoreferentielle Bemerkungen von Autoren in den frühesten
altfranzösischen Chansons de geste zu klassifizieren. Einen ersten markanten Unterschied zu
ähnlichen Stellen in der Ilias, dem Beowulf und dem Hildebrandslied sieht er darin, dass sich
die altfranzösischen Autoren auf schriftliche und nicht auf mündliche Quellen berufen. Bernd
Bastert kommt in seinem Beitrag „Von der Hagiographisierung zur Literarisierung des Epischen – Adaptionsformen der französischen Heldenepik in Deutschland“ zu dem Schluss, dass
deutsche Bearbeiter altfranzösischer Chansons de geste diese nicht als Heldenepik verarbeiten,
sondern hagiographisch aufbereiten oder als Erzählstoff verwenden.
Im Abschnitt Stoffe und Motive: Genese und Transfer sind Beiträge vereint, die das Verhältnis
einzelner mittelhochdeutscher Texte zur altfranzösischen Tradition eruieren (Alois Wolf: „Zur
Frage nach dem mittelalterlich-volkssprachlichen Epos: Chansons de geste und Nibelungenlied“)
und solche, die sich um die Transformation einzelner Figuren bemühen (Mathias Herweg: „‚Sô
wurdet ir nie Karels sun.‘ Metamorphosen eines Herrscherbildes“; Volker Caumanns: „Die
Historia Turpini – Wie Karl und Roland die Skriptorien eroberten“) sowie ein Beitrag, der die
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Veränderung eines bestimmten Motivs untersucht (Nils Borgmann: „Der Kriegsheld im Kloster.
Das Motiv des Moniage und die romanisch-germanischen Literaturbeziehungen auf dem Gebiet
der Heldenepik“).
Das Kapitel Transfer und Funktion ist wesentlich größer als die beiden vorhergehenden und
erlaubt in seiner Anlage eine breitere Themenvielfalt. Untersucht werden hier die Bedeutung
von Schriftlichkeit im Transferprozess vom Altfranzösischen zum Mittelhochdeutschen (Jürgen
Wolf: „Die Wahrheit der Schrift in Rolandslied und Willehalm. Schrift-zentrierte Überlegungen
zur deutschen Chanson de geste-Rezeption“), die Darstellung einer fremden Religion (Ricarda
Bauschke: „Der Umgang mit dem Islam als Verfahren christlicher Sinnstiftung in Chanson de
Roland/Rolandslied und Aliscans/Willehalm“), nationale Stereotypen (Georg Jostkleigrewe:
„Dekadente Schwächlinge und karolingische Helden? Zu den Problemen einer politischen
Interpretation mittelalterlicher Literatur: Das ‚Französische‘ im deutschen Wilhelmszyklus“)
sowie Formen der Erinnerung (Andreas Hammer: „Erinnerung und memoria in der Chanson
de Roland und im Karl der Große von dem Stricker“). Den Abschluss des Kapitels bildet ein
Beitrag, der sich mit der Bedeutung von Bildern bei der Übertragung eines altfranzösischen
Textes in eine spezifische politische Situation beschäftigt (Maria Theisen: „Zwischen den Zeilen: Illumination. Überlegungen zum Bildprogramm des Willehalm-Kodex für König Wenzel
IV. [Wien, ÖNB, S.n. 2643]“).
Der letzte und mit sieben Aufsätzen weitaus umfangreichste Abschnitt trägt den Titel Achsen des Transfers und löst die in der Einleitung angekündigte multilaterale Perspektive auf
Transferprozesse ein. So widmet sich Hans van Dijk in seinem Beitrag „Die Chanson de geste
im Niederländischen zwischen dem Französischen und dem Deutschen“ dem Niederländischen
als Transferraum. Silke Winst („Mittelalterliche Logiken des Erzählens in der altfranzösischen
Chanson de geste Élie de Saint-Gilles und in der nordischen Adaptation Elis saga ok Rósamundu“) und Hendrikje Hartung („‚Ámundi er jarl nefndr. […] Annarr son hans hét Rögnvaldr.‘ Les
reflets du Renaut de Montauban dans la rédaction A de la Mágus saga jarls“) untersuchen das
Verhältnis von altfranzösischen Chansons de geste und altnordischen Bearbeitungen, und Ruth
von Bernuth („Zwischen Kreuzrittern und Sarazenen. Der jüdische Held in Elia Levitas Bovo
d’Antona“) interpretiert einen jiddischen Text mit toskanischer Vorlage. Katharina Philipowski
legt ihrem Beitrag „Zauberei, Magie, Teufelsbeschwörung und ihre legendarische Überformung
im Malagis und Reinolt von Montalban“ altfranzösische, niederländische und deutsche Textfassungen zugrunde. Regine Reck („Zwischen Iles y eneideu ‚Erbauung der Seelen‘ und peth
gorwac ‚eitler Sache‘: Die matière de France in Wales“) erforscht die Rezeption der Chansons
de geste in Wales. Tobias Leuker („Le Roi de Sezile. Adam la Halle und die Tradition der Chanson de geste“) eröffnet eine Perspektive darauf, wie die Gattung in Unteritalien weitergeführt
wird, um dort die Herrschaft des Hauses von Anjou zu stärken.
Ein Index der Autoren und Werke sowie ein Sachindex runden den Sammelband ab und
erleichtern die Orientierung in der vielfältigen und heterogenen Aufsatzsammlung. In dieser
Vielfältigkeit und Heterogenität liegen zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. So
ist es zu begrüßen, dass viele Forscherinnen und Forscher sich hier zu einem Diskussionsforum
zusammengefunden haben. Ebenso positiv ist die Vielfalt der Themen und aufgeworfenen Fragen
zu bewerten. Doch führt gerade diese Offenheit auch dazu, dass dem Sammelband zuweilen
der innere Zusammenhang zu fehlen scheint, was auch daran liegen könnte, dass das anfangs
postulierte Ziel, die Gattung zu durchdringen, doch zu hoch gesteckt ist. So relativieren Friede
und Kullmann selbst den zunächst erhobenen Anspruch, indem sie feststellen:
Dieser Versuch, zumindest im Ansatz die großen Linien einer europäischen Geschichte
der altfranzösischen Chanson de geste zu skizzieren, wird, so hoffen wir, das erstaunliche
Potenzial deutlich machen, das diese Gattung im Hinblick auf Ausdifferenzierung, Kom-
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plexisierung und Neuinterpretation auszeichnet und das in den extensiven Transfer- und
Vermittlungsprozessen, deren Gegenstand und Auslöser sie ist, zum Ausdruck kommt.
(S. 16)
Wären in der Einleitung die Leitbegriffe theoretisch präzisiert worden, hätte dies dem Eindruck
der Beliebigkeit vielleicht entgegenwirken können. Dabei wären folgende Fragen zu klären gewesen: Warum wird der Begriff des Transfers gewählt? Was zeichnet ihn gegenüber ähnlichen
Konzepten wie Transformation (vgl. z. B. die Überlegungen am SFB Transformationen der
Antike), Adaption oder Rezeption aus? Worin liegt das theoretische und analytische Potenzial
des Begriffs?
Die einzelnen Beiträge antworten diesem theoretischen Defizit auf unterschiedliche Weise.
Während etwa Suard davon ausgeht, dass Transfer in der Gattung selbst angelegt ist – deren
flexible Form, das reiche inhaltliche Entwicklungspotenzial sowie das epische Wertesystem
stellten gerade die vielfältigen Identifikations- und Adaptionsmöglichkeiten bereit –, geht Bastert
von Transferprozessen als Verlustgeschichten aus: Das eigentlich Heldenepische der Chansons
de geste gehe bei den deutschen Bearbeitern verloren (vgl. S. 71).
Am fruchtbarsten erscheinen solche Beiträge, die Transferprozesse als Funktionalisierungen von Texten in bestimmten Situationen in den Blick nehmen, denn sie fragen nicht, was die
Gattung ‚im Kern‘ ausmacht, sondern verdeutlichen anhand konkreter Analysen, von welchen
Bedingungen und Interessen Transfers geleitet sein können. Insgesamt stellt der Band einen
wichtigen Beitrag zu einer sich als komparatistisch verstehenden Mediävistik dar.
Berlin
Evamaria FREIENHOFER
Henri GODARD/Jean-Louis JEANNELLE (Hgg.), Modernité du Miroir des limbes. Un autre Malraux
(Études de littérature des XXe et XXIe siècles, 18), Paris: Classiques Garnier, 2011, 395 S.
Es gibt nicht viele Themenfelder, die in der Forschung so stark beackert werden wie der
Komplex Autobiographie, Autofiktion, Selbst- und Identitätskonstruktion in und durch Literatur.
Ein Autor, der bislang kaum von diesem Boom profitiert hat, ist André Malraux. Malraux, noch
zu Lebzeiten in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen und 1996 durch die Überführung
seiner sterblichen Überreste ins Pantheon auch politisch endgültig kanonisiert, scheint generell
kein übermäßig populärer Forschungsgegenstand zu sein; gerade in der deutschen Romanistik
ist in den vergangenen zehn Jahren nur sehr wenig zu Malraux veröffentlicht worden.1 – Gäbe
es mithin so etwas wie einen ‚Fluch der Pléiade zu Lebzeiten‘? Als ein anderes prominentes
Opfer wäre hier zum Beispiel Henry de Montherlant zu nennen, dessen frühe Romane die Zeit1
Als Ausnahmen wären beispielhaft, bezeichnenderweise ohne Fokus auf den autobiographischen
Schriften, zu nennen: Albrecht Buschmann, „Der Bürger, der Krieg und der Held. André Malraux’
L’Espoir oder die Sehnsucht des Fliegers“, in: Literaturen des Bürgerkriegs, hg. v. A. Bandau,
A. Buschmann u. I. von Treskow, Berlin: Trafo, 2008, S. 203–218; Wolfram Nitsch, „Der Bürgerkrieg als Medienereignis. Kommunikationstechniken in Malraux’ Roman L’Espoir“, in: Zeitschrift
für französische Sprache und Literatur 118 (2008), S. 125–140 oder Volker Kapp, „Individuelles
und historisches Bewußtsein in Malraux’ La Condition humaine“, in: Proteus im Spiegel. Kritische
Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert, hg. v. P. Geyer u. M. Schmitz-Emans, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 411–422.
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genossen oft in Parallele zu Malraux’ L’Espoir oder La Condition humaine gesetzt haben: Vor
ein paar Jahren waren seine Werke in der Pléiade gar nicht mehr verfügbar; mangels Lesern
wurden sie nicht mehr nachgedruckt.
Dieses Schicksal zumindest hat Malraux nicht ereilt. Inzwischen sind die vom Autor selbst
gestalteten Bände indessen durch kritische, kommentierte Ausgaben ersetzt worden; die Œuvres complètes fanden mit dem sechsten Band 2010 ihren Abschluss. Ein Werkkomplex jedoch,
so beklagen Henri Godard und Jean-Louis Jeannelle, sei von Forschung und Kritik bislang
besonders sträflich vernachlässigt worden – eben jener, der dem Feld der Autobiographie
zuzurechnen ist: Malraux’ mitunter kollageartig anmutende ‚Anti-Memoiren‘ Le Miroir des
limbes, jene gattungspoetisch seltsam heterogenen und changierenden Texte aus der letzten
Schaffensphase des Autors – Antimémoires, Les Chênes qu’on abat..., Oraisons funèbres, La
Tête d’obsidienne, Lazare und Hôtes de passage –, die zwischen 1967 und 1975 einzeln publiziert und dann zusammen unter jenem ‚spiegelnden‘ Titel veröffentlich worden sind – im Jahre
1976, dem Todesjahr Malraux’. Ja, Malraux scheint in seine Memoiren geradezu ‚hineinzusterben‘, insofern er in ihrem letzten Teil, Lazare, anlässlich eines Krankenhausaufenthalts in der
Salpêtrière die Erfahrung des schwindenden Lebens reflektiert. Le Miroir des limbes, heißt es
in dem anzuzeigenden Band, sei, wenn überhaupt, bisher gleichgültig bis feindselig rezipiert
worden: Einerseits erschien Malraux darin als der irrlichternde Mythomane, andererseits als
das gaullistische Monument; einerseits verstießen die Texte eklatant gegen das autobiographische Wahrheitsgebot, andererseits waren sie ohne jeden politischen Chic. Für die zweite Serie
von Vorwürfen könnten beispielhaft die Einlassungen Simone de Beauvoirs stehen, für erstere
die Biographie Olivier Todds, André Malraux. Une vie (Paris: Gallimard, 2001). Mit ihrem
gewichtigen Sammelband Modernité du ‚Miroir des limbes‘ wollen Godard und Jeannelle
dieses auf zweifache Weise reduktive Bild revidieren und, wie ihr Untertitel klarstellt, un autre
Malraux zeigen: einen komplexen, experimentellen, ‚modernen‘ Schriftsteller. In der Tat tun
sie gut daran, dieses vielschichtige, widerborstige, in gewisser Weise einzigartige Werk wieder
ins Bewusstsein zu rücken.
Der Sammelband, der auf eine Pariser Konferenz von 2008 zurückgeht, ist indessen nur der
erste Schritt auf dem Wege, Malraux einen neuen Platz im Kanon der französischen Literatur
des 20. Jahrhunderts zuzuweisen. Im Gefolge der Konferenz hat sich an der Universität Paris IV
eine Forschergruppe zu Malraux konstituiert, die gemeinsam mit dem an Paris III angesiedelten
Centre d’études André Malraux et les littératures engagées u. a. die Webseite www.malraux.org
betreibt, die sehr umfangreiches, gerade auch bibliographisches Material zu ihrem Autor bereithält. Auf ihr begegnet man auch immer wieder Beiträgern des Bandes, fast alles ausgewiesene
Spezialisten, angefangen freilich bei den Herausgebern: Henri Godard hat für den Pléiade-Band
zu Malraux’ kunsttheoretischen und -geschichtlichen Texten verantwortlich gezeichnet, und
Jean-Louis Jeannelle ist Autor der grundlegenden Untersuchung Malraux, mémoire et métamorphose (Paris: Gallimard, 2006). In fünf Abteilungen untersuchen die achtzehn Beiträgerinnen
und Beiträger, warum Malraux’ Anti-Memoiren-Werk eine desaströse Erstrezeption und in der
Folge ‚blockierte‘ Aufnahme gefunden hat, um sodann die gattungspoetische und stilistische
Komplexität sowie – emphatische – Modernität des Textes herauszuarbeiten und Neulektüren
zu liefern.
Der erste Teil entfaltet in fünf Beiträgen die kulturhistorisch-kontextuellen Rahmenbedingungen, in denen sich die Rezeption des Miroir des limbes vollzogen oder vielmehr ‚nicht‘
vollzogen hat. Sie machen ein doppeltes Spannungsfeld von Literatur und Politik auf.
Michel Murat sieht „Une certaine idée de la littérature“, so der Titel seines Beitrags, für
die Missachtung des Miroir verantwortlich, und dies gleich auf zweierlei Weise. Zum einen sei
der Literaturbetrieb klar politisch links geprägt gewesen, von den Temps modernes bis zu Tel
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quel. Die linke Kritik habe Malraux den ‚Seitenwechsel‘ nach seinen revolutionären dreißiger
Jahren 1944 zu de Gaulle nicht verziehen; zudem sei er als Kulturminister ein Mann der Institutionen gewesen. Murat schließt pointiert, Malraux habe seiner literarischen Reputation durch
sein gaullistisches Engagement mehr geschadet als Céline sich durch seinen Antisemitismus.
Zum anderen habe Malraux’ Miroir quer zu den akademischen Strömungen der Zeit und deren
Literaturbegriff gestanden; sein Text habe weder offensichtliche Anschlussmöglichkeiten an den
Strukturalismus geboten, noch ließ er sich mit der überaus einflussreichen Theorie der Autobiographie Philippe Lejeunes zureichend fassen, so dass auch hier eine Rezeption unterblieben
sei. Aktuell scheint Murat die Situation für den Miroir hingegen günstig; insbesondere eine
‚mediologische‘ Perspektive schiene ihm fruchtbar, die den Text auf intermediale, bildhafte
Strukturen befragen würde.
Janine Mossuz-Lavau zeichnet in ihrem Aufsatz „Le contexte idéologique des années 1940
à 1960: les sources d’un ‚décentrement‘“ noch einmal historiographisch detaillierter Malraux’
intellektuellen und politischen Werdegang vor dem Hintergrund der Zeitläufte nach. Es ist ein
Weg, der ihn aus dem ‚Zentrum‘ der Literatur und ihres Betriebs, um Mossuz-Lavaus Titelbegriff
aufzunehmen, ‚hinausführt‘. Sie zeichnet nach, wie Malraux vor allem während der IV. Republik kaum noch als Literat, sondern nur mehr als Politiker, ja, als ‚Propagandabeauftragter‘ des
gaullistischen RPF wahrgenommen wird. Auch Malraux’ Sympathien für die nichtmarxistische
Linke eines Pierre Mendès France können die intellektuellen Milieus, in denen sich Malraux vor
dem Krieg bewegt hatte, nicht wieder mit ihm versöhnen. Als Kulturminister de Gaulles während
der V. Republik schließlich überwirft er sich endgültig mit den tonangebenden Intellektuellen,
einerseits über die Algerienfrage, andererseits über seine Kulturpolitik, die ihnen abgehoben
und elitistisch erscheint; dementsprechend frostig sei die Aufnahme der verschiedenen Teile des
Miroir gewesen, die wie bereits erwähnt in den ‚heißen‘ Jahren ab 1967 erscheinen.
Auf gewisse Weise schreibt Jeanyves Guérin den Beitrag Janine Mossuz-Lavaus fort, indem
er einen Aspekt vertieft und das Portrait Malraux’ im Spiegel Sartres entwirft: „Un gaulliste
dans les années Sartre“. In den dreißiger Jahren sei Malraux als paradigmatischer „écrivain
combattant“ (S. 39), als écrivain engagé avant la lettre erschienen. Nach dem Krieg habe er sich
aber gewissermaßen selbst aus dem Spiel gebracht. Indem er keine Romane mehr geschrieben
und auch nicht in den entsprechenden Zeitschriften publiziert habe, sei er außerhalb der gaullistischen Bewegung kaum ‚hörbar‘ gewesen. So, argumentiert Guérin, habe Malraux Sartre bei
der Neudefinition des literarischen Feldes freie Hand gelassen. Und während die beiden sich
in einer Art kaltem Krieg gegenseitig ignorierten, habe Simone de Beauvoir stellvertretende
Attacken geritten. Er schließt, Malraux habe sein gaullistisches Engagement teurer als andere,
konservativere Schriftsteller bezahlt – denn rechts der Mitte habe Malraux nicht die Leser gefunden, die er auf der Linken verloren habe.
Fokussiert Guérin einen Antagonisten Malraux’, untersucht Marie Gil in ihrem Aufsatz
„Chemins de traverse ou voie royale? Sur les traces de Bernanos“ einen Autor, der, so ihre
These, eine seiner Identifikationsfiguren gewesen sei: Bernanos sei insbesondere für die autobiographischen Texte Malraux’ ein entscheidender Bezugspunkt. Grundsätzlich kann sich Gil
auch auf Selbstaussagen stützen. Malraux etwa verortet sich 1945 zusammen mit Bernanos in
der ‚heroischen Traditionslinie‘ der französischen Literatur, derjenigen Corneilles. Insbesondere
aber, so Gil, sei ihnen die Figur des „décentrement“ (S. 53) gemeinsam, die Figur der politischen
und literarischen Ortlosigkeit und Unangepasstheit. In dieser Figur sieht sie die Gemeinsamkeiten Malraux’ und Bernanos’ gebündelt, die sie im Folgenden näher in der antirhetorischen
Rhetorik der beiden Autoren, in der Auflösung der Gattungsgrenzen zwischen Roman und
Essay, und, am gewichtigsten, in der Romanpoetik ausmacht, die Gil auch für den Miroir in
Anschlag bringt: Diese sei jeweils fundiert in einer ‚Ethik der Lüge‘, die den Zugang zu einer
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höheren Wahrheit öffne – und gleichzeitig mit einer Ich-Zurücknahme hinter eine Polyphonie
der Stimmen einhergehe.
Den ersten Teil beschließt ein Blick ‚von außen‘ auf das Phänomen des Miroir des limbes:
Robert Harvey zeichnet in „Les limbes au purgatoire: la réception du Miroir des limbes aux ÉtatsUnis“ nach, wie nicht nur in Frankreich, sondern auch jenseits davon das Anti-Memoiren-Werk
auf Unverständnis stieß, u. a. zum ökonomischen Schaden der Verlage, die Unsummen allein
für die Übersetzungsrechte der Antimémoires gezahlt hatten und sich später gezwungen sahen,
einen Großteil der Auflage wieder einzustampfen. Malraux sei damals in den USA bekannter
als Sartre, wenn auch etwas weniger berühmt als Edith Piaf gewesen, bemerkt Harvey launig.
Doch habe Malraux Ende der sechziger Jahre, vor dem Hintergrund von Vietnamkrieg und Prager Frühling, mit seinen Texten eigentümlich aus der Zeit gefallen gewirkt. Gleichzeitig habe
die ‚kinematographische‘ Montageästhetik des Miroir desorientierend gewirkt, so dass Teile
sogar unübersetzt blieben. Harvey beschließt seinen thematisch immer weiter ausgreifenden
Aufsatz mit der Einschätzung, dass der Miroir vor dem Hintergrund einer Wiederentdeckung
von Malraux’ kunstgeschichtlichen Schriften eine Neu-, eine eigentliche Erstrezeption in der
englischsprachigen Welt erfahren könnte.
Der zweite Teil des Bandes versucht Malraux’ Text in den Spielarten der „écritures de soi“
(S. 85) zu verorten. Gewissermaßen standesgemäß gehört hier Jacques Lecarme das erste Wort,
der denn auch die Frage „Antimémoires ou autofiction?“ an den Miroir anlegt. Er rechnet den
Text – gemeinsam mit Lotis Roman d’un enfant und Célines ‚deutscher Trilogie‘ D’un château
l’autre, Nord und Rigodon – klarerweise zu den Autofiktionen avant la lettre. Lecarme reflektiert
das paradoxe Verhältnis von Aufrichtigkeitsbeteuerungen und Fiktionalitätsausweisen. Erstere
riefen beim Leser stets einen latenten Verdacht hervor. Fiktional präsentierte Texte hingegen
würden bisweilen fraglos faktual gelesen, insbesondere habe dies für die Romane Malraux’ in
den dreißiger Jahren (wie auch für Texte seiner Zeitgenossen Morand oder Montherlant oder
auch Drieu) gegolten. Umgekehrt sei das Fiktionalitätssignal der Antimémoires ebenso fraglos
überlesen worden. Lecarme ruft in Erinnerung, wie desorientierend der Text auf die Erstleser
– Leser der Autobiographien Greens, Mauriacs, Gides oder Sartres – gewirkt haben muss, die
das Angebot eines ‚autobiographischen Pakts‘ erwartet hatten, trotz des Titels. In der Folge entwickelt Lecarme den Begriff eines ‚anti-autobiographischen Pakts‘, den Texte anböten, die die
Möglichkeit autobiographischer Wahrheit negieren oder gar Fiktionalität reklamieren, dann aber
dennoch offensichtlich autobiographische Wahrheit vertexten. In einem Annex liefert Lecarme
Beispiele hierfür von Alain über Genet und Duras bis Barthes. Der Titel der Antimémoires habe
ihn zunächst zu einer solchen Lektüre verführt, gesteht Lecarme. Doch die genauere Analyse
zeige, dass Malraux weder den einen noch den anderen Pakt anbiete, sondern Wahrheit und
Fiktion autofiktional gegeneinander montiere. Ja, er halte Malraux sogar für einen gewiefteren
Autor von Autofiktionen als Doubrovsky oder Robbe-Grillet, beschließt Lecarme seine Ausführungen, denn ersterer ziele gewissermaßen nur auf den ersten Teil des Worts, „auto-“, die
‚narzisstische‘ Selbstbefragung, letzter nur auf den zweiten, die „-fiction“, die im stets neuen
Erfinden von biographischen Möglichkeiten leerlaufe.
„Pour une muséologie du Miroir des limbes“ ist der Beitrag von Jean-Claude Larrat überschrieben. Larrat versucht, Parallelen herauszuarbeiten zwischen den Mechanismen individuellen
Erinnerns im Miroir und den Praktiken der Konstruktion kollektiven Erinnerns, wie sie sich in
der Institution des Museums materialisieren, einer Institution, mit der sich Malraux eingehend
auseinandergesetzt hat. Letztlich ist seine These, dass der Miroir wie ein Museum funktioniert,
in dem verschiedene, als erinnerungswürdig ausgewählte Objekte nebeneinandergestellt werden,
die miteinander in einen Dialog treten. Dazu entwickelt er im Anschluss an Marius-François
Guyard, den Herausgeber des Miroir in der Pléiade, eine Ästhetik des Fragments, die Malraux’
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Text präge. Er setzt sie in Verbindung mit Malraux’ Faszination für das „farfelu“, für die „curiosités“, das leicht Verrückte und Abseitige, so dass Malraux’ Museum einer ‚Wunderkammer‘
gleiche. Als eine solche Wunderkammer beschreibt Malraux selbst in den Antimémoires das
Ägyptische Museum von Kairo, eine Passage, die Larrat als „mise en abyme“ des ganzen Miroir liest. Das Nebeneinanderstellen quasi photographischer Fragmente, als die sich laut Larrat
Malraux’ Unterhaltungen mit historischen Größen wie Nehru, de Gaulle oder Picasso im Miroir
präsentieren, verhinderte durch ihre Dekontextualisierung – wie in einer Wunderkammer – das
Entstehen einer fortlaufenden Narration und, so Larrat, mithin auch von Fiktion, so dass er
vorschlägt, diesen Text nicht mithilfe der Dichotomie Fiktionalität/Faktualität, sondern jener
von Dokument/Monument zu analysieren, hinter der aber die Baudelaire’sche Unterscheidung
von „nature“ und „artifice“ aufscheine.
Marielle Macé beugt sich in ihrem überaus detailreichen Artikel „Sartre et Malraux: ‚Tout
ça aurait pu s’accrocher‘“ noch einmal über die – fehlenden – Beziehungen zwischen den
beiden Autoren; sie tut das im Hinblick auf die verschiedenen, ja, ihr zufolge inkompatiblen
Schreibweisen Sartres und Malraux’ sowohl in den Romanen als auch in den autobiographischen Texten. Macé bedient sich dabei der Leitmetapher des „accrochage“, die sie in Sartres
Carnets de la drôle de guerre findet: Gemeint ist damit eine Kristallisation, eine Konfiguration
von Ereignissen und Individuen, die das Potential haben, Epoche zu machen, sich dann aber
doch nicht zu einem Ensemble fixieren – außer vielleicht in der Erinnerung eines (autobiographischen) Schreibers. Als eine solche auf unwahrscheinliche Weise ausbleibende Konfiguration
präsentiert sie auch den geradezu nichtexistenten Dialog zwischen ihren beiden Autoren, den
sie auch mit Paul Ricœurs Begriff der „identité narrative“ (S. 119) zu erklären versucht. Und
sie unterstreicht, dass beide ein konträres Konzept vom menschlichen Leben haben: Während
für Sartre das Leben gleichbedeutend mit einer Einschränkung von Möglichkeiten durch fortlaufende Entscheidungen sei, betrachte Malraux das Leben als stets expansive „puissance de
développement de l’aventure humaine“ (ebd.). (Existentielles) Abenteuer und (existentieller)
Abenteurer sind denn auch die zweiten Leitbegriffe des Aufsatzes, die Macé zunächst an den
Romanen erprobt. Malraux schreibe über letztlich scheiternde Abenteurer, d. h. über Personen,
die Identitätsfestschreibungen entfliehen. Sartre hingegen verneine die Möglichkeit, ein Leben
als Abenteuer zu beschreiben, ohne es literarisch zu verfälschen. Später zeichnet er den „aventurier“ als melancholisches Gegenbild des „militant“. Ebensolche gegensätzlichen Konzeptionen
macht Macé auch in den jeweiligen Selbsterzählungen aus. Wenngleich beide um das Ringen
kreisten, ein freies Subjekt zu sein, sieht Macé sie durch zahlreiche Gegensätze konfiguriert,
die sie im letzten Teil ihres Artikels entfaltet: Möglichkeit und Potenz, Situation und Kondition,
Individuum und Mensch und, könnte man anführen, Kontingenz und Exemplarität.
Joël Loehr legt mit seinem Aufsatz „Mai 68: La pharmacie de Malraux“ eine ebenso kleinteilige wie labyrinthische Analyse des Manuskripts von La Corde et les souris vor, genauer gesagt
von dessen drittem Kapitel. In den Spuren von Derridas La Pharmacie de Platon zeichnet Loehr
nach, wie Malraux die Studentenunruhen von 1968 mit metaphorischen Termini beschreibt, die
er systematisch dem medizinisch-pharmazeutischen, ja toxikologischen Bereich entnimmt: Die
Revolte, schreibt Malraux, erscheint ihm als eine „épidémie mentale“ (S. 133), als besonders
virulente Manifestation der allgemeinen Zivilisationskrise, die er in unserer bezeichnenderweise
als „temps des limbes“ (S. 143) benannten Epoche ausmacht. Loehr untersucht die komplexen
Manöver, mit denen Malraux – über diverse Fiktionalisierungen – die Ereignisse in sein AntiMemoiren-Werk integriert, unter anderem über eine willentliche Suspension des Schreibens,
eine Abdankung vom Status des Großschriftstellers. Doch, wie Loehr unterstreicht, ist das
Schreiben auch ein Pharmakon, eine starke Droge, und so setzt Malraux seinen Text fort. Am
Ende, in Lazare, Malraux’ eigener Erfahrung des ‚Limbus‘, so Loehr, würden einige der hier
analysierten Elemente wiederkehren.
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Der dritte Teil des Bandes nimmt Malraux’ Anti-Memoiren-Werk im Spannungsfeld verschiedener Gattungen und Subgattungen und ihrer Mischungen in den Blick. Claude Pillet
untersucht die „interactions créatrices dans Le Miroir des limbes“ der „Régimes fictionnel et
factuel“, so der Untertitel und der Titel seines Beitrags. Er entfaltet sie in drei ‚Parcours‘. Am
spannendsten ist dabei der erste. Pillet ruft aus einer anderen Arbeit in Erinnerung, wie sich
die Struktur von Malraux’ Roman Les Noyers de l’Altenburg als ein Flügelaltar, ein Triptychon
beschreiben lässt, wobei Prolog und Epilog den geschlossenen Flügeln, die einzelnen Kapitel
den Bildern auf den Innenseiten korrespondieren. Für die Struktur des Miroir bringt Pillet eine
andere, doch gleichfalls räumlich-bildhafte Analogie in Anschlag, nämlich die eines Museums
in zahlreichen Sälen, und er zeichnet nach, wie Szenen aus Malraux’ Romanen nahtlos in den
autobiographischen Text integriert werden, dort gleichsam aufgehängt sind. Er unterscheidet
darüber hinaus neun (heterogene) Prinzipien, nach denen die in sich sehr verschiedenen – fiktionalen und faktualen – Szenen im Miroir einander gegenübergestellt und auf diese Weise
sinngeberisch produktiv werden. Damit formuliert er eine eigenwillige, elaborierte These zur
Organisation des zerklüfteten Textes. Zusätzlich, so Pillet, gäben dem Text zwei intertextuelle
Dispositive Struktur: zum einen eine Parade historischer, mythischer und auch banal-alltäglicher
Gestalten und Bilder, zum anderen ein ausgeklügeltes Netz von Zitaten, die meistenteils ihren
Zitatcharakter durchsichtig machten, als Verweis auf ein seinerseits „réel référé“, kurz auf
‚Kultur‘ (S. 163). So spiegelten sich, wie vom Titel des Buchs angedeutet, Fakt und Fiktion
gegenseitig, bis sie schließlich – im Dienste einer emergenten Sinngebung – ununterscheidbar
würden, was Pillet für eine der gelungensten literarischen Leistungen Malraux’ im Miroir hält.
Catherine Coquio erprobt in ihrem Artikel „Le Miroir des limbes: écriture du témoignage et
littérature des camps“ die Anwendbarkeit des Konzepts von Zeugenschaft, wie es insbesondere
im Kontext der Shoah-Literatur entwickelt worden ist, auf den Miroir. Sie versucht, die Genres
Memoiren- und Zeugnisliteratur gegeneinander zu relationieren und fragt danach, inwiefern die
Figur des Zeugen im Miroir das Genre der Memoiren dekonstruiert und damit das ihr zufolge den
Text durchziehende Prinzip der ‚Metamorphose‘ erst befeuert. Sie tut das in einer Analyse zahlreicher Einzelszenen und -themen; ihr Artikel ist einer der längsten des Buchs. Einige Schwerpunkte
seien kurz angedeutet. Coquio stellt heraus, dass der Zeuge bei Malraux meistenteils ein Zeuge
von Krieg und Résistance ist. In der Gestalt Jean Moulins, dessen Schicksal im Miroir einigen
Raum einnimmt, ist die Figur jedoch wieder mit der Deportation und dem Konzentrationslager
verknüpft. In einer regelrechten „réécriture des récits de déportation“ (S. 204) begreife sich Malraux als stellvertretender Zeuge, in dessen eigene Erinnerungen sich die Erinnerungen von anderen
hineinmischten, wie er selber schreibt, bis auf eine unmittelbare, klangliche und rhythmische
Ebene hinab, und so das ‚Gedächtnistheater‘ Malraux’ für einen Augenblick aufsprengten. An
anderen Stellen wieder lege Malraux unterschiedliche Bilder übereinander – individuelles Leid
und „Mal historique“ (S. 211), Krankenhaus und Konzentrationslager, das Kampfgas des Ersten
Weltkriegs und die Gaskammern des Zweiten, indische Verbrennungsriten und Krematorien –, was
zuletzt die Idee unterstreiche, Zeugnis werde im Angesicht des Todes abgelegt und Geschichte,
individuell wie überindividuell, im Horizont des Todes verstanden.
Mit Michel Briand hat im folgenden Beitrag kein malrucien das Wort, sondern ein an den
Themen von Gattungsmischung und Selbstkonstruktion arbeitender Altphilologe, ein Gräzist.
Briand untersucht in einem interdisziplinären Dialog die Formen des Dialogs im Miroir des
limbes, wobei er den Dialogbegriff auch im Weiteren in mehreren konkurrierenden Schattierungen verwendet. Einesteils gilt seine Aufmerksamkeit Malraux’ Schilderungen eines gelungenen
Zusammentreffens mit Gesprächspartnern, wie etwa Nehru, oder auch eines verfehlten, wie im
Falle Maos. Andernteils geht es ihm aber auch um eine Analyse des von Malraux inszenierten
Dialogs zwischen Europa und Asien, zwischen dem Individuum und den Instanzen der Sinn-
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gebung, des Dialogs mit sich selbst. Briand stellt vor allem die rhetorische Flexibilität und
Virtuosität heraus, die den Dialogen mit den ‚Großen‘ einen unmittelbaren, mündlichen Charakter bewahrt haben und Malraux im Dialog mit seinem Leser beständig Register und Genres
wechseln lassen. Durch diese doppelte Polyphonie sieht Briand die Antimémoires dezidiert nicht
in einer Traditionslinie mit den Confessions, sondern in der longue durée eher mit Texten der
Zweiten Sophistik eines Aelius Aristides und Lukian, die Fiktion und Erkenntnis miteinander
engführten. Dies lässt ihn in einem letzten Abschnitt noch einen Bogen von Malraux zu Thukydides’ ‚exemplarischer Geschichtsschreibung‘ schlagen. Dabei sei der Dialog das privilegierte
Vehikel, über das Malraux die Geschichte mit den Geschichten, philosophische Reflexion und
fiktionale Exemplarität miteinander verschmelze.
Den Gattungsfragen gewidmeten Teil des Bandes beschließt Henri Godard, der den thematischen Fokus des von ihm edierten Pléiade-Bandes der Werkausgabe in seinem Aufsatz
aufnimmt: „La réflexion sur l’art dans le Miroir des limbes“. Die Erfahrung von Kunst sei für
Malraux die existentielle Erfahrung par excellence gewesen, so dass ‚Kunst‘ nahezu durchgängig im Miroir thematisiert werde, angefangen beim Schock, der Malraux angesichts der
Sphinx und der Pyramiden von Gizeh erfasst habe und der laut Godard zur Initialzündung der
Antimémoires geworden sei. Godard weist auf, wie sich Malraux’ Anti-Memoiren-Texte, vor
allem des zweiten Teils des Miroir, und seine letzten kunsttheoretischen und -geschichtlichen
Essays durchdringen, nicht nur durch einen Austausch und eine Wiederaufnahme von Textpassagen, sondern durch eine gedankliche und thematische ‚Konsubstantialität‘. Paradebeispiel für
diese Zwitterstellung sei der um Picasso organisierte Text La Tête d’obsidienne, den Godard im
Folgenden eindrucksvoll analysiert. Picasso werde hier geradezu zu einer Romanfigur, basierend
auf den beiden Gesprächen, die Malraux mit dem Künstler geführt hat, und basierend auf der
Erfahrung von Picassos Kunst. Dies lässt auch Godard über die Spannung zwischen historischer
Faktentreue und Exemplarität reflektieren, die den Miroir so eigentümlich kennzeichnet. Wie
Godard in seiner Untersuchung unterstreicht, ist Picasso einerseits privilegierter Referenzpunkt
für Malraux’ eigene Kunstkonzeption, erst in Les Voix du silence, dann im Musée imaginaire de
la sculpture mondiale. Nach Picassos Tod, beim Besuch seiner Witwe in Mougins, muss Malraux
andererseits in der Betrachtung des sich im Atelier stapelnden Spätwerks feststellen, dass diese
Werke seine Konzeption stören, ja, in Frage stellen – und ihm gar ein mögliches Ende der Kunst,
zumindest so, wie Malraux sie gekannt und gefeiert hat, suggerieren. Godard zeichnet nach,
wie diese Spannung La Tête d’obsidienne dramatisiert. In der Schlusspartie des Textes wird sie
gleichwohl wieder aufgelöst: Bei einem weiteren Besuch, auch von Picassos Grab, sieht sich
Malraux in seinem Kernsatz bestätigt, Kunst sei eine Geste des Protests gegen die Begrenzungen
der condition humaine, gegen den Tod. Emblematisch steht dafür die mexikanische Skulptur
eines Schädels, eben jener ‚Kopf aus Obsidian‘ des Titels, den Malraux mit einer Schädelskulptur Picassos in Parallele setzt. Bezeichnenderweise nennt Malraux diesen Obsidiankopf
stets abwechselnd „tête“ und „crâne“, wie Godard unterstreicht, und macht schon dadurch die
todesüberwindende Kraft der Kunst deutlich. Diese Konzeption, so Godards überzeugende These,
erklärt auch den Platz der Tête d’obsidienne in der hochkalkulierten Komposition des Miroir,
die eben keinesfalls eine bloße Bündelung von Gelegenheitstexten sei: La Tête d’obsidienne
geht dem letzten Teil, Lazare, Malraux’ Meditation über den eigenen Tod, unmittelbar voraus.
Malraux hat in seinem Essay „Néocritique“ die Forderung erhoben, die Form des Kolloquiums über den Kontext der Universität hinaus zu öffnen. Die Herausgeber nehmen diese Forderung gern auf und geben im vierten Teil des Bandes vier sehr unterschiedlichen Stimmen, einer
Schriftstellerin und drei Schriftstellern, Gelegenheit, sich auf persönliche Weise dem Miroir
des limbes anzunähern: Jorge Semprun, Hédi Kaddour, Alix de Saint-André und Régis Debray,
für den Malraux sich 1969 eingesetzt hatte, als dieser nach dem Scheitern des revolutionären
Guerillakampfs an der Seite Ché Guevaras in Bolivien im Gefängnis saß.
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Der letzte Teil des Bandes ist dem letzten Teil des Miroir gewidmet, der Gestaltung der
Todeserfahrung von Lazare. Jean-Louis Jeannelle zeichnet in einer textgenetischen Analyse mit
minutiöser Genauigkeit am Manuskript von Lazare nach, wie Malraux in einem hochkalkulierten, mühevollen, von vielen Streichungen und Neuformulierungen geprägten Prozess, am Ende
seines Anti-Memoiren-Werks einen Text entwickelt, der Selbstauflösung des Ich und Verdichtung
des Textes gegenüberstellt – der zugleich von der unmittelbaren, intimen Erfahrung der Selbstauflösung in ein „je-sans-moi“ erzählt und durch vielfältige Verweise auf frühere Szenen eine
Synthese des Miroir herstellt, so dass Biographie und ‚Intratextualität‘, wie Jeannelle schreibt,
eine spannungsvolle, aber unauflösliche Verbindung eingehen: „face à la mort, il [Malraux] ne
prétend à aucune révélation mais fournit à son lecteur un passé qui n’est autre, paradoxalement,
que celui de leur propre lecture commune“ (S. 337).
Modernité du Miroir des limbes. Un autre Malraux versammelt zahlreiche der führenden
Malraux-Spezialisten. Auch wenn eines der erklärten Ziele des Bandes ist, eine Neurezeption
des Miroir des limbes zu initiieren, hat er keinen einführenden Charakter. Zu tief stecken die
Autoren dafür in ihrer Materie – einerseits. Andererseits gelingt es ihnen so, vielfach frappierend erhellende Einsichten zu einem unübersichtlichen Textgefüge zu präsentieren. Dass einige
wenige Aufsätze selbst literarische, bisweilen gar assoziative Züge annehmen – und dies nicht
jene der ausgewiesenen Schriftsteller –, leider zulasten der Thesenklarheit, mag dabei zu verschmerzen sein, ebenso dass gemeinsame theoretische Bezugspunkte eher locker gefügt bleiben.
Insgesamt hat der Band Malraux’ Anti-Memoiren-Werk auf breiter Basis und beeindruckende
Weise wieder in den wissenschaftlichen Diskurs zurückgeführt.
Freiburg
Henning HUFNAGEL
André GUYAUX/Frank LESTRINGANT (Hgg.), Fortunes de Musset (Rencontres, 5), Paris: Classiques
Garnier, 2011, 413 S.
Darstellungen der literarischen Archäologie, Ausweis des ambigen Echos von zeitgenössischem Ruhm, eskamotieren die banale Vorfrage, ob Werke für den Nachruhm geschrieben
werden, sie verfolgen vielmehr Rhizome einer irregulären Wirkungsästhetik jenseits einer
Erwartungsnorm, die ein Autor im Text versenkt haben soll. Sonst wäre die Polemik, deren
Objekt Musset entsprechend konkurrierender Deutungshoheiten nicht erst postum geworden ist,
kein Anlass zu weiterführenden Recherchen. Außer Acht bleiben kann die Selbstpositionierung
eines Romantikers, den die Literaturgeschichte und das Schulbuch mit Lamartine, Hugo und
Vigny in eine Reihe stellen, indessen nicht, wo zwischen den Einzeltexten Mussets und einem
idealtypischen Geist der Epoche ein Hiatus registriert wird. Somit manifestiert sich ein systemisches Dilemma pluraler und womöglich konträrer Autoritäten, des Produzenten oder seiner
Rezipienten. Die Beiträge des Bandes analysieren Ergebnisse der Philologie sowie multimediale
Konzepte, die die Bandbreite der Rezeption von Erstausgaben, illustrierten Editionen, Schauspiel
und Verfilmung ausweisen.
Beispielhaft offenbart die Fixierung auf das Jahr 1910, die Erinnerung an Mussets hundertsten
Geburtstag, disparate ideologische Vorurteile, um u. a. mit Musset als zeitlosem génie français
die klassizistische Tribunalisierung der Romantik voranzutreiben. Deswegen identifizieren
Beiträge dieses Bandes ausführlich Status und Habitus von Benutzern, die Musset keinesfalls
als seine idealen Leser und Theatergänger projiziert hätte; die Alternanz ihrer Disposition
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legitimiert wertvolle literarhistorische Rückschlüsse jenseits jeder offiziellen Kanonisierung
oder Verketzerung. Sie problematisieren indirekt die hypothetische Transitivität von Texten
des 19. Jahrhunderts, als die Wirklichkeit angeblich noch sprachlich einholbar erschien, wobei
ausgerechnet der Dramatiker Musset, der als Bühnenautor besonders präsent geblieben ist,
wie Bernhard Huß ausweist, das romantische Prinzip Melancholie planmäßig in die Uneindeutigkeit führt.1 Diese Intention unterscheidet ihn von Hugos kunstphilosophischer Tendenz zu
perspektivischer ‚Überschaubarkeit und Verständlichkeit‘ im Drama (und entsprechend in der
Narrative). Je nach registriertem reflexivem oder areflexivem Publikumsgeschmack, kritischem
oder unterhaltsamem Lektüreverhalten werden die historischen Musset-Bilder mehr als nur
ambig, wenn sich anachronistische, identifikatorische oder polemische Praxis mischt, dabei
je nach Interesse am achtzehnjährigen Lyriker im Cénacle, dem Märtyrer der Liebe oder dem
‚Verräter‘, der 1852 in die Akademie gewählt und bei Hofe empfangen werden will, Apriorien
fixiert werden.
Die vier Teile des Bandes thematisieren Musset dans le siècle (S. 27–144), Musset et les arts
plastiques (S. 147–256), Musset dans l’histoire littéraire (S. 259–310) und Musset en musique,
au théâtre et au cinéma (S. 313–394). Den Abschluss bilden nützliche Namen- und Titelregister.
Der einleitende Aufsatz von Frank Lestringant, „Musset, du Second Empire à la Troisième
République“ (S. 7–23), ruft mit dem ideologisch gespaltenen Musset-Bild der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts die Fragestellung des ganzen Bandes auf – „deux images diamétralement
opposées de Musset, d’une part le conformiste rallié au Prince-Président, le dandy décati devenu potiche de salon et pilier des lupanars huppés, de l’autre l’éternel asocial, l’incarnation de
la jeunesse rebelle et indestructible, l’inventeur avec Murger de la bohème artiste et littéraire,
le chantre de Bernerette et de Mimi Pinson“ (S. 8). Der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul
Lafargue, skizziert aus diesem Anlass seine eigene Galerie der poètes maudits, in der ein ausgegrenzter Musset seinen Rang einnimmt (S. 9). Jules Vallès, Zola, dessen Freund, der Komponist
Gustave Charpentier, und der Maler Henri Gervex vertiefen den weltanschaulichen Konflikt
zwischen der reaktionären Rettung des angenommenen Klassikers und der linken Provokation,
die gleichfalls zum Anachronismus neigt. Das Gemälde von Gervex, das Rolla nach der letzten
Liebesnacht darstellt, wirkt skandalös, weil der Künstler in der intimen Szene mit unverwechselbaren Details der Ausstattung des Zimmers die Gegenwart der 1870er Jahre abbildet. „Le
Paris bohème de 1830 a fait place au Paris haussmannisé de la Troisième République“ (S. 215).
Das Urteil von Flaubert ist wie immer singulär. In der Korrespondenz mit Louise Colet
inkriminiert er Mussets „péché d’autolâtrie“ (S. 74) als Exhibitionismus eines Dichters, dem
impersonnalité fremd sei. Wenn der Parnasse entsprechend abfällig urteilt – „Entre les Parnassiens, amoureux des dictionnaires, et Musset, dilettante désinvolte, le malentendu était inévitable“ (S. 88) –, um epigonale Ausdrucksästhetik zu treffen, schmälert ein solches Verdikt den
nachgewiesenen Zuwachs an poetischer Verehrung nicht. In diesem Kontext ist die lediglich
kursorische Berücksichtigung der Musset-Bilder von Nerval, Baudelaire, Rimbaud, Lautréamont und Mallarmé zu bedauern, während eine Referenz in Aragons Narrative expliziert wird.
Der zweite Abschnitt, Musset et les arts plastiques, gehört zum Standard des Erkenntnisinteresses, wenngleich der erste Beitrag, „Infortunes du Salon de 1836“ (S. 147–157), von Stéphane Guégan trotz der Verneinung des Bandtitels nicht verbergen kann, dass die Darstellung
der Kunstkritik, die Musset 1836 in der Revue des deux mondes veröffentlicht, sich außerhalb
des Rahmens des Projekts bewegt. Hélène Védrine („Musset dans le livre illustré au XIXe siècle“, S. 159–197) konfrontiert Mussets Abneigung gegen illustrierte Ausgaben seiner Erst- und
1
Bernhard Huß, „Die Romantik schlägt der Renaissance den Boden aus: Meta-Episteme in Alfred de
Mussets Lorenzaccio“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 61.1 (2011), S. 25–48.
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Neuausgaben mit postumen Editionen, die seit 1865 von Gervais Charpentier publiziert werden,
versehen mit Stahlstichen, die der damals berühmte Graveur Louis-Pierre Henriquel-Dupont
nach Zeichnungen von Alexandre Bida anfertigt. Die Ästhetik dieser und späterer Vignetten
ist ambivalent, denn sie rekonstruieren Lokalkolorit (Lorenzaccio) oder sie modernisieren, wie
auch der Maler Gervex (siehe oben Lestringant, S. 201–229), Milieu und Habitus der Figuren aus Rolla oder Mimi Pinson. Der Stil einer derartigen Bildersprache entfernt sich von der
Textsemantik und appelliert an eine schon anachronistische Lesart (S. 191 ff.). Darüber hinaus
bedienen die Verleger mit bebilderten Luxusausgaben die Zielgruppe der neuen Bibliophilen,
die, nach Holzschnitt und Stahlstich, die neue Technik der Farblithographie verlangen (S. 196).
Dem Buch eröffnet sich ein eigenes Kapitel der Kunstgeschichte. „Le livre entre [...] dans le
plein domaine de l’art décoratif, avec toutes ses noblesses, parallèlement aux arts de la scène
et de la mode“ (S. 197).
Zwischen 1884 und 1910 werden in Paris drei Musset-Statuen errichtet, die erste an der
Fassade des Rathausneubaus, und eine vierte in Neuilly-sur-Seine. Laure Pineau („Les statues à
la mémoire de Musset“, S. 231–256) erläutert kulturpolitische Konflikte der „Troisième République statuomaniaque“ (S. 233), die Zola 1880 zur Diatribe veranlassen, da ausgerechnet das
republikanische Paris die nationalen Dichter nicht angemessen ehre. Die öffentliche Meinung
bleibt ideologisch gespalten, seit die Enthüllung der Büste Mussets in der Comédie-Française
1868 Ferragus (d. i. Louis Ulbach) veranlasst, die ‚Serenaden‘ des ‚nutzlosen Poeten‘ den
militanten Jamben von Auguste Barbier und Victor Hugo entgegenzustellen (S. 240). Laure
Pineau analysiert weniger kunsthistorische Daten als den Widerstreit von Eulogie und Polemik
im Subtext der Ikonographie. Invektiven treffen das Bild von Musset, der Dandy und nicht
Republikaner sein wollte, und den postum aus diffuser chauvinistischer Motivation die Dritte
Republik ehrt; gleichzeitig warnen salvatorische Klauseln in Festreden die Jugend, der eben erst
Jules Ferry die allgemeine Schulpflicht beschert hat, vor der Kontamination durch Weltschmerz
und morbide Endzeitstimmung.
Die kulturgeschichtlichen Beiträge des vierten Teils, der Vertonung, Choreographie (namentlich von Serge Lifar) und Verfilmung aufruft, überschreiten die Literaturzentrierung. Sylvain
Ledda deutet die unterschiedliche Akzeptanz der Bühnenfassungen von Fantasio seit 1866
(„Fortunes de Fantasio“, S. 327–339) entsprechend dem Wandel der Disposition des Publikums.
Die anregende Fülle der Darstellungen in diesem Band lässt gleichwohl Wünsche offen.
Die sich von Hugo wie Dumas absetzende Dramatik wird nicht hinreichend gewürdigt und,
auch wenn der zitierte Aufsatz von Bernhard Huß herangezogen wird, orientieren sich Interpretationen nicht durchweg an aktuellen Forschungsstandards. Natürlich legt die kollektive
Fragestellung Interpretationsverfahren nach dem Prinzip l’homme et l’œuvre nahe, wenngleich
mit diesem Parameter Mussets Ablehnung des Platonismus und Petrarkismus vor Baudelaire
kaum zu erklären ist. Abgesehen vom Desiderat eines intertextuellen Projekts, das Marivaux,
Carmontelle, Mozart (Così fan tutte), Musset, Giraudoux und Anouilh auf Schnittmengen einer genuinen psychologischen Dramatik, die Liebesnöte als Ausdruckskonflikte aktualisiert,
hin untersucht, ist jedenfalls zu monieren, dass Mussets Zeitgenosse Théodore Leclercq, Erfolgsautor der Proverbes dramatiques, schlicht übergangen wird. Ferner bliebe, auf das Opus
Mussets konzentriert, textnah zu erforschen, ob nicht Mussets Alternanz rokokohafter oder
kruder Geschlechterkonflikte je nach generischer Diskurstradition uneinheitliche Bilder der
Liebe konditioniert, wodurch der Ausdrucksästhetik, die der romantischen Literaturgeschichte
idealtypisch und kritiklos anhängt, die Deutungshoheit entzogen würde.
Berlin
Winfried ENGLER
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Nigel HARKNESS/Marion SCHMID (eds.), Au seuil de la modernité: Proust, Literature and the
Arts. Essays in Memory of Richard Bales (Le Romantisme et après en France, 15), Bern et
al.: Lang, 2011, XIII + 324 pp.
This volume of essays is first and foremost a tribute, dedicated to the late Richard Bales
(1946–2007), professor of French Literature at Queen’s University (Belfast). This distinguished
Proustian scholar also had a wide range of cultural interests (in particular in nineteenth-century
French and Belgian literature), which are reflected in the contributions: seventeen chapters ranging from studies on Proust to Michaux and Magritte with incursions into Belgian Symbolism.
It is thus both an intellectually stimulating volume, and a testimony to academic friendship and
dialogue.
The excellent introduction from the editors describes how the collapse of chronology and
spatial reference in Proust’s novel undermines the traditional narrative, and how, as Theodor W.
Adorno called it, À la recherche du temps perdu embodies “das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, das letzte Panorama” [the end of the nineteenth century, its last panoramic vision].1 As
Harkness and Schmid show, and as Antoine Compagnon too has shown, Proust is “in-between”,
“both the alpha and omega of French modernity, the finest materialization of the nascent modern project and a springboard towards more radical forms of modernity and post-modernity
in the generations after him” (p. 4). And it is under the auspices of this ‘in-betweenness’ that
the volume is placed, a reflection on both Proust’s own position and Richard Bales’ research
interests, on the threshold of modernity, between nineteenth- and twentieth-century forms of
writing and thinking, between text and image.
The nineteenth century indeed appears in this volume as the undisputed starting point for
nascent forms of modernity in Western art and literature; and numerous chapters dedicated to
Proust look back to the nineteenth century. Out of the seventeen essays which form this volume, Nigel Harkness’ chapter, concerned with literary and sculptural intersections in Balzac and
Proust, is one that engages very directly with inter-artistic dialogue between the nineteenth and
the twentieth century. Concentrating on sculpture, he shows that, although “Proust’s articulations
of the sculptural in the Recherche are rooted in a nineteenth-century cultural context” (p. 223),
and as such, valorise the painter’s work (associated more clearly with the nineteenth-century
definition of the artist as opposed to the craftsman), he also significantly moves away from his
nineteenth-century predecessors in that the boundaries between artist and artisan are blurred.
It is Proust’s systematic reworkings of the concepts of time and memory which allow him to
develop a truly modern approach to the materialization of the passing of time into what Luc
Fraisse has called an “œuvre cathédrale”.2
Other chapters looking back to the nineteenth century are either tracing back his extraordinary skills for “pastiches inavoués” (Bouillaguet, p. 39) or more discreet influences (for
example, that of Baudelaire, in Watt’s chapter) in his novel. One such chapter is the excellent
piece by Catherine O’Beirne, who, following Bales’ examination of the presence of Dantean
imagery in À la recherche, demonstrates with impeccable scholarship how Dante’s influence
on Proust was in fact mediated via Thomas Carlyle’s Les Héros, le culte des héros et l’héroïque
dans l’histoire which the writer read in 1895 in Beg-Meil. Carefully tracing textual evidence
of this influence, she very convincingly shows how behind some of Ruskin’s references to
St. John’s, which fascinated Proust so much, Carlyle can be detected. Exploring his influence,
alongside that of Dante and Ruskin, certainly sheds new light on Proust’s reworks of spiritual
1
2
Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur 2, Frankfurt on the Main: Suhrkamp, 1970, p. 100.
Luc Fraisse, L’Œuvre cathédrale. Proust et l’architecture médiévale, Paris: J. Corti, 1990.
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and aesthetic elevation. Other chapters dedicated to Proust concentrate on his work as a literary
critic; and Unwin for example shows persuasively in his contribution how “À propos du style
de Flaubert” was a critical turning point in the history of French criticism, with Proust boldly
identifying in Flaubert’s style “une nouvelle façon d’appréhender la réalité”, even, “une métaphysique” (p. 53) – demolishing Thibaudet’s more traditional approach (p. 52) – even if he
tended to concentrate on “un corpus de quelques pages privilégiées”3 to form his judgement,
and largely ignoring Flaubert’s early works. If Proust was an extremely astute critic, he could
also be biased, as Schmid shows in her chapter, when, through a number of articles dedicated
to Montesquiou, but largely written with the aim of distancing himself from the Decadent movement, he painstakingly tries to present the – widely-considered Decadent – poet as a classic.
In fact, as Schmid shows, Proust seeked most of all to define his own conception of a “langage
poétique, dépassant la simple dénotation” and which “doit s’engager dans la voie de la connotation, faisant résonner en nous ‘[l]es affinités anciennes et mystérieuses entre notre langage
maternel et notre sensibilité’”4 (p. 71). This ‘charme natal’ is truly evocative for him and never
amounts, surprisingly, given the nationalist climate in which he was writing, to a panegyric of
nationalism. Indeed, one of the most interesting aspects of current Proustian criticism is that,
as Alison Finch suggests in her chapter, it is clear that among the “successive waves in Proust
criticism” we can now add one that is concentrating on “the historical and political” (p. 83).
And in her chapter as in Hughes’, it is striking how much Proust’s novel offers itself, in Finch’s
words, as “a conduit to self-knowledge for a culture” (p. 96) which is as complex, multi-layered
as the key moment in French history it evokes.
Though France was extremely divided by the Dreyfus Affair (anti-Semitism was rife, including in artistic circles since not all artists were as clearly minded as Zola or Proust; Degas,
Cézanne, Renoir for example were all anti-dreyfusards), Proust managed to offer a plea to
“comprendre et […] écouter”5 (p. 148). Eventually it is both his intellectual depth and honesty
and his profound belief that literature has higher goals to fulfil than to serve partisanship (of any
kind) – “tant de conversations humanitaires, patriotiques, internationalistes, et métaphysiques.
Plus de style, avais-je entendu dire alors, plus de littérature, de la vie”6 (p. 133) – which makes
his novel so different. The reason for this is, as Hughes shows, that through his narrator, Proust
exposes “the vexatious burden and pervasiveness of subjectivist opinion” (p. 148) in all aspects
of life. The general caricatural depiction of foreign culture which is pervading Barrès’ prose, as
Hughes shows in his excellent chapter, is in fact widespread in France at the time and we can
see as an aside to Gamble’s interesting chapter on Japonisme that nationalism (when it does not
amount to downright xenophobia) infiltrated all discourses when it came to evaluate foreign art
or ‘influence’: “Tout cela sent l’Anglais vicieux, la Juive morphinomane ou le Belge roublard,
ou une agréable salade de ces trois poisons”7 (p. 118), writes the art critic Arsène Alexandre
about Art Nouveau in Le Figaro.
Patrick McGuinness too explores aspects of cultural politics in the context of Symbolism
and Decadence. Looking closely first at Anatole Baju’s Le Décadent magazine (first published
in 1886) and finishing with his Anarchie littéraire, he traces the beginnings of the reactionary
école romane with its vision of a society on the brink of collapse “choking on luxury, and sin3
4
5
6
7
Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil, 1982, p. 128.
Essais et articles, in: Contre Sainte-Beuve, ed. by P. Clarac and Y. Sandre, Paris: Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, 1971, p. 393.
À la recherche du temps perdu. Vol. 4, ed. by J.-Y. Tadié, Paris: Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade,
1987–1989, p. 492.
Ibid., p. 461.
Arsène Alexandre, “L’Art Nouveau”, in: Le Figaro (28 décembre 1895), p. 1.
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king into corruption” (p. 263). Using Bourdieu’s description of the split between Decadents
and Symbolists – as delineated in Les Règles de l’art – as a starting point, but refining the opposition the French sociologist established in order to show that there was much more fluidity
within the two groups (and McGuinness’ extensive knowledge of the Belgian field serves him
well here), he demonstrates how the real difference between the two groups is to be located in
the injection of politics into literary theory on the Decadent side – or, on the Decadent side as
Baju conceived it – whereas the Symbolist’s objective remained firmly anchored in the autonomous artistic field. The underlying chauvinistic and nationalistic discourse (as exemplified in
Baju’s attacks on Russian and German literature – which fits with the general condemnation of
Nordicity supposedly ‘polluting’ the French ‘génie’) reminds us that the period was intensely
polarised (and the Dreyfus Affair only aggravated this) around these ideas which permeated
literature (and poetry in particular) in the early 1890s.
As McGuinness reminds us too, Richard Bales did have a strong interest in Belgium, and
it is thus befitting to conclude with two essays dedicated specifically to Belgian artists. For
her part, Claire Moran explores the place of theatre and mise en scène in the works of Belgian
painters Fernand Khnopff and James Ensor. In the case of Khnopff, whose aesthetic is based
on artifice, she argues that his “visibly constructed and staged paintings draw attention to our
processes of interpretation” (p. 244) and that by “staging” reality, his aim is to question perception and representation. In order to achieve this, he overtly manipulates the spectator’s quest for
meaning, which, in Moran’s view, seems to indicate that his “Symbolism is therefore in many
ways a decoy” or a “playful mise en scène” (ibid.) in his works. Some of Khnopff’s paintings
(Memories for example), according to her (referring to Michel Draguet), echo Maeterlinck’s
concept of a theatre of shadows in which the drama is essentially concealed rather than staged,
and interiorized. She also notes Khnopff’s use of photography and his work on frames, which
were an integral part of his aesthetics: usually highly elaborate, she suggests that “frames […]
existed as curtains behind which a theatre of the ideal was staged” (p. 250). The mise en scène is
also present in James Ensor, whose stylistic trajectory evolved from Realism to Expressionism.
There is no doubt that Ensor was indeed immersed in the theatrical and thus in his paintings, the
spectator often finds compositions dominated by artificiality. His self-portraits, and subsequently
his works on masks firmly locate his works in a deliberate search for theatricality. At the same
time, Ensor uses these devices in a quest for truth, the grosteque form of the mask allowing him
to depict “the unfortunate truth which lies beneath a seemingly respectable exterior” (p. 253). She
concludes by underlining the contrast between the two artists in their use of theatrical techniques
and mise en scène: if one tried to highlight the artifice of painting and to question the spectator’s
processes of interpretation (Khnopff), the other essentially concentrated on staging the dramas
of the everyday (Ensor); however, as she clearly demonstrated, they both used the theatre as an
intermediary, a device to “renew the relationship between image and reality” (p. 257).
With Peter Broome’s chapter, we enter the universe “where things do not tally” (p. 284),
the worlds of Henri Michaux and René Magritte. The author, in his perceptive analysis, shows
how the “sense of lack” (p. 285), which can arguably be said to be at the centre of both artists’
works, conveys at its core an awareness of the insubstantiality of reality. He rightly evokes
the sense of “enigma” that remains undecipherable in their work, and the ensuing insistence,
on Michaux’s part, on the notion of “incomplétude” (ibid.) and, on Magritte’s part, on the
mystery as unknowable. More importantly, in their works “one is drawn into the disconnective
dynamics of a hybrid of real and illusory” (ibid.): this is clearly due to the fact that Magritte
was a Surrealist painter and that Michaux, although not a Surrealist himself, was familiar with
Surrealism and indeed, like so many of his generation (he was only three years younger than
Breton and one year younger than Magritte), had been in contact with some of them (Michaux
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was very close to Claude Cahun for example). Both being Belgians, they did not adhere to
‘automatic writing’ in any case (since the Belgian Surrealists refused to follow Breton on that
path) and Broome rightly calls them “logiciens de l’imagination” (p. 286). Both, in any case,
were interested in what Paul Nougé – one of the most prominent Belgian Surrealists from the
‘Groupe de Bruxelles’ – called the “subversion des images” (title which refers to the collection
of nineteen photographs taken between December 1929 and February 1930 which he published
as a volume in 1968). As Broome excellently points out, both were, as to be expected in the
context of the “spirit of Surrealism” (ibid), interested in dreams, which Michaux called “cet antiéloquent par excellence”8 (p. 288). And indeed, if Michaux, a painter himself, was practicing
this non-verbal art in order to “[se] déconditionner”9 (p. 292) from the alienation of words, one
must not forget that Magritte, of all the Surrealist painters, was one who also had questioned
words, hoping for the poetry of the image to dispense with any symbolic significance. It is thus
be-fitting that this excellent essay, closing this very stimulating volume, should close on the
notion of “entre-deux” (p. 299) in which, as Broome concludes, “text and painting, verbal and
non-verbal, achieve their fruitful, if provisional, communication and their unfinished play of
mirrors” (ibid.), on the edge of silence.
Oxford
8
9
Nathalie AUBERT
Henri Michaux, Œuvres complètes. Vol. 3, Paris: Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, 2004, p. 488.
Ibid., p. 543.
Peter KOCH/Wulf OESTERREICHER, Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch,
Spanisch. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage (Romanistische Arbeitshefte, 31), Berlin/
New York: de Gruyter, 2011, XVIII + 329 S.
21 Jahre nach der ersten Auflage legen die Vf. eine überarbeitete, auch typografisch veränderte Version ihres Werks vor, die vier Jahre nach der ebenfalls überarbeiteten und für ein spanischsprachiges Publikum eingerichteten Übersetzung erschienen ist.1 Insofern sei „die zweite
deutsche de facto bereits eine dritte Auflage des Buches“ (V). Die erste Auflage wurde in dieser
Zeitschrift von Klaus Hunnius in der außergewöhnlich kritischen, ja galligen Art besprochen,
für die dieser Rezensent bekannt ist.2 Selten dürfte in der deutschen Romanistik die Bedeutung
eines Buchs deutlicher verkannt worden sein als bei Hunnius. Die Erforschung der gesprochenen
Sprache – so Hunnius – werde von Koch und Oesterreicher „erneut aufgerollt“, bewege sich
dabei „grundsätzlich in Söllschen Bahnen“, auch wenn „auf den obsolet gewordenen Kodebegriff verzichtet und die damalige Vorliebe für dichotomische Gegenüberstellungen gemildert“
worden sei. Insofern erwarteten den Leser „keine originellen Überraschungen, sieht man von
1
2
Peter Koch/Wulf Oesterreicher, Lengua hablada en la Romania: Español, francés, italiano. Versión
española de Araceli López Serena, Madrid: Gredos, 2007.
In: ZFSL 101 (1991), S. 303–306. Am anekdotischen Rande sei erwähnt, dass auch der Autor dieser
Zeilen einmal von Hunnius vernichtend rezensiert wurde (in: RJb 41 [1990], S. 168–170). Trost
spendete dem Autor seinerzeit … Peter Koch. Die im Dezember 2012 abgeschlossene Rezension
kann neuere Beiträge von Hunnius (in: ZFSL 123 [2013], RJb 63 [2012]) nicht berücksichtigen.
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terminologischen Kreationen ab“.3 Dabei war es gerade die Schaffung der Begriffe Nähe- und
Distanzsprache, welche dank der konträren Antonymie der als Determinans von Sprache fungierenden Substantive Nähe und Distanz die Skalarität möglicher Versprachlichungsformen
in Abhängigkeit von jeweils zu beschreibenden Kommunikationsbedingungen in schlagender
Weise erhellte. Das war keine – wie Hunnius schrieb – „Milderung“ der strengen Söll’schen
Dichotomie ‚gesprochen‘ vs. ‚geschrieben‘, sondern eröffnete, auf der Grundlage stringent herausgearbeiteter Parameter, ganz erhebliche neue Möglichkeiten der Analyse mündlicher Rede
oder ‚Diskurse‘. Die wesentliche Leistung des Koch/Oesterreicher’schen Ansatzes, die von
Hunnius kaum gewürdigt wurde, besteht wenigstens in viererlei: 1. in dem gerade erwähnten
Ersatz einer Dichotomie durch ein Kontinuum, 2. in der Kombination des Phänomens der Nähe-/
Distanzsprache mit Coserius Dreiebenenmodell der Sprache, 3. in der Ausweitung der von Söll
für das Französische eröffneten Fragestellung auf das Italienische und Spanische und 4. in der
äußerst fruchtbaren Erweiterung der synchronischen Perspektive auf die Sprachgeschichte.
Die zweite Auflage, so formulieren die Vf., habe zu „beträchtlichen Erweiterungen und Neujustierungen“ geführt (VI). Tatsächlich ist die Struktur des Buchs fast vollständig beibehalten
worden. Einzig Kapitel 3, dessen Titel 1990 „Gesprochene Sprache: Hinweise zur Forschungsgeschichte und Charakterisierung der Corpora“ lautete, trägt jetzt die Überschrift „Gesprochene
Sprache: Hinweise zur Forschungsgeschichte und Überlegungen zur Corpuslinguistik“ (XIII,
21). Die Vf. verzichten mit Ausnahme von C-ORAL-ROM nunmehr auf eine Einzelcharakterisierung von Korpora, die sie durch vorwiegend kritische Bemerkungen zur Korpuslinguistik
ersetzen. Diese bringe „eine ganze Reihe von schwerwiegenden Problemen“ mit sich (38), weil
es an technologischen Lösungsmöglichkeiten für zahlreiche wünschenswerte Fragestellungen,
z. B. im semantischen Bereich, fehle.
Ein wesentliches Anliegen der Vf. war und ist es, den Problemen bei der Beschreibung von
Mündlichkeit und Schriftlichkeit „mit Hilfe eines einheitlichen, sprachtheoretisch fundierten Modells“ (1) zu begegnen. Das Coseriu’sche Dreiebenenmodell wird in der von den Vf.
veränderten Version dargestellt, welche durchaus Kritik erfahren hat, weil sie den Status der
individuellen Ebene als derjenigen des ‚Meinens‘ im Unterschied zu der des ‚Sagens‘ offenbar
nicht erkennen kann oder will.4 Dem berühmt gewordenen „Nähe/Distanz-Kontinuum“, in das
jetzt beispielhaft einzelne Kommunikationsformen bzw. Diskurstraditionen eingezeichnet sind
(13), werden „konzeptionelle Reliefs“ beigegeben, bei denen für die einzelnen Parameter der
Kommunikationsbedingungen die jeweiligen Nähe- bzw. Distanzwerte eingetragen werden
(8 f.). Allerdings wird dabei nicht so recht klar, wie sich aus dem jeweiligen Relief – etwa für
das Vorstellungsgespräch (9) – die entsprechende mittlere Position im Nähe/Distanz-Kontinuum
(dort etwas links von der Mitte zwischen den Polen, 13) spezifisch errechnen ließe. Das Varietätenmodell, das seit seiner Vorstellung die schärfste Kritik hervorgerufen hatte, wird unverändert beibehalten (17). In Bezug auf seine Konkretisierung hinsichtlich der französischen
Nähesprache „im engeren Sinne“ heißt es unverändert, die Markierung von Phänomenen als
„gesprochen“ werde „zu Unrecht immer wieder in Zweifel gezogen“ (164). Es folgt der Verweis
auf eine andere Anmerkung (153), welche die Arbeiten von (zahlreichen, wenn auch nicht allen)
Gegnern und (wenigen) Befürwortern immerhin auflistet, allerdings ohne einer Darstellung der
3
4
Ebd., S. 303 f.
S. z. B. die Beiträge in Angela Schrott/Harald Völker (Hgg.), Historische Pragmatik und historische
Varietätenlinguistik, Göttingen: Universitätsverlag, 2005, durch die eine noch nicht zum Abschluss
gekommene Diskussion über das veränderte Dreiebenenmodell endlich in Gang gekommen ist. Zu
Wort kommen bei Koch/Oesterreicher nur die Vf. selbst sowie Raymund Wilhelm, der übrigens in
Mainz an der Manuskriptherstellung der ersten Auflage von Gesprochene Sprache in der Romania
mitgewirkt hat.
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contra-Argumente Raum zu geben. Verzeihlich ist dies nur deswegen, weil ja auch der Leser
dieses Arbeitshefts Aufgaben erledigen soll: So fordert die zu dem Abschnitt gehörende neue
Arbeitsaufgabe Nr. 4 dazu auf, die entsprechenden Argumente zusammenzustellen und abzuwägen (183).5
Umfangreichere Ergänzungen betreffen weniger die heutigen Sprachen – so findet sich zwar
eine Ergänzung zum Problem der Negation im Französischen (172 f.), nicht jedoch zu vielen
anderen besprochenen Phänomenen –, sondern vor allem die diachronische Dimension der
Fragestellung. Dies gilt etwa für die historische Diskursanalyse, die zumindest bibliografisch
aufgearbeitet wird (29). Auch die Entstehung der romanischen Sprachen aus dem lateinischen
Varietätenraum wird ausführlicher dargestellt als in der ersten Auflage. Anders als bei der Problematik der Varietätendimension ‚gesprochen/geschrieben‘ gehen die Vf. hier auf kontroverse
Positionen differenziert ein (138). Eng mit der Ausleuchtung der Sprachgeschichte hängt das
Problem der Plurizentrik zusammen, das zwar vorwiegend im Zusammenhang mit dem Spanischen neu behandelt wird (231 f., mit etwas zu selektiver Bibliografie), gleichwohl auch bei der
Behandlung des Französischen angeschnitten wird (155). Für das Französische würde es sich
lohnen, einen Blick auf das Konzept des français de référence zu werfen, das schon seit längerem
belgische und kanadische Linguisten ins Spiel bringen.6 Dabei wird der französische Standard
nur als eine metasprachliche Referenz angesehen, auf welche zum Zweck der Vergleichbarkeit
die Standards der einzelnen frankofonen Länder bezogen werden, ohne dass diese sich ihm realiter unterordnen müssen. Die Berücksichtigung des Problems der Plurizentrik führt schließlich
auch zur Veränderung des Modells, mit dem die „Auslastung der Varietätendimensionen“ der
romanischen Sprachen illustriert wird (269).
Tiefergehende Revisionen, welche theoretische Grundannahmen der Vf. verändern würden,
durften in der Neuauflage kaum erwartet werden. Doch geben Koch und Oesterreicher dem
aufmerksamen Leser die bibliografischen Instrumente an die Hand, die ermöglichen, sich ein
eigenes, u. U. divergierendes Urteil zu bilden. Insofern tragen die Vf. nicht nur abschließend die
pathetisch anmutende Überlegung vor, dass „das mündige, seiner selbst bewusste Individuum
[…] nur als ein Subjekt gedacht werden [kann], das in seinem Kommunikationsverhalten die
Fülle der sprachlichen Möglichkeiten zu nutzen vermag, die das Kontinuum zwischen Nähe
und Distanz eröffnet“ (277), sondern sie leisten auch einen Beitrag dazu, dass Studierende zu
mündigen und selbstbewussten Subjekten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung heranreifen können – selbst wenn dabei gelegentlich ein apodiktischer Ton gepflegt wird, der auf
rhetorische Mittel vertraut, um kein anderes Urteil zur Geltung kommen zu lassen.7 Das kann
5
6
7
Ergänzende contra-Argumente finden sich bereits in der Rezension der ersten Auflage von Heidi
Aschenberg, in: RF 103 (1991), S. 268–270. Weitere Argumente liefert Franz Lebsanft, „Plurizentrische Sprachkultur in der spanischsprachigen Welt“, in: Romanische Sprachwissenschaft. Zeugnisse für
Vielfalt und Profil eines Faches. Festschrift für Christian Schmitt zum 60. Geburtstag, hg. v. A. Gil,
D. Osthus u. C. Polzin-Haumann, Frankfurt a. M.: Lang, 2004, S. 205–220.
Franz Lebsanft, „Régionalismes et ‚culture de la langue‘ dans le monde francophone“, in: La lexicographie différentielle du français et le Dictionnaire des régionalismes de France, hg. v. M.-D. Gleßgen
u. A. Thibault, Straßburg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2005, S. 289–297, hier S. 291.
Ein charakteristisch präzeptiver, keine Widerrede duldender Ton ohne jegliche Altersmilde zeichnet
auch neu aufgenommene Passagen aus. Wenn etwa kritisch die Frage aufgeworfen wird, ob sich die
neuen Medien adäquat mit dem Nähe/Distanz-Kontinuum erfassen ließen, so „ist jedoch entschieden
zu widersprechen“, denn es „muss nämlich klar getrennt werden“ zwischen physikalisch und technisch
bestimmten Medien. Daher ist das vorgeschlagene Modell „selbstverständlich“ ausreichend, um die
neuesten „Kommunikationsformen und Diskurstraditionen“ zu erfassen. Die grafischen Innovationen
in diesem Bereich sind, wie abschließend geurteilt wird, „variationslinguistisch völlig irrelevant“
(S. 14, meine Kursivierungen).
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das intellektuelle Vergnügen an der erneuten Lektüre dieses auch nach mehr als 20 Jahren beeindruckenden Werks nicht verderben: Man darf den Autoren dankbar sein, eines der anregendsten
und erfolgreichsten Werke der neueren romanistischen Linguistik in einer aktualisierten Fassung
wieder zugänglich gemacht zu haben.
Bonn
Franz LEBSANFT
Isabel KRANZ, Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte,
München: Fink, 2012, 285 S.
Nur schwerlich lässt sich Walter Benjamins Werk über einen Kamm scheren, denn es findet
sich darin eine ganze Vielfalt an Schreibweisen, Themen und politischen Haltungen vereint:
Benjamin war Kritiker und Denker, Schriftsteller und Philosoph, Mystiker und Marxist. So
sieht man sich denn auch bei jeder Lektüre seines Werks vor das Problem gestellt, wie die Texte
Benjamins zu behandeln, welche disziplinären oder diskursiven Schlüssel zu verwenden sind,
um sie richtig verstehen und verständlich vermitteln zu können. Dies gilt insbesondere für ein
so vielgestaltiges Textmaterial wie Benjamins Passagenarbeit, zu der in den letzten Jahren nur
wenige große Arbeiten entstanden sind. Zu nennen sind vor allem zwei Sammelbände von Bernd
Witte und von Beatrice Hanssen,1 die sich aber gerade durch die große Bandbreite der Themen
wie auch der methodischen Zugänge ihrer Beiträge auszeichnen. Weitere solcher punktuellen
Einlassungen auf Benjamins nahezu unübersehbare Materialsammlung sind zukünftig dagegen
wohl erst wieder zu erwarten, sobald die große vierbändige Neuausgabe im Suhrkamp Verlag
erscheint, die Christoph Gödde und Henri Lonitz derzeit vorbereiten. Bis dahin, so könnte man
meinen, wäre die Mühe zu groß und die Textgrundlage zu unsicher, um das vorliegende Material
angemessen zu erfassen.
Nicht so Isabel Kranz. Auf die erweiterte Wiederauflage wollte sie nicht warten und hat mit
ihrer Dissertation Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte den Versuch eines neuen, umfassenden Zugangs zu Benjamins Passagenarbeit vorgelegt.
Grundlage ist dabei nach wie vor die große Ausgabe von Rolf Tiedemann, auch wenn Kranz die
editorische Anordnung und Betitelung der vorliegenden Fragmente zu Recht mit einer gewissen
Skepsis kommentiert. Kranz bemüht sich dabei um eine Perspektive auf Benjamins Passagen,
mithilfe derer das poetische Verfahren des Schriftstellers und das geschichtsphilosophische Erkenntnisinteresse des Denkers Walter Benjamin zusammengedacht werden können: Sie fragt nach
Benjamins „Poetologie der Geschichte“ und regt damit einen auch disziplinären Brückenschlag
an, der sogleich einzuleuchten vermag. Im Detail bedeutet dies für Isabel Kranz, die sprachliche
Genese einer Rede über Geschichte auf ihre begriffliche und metaphorische Dimension hin zu
befragen. Welche Begriffe verwendet Benjamin und woher nimmt er sie? Was konnotieren diese
Begriffe in ihrem ursprünglichen, was in ihrem neuen Zusammenhang und welche Folgen lassen
sich hieraus für das Benjamin’sche Geschichtskonzept erkennen? Welcher „Poetologie“ folgt
dieses Geschichtsdenken? Dies sind die Fragen, die Isabel Kranz mit ihrer Studie aufwirft und
anhand ausgewählter Themenkomplexe der Passagenarbeit zu beantworten sucht.
1
Bernd Witte (Hg.), Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008; Beatrice Hanssen (Hg.), Walter Benjamin and The Arcades Project,
London u. a.: Continuum, 2006.
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Methodisch geht sie dabei vor allem mittels Verfahren der Intertextualität vor – wenn
auch kaum in der ganzen Bandbreite dieses Begriffs: Kranz befragt die von Benjamin zitierten Materialien vor allem produktionsästhetisch nach ihren ursprünglichen Horizonten und
Bedeutungsspektren. Eine auch rezeptionsästhetische Arbeit mit dem Textmaterial dagegen
wird zwar durchaus suggeriert und in Teilen angedacht, die eigene, im Bedeutungshorizont des
21. Jahrhunderts verankerte Lesart bleibt dennoch vage und unausgeführt.
Besonders gut lässt sich die trotzdem gewinnbringende intertextuelle Spurensuche Kranzens
etwa an dem zentralen Begriff des „Abfalls“ („détritus“) verfolgen: Kranz rekonstruiert den
Begriff aus einem von Benjamin in den Passagenmaterialien zitierten Satz von Rémy de Gourmont, verfolgt seinen Gebrauch im ursprünglichen Kontext bei de Gourmont, wo er sich auf eine
Arbeit der Brüder de Goncourt bezieht, befragt sein Bedeutungsspektrum etymologisch und führt
die hieraus erwachsenen Erkenntnisse schließlich eng mit einem poetologischen Kommentar
Benjamins aus dem Konvolut N der Passagenarbeit. Dieses Vorgehen zeichnet sich nicht nur
durch die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit aus, mit der Kranz dabei allen Bedeutungsfährten
bis zu deren Ende folgt, sondern auch durch die Berücksichtigung gerade solcher Prätexte, die
in der Forschung bislang selten besprochen wurden. Ganz in dem Sinne, in dem Kranz Benjamins Vorgehen als „Abfallverwertung“ (S. 16) rekonstruiert, schlägt sie programmatisch vor,
sich nicht am Kanon der Hochliteratur zu orientieren, sondern im Verlauf ihrer intertextuellen
Spurensuche und Interpretationsarbeit den heute weniger bekannten Quellen, den Boulevardstücken und Gebrauchstexten des 19. Jahrhunderts, die Benjamin zuhauf rezipierte, eine größere
Aufmerksamkeit zu schenken. Was so anhand von Motti, Überschriften und Einzelbegriffen
(wie Sammler, Abfall, Hohlraum, Ruine usw.) an interpretatorischer Arbeit geleistet wird, verdient Beachtung. Es wird zukünftigen Studien gerade in methodischer Hinsicht wegweisende
Anstöße geben.
Die thematische Klammer dieses Versuchs, Benjamins Verständnis von Geschichte in seinen
poetologischen Koordinaten auf die Spur zu kommen, ist dagegen etwas anders einzuschätzen.
In dieser Hinsicht geht Kranz weniger vom Peripheren, bislang nur marginal Beachteten aus,
sondern rückt das für Benjamin in der Konzeption der Passagenarbeit wesentliche Verhältnis
von Raum und Geschichte in den Fokus. Dieses Paradigma des Räumlichen eröffnet Kranz
ein weites metaphorisches Feld, führt aber auch dazu, dass sich ihre Arbeit vielerorts eher im
Rahmen des Offensichtlichen bewegt. Denn dass ein metaphorisches wie tatsächliches Denken
von Räumlichkeit bei einer Betrachtung der Pariser Passagen von oberster Bedeutung ist, dürfte
unstrittig sein. So ist es denn auch nicht die eher allgemeine These von der räumlichen Metaphorik im Geschichtsmodell Benjamins, sondern jener genaue Blick fürs Detail, von dem die
Leserinnen und Leser dieser Studie am meisten profitieren werden. Kranzens raumästhetische
und -philosophische Überlegungen dagegen bleiben oft vage.
Hierbei fällt zugleich auf, dass die Auseinandersetzung mit Benjamins ‚Räumen‘ eigentlich
vor allem auf eine bestimmte räumliche Konstellation hinausläuft, nämlich auf die des Interieurs,
dem Kranz große Teile ihrer Arbeit widmet. Mit einer solchen Ausführlichkeit wird das Interieur
behandelt, dass eigentlich kaum noch von einer Analyse der geschichtsphilosophischen Poetologie Benjamins die Rede sein kann. Tatsächlich geht Isabel Kranz mit einem hoch spezialisierten
Erkenntnisinteresse vor. Das ist auch gar nicht verwunderlich, hätte aber durchaus expliziter
ausgezeichnet werden können (etwa auch im Titel der Arbeit). Denn mit der Konzentration auf
die kleinen und großen Raumkonstellationen des Interieurs, in der Auseinandersetzung mit
den Hohlräumen, den Wohnräumen, den Räumen des Sammelns (z. B. des Museums) und des
Gesammelten (z. B. der Muscheln, Aquarien usw.) gerät sowohl der eigentlich geschichtliche
wie auch – und das wiegt m. E. schwerer – der politische Aspekt aus dem Blick. Mit ihm aber
wird jede Tendenz einer Aktualisierung von Geschichtlichem, jedes revolutionäre Potential, das
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ohne Zweifel im Kern des Benjamin’schen Denkens seinen Platz besitzt, entschärft oder doch
zumindest in den Hintergrund gerückt.
Dies hängt denn auch mit einem methodischen Problem zusammen, dessen Kranz sich allerdings sehr wohl bewusst ist. Wiederholt platziert sie daher in ihrer Studie Bruchstücke einer
kritischen methodischen Hinterfragung ihres eigenen Vorgehens, ohne das damit einhergehende
Problem doch je einmal auf den Punkt zu bringen oder gar aufzulösen. Zielen nämlich ihre Analysen in erster Linie auf eine eher produktionsästhetisch ausgerichtete Rekonstruktionsarbeit,
die sich darum bemüht, Benjamins Zitatmaterialien und Quellen wieder in ihre ursprünglichen
Kontexte einzubetten, so hat doch Benjamin selbst gerade eine Textstrategie profiliert, die das
Auf- und Ausbrechen aus solchen Kontexten propagiert. Die Benjamin’sche „Konstellation“2
lebt ja gerade von der produktiven Platzierung der aus ihren ursprünglichen Kontexten gerissenen ,Wortabfälle‘ in einen neuen Zusammenhang. Schließlich ist es gerade diese Denkbewegung, die einen Gegenwartsbezug ermöglicht. Für Benjamin formt die Reorganisation des
Zitierten, wie Kranz an einer Stelle ganz recht anmerkt, „eine disjunktive Zusammenstellung,
die auf Brüche ausgelegt ist“ (S. 224). Genau dies ist mit dem Prinzip literarischer Montage
impliziert und gerade für Benjamins Poetologie von eminenter Wichtigkeit. Hierzu aber steht
Kranzens Vorgehen, bei dem stets zuerst die Frage gestellt wird, wie ein Zitat im ursprünglichen Zusammenhang gelesen werden konnte oder musste, in einem unübersehbaren Konflikt.
Viel erfährt man über diese Texte wie auch über die begrifflichen und gedanklichen Wege, die
Benjamin gegangen sein mag. Doch der Versuch, Benjamins Poetologie nachzuvollziehen, tritt
so in geradezu performativer Weise in einen Widerspruch zur eigentlichen Poetik des Projekts.
Durchaus hätte Isabel Kranz ihren ganz eigenen Weg durch das Material beschreiten können, der dann das Zeug gehabt hätte, Benjamin erklärtermaßen „gegen den Strich zu bürsten“3
und somit auch das aktualisierende Potential seiner Arbeit zu verwirklichen. Stattdessen aber
konzentriert die Verfasserin sich eher auf das, was sie Benjamins „Verstricktsein ins Material“
(S. 265) nennt – und verfängt sich zugleich mit ihrer eigenen Studie darin. Wie ein extensiver,
oft schulmeisterlicher Kommentar lesen sich viele Passagen ihres Buches, wenn Kranz manchen
Begriffen und Kontexten in einer Ausführlichkeit nachgeht, die den argumentativen Rahmen
der Studie deutlich überschreitet. So finden sich etwa manches Mal Forschungsexkurse nicht
nur zu Benjamins Arbeit und ihren Quellen, sondern auch zu dem historischen Kontext, den
sie beschreiben (z. B. zum Rokoko-Interieur, S. 161 f. oder S. 209 f.), als ginge es darum, die
historische Situation selbst noch einmal zu erschließen. Auch werden zahlreiche historische
Quellen zitiert, die – obgleich denkbar wäre, dass sie Benjamin selbst rezipiert haben könnte
– de facto gar nicht in seiner Materialsammlung vorkommen (vgl. z. B. S. 158, 168, 236–238).
Zuletzt fallen auch einige theoretische Exkurse ins Auge, die begrifflich und stilistisch eher von
Benjamin fortführen als zu ihm hin – etwa der Verweis auf Didi-Hubermans Engführung der
Begriffe „Matrize“ und „Gebärmutter“ (S. 169 f.).
So ergibt sich schließlich der Eindruck, dass hier schlicht alles maximal zu Ende gedacht
wird – selbst das in der Forschung bereits Bekannte und Etablierte: Geradezu kursorisch nimmt
Kranz den gewissenhaften, dann aber doch oft ausfallenden Umweg zu ihrem eigentlichen Material – nämlich den bis dato eher marginal behandelten Zitationen und Verweisen – über die
Auseinandersetzung mit den ausformulierten Exposés und Vorfassungen des Passagenprojekts
(Kapitel 1.2). Auch den Genres und der Ordnung der Konvolute widmet sie einen relativ großen
Anteil ihres Buches, ohne hier doch sonderlich viel Neues entdecken zu können. Gar nicht so
2
3
Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v.
R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 691–704, S. 703.
Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, ebd., S. 697.
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neu und ungewöhnlich sind daher auch die ‚Eingänge‘, die Isabel Kranz in Benjamins Material
verfolgt – etwa weil auch sie, obgleich die Verfasserin eigentlich eine andere Vorgehensweise
postuliert (vgl. S. 89), zumeist vom vielzitierten Konvolut N ausgehen (vgl. S. 19, 102, 107).
Es ist folglich gerade nicht der argumentative Weg, der Isabel Kranzens Studie zu einer
lohnenswerten Lektüre macht, sondern eher ihre Gewissenhaftigkeit und Aufmerksamkeit fürs
Detail. Ihr „Interesse [...] an den Archiven und Werkstätten der Geschichte“ und die damit
einhergehende „intensivierte Konzentration auf das Material“ (S. 265) führen dabei zu einer
zuletzt doch nicht so interdisziplinär profilierten Studie, die ein viel größeres Interesse an
philologischen und motivischen Konstellationen erkennen lässt als an historisch-politischen.
Während Benjamins ausufernde Passagenarbeit manchen Forscher zu einer eher rhapsodischen
Lektüre bewegen mag, hat Isabel Kranz einen gewissenhaft-nüchternen Weg gewählt. Keine
politische, nur vielleicht eine philologische ‚Sprengkraft‘ geht von ihrer Studie aus, insofern
sie einen gigantischen Materialblock aufzubrechen begonnen hat, der uns mit der zukünftigen
Neuausgabe der Benjamin’schen Passagenarbeit noch manche Verstehensanstrengung abzuverlangen verspricht.
Frankfurt (Oder)
Andree MICHAELIS
Rafael MARÍN/Florence VILLOING (Hgg.), Nominalisations: nouveaux aspects (Lexique, 20),
Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, 2012, 242 S.
Das hier besprochene Heft der Zeitschrift Lexique versammelt acht thematisch eng verbundene Beiträge zu französischen Nominalisierungen. Im Vordergrund stehen die deverbalen
Nominalisierungen. Ihre semantische Seite, und hier besonders die Schnittstelle zwischen
Morphologie und Semantik, bildet den zentralen Gegenstand des Heftes. Die einzelnen Beiträge
werden im Folgenden in der Reihenfolge besprochen, in welcher sie im Band erscheinen.
Die Einleitung von Rafael Marín und Florence Villoing (S. 7–19) bietet eine hervorragende Einführung in die für die Forschung zu diesem Thema derzeit zentralen Fragen: Hier sind
zunächst die aspektuellen Eigenschaften von Nominalisierungen zu nennen und besonders der
Zusammenhang von Aspekt und nominalen Zählbarkeitseigenschaften. Zweitens geht es um
die verschiedenen Lesarten von Nominalisierungen und um die Frage, welche Faktoren die
Verfügbarkeit einer Lesart für eine gegebene Nominalisierung bestimmen. Drittens wird die
altbekannte Unterscheidung zwischen ereignisbezeichnenden und objektbezeichnenden Nominalisierungen genauer beleuchtet und es wird gezeigt, dass beide Typen jeweils in verschiedenen
semantischen Schattierungen vorkommen.
Lucie Barque, Antonio Fábregas und Rafael Marín beschäftigen sich in ihrer Studie „Les
noms d’état psychologique et leurs ‚objets‘: étude d’une alternance sémantique“ (S. 21–41) mit
einer semantischen Alternation, die sich bei vielen – aber nicht allen – Nominalisierungen von
Gefühlsverben findet: mit der Alternation zwischen einer Lesart, in welcher die Nominalisierung einen Gefühlszustand bezeichnet (Zustandslesart, vgl. Il nous parle de son obsession pour
la vidéo), und einer weiteren Lesart, in welcher dieselbe Nominalisierung sich auf das Objekt
bezieht (Objektlesart), auf welches dieser Gefühlszustand gerichtet ist (vgl. La propreté, c’est
son obsession). Erstere Lesart unterscheidet sie von der zweiten auf der Basis von Eigenschaften
wie Zählbarkeit und Argumentstruktur. These der Studie ist, dass Gefühlsverben, welche den
Experiencer als Subjekt realisieren (z. B. craindre), die Objektlesart dann aufweisen, wenn ihr
direktes Objekt vom Typ ‚Ereignis‘ ist, nicht aber, wenn es vom Typ ‚Objekt‘ ist (vgl. Pierre a
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une crainte: la venue de Marie vs. *Pierre a une crainte: son père et sa mère). Gefühlsverben,
welche den Experiencer als Subjekt realisieren (z. B. obséder), erlauben dann eine Objektlesart,
wenn die Bedeutung des Verbs einen Zustand impliziert, der von einer gewissen Dauer ist (vgl.
Monet a une seule obsession: la couleur vs. *Les touristes du Nord ont un seul étonnement: la
taille des fruits du Sud).
Nominalisierungen von sogenannten homogenen Prädikaten, d. h. von durativen Verben
(Aktivitätsverben) und von stativen Adjektiven, sind das Thema der Untersuchung „Distribution et interprétation des noms de qualité et d’activité: une comparaison“ von Delphine Beauseroy und Marie Laurence Knittel (S. 43–71). Ziel der Untersuchung ist die Herausstellung
der Gemeinsamkeiten beider Nominalisierungstypen. Beide Typen haben nur ein Argument
und sie weisen eine ähnliche syntaktische Distribution auf; insbesondere kommen sie oft in
Funktionsverbgefügen vor. In semantischer Hinsicht teilen sie die Eigenschaft, dass sie neben
der Aktivitätslesart (bei deverbalen Nominalisierungen) bzw. der Zustandslesart (bei deadjektivischen Nominalisierungen) auch eine Ereignislesart aufweisen (z. B. course in J’ai filmé
plusieurs courses, und imprudence in Il a commis une imprudence). Während diese Nomina in
der Zustands- bzw. Aktivitätslesart nicht zählbar, also Massennomen sind, verhalten sie sich in
der Ereignislesart wie Individuennomen, sind also zählbar.
Die Frage, welcher Unterschied zwischen deverbalen Nominalisierungen mit dem Affix
-age (z. B. arrivage) und dem Affix -ée (z. B. arrivée) besteht, bildet den Gegenstand der recht
umfangreichen Studie von Karen Ferret und Florence Villoing zum Thema „L’aspect grammatical dans les nominalisations en français: les déverbaux en -age et -ée“ (S. 73–127). Die
Autorinnen argumentieren, dass sich eine Reihe von Unterschieden zwischen den Affixen -age
und -ée durch die Annahme erklären lassen, dass -age imperfektiven Aspekt ausdrückt und -ée
perfektiven Aspekt, analog zu den verbalen Flexionsendungen. Zu diesen Unterschieden gehört
z. B. die Beobachtung, dass -ée sich vor allem mit unakkusativischen Verbbasen verbindet, -age
hingegen vor allem mit unergativischen Verbbasen, dass -age nicht an Verbbasen angefügt wird,
die Zustände oder Achievements bezeichnen, während -ée in dieser Hinsicht weniger Restriktionen unterliegt, und schließlich auch, dass Nominalisierungen mit dem Affix -age besonders
häufig eine Interpretation haben, in welcher die Verursachung eines Zustands oder Ereignisses
als hervorgehoben erscheint. Als Datenbasis dienen Korpusbelege, die Nominalisierungen auf
-age und auf -ée enthalten, welche von knapp 50 Verben abgeleitet sind, deren Besonderheit
darin besteht, dass sie sowohl eine Nominalisierung auf -ée als auch eine auf -age bilden.
Eine in der Literatur wenig beachtete Lesart, die „lecture moyen“, wie sie beim Nomen
couverture im Beispiel Une couverture d’ardoise en mauvais état couvre la grange auftritt,
steht im Vordergrund des Beitrags von Bernard Fradin („Les nominalisations et la lecture moyen“, S. 129–156). Wie der Autor zeigt, ist diese Lesart nicht identisch mit der Agens- oder
der Instrumentbedeutung, die sich bei Nominalisierungen oft finden, und ihr Auftreten ist an
bestimmte Eigenschaften des Basisverbs geknüpft, welches, so Fradin, u. a. statisch sein muss.
Die „lecture moyen“ lässt sich nicht von einer Resultatslesart ableiten, sondern tritt auch bei
Verben auf, die keine solche Lesart erlauben. Zur Erfassung dieser Beobachtungen entwickelt
der Autor eine formalsemantische Analyse im Rahmen der Konstruktionsgrammatik bzw. der
Konstruktionsmorphologie. Grundannahme dieser Analyse ist, dass die „lecture moyen“ sich
nur bei Verben findet, deren Bedeutung sich durch ein Verbschema darstellen lässt, welches kein
Agens umfasst und durch welches eine kausale (oder räumliche) Beziehung zwischen einem
Objekt und einem Ereignis hergestellt wird.
Auch der Aufsatz von Françoise Kerleroux „Il y a nominalisation et nominalisation“
(S. 157–172) beschäftigt sich mit den Lesarten von deverbalen Nominalisierungen. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass deverbale Ereignisnominalisierungen (wie chauffage)
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Besprechungen
eine beachtliche Polysemie aufweisen, insofern sie z. B. den abstrakten Prozess ebenso wie das
konkrete Ergebnis bezeichnen können, während z. B. deverbale Agens- oder Ortsnominalisierungen (wie coureur oder lavoir) keine derartige Polysemie kennen. Als Erklärungsrahmen
dient der Autorin der Ansatz von Croft (1991), der annimmt, dass Wortarten eine prototypische
pragmatisch-diskursive Funktion haben. Die Funktion von Nomen besteht darin, zu referieren,
Verben hingegen prädizieren und Adjektive schließlich modifizieren. Kerleroux vertritt die These,
dass ein Wort, welches als nicht-prototypisches Exemplar einer Wortart erscheint, wie z. B. ein
ereignisbezeichnendes Nomen, das der Autorin zufolge eher eine prädikative denn eine referentielle Funktion hat, Prozessen der semantischen Extension unterliegt, die seine Bedeutung hin zur
prototypischen, d. h. konkret-gegenstandsbezeichnenden, referierenden Funktion verschieben.
Ein innovatives methodisches Vorgehen bildet die Basis von Fiammetta Namers Beitrag
„Nominalisation et composition en français: d’où viennent les verbes composés?“ (S. 173–205).
Sie untersucht gelehrte Bildungen vom Typ neurostimulation, die von Wörterbüchern und Grammatiken bisher nicht in einem ihrer Vorkommenshäufigkeit angemessenen Maße thematisiert
wurden. Wie die empirische Untersuchung der Autorin zeigt, finden sich derartige Bildungen
in einem webbasierten Korpus weitaus häufiger als z. B. im Referenzkorpus des Trésor de la
langue française informatisé. Diese Bildungen, die aus einem gelehrten Element und einer
deverbalen Nominalisierung bestehen, sind in morphologischer Hinsicht auch deshalb von Interesse, weil ihnen zwei verschiedene Strukturanalysen zugewiesen werden können: Sie können
als Ableitungen von Verben (die ihrerseits Komposita mit gelehrtem Erstglied sind) analysiert
werden, sie können aber auch als Komposita aus einem Nomen und einem gelehrten Erstglied
betrachtet werden. Auf der Basis einer detaillierten Analyse der Korpusdaten argumentiert die
Autorin für die zweite Analyse.
Isabelle Roy und Elena Soare betrachten in ihrem Aufsatz „L’enquêteur, le surveillant et le
détenu: les noms déverbaux de participants aux événements, lectures événementielles et structure
argumentale“ (S. 205–231) die drei im Titel illustrierten Typen von Partizipantennominalisierungen, also solchen, die auf Teilnehmer eines vom Basisverb bezeichneten Ereignisses referieren. Sie zeigen, dass Partizipantennominalisierungen, wie z. B. vendeur, mehrere Lesarten haben
können, unter anderem z. B. eine episodische, ein Ereignis notwendig implizierende Lesart, wie
in Le vendeur du caisson l’avait acheté 180 euros il y a un an, und eine dispositionelle, kein
Ereignis implizierende Lesart, wie in Le vendeur de journaux à la criée se tient au coin de la rue.
Die drei Typen unterscheiden sich auf systematische Weise in der Verfügbarkeit der möglichen
Lesarten. Diese Beobachtung führen sie auf die unterschiedliche Bildung – durch Anfügung eines
Derivationsaffixes einerseits und durch Konversion aus einem Partizip andererseits – zurück.
Insgesamt bietet dieses formal sehr sorgfältig gestaltete Heft eine Vielzahl von interessanten
Beobachtungen zur Syntax und Semantik von französischen Nominalisierungen. Die behandelten
Fragen sind hochaktuell und nicht nur für Galloromanisten von Interesse; die in der Mehrzahl
semantisch basierten Analysen zeichnen sich durch eine klare und angenehm theorieneutrale
Begrifflichkeit aus.
Berlin
Judith MEINSCHAEFER
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Eva MAYERTHALER/Claudia E. PICHLER/Christian WINKLER (Hgg.), Was grammatische Kategorien miteinander machen. Form und Funktion in romanischen Sprachen von Morphosyntax
bis Pragmatik. Festschrift für Ulrich Wandruszka (Tübinger Beiträge zur Linguistik, 527),
Tübingen: Narr, 2011, 286 S.
Der Band ist ein hommage an Ulrich Wandruszka und nimmt in seinem Titel auf das Forschungsprogramm Bezug, das im Zentrum von dessen Lebenswerk steht: die Kategorialgrammatik. Die Formulierung „miteinander machen“ ist wohl im Deutschen gewöhnungsbedürftig
(zumal das Deutsche weit weniger Lokutionen auf machen stützt als etwa das Italienische auf
fare), sie ist nicht ohne erotische Anklänge, aber eben aufgrund ihrer Spezifik ein Hinweis auf
eben dieses Forschungsprogramm. Die Kategorialgrammatik ist weithin aufgrund ihres relativ
hohen Formalisierungsgrades oder ihrer relativ guten Verständlichkeit (oder eben aufgrund der
Kombination von beidem) anerkannt, sie konkurriert aber doch mit anderen Modellen. In der Tat
argumentiert nur einer der dreizehn Beiträge, der von Claudia Pichler, konsequent kategorialgrammatisch, und das in Hinsicht auf ein morphologisches (und nicht ein syntaktisches) Problem.
Ein zweiter Beitrag, der von Thomas Krefeld, setzt die Kategorialgrammatik immerhin in die
Beweisführung ein. Daniel Jacob greift in seinem Titel das Motiv des ‚Miteinander-Machens‘
auf, überträgt es nur auf die Wortarten. Hans Geisler stellt die Frage nach der Sinnlichkeit
grammatischer Kategorien, allerdings in einem streng aristotelischen Sinn. Das so entstehende
Bild ist bunt, wie es einer Festschrift ansteht. Die hohe Qualität der meisten Beiträge gibt einen
Einblick in die zeitgenössische Forschung zur romanischen Syntax und Morphologie, der die
Lektüre lohnt.
Zwei Beiträge sollen hier nicht näher besprochen werden, der von Michael Metzeltin („Referentielle Semantik als Verstehensinstrument“, S. 109–127) und der von Georg Kremnitz („Zur
Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken: Katalanisch, Baskisch und
Galicisch im Vergleich“, S. 269–284). Metzeltin verhandelt, im Ausgang von einer etwas rudimentären Epistemologie, Grundfragen der Linguistik, ohne erkennbar an vorliegende Literatur
anzuschließen. Inwiefern überhaupt Instrument? Verstehen ist ein ungesteuerter Prozess und die
referentielle Semantik ist eine Dimension der verwendeten sprachlichen Zeichen. Sie stellt also
eine Verstehensaufgabe dar. Georg Kremnitz diskutiert am Fall der drei Minderheitensprachen
Spaniens ein Problem historischer Kontingenz in der Implementierung sprachlicher Standards,
ob nämlich zum geeigneten Zeitpunkt die geeigneten Instrumente zur Festlegung des Standards
bereits zur Verfügung stehen. Der Autor selbst macht deutlich, dass diese Thematik sich am
Rande des Bandes bewegt, da sie Grammatik in ihrer politischen Dimension begreift.
Claudia Pichler („Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse: eine kategorialgrammatische Betrachtung“, S. 31–55) diskutiert im kategorialgrammatischen Modell die methodische Schwelle zwischen Morphologie und Syntax. Dabei ist die Annahme, dass Stämme
Komplemente von Suffixen, Suffixe also Köpfe sind, auch für die Flexion durchaus plausibel.
Plausibel ist ferner die Annahme, dass der Stamm die Leerstelle enthält, in die das direkte
Objekt eingefüllt wird, und diese Leerstelle in die flektierte Form ,einbringt‘. Insofern werden
Stamm und Suffix für die Syntax relevant. Demonstriert werden diese Annahmen an infiniten
Verbalsuffixen des Italienischen (-ante, -ando), welche Kategorien vom Typ des Attributs und
des Adverbials erstellen. Das Prinzip der Funktionskomposition, das die Zusammenfügung von
Stamm und Suffix steuert, erklärt ferner die funktionale Verschmelzung von zwei Derivationssuffixen zu einem einzigen.
Christoph Schwarze („Wie syntaktisch ist die Morphologie? Der vierte Verbstamm des Italienischen in einem Schichtenmodell“, S. 57–77) bezieht gerade gegen die Analyse von Syntax
und Morphologie mittels derselben Begriffe Stellung. Diese Kritik reicht aber nicht weit. Dass
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Komplemente in der Syntax anders als in der Morphologie abgeschlossene Ausdrücke sind,
wird ja nicht bestritten. Und kategorial neutral sind Stämme keineswegs, wenn sie auch nicht
kategorial abgeschlossen sind: Sie enthalten Leerstellen bestimmter Anzahl oder eben nicht. An
italienischer Stammvariation wird ein Modell erläutert, das kategorienbezogene, funktionale,
phonologische und semantische Prozesse annimmt, die an morphologischer Verkettung beteiligt
sein können, ohne dass ihr Eintreten vorhersagbar wäre. Es erscheint nur in gewissem Maß als
sprachtypisch.
Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon und Wolfgang U. Dressler („Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale en français et allemand autrichien“, S. 79–91) untersuchen den Erstspracherwerb verbaler Flexion und verbaler
Auxiliare bei insgesamt vier Kindern im Alter zwischen etwa 1;3 und 2;9 Jahren, und zwar im
Kontrast zwischen Französisch und Deutsch. In einem methodischen und wissenschaftshistorischen Sinn irritierend ist die fortwährend positive Wertung der französischen Daten („précoce“,
„riche“, „iconique“, „transparent“, S. 88) und die fortwährend negative der deutschen („grand
nombre d’erreurs“, S. 88). Die minimale Datenbasis lässt Schlussfolgerungen auf die beiden
sprachlichen Systeme ohnehin nicht zu. Formen mit Auxiliar (Partizipien) verwendet eines der
Kinder sechs Monate später als die übrigen. Ähnlich innerhalb derselben Sprache gestreut sind
die Abfolgen von Infinitiv, Imperativ und Präsens Indikativ P3. Den Jubilar vom Erkenntniswert
der Natürlichen Morphologie zu überzeugen (S. 79), ist vielleicht nicht gelungen.
Hans Geisler („Wie sinnlich sind grammatische Kategorien?“, S. 93–108) diskutiert vor dem
Hintergrund neuronaler Hirnforschung die Frage einer kognitiven, nämlich sensomotorischen
Verankerung des Konzepts der Transitivität. Die Hypothese setzt voraus, dass man metaphorische Prozesse annimmt, welche Kategorien der Wahrnehmung in Richtung auf Abstraktionen
ausdehnen. Für die Transitivität kommt hinzu, dass sie selbst aus einer Vielzahl von Parametern
aufgebaut ist. Zwar wird plausibel gemacht, dass im Kontrast von [+ direkt transitiver] Kodierung
bestimmter Verbgruppen semantische Kriterien unverändert wirksam, metaphorische Prozesse
womöglich im Gang befindlich sind. Die Ausgangsfrage nach der kognitiven und neuronalen
Implementierung eines so komplexen Konzepts kann jedoch nicht beantwortet werden.
Daniel Jacob („Was Wortarten miteinander machen. Syntaktische Kategorien zwischen semantischer Funktion und struktureller Einbettung“, S. 129–144) sucht eine Position zwischen
traditioneller Grammatik nach Kategorien und Regeln und dem Ansatz der emergent grammar
in der Annahme, dass einige syntaktische Strukturen sich derart verfestigt haben könnten, dass
sie aus dem Meer der Emergenz hervorragen und eine Beschreibung in traditionellen Termini
unterstützen. Er überprüft diese Annahme anhand von vier französischen Sätzen, die zwei kausal
verknüpfte Sachverhalte auf unterschiedliche Weise kodieren. Angenommen wird, dass die vier
Sätze in unterschiedlichem Maß ‚natürlich‘ seien, gemessen daran, ob die Wortarten die ihnen
eigenen semantischen Funktionen übernähmen oder nicht und wie groß der sich für den Hörer
daraus ergebende Aufwand an Inferenz sei. Diese Perspektive berücksichtigt unterschiedliche
kommunikative Interessen und deren souveräne Handhabung durch die Sprecher zu wenig.
Werner Abraham („Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung
von erzählerischem Vorder- und Hintergrund“, S. 145–170) untersucht Verfahren zur Indizierung
der Vordergrund-/Hintergrund-Gliederung von Texten im Vergleich zwischen romanischen und
germanischen Sprachen. Die Universalität dieser Gliederung wird offenbar unterstellt, wobei
einige ältere Verfahren des Germanischen der kommunikativen Mündlichkeit zugerechnet
werden. Der Aussagewert des Vergleichs ist durch die Unterschiedlichkeit der Verfahren stark
eingeschränkt. Für das Französische wird nachgewiesen, dass das passé composé aufgrund seiner
semantischen Beschaffenheit das passé simple in der Indizierung des narrativen Vordergrunds
nicht entsprechend ersetzen kann.
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Thomas Krefeld („,Mi sbattisi a testa mura mura‘: Sizilianische Reduplikationsadverbiale“,
S. 171–182) befasst sich mit reduplizierten Nomina (auch Verben) in adverbialer Funktion, also
bei Wechsel der syntaktischen Kategorie, einer spezifisch sizilianischen Struktur. Dieser Wechsel der Kategorie wird auch kategorialgrammatisch notiert. Die Notation vermag den Wechsel
der reduplizierten NP zu (NP\S)/(NP\S), also zu einem VP-Adjunkt, wohl nach Ausgangs- und
Zielkategorie zu registrieren, bringt ihn jedoch einer syntaktischen Erklärung nicht näher.
Elisabeth Stark („L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes“, S. 183–199)
untersucht mittelalterliche und frühneuzeitliche Korpora zum Französischen, Italienischen und
Spanischen auf Strukturen zum Ausdruck der Reziprozität im Ausgang von der Feststellung
mehrerer Differenzen zwischen den modernen Sprachen. Im Italienischen sind reziproke Morpheme deutlich beschränkt. Die historischen Korpora ergeben eine Reihe unerwarteter Befunde,
so die Dopplung durch se im Spanischen gerade bei inhärent reziproken Verben am Beginn des
Zeitraums und eine niedrig frequente Dopplung im Französischen, die im Verlauf des Zeitraums
nicht zunimmt, bei Präferenz für singularische Verbformen. Zur Erklärung werden die generalisierte Tendenz des Spanischen zur klitischen Dopplung angeboten (die jedoch die Dopplung
an inhärent reziproken Verben nicht erklärt) sowie die Zweikasusflexion des Altfranzösischen,
die die Entwicklung von l(i) un(s) l’altre zu einer nicht-kasusmarkierten Reziprok-Anapher
aufgehalten habe. Die erwartungskonträren Befunde werden unvoreingenommen diskutiert.
Barbara Wehr („Para-Diathesen im Italienischen“, S. 201–224) befasst sich mit Strukturen
auf der Basis von volere und avere wie vose cuntate tante cose ,wollte vieles erzählt bekommen‘
und nun aju avutu regalatu mancu nu sordu ‚habe nicht mal einen Cent geschenkt bekommen‘,
die im Kalabrischen und Sizilianischen belegt sind und die die Autorin als Adressatenpassiv wertet. Die Strukturen setzen lexikalisch dreiwertige Verben (oder einen impliziten Interessedativ)
voraus. Der volere-Typ sei niedrig grammatikalisiert, da dem Subjekt vom finiten und infiniten
Verb je eine Thetarolle zugewiesen würde, beide Verben demnach semantisch konturiert blieben.
Beim avere-Typ passen im Beispiel avutu regalatu [POSSESSOR an avere] und [ZIEL an regalare]
perfekt ineinander. Die Konstruktion überschreitet jedoch diese Restriktion in verschiedener
Hinsicht. [POSSESSOR an avere] erscheint als gelöscht.
Stefan Schneider („Die Entstehung einer neuen Kategorie. Reduzierte parenthetische Teilsätze im Alt-, Mittel- und Neufranzösischen“, S. 225–244) trägt diachrone Daten zum Französischen
zusammen, um die Herkunft von Fragmenten wie je crois zu klären. Die Fragmente sind stets
syntaktisch reduziert, da kein manifestes COD vorliegt, und sie werden auf der Basis von Verben
wie croire gebildet (Verben des Annehmens, doxastische Verben). Die formulierten Alternativen
sind Herkunft aus einem über-, neben- oder untergeordneten Satz. Diese Alternativen werden aus
der Literatur des vergangenen Jahrhunderts bezogen, die im Übrigen als überholt eingeschätzt
wird (S. 228 f.). Für alle drei Hypothesen finden sich Argumente. ‚Auslassung‘ eines Komplementierers (que) wäre der Mechanismus im Fall der ersten, Auslassung einer Anapher (wie ço
in ço quid) der Mechanismus im Fall der zweiten, wieder Auslassung eines (hier adverbialen)
Komplementierers (wie com in si com je croi) der Mechanismus im Fall der dritten. Keine der
Hypothesen kann erhärtet werden. Als zu disparat erweist sich die Funktionalität der aufgefundenen Belege. Die englischen Beispiele tragen zur Klärung der französischen Diachronie nicht
bei. Die Daten entziehen sich dem Zugriff.
Giampaolo Salvi („,Forse cui‘: Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi
antichi“, S. 245–268) analysiert Verse aus dem Inferno von Dantes Divina Commedia, in wörtlicher Rede („Da me stesso non vegno./Colui, ch’attende là, per qui mi mena,/Forse cui Guido
vostro ebbe a disdegno“, X, 61–63), in der Absicht, syntaktische, lexikalische und pragmatische
Beschränkungen zu ermitteln, die die Interpretation begrenzten. Zentral sind dabei die Ermittlung
des Antezedens von cui sowie die Erklärung der Position des Fokussierers forse. Das Beibringen
zahlreicher Vergleichsdaten führt wohl zu einer historisch adäquaten Einschätzung der von Dante
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gewählten Formulierung, kann aber das Problem der Interpretation nicht lösen. Dabei legt die
Ebene der Textkohärenz nahe, bei der Tradition zu bleiben (Antezendens von cui ist colui, also
Vergil, forse modifiziert extrem höflich die auf Guido gerichtete Unterstellung von Verachtung).
Die dreizehn Beiträge (darunter ein auf Französisch, zwei auf Italienisch verfasste) werden
ergänzt um ein Vorwort, eine Biographie des Geehrten sowie ein Schriftenverzeichnis. Die Redaktion ist mäßig sorgsam, es finden sich Schreibfehler („ei[n]geladen“ (S. 11), „Lee[r]stelle“
(S. 33), „gekennzeichn[t]et“ (S. 39), „(alt-[)]italienischer“ (S. 54), „ein[e] Sache“ (S. 103),
„Transitiv[i]tät“ (S. 103), „A[r]gumente“ (S. 173), „récipr[r]ocité“ (S. 195), „Chom[syk]“
(S. 199), „Zu[r]“ (S. 202), „in [einen]“ (S. 225), „di[s]piacere“ (S. 245), „p[r]eliminare“ (S. 245),
„rapp[r]esentano“ (S. 256), „presupp[p]orebbe“ (S, 258)), falsche Getrenntschreibungen („so
zu sagen“, S. 181), inkorrekte Worttrennungen („Teils-ätze“ (S. 16), „Sy-stemebene“ (S. 138),
„no-nostante“ (S. 258)), Genusfehler („sie [es]“, S. 168). Es fehlen Kursivierungen (S. 14),
Beispielnummerierungen (S. 179), Jahresangaben (S. 222). Bibliographische Formate und Zitierweisen sowie Titelnennungen (S. 285–286) wurden offenbar aus den Manuskripten übernommen, sie sind uneinheitlich (gerade im Schriftenverzeichnis des Geehrten fehlen verschiedene
Reihenangaben) und nicht immer konsistent. Einige Einträge fehlen ganz (Piaget und Rubinstein,
S. 110, aber nicht S. 127, Bossong (1990), S. 131, aber nicht S. 143, ferner „…“, S. 129, FN 1).
Die Publikation schließt an die Bände 430 und 503 derselben Reihe an, die Ulrich Wandruszka verfasst hat. Die TBL sind, obwohl überaus erfolgreich, unprätentiös und im besten
republikanischen Verständnis zugänglich. Die Beiträge sind diskussionsfreudig und der Band
ist daher gelungen. Der Rezensent möchte sich dem hommage verspätet anschließen.
Eichstätt
Roland SCHMIDT-RIESE
Érik NEVEU, Les mots de la communication politique (Les mots de), Toulouse: Presses Universitaires du Mirail, 2012, 128 S.
Wir wissen nicht, woran sich Studierende der französischen Philologie nach Abschluss ihres
Studiums noch erinnern, aber das wirkungsmächtige Kommunikationsmodell von Roman Jakobson könnte dazugehören. Ist dieses Modell doch nach wie vor Bestandteil der Kerncurricula
von Einführungen in die Sprachwissenschaft wie auch in die Literaturwissenschaft. Am Beispiel
des Wahlslogans für den späteren Präsidenten Dwight D. Eisenhower („I like Ike“) wird den
Studierenden der Sinn für die poetische und andere Funktionen der Sprache geschärft, um sie auf
die wissenschaftliche Analyse französischsprachiger Wortkunst vorzubereiten. Ein politischer
Wahlslogan ist somit zum klassisch gewordenen Einstieg in das Studium der Philologie avanciert.
Und tatsächlich sehen viele Studierende ihre berufliche Zukunft in einem Bereich, der oft
vage mit „Medien und Kommunikation“ betitelt wird. Wenn die Studierenden dann im weiteren
Verlauf ihres Studiums aber kaum noch etwas von „Kommunikation“ hören, so hat dies auch
wissenschaftsgeschichtliche Gründe: Jürgen Trabant hat mehrfach gezeigt, welchen Wandlungen
die Repräsentationen der Bezüge von Sprache zu Kommunikation einerseits und zu Kognition
andererseits im europäischen Sprachdenken unterworfen waren, um schließlich für die moderne
Sprachwissenschaft einen „im Namen der Kognition vollzogene[n] Auszug der Kommunikation
aus der Sprachwissenschaft“ zu bilanzieren.1 Ganz ähnlich sieht Konrad Ehlich die Geschichte
1
Jürgen Trabant, „Zeichen – Kommunikation – Sprache“, in: Kommunikation – ein Schlüsselbegriff
der Humanwissenschaften?, hg. v. H. Richter u. H. W. Schmitz, Münster: Nodus, 2003, S. 317–333.
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der Linguistik, wenn er die „Konzeptkarriere“ von Kommunikation aufarbeitet: Nämlich als
eine „Prozedur des Ausschließens, eine Exklusion großer Teile des Objektsbereiches“.2 Als
Kompensationen dieser Reduktion des linguistischen Objektbereichs sieht er Thematisierungen
sprachlicher und sprachbezogener Phänomene in benachbarten Disziplinen: So das Konzept der
phatischen Kommunikation bei Malinowski, die Konzeption des Sprachspiels bei Wittgenstein,
die Ethnographie des Sprechens von Dell Hymes, die Sprechakttheorie im Anschluss an Austin
und die sich unter dem Begriff des ‚Kontextes‘ als linguistisch entfaltende Analyse der gesellschaftlichen Verwendung von Sprache im Anschluss an J. R. Firth. Aber welche Rolle spielt in
dieser Geschichtsschreibung das Kommunikationsmodell von Jakobson? Nach Ehlich trägt die
durch Jakobson vorgenommene nachrichtentechnische Adaption des Bühler’schen Organonmodells zur strukturalistischen Reduktion bei: Das Objekt, dem sich mit dem Instrumentarium
der Stilistik immerhin noch Sprach- und Literaturwissenschaftler gemeinsam widmen können,
ist die „Nachricht in sich und ihren inneren Strukturen“, von „allem anderen konnte weiterhin
abstrahiert werden“ (Ehlich 1996, S. 274).
In solch einem Denkrahmen würden Slogans wie „I like Ike“, „La force tranquille“, „Yes,
we can“ also auf ihre Versprachlichungsstrategien hin untersucht und hierbei Paronomasien,
Oxymora und vieles mehr ans Licht gebracht.
Aber – und nun endlich kommt diese Rezension zu ihrem eigentlichen Gegenstand – gerade
um die Sprache oder Wörter der Politik geht es in dem kleinen Wörterbuch mit dem Titel Les
mots de la communication politique von Érik Neveu nur ganz am Rande.
Érik Neveu gehört ja auch – wie die von Ehlich als komplementär und kompensatorisch
bezeichneten Bewegungen – nicht der Disziplin der Sprachwissenschaft an. Er ist Politikwissenschaftler mit soziologischen Schwerpunkten am Institut d’études politiques de Rennes (Sciences
Po Rennes) und eines seiner anderen Bücher, nämlich Une société de la communication?,3
das mittlerweile in der fünften Auflage erschienen ist, zeigt den Rahmen auf, in dem das nun
erschienene Wörterbuch gesehen werden muss: Neveu sieht in der allgegenwärtigen Rede von
der Kommunikations-(oder auch Informations-)gesellschaft einen mächtigen Mythos im Sinne
Roland Barthes’, der den Blick für Handlungsspielräume, Interessenkonflikte und soziale Gegebenheiten vernebele. Seine Wirkungsmächtigkeit erhalte dieser Mythos insbesondere durch
die Vagheit des Begriffs der ‚Kommunikation‘, in dem sich medientechnische, ökonomische,
politische, journalistische und weitere Aspekte diffus vermengten. Insofern hätten die Debatten
rund um ‚Kommunikation‘ nicht nur eine philologische Dimension, als zentraler Bestandteil
einer neuen Repräsentation der Gesellschaft müsse sich seiner auch die soziologische Forschung
annehmen.
Diese sprachkritische Perspektive in soziologischer Absicht zeigt sich dann auch gleich in
der kurzen Einleitung des Wörterbuchs: „N’est-il pas bizarre – en disant par exemple ‚la communication est la clé des élections‘ – de faire de ‚communication‘ le sujet d’un verbe?“ (S. 5).
Was sind also die 124 „mots de la communication politique“, die Neveu auf 128 Seiten erklärt
und deren Entstehenskontexte er erläutert? Es sind Ausdrücke, mit denen Akteure, Phänomene
oder Aspekte der politischen Kommunikation bezeichnet werden. In sprachwissenschaftlicher Perspektive zunächst ausgesprochen irritierend, in der oben angedeuteten soziologischsprachkritischen Perspektive aber zu akzeptieren, entstammen die Lemmata indes nicht dem
Sprachgebrauch nur einer sozialen Gruppe, sondern gehören drei recht verschiedenen sozialen
Welten an. Diese werden in der Einleitung benannt, im jeweiligen Eintrag jedoch leider nicht
ausgewiesen: Erstens entstammt eine Reihe von Begriffen der Welt der professionellen Akteure
2
3
Konrad Ehlich, „‚Kommunikation‘ – Aspekte einer Konzeptkarriere“, in: Kommunikation in politischen und kultischen Gemeinschaften, hg. v. G. Binder u. K. Ehlich, Trier: WVT, 1996, S. 257–284.
Érik Neveu, Une société de communication?, Paris: Montchrestien, 52011 [1994].
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der politischen Kommunikation: So erarbeiten politische Berater einen plan média oder testen
einen Slogan an einer focus group. Die zweite Welt ist die der normalen Bürger, die im politischen
Sprachgebrauch häufig Phrasendrescherei – langue de bois – sehen, die auf der Titelseite auch
bildlich dargestellt wird. Drittens gibt es die Welt der „spécialistes de sciences sociales“, die
unter anderem nach der agenda fragen, also danach, was die Medien, die öffentliche Meinung
und politische Entscheidungsträger zu einem bestimmten Zeitpunkt beschäftigt.
Mit der alphabetischen Listung hat Neveu die von ihm zusammengetragenen Begriffe aus
ganz unterschiedlichen Domänen also in die Form eines Wörterbuchs gebracht. Und prinzipiell
zeichnet sich diese Publikationsform ja dadurch aus, dass sie nicht auf eine gesamte Lektüre
zielt. Aber – soviel sei an dieser Stelle schon gesagt – die Einträge laden dazu ein, den jeweils
angehängten Querverweisen zu folgen und in diesem Wörterbuch wirklich kreuz und quer zu
lesen. Obgleich fast alle Beispiele der französischen Politik entnommen sind (und es zu ihrem
Verständnis einer gewissen Vertrautheit mit der französischen Gesellschaft bedarf), kommen bei
einer Lektüre im deutschen Kontext natürlich automatisch aktuelle Ereignisse aus Deutschland
in den Sinn und die Begriffserläuterungen laden förmlich dazu ein, diese noch einmal ganz
anders zu überdenken.
So der Eintrag Gaffe, der Schnitzer, der von Neveu als „acte de communication involontaire
par excellence“ (S. 52) beschrieben wird und bei dem es sich um eine unglückliche Formulierung
handeln kann, z. B. um eine Äußerung, „qui rend visible le bluff, le mépris d’une catégorie de
personnes“. Als ein Beispiel wird eine Äußerung des Pressesprechers von Ségolène Royal aus
dem Jahre 2007 angeführt: Frau Royal habe nur „un seul défaut, c’est son compagnon“. Unweigerlich wird bei diesem Eintrag die Erinnerung an die Rede von dem „wissenschaftlichen
Mitarbeiter“ wach, den die deutsche Kanzlerin im Rahmen der Plagiatsaffäre um den Verteidigungsminister eben nicht berufen hat. Was hier zum gaffe mit Auswirkungen wurde, war sicher
von einem conseil en communication (engl. spin doctor) vorbereitet, um den scandal um das
Plagiat einzudämmen. Ob das Verhalten eines politischen Repräsentanten einen scandal auslöst,
hängt von den Emotionen ab, die in der gesamten oder einem Teil der Bevölkerung ausgelöst
werden. Und dies hängt wiederum von geltenden Werten ab, mit denen das Verhalten beurteilt
wird. Wenn im Falle des „wissenschaftlichen Mitarbeiters“ der gaffe selber zum scandal werden konnte, verweist dies auf die Problematik der angemessenen Doxa, also der Auswahl der
Prinzipien des Bewertens, die im Eintrag Allodoxia mit Rückgriff auf Bourdieu thematisiert
wird: Allodoxia als das Anlegen ungeeigneter Kriterien liegt etwa vor, wenn Sarkozy ganz
ausschließlich aufgrund seines Lebensstils und seines Geschmacks als président bling-bling
wahrgenommen werde, ohne dass weitere Kriterien zur Bewertung seines politischen Handelns herangezogen würden. So gesehen hätten also die Berater im Falle der Plagiatsaffäre mit
ihrer verunglückten Formulierung versucht, die Plagiatsaffäre als Allodoxia zu repräsentieren
(Kriterien der wissenschaftlichen Redlichkeit sind die falschen zur Bewertung von politischer
Arbeit), um nach dem Missglücken dieser Strategie das problème de communication aus dem
Hut zu ziehen. In diesem Eintrag geht Neveu zunächst ganz systematisch auf der Grundlage des
Kommunikationsmodells von Jakobson verschiedenen Möglichkeiten nach, die zu tatsächlichen
Kommunikationsproblemen führen können, um dann aber vor dem Missbrauch zu warnen: „Mais
l’abus de langage commence quand la notion de ‚problème‘ ou déficit de communication devient
l’explication omnibus de toutes les situations d’échec, de conflit ou de crise politique ou sociale“
(S. 90). Die Reduzierung auf ein Kommunikationsproblem impliziere nämlich entweder, dass
es in der Gesellschaft gar keine gegensätzlichen Interessen gäbe oder dass die Politiker schon
wüssten, was für die Bevölkerung gut sei, es nur schlecht erklärten oder aber dass die normalen
Bürger neue Imperative der modernen Gesellschaft noch nicht verstanden hätten.
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Aber das kleine Wörterbuch regt nicht nur zu einem kritischen Blick auf die Repräsentationen von Kommunikation an, es vermittelt auch Einblicke in die kommunikativen Umstände,
die typische Versprachlichungsstrategien bedingen. So wäre der personifizierende Satz „Berlin
ist arm, aber sexy“ eine typische petite phrase, die sich durch Kürze und Dichte auszeichnet,
erdacht mit dem Ziel einer großen Verbreitung in den Medien. Der Eintrag zum analogen
englischen Begriff soundbite deutet dann auch die historischen Veränderungen im Kampf um
Präsenz im öffentlichen Raum an, um die es immer wieder geht: Die Länge der Sprachbeiträge
von politischen Entscheidungsträgern in Fernsehnachrichten hat sich radikal verkürzt, neuere
Technologien wie der tweet mit seiner maximalen Länge von 140 Zeichen fordern die sprachliche
Verdichtung. Darum sei die Elocutio nach Neveu eine essenzielle Kunst, die insbesondere in den
kurzen Kommunikationsformaten gefordert sei, wohingegen die Dispositio zur „parent pauvre
de la rhétorique politique moderne“ (S. 35) werde. So der Slogan „La force tranquille“ aus dem
Wahlkampf für Mitterrand, der von Neveu im Eintrag Éloquence als Oxymoron klassifiziert
wird und die Position untermauern soll, dass die Politik „pour une part importante un art de la
parole“ sei (S. 40). Am Beispiel dieses Slogans zeigt der eigene Eintrag Force tranquille dann die
Schwierigkeit, die tatsächliche Wirkung von Plakaten und Slogans zu messen: Hätte Mitterrand
auch nur 1,7 Prozentpunkte weniger errungen, wäre das auf ländliche Traditionen abhebende
Plakat mit eben diesem Slogan als schwer wiegender kommunikativer Fehler gewertet worden.
Dieser Eintrag verweist sehr deutlich auf die grundlegende Position, die auch in der kurzen
Einleitung formuliert wird: „La communication est consubstantielle aux activités politiques“
(S. 4), und zwar von Beginn an, wie etwa der Eintrag Agora zeigt, in dem sich Erläuterungen
zum Versammlungsort der Bürger in den demokratischen Städten Griechenlands finden. Die
Vision vom âge d’or als einer „Belle Époque de la politique“ (S. 8), die noch frei von den
Auswirkungen der modernen Kommunikation gewesen sei, gehe fast immer mit unzulässigen
historischen Vergleichen einher. Die moderne Politik somit als „soudainement subvertie par la
communication“ anzusehen (S. 4), sei eine „naiveté ou un aveuglement intéressé“ (S. 4), die
eng mit der Karriere des unscharfen Begriffs ‚communication‘ verbunden sei.
Von den zahllosen Antworten auf die Frage, was denn ‚Kommunikation‘ eigentlich sei,
ist sicher die von Vilém Flusser eine der prägnantesten: „Kurz, der Mensch kommuniziert mit
anderen, ist ein ‚politisches Tier‘, nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein einsames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben“.4 Folgt man dieser Perspektive, ist
Kommunikation Ausgangspunkt und Grundlage jeglicher Form von Gesellschaft und ein Begriff wie société de communication könnte bei alleiniger Betrachtung der ‚inneren Strukturen‘
philologisch als Pleonasmus beschrieben werden.
Die mots de la communication politique von Érik Neveu aber führen vor Augen, welche
Rolle die Repräsentationen von Kommunikation (und damit auch von Sprache) in der Gesellschaft spielen. Wer mag, kann den angedeuteten soziologischen Pisten folgen, wie etwa Neveus
Auseinandersetzung mit dem Habermas’schen Verständnis von Öffentlichkeit (im Eintrag Espace public). Aber auch ohne ein weitergehendes soziologisches Interesse bietet dieses kleine
Wörterbuch eine lohnende (und unterhaltsame) Lektüre für Philologen, die sich für aktuelle
komplementäre Bewegungen in anderen Disziplinen interessieren.
Berlin
4
Brigitte JOSTES
Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt am Main: Fischer, 1998, S. 10.
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Besprechungen
Sabrina PARENT, Poétiques de l’événement. Claude Simon, Jean Rouaud, Eugène Savitzkaya,
Jean Follain, Jacques Réda (Études de littérature des XXe et XXIe siècles, 20), Paris :
Classiques Garnier, 2011, 493 p.
En 1974, l’historien Pierre Nora déclare que « [n]ous sommes entrés dans le règne de l’inflation événémentielle ».1 Loin d’apporter un démenti à un tel constat, les dernières décennies du
XXe siècle et les premières décennies du troisième millénaire ne font que le corroborer. Une
telle omniprésence de l’événement dans notre actualité médiatique semble occulter l’évolution de la notion ou la rend tout du moins difficile à cerner. Exclu de l’histoire des Annales,
méconnu par les sciences économiques et sociales, l’événement est aujourd’hui en voie de
réhabilitation dans les différentes disciplines des sciences humaines, particulièrement en philosophie et en littérature. C’est au croisement de ces deux champs que se situe l’étude menée
par Sabrina Parent. Face à l’ampleur de son sujet, l’auteure semble d’abord faire le choix de
la quasi-exhaustivité, comme en témoignent le large panorama consacré aux « Approches de
l’événement » en première partie et la vaste bibliographie à la fin du volume. En passant en
revue la notion dans l’ensemble des champs disciplinaires, l’auteure témoigne du sérieux de
sa démarche. Pour autant, on peut s’interroger sur la pertinence d’une approche aussi systématique. Dans sa longue première partie, S. Parent envisage la notion de l’événement à partir des
travaux de l’historiographie, des sciences économiques et sociales, de la linguistique, etc. De
ces différents axes, elle retient cependant essentiellement les pistes ouvertes par la philosophie
antique (Aristote), l’herméneutique et la phénoménologie de Paul Ricœur et Claude Romano.
La seconde partie, consacrée à l’événement dans le récit, recourt plus expressément aux critères
aristotéliciens pour évaluer la construction de l’intrigue chez Claude Simon. Si le troisième
volet consacré à la poésie emprunte à certains égards les outils de la linguistique anglo-saxonne
dans la lecture des poèmes de Follain ou Réda, il semble que soient là encore privilégiées les
approches cognitives de l’événement telles qu’elles sont développées chez Ricœur et Romano.
Ces partis pris théoriques semblent amplement suffire à l’objectif que s’est assigné l’auteure,
à savoir : mettre en lumière les enjeux phénoménologiques, éthiques et littéraires de l’écriture
de l’événement chez Claude Simon, Jean Rouaud, Eugène Savitzkaya, Jean Follain et Jacques
Réda. On peut donc déplorer l’excès de zèle qui conduit l’auteure à explorer scrupuleusement
la notion d’événement dans des champs de savoir multiples sans en tirer véritablement des
ressources épistémologiques fondatrices pour la suite de son propos.
On peut toutefois considérer également ce premier volet de l’étude sous un autre angle : le
projet de l’auteure n’est pas seulement à penser comme une contribution à l’histoire littéraire
de l’événement, mais bien à considérer comme une contribution à l’histoire épistémologique
de l’événement. Dans ces conditions, les auteurs convoqués pour cette étude ne viendraient
qu’illustrer à titre d’exemples magistraux une thèse à vocation pluridisciplinaire sur les poétiques de l’événement. Le corpus littéraire retenu pour aborder cette question, à la fois vaste et
restreint, témoigne de cette ambiguïté. Les écrivains abordés sont-ils à l’origine de poétiques
singulières de l’événement ou viennent-ils confirmer une pensée de l’événement développée
dans la première partie théorique de l’ouvrage ?
En étudiant à la fois prose et poésie, S. Parent élargit considérablement le champ des
études traditionnellement consacrées à la notion d’événement dans le domaine littéraire. Mais
lorsqu’elle fait le choix de L’Acacia dans toute l’œuvre de C. Simon ou lorsqu’elle sélectionne
exclusivement J. Rouaud et E. Savitzkaya comme héritiers par excellence de la prose de Simon,
l’auteure manifeste les limites de son corpus. Certes, une thèse ne saurait embrasser un nombre
1
« Le retour de l’événement », dans : Faire de l’Histoire, éd. par J. Le Goff et P. Nora, Paris : Gallimard,
1974, p. 210–227.
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indéfini d’auteurs sans courir le risque de la superficialité de l’analyse ; pour autant, il importe
de justifier ses objets d’étude si on convient de les limiter à un nombre restreint. Or, cette justification située en introduction du volume paraît bien expéditive eu égard à l’importance des
auteurs retenus. Pourquoi choisir Claude Simon comme point de départ ? Le rapprochement
avec Jean Rouaud est certes acceptable mais cela ne résout en rien la question de la pertinence
du choix de Simon à l’origine de cette question de l’écriture de l’événement. Le regroupement
de ces écrivains aux éditions de Minuit pourrait être envisagé comme un élément décisif à la
constitution du corpus, mais S. Parent n’en fait pas mention. Dès lors, on comprend mal pourquoi
l’auteure évoque plutôt Savitzkaya qu’un autre auteur Minuit. L’écrivain belge est-il le seul à
résister au récit ? Si la bipartition narration/poésie fait l’objet d’une justification théorique, on ne
voit pas en quoi Follain et Réda sont des poètes plus intéressants que d’autres sur cette question
de l’événement. Jacques Réda est-il le seul poète du XXe siècle à attacher une importance à
l’infime au côté de Jean Follain ? Sont-ils les seuls poètes témoins ‹ de biais › des guerres mondiales ? Le caractère quelque peu arbitraire du corpus retenu affaiblit la portée de la thèse dont
l’objet semble sans cesse hésiter au fil des parties abordées. De quel(s) événement(s) l’œuvre
littéraire rend-elle compte ? Les deux guerres mondiales du XXe siècle, le banal et l’ordinaire
mais aussi le fait de dire sont tour à tour considérés comme événements, envisagés dans leurs
implications génériques, éthiques et ontologiques. Ces changements d’échelle présentent un
intérêt considérable en termes épistémologiques, mais on regrette parfois que leur alternance au
fil des parties manque de justification. De la même manière, on peut se demander dans quelle
mesure il convient de placer ces différents types d’événements sur le même plan. C’est peutêtre dans l’articulation de ces diverses formes de l’événement chez ces auteurs que se trouve
la réponse à cette question. Chez Simon, comme chez Rouaud, Savitzkaya, Follain et Réda, les
événements insignifiants, historiques, naturels et ontologiques s’entrecroisent voire permutent,
définissant un nouveau rapport de l’écrivain à l’Histoire qui s’accompagne d’une promotion de
l’éthique contre le positionnement politique ou idéologique.
Entre faillite et reconfiguration : la narration face à l’événement
En ouvrant sa seconde partie « Récit et événement » sur Claude Simon, S. Parent entre plus
immédiatement dans des problématiques d’ordre littéraire. Pour autant, les présupposés à l’origine de ses questionnements – comment écrire la guerre ? en quoi dire la guerre transforme la
saisie des événements ? – ne semblent pas aller de soi. Interroger la structuration de l’intrigue
chez Claude Simon à partir de La Poétique d’Aristote paraît peu approprié. Est-il nécessaire
de mettre aussi longuement en regard les critères aristotéliciens de la totalité, la longueur et
la complétude avec l’écriture de Simon, dont de nombreuses études, parmi lesquelles celle
de Dominique Viart citée par l’auteure, ont montré qu’elle défait les paramètres de l’intrigue
traditionnelle ? En suivant ce type de démarche systématique, S. Parent semble vouloir valider
sa propre grille interprétative des textes sans pour autant prendre en considération la démarche
singulière d’un auteur qui ne s’embarrasse pas nécessairement des catégories d’Aristote pour
composer L’Acacia.
Si l’approche méthodologique est critiquable dans ses présupposés, reste néanmoins que les
rapprochements entre les trois auteurs de cette partie – Simon, Rouaud, Savitzkaya – présentent
des intérêts excédant la seule question de l’événement puisqu’ils replacent les ouvrages dans
une histoire du littéraire dans la seconde moitié du XXe siècle. En montrant comment Simon
défait les logiques narratives au profit de la description, S. Parent est amenée à congédier l’analogie établie par la critique entre Rouaud et Simon. Prenant appui sur les travaux de Ricœur,
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l’analyse expose finement les points de divergence qui opposent ces écrivains. Quand Simon
récuse la mise en intrigue explicative, Rouaud tend au contraire à réhabiliter la narration et par
là même à donner du sens aux événements à l’origine du récit de la mémoire familiale. Partant
des mêmes substrats historiques, les proses de Simon et Rouaud se séparent non seulement sur
le plan des procédés d’écriture de la guerre mais aussi sur le plan éthique. Alors que Simon
se tient à distance des événements pour invalider la surenchère des discours idéologiques qui
tendent à les construire ou à les instrumentaliser, Rouaud use de l’humour et de l’ironie pour
dénoncer le caractère construit du récit. La thèse de S. Parent prend tout son intérêt lorsqu’elle
met en évidence la construction d’un récit en ‹ petit ›, récit précaire qui est repris mais tenu à
distance. Ce récit, battu en brèche chez Simon, fait ‹ retour › chez Rouaud ou chez Savitzkaya,
mais toujours sur le mode de l’humilité.
Ce terme d’humilité s’avère particulièrement précieux lorsqu’il s’agit d’aborder la poétique
de l’événement dans Marin mon cœur et En vie, deux romans d’E. Savitzkaya. Empruntant à
Simon une certaine forme de déconstruction du récit, l’œuvre de Savitzkaya est une exploration
poétique de l’événement – celui de la naissance dans Marin mon cœur ou celui du quotidien dans
En vie. Comme l’affirme S. Parent, « la teneur de l’événement réside moins dans sa nature ellemême que dans le regard de celui qui sait faire émerger le poétique au cœur de l’insignifiant »
(p. 233). Telle est la démarche de ‹ défamiliarisation › du monde entreprise par Savitzkaya. Moins
sombre que le roman de Simon, moins ludique que la prose de Rouaud, l’œuvre de l’écrivain
belge s’intéresse à l’ordinaire pour en faire ressortir la puissance d’émerveillement. À l’inverse
de Simon qui déconstruit l’événement en détails insignifiants, Savitzkaya part de l’infime
pour lui donner force d’événement. Comme chez Rouaud, le récit relève d’une esthétique et
d’une éthique du local. C’est à une autre facette de l’événement qu’ouvrent de tels textes : loin
du registre épique de la guerre ou de son contournement ironique ou parodique, les récits de
Savitzkaya déclinent les motifs ordinaires du quotidien pour leur donner un caractère à la fois
humble et sublime. S’esquisse ainsi dans l’œuvre de cet écrivain un nouveau rapport au lecteur.
La mise en partage d’une expérience commune est orientée par la quête toute artisanale d’une
forme de bonheur, horizon qui semblait compromis dans l’œuvre de Simon fondamentalement
meurtrie par la guerre.
Rendre le monde habitable en regard de l’événement
Après avoir analysé les croisements entre narration et poésie dans une deuxième partie, S. Parent
consacre le dernier volet de son étude au champ poétique et plus spécifiquement aux poètes Jean
Follain et Jacques Réda. Comme pour la deuxième partie, un auteur occupe le rôle d’ascendant
en regard du ou des autres. Comme Simon vis-à-vis de Rouaud et Savitzkaya, Follain ouvre dans
une certaine mesure des voies d’écriture à Réda qui lui succède dans le fil des générations. Si
Follain n’a pas eu une expérience aussi directe de la guerre que Simon, il l’a toutefois connue
de plus près que Réda. Cette expérience de la guerre est centrale dans ce dernier chapitre qui,
à la différence du précédent, recourt davantage à la micro-lecture. S. Parent analyse méticuleusement des poèmes illustrant la question du rapport à l’événement. Si elle accorde une certaine
importance aux poèmes de l’ordinaire chez Follain, l’auteure privilégie davantage les poèmes
évoquant la guerre.
La poésie de Follain décontextualise cet événement historique, en fait une fatalité contre
laquelle l’action humaine ne peut rien. Le poète assimile ainsi l’Histoire au cycle immuable de la
nature. Cette représentation de la guerre met au jour une éthique du doute en regard des discours
idéologiques qui tentent d’élucider les événements, rapprochant ainsi la démarche du poète de
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celle de Simon. Ce rapport à l’Histoire conduit ainsi S. Parent à s’interroger sur l’engagement
de l’écrivain au cours de ces périodes de conflits mondiaux. Si la poésie de Follain n’est pas
engagée au sens où elle ne prend pas position en faveur d’une idéologie contre une autre, elle
s’inscrit en revanche pleinement dans une pensée du monde. Poésie de la « compassion », écrit
S. Parent, les vers de Follain luttent contre l’oubli des victimes et des laissés-pour-compte. Si
l’auteure dégage l’ambiguïté de l’ethos de l’écrivain en temps de guerre, partagé entre hypersensibilité et indifférence, c’est pour montrer in fine que ces deux facettes sont complémentaires.
Le poète délaisse le champ de l’action politique au profit d’une forme d’‹ action › poétique.
Mise en parallèle avec l’œuvre de Follain, l’œuvre de Réda est d’abord questionnée sous
l’angle de la narrativité. Là encore, S. Parent interroge la poésie de Réda à partir des critères
aristotéliciens. De ces analyses ressort l’idée selon laquelle les poèmes de Réda relèveraient
d’une forme de « narrativité faible ». Poésie du mouvement et de la succession temporelle
des événements, l’écriture de Réda altère les notions de début et de fin ou encore de but ou
de causalité. Elle dit le désir herméneutique d’interpréter les événements tout en contrariant
sans cesse le sens qu’elle entend leur apporter. L’incertitude dans laquelle se tient la parole
poétique de Réda montre que le poète ne cherche pas à donner un sens unique à l’événement
mais tente au contraire de faire sourdre chez le lecteur une certaine émotion. La poésie de Réda
« ne vise pas la connaissance de l’événement […] mais bien plutôt vise à nous le faire re-vivre
perceptuellement, telle une plaie de la nature maintenue ouverte » (p. 368). S’appuyant sur les
travaux de Jean-Claude Pinson, S. Parent montre que l’œuvre de Réda vise à recréer ainsi des
liens communautaires, aussi minimes soient-ils. Cette lecture de la poésie de Réda se referme
ainsi sur les rapports entre mise en recueil et transcription de l’événement ‹ naturel ›. Si l’on
peut saluer l’originalité de cette partie en regard de la production critique portant sur l’œuvre
de Réda, on peut également déplorer la rupture qu’introduit ce dernier chapitre sur la mise en
recueil. Cet ultime prolongement ouvre certes une nouvelle piste d’interprétation de la question
de l’événement, mais il sort de la problématique poésie/écriture de l’Histoire qui avait formé le
fil conducteur du chapitre. L’excès d’ambition de cette étude sur l’événement constitue peut-être
sa limite dans la mesure où à force de vouloir épuiser les différentes acceptions sémantiques
du terme ‹ événement ›, l’auteure finit par casser les dynamiques élaborées tout au long de ses
parties. Le fil conducteur de l’événement historique n’aurait-il pas suffi à démontrer l’articulation entre éthique et poétique ?
La conclusion de l’étude parvient néanmoins à relier les différentes pistes explorées au
cours de l’ouvrage pour en faire valoir la cohérence. Elle rattache ainsi les auteurs du corpus
au paradigme du ‹ petit récit ›, conçu selon ses différents enjeux comme récit minimal (Simon),
récit tenu humoristiquement à distance (Rouaud), récit du quotidien (Savitzkaya, Réda). Si cette
catégorie du petit récit introduit un premier décloisonnement générique puisque le poète Réda
illustre cette forme narrative, les notions poétiques d’analogie, de description et d’évocation
participent d’une plus grande dé-hiérarchisation des genres. Placé sous l’angle de l’analogie
chez Simon ou Follain, l’événement historique apparaît comme un phénomène naturel dépouillé
d’explications. Cependant, S. Parent montre aussi que la poésie, contrairement à une idée largement admise, peut prendre en charge la dimension herméneutique que le modèle narratif, tel
qu’il se trouve déconstruit chez certains auteurs du XXe siècle, a délaissée. Entre description et
évocation, les écrivains tels que Simon ou Follain ne cherchent pas tant à dire le pourquoi de
l’événement que le comment, c’est-à-dire son retentissement sur celui qui écrit. S. Parent en vient
ainsi à distinguer deux types de visées induites par l’écriture de l’événement : soit l’écrivain est
tenté d’expliquer l’événement, soit il est tenté de le faire ressentir. Loin d’être incompatibles,
ces deux rapports à l’événement témoignent d’interférences dans la mesure où susciter l’émotion
du lecteur peut déjà constituer un sens minimal. Quoi qu’il en soit, l’écriture de l’événement
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n’aboutit jamais à la destruction du sens. Bien au contraire, le sens ultime de l’événement se situe
peut-être dans le fait de le dire et dans les implications éthiques que cet avènement à l’écriture
suscite. Contre une éthique de la conviction, l’œuvre de Simon serait porteuse d’une éthique
matérialiste s’opposant aux dogmes idéologiques et aux pensées systématiques. La justesse
visée par la prose de Simon serait ainsi indissociable d’une certaine humilité que l’on retrouve
à l’œuvre chez les autres auteurs convoqués dans cette étude. La mise en lumière des différentes
formes d’éthiques associées à l’écriture de l’événement constitue certainement la part la plus
intéressante du livre de S. Parent. Si l’étude des procédés d’écriture est un préalable nécessaire
à l’analyse des enjeux éthiques, on regrettera néanmoins qu’elle n’ait pas fait l’objet d’une
certaine condensation par endroits. Cela aurait vraisemblablement permis au propos de gagner
en efficacité. Le livre de Sabrina Parent s’impose néanmoins comme un ouvrage de référence
sur la question de l’événement. Il apporte également des éléments de réflexion fondamentaux
quant à l’exigence éthique qu’implique une telle notion dans les œuvres littéraires.
Paris
Aurélie ADLER
Anja PLATZ-SCHLIEBS/Katrin SCHMITZ/Natascha MÜLLER/Emilia MERINO CLAROS, Einführung in die
Romanische Sprachwissenschaft. Französisch, Italienisch, Spanisch (Narr Studienbücher),
Tübingen: Narr, 2011, 334 S.
Das in Wuppertal entstandene Lehrbuch führt den Leser anhand der drei romanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch in aktuelle Fragen der modernen Sprachwissenschaft
ein. Die Autorinnen widmen sich in neun Kapiteln den folgenden Themen: „Die Wissenschaft
vom sprachlichen Wissen“, „Phonetik und Phonologie“, „Morphologie“, „Die Romania: ihre
Sprachen und Varietäten“, „Semantik“, „Syntax“, „Pragmatik“, „Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft: Berührungspunkte“ sowie „Arbeitstechniken für Linguisten“. Alle Kapitel
enden mit Übungsaufgaben, zu denen online Lösungen zur Verfügung stehen, sowie Literaturverzeichnissen. Ein ausführlicher Sachindex komplettiert das Lehrwerk. Die vorliegende
Rezension folgt dem Aufbau des Buches und fasst den Inhalt kapitelweise zusammen.
Kapitel 1 (13–51) befasst sich zunächst mit der Entstehung menschlicher Sprache (13–15)
sowie (schwerpunktmäßig) dem kindlichen Spracherwerb (15–32). Die Autorinnen beschränken ihre Darstellung dabei nicht auf den Spracherwerb monolingualer Kinder, sondern stellen
mehrfach auch empirische Studien zu bilingual aufwachsenden Kindern vor. Diesem Einstieg in
das Lehrwerk ist die für eine Einführung in die romanische Sprachwissenschaft ungewöhnlich
frühe Vorstellung von psycho- und neurolinguistischen Fragestellungen geschuldet (32–42),
der sich mit der Soziolinguistik eine weitere stark empirisch orientierte Teildisziplin anschließt
(43–48). Auch pragmatische und varietätenlinguistische Fragestellungen werden in diesem
Rahmen bereits angerissen.
Kapitel 2 (52–86) beginnt mit einer kurzen Einführung in den Strukturalismus (52–56), der
sich ein Unterkapitel zur Phonetik sowie eines zur Phonologie anschließen. Abschnitt 2.1 zur
Phonetik (56–70) behandelt schwerpunktmäßig die artikulatorische Phonetik, deren Darstellung
jedoch teils unvollständig bzw. widersprüchlich ist. Die tabellarische Übersicht (59) zu den Konsonanten wirft beispielsweise einige Fragen auf. Mangels entsprechender Kennzeichnung ist für
den Leser nicht klar ersichtlich, welche der aufgeführten Laute in den drei romanischen Sprachen
Phonem- bzw. Allophonstatus haben. Des Weiteren sind die Angaben zum standardfranzösischen
<r>-Laut [ʁ] widersprüchlich, da er in der Tabelle als velar bezeichnet wird, obwohl im Text
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bezüglich des Artikulationsortes von Engebildung „hinten am Zäpfchen“ (67) die Rede ist. In
Bezug auf die Artikulationsart wird der Laut sowohl in der Tabelle (59) als auch im Abschnitt
zu den velaren Lauten (64) als Vibrant klassifiziert, während die Autorinnen an anderer Stelle
darauf hinweisen, dass es „im System des Neufranzösischen […] keine Vibranten“, sondern nur
einen „uvulare[n] Engelaut (Frikativ)“ (63) gibt. Bezüglich der italienischen Nasalkonsonanten
lassen sich ähnlich widersprüchliche oder unvollständige Angaben feststellen. Im Anschluss
an die Darstellung der Konsonanten werden die Vokale eingeführt. Der Beschreibung der Vokalsysteme der drei romanischen Sprachen folgen ein kurzer Abschnitt zur Vokalqualität sowie
einer zur Vokalquantität, bevor abschließend auf Vokalverbindungen eingegangen wird. Die
Darstellung der in diesem Abschnitt eingeführten Halbvokale ist allerdings unvollständig, da der
labiopalatale Approximant [ɥ] des Französischen ungenannt bleibt. Hervorzuheben ist dagegen
die gelungene praxisnahe Vermittlung der artikulatorischen Eigenschaften der einzelnen Vokale,
die auf dem Prinzip des learning by doing basiert. Den Studierenden wird durch die explizite
Aufforderung zum Beobachten des eigenen Sprechapparates eine Alternative zum bloßen Auswendiglernen der Merkmalbündel geboten. In Abschnitt 2.2 zur Phonologie (70–84) widmen
sich die Autorinnen der Unterscheidung von Phonem und Allophon, die bereits im Kapitel zur
artikulatorischen Phonetik eingeführt wurde, und machen den Leser mit distinktiven Merkmalen
vertraut, bevor sie sich der suprasegmentalen Phonologie sowie phonologischen Regeln und
Prozessen zuwenden. Die Silbenstruktur wird auf relativ knappem Raum abgehandelt.1 Dennoch
gelingt es den Autorinnen, dem Leser die Relevanz des Silbenbegriffs zu vermitteln, indem der
Präsentation des verlan im Französischen vergleichsweise viel Platz eingeräumt wird. Nachdem
anschließend in zwei kurzen Abschnitten zum Akzentsystem der drei romanischen Sprachen
der freie Wortakzent im Italienischen und Spanischen dem gebundenen Phrasenakzent des
Französischen gegenübergestellt wird, endet die Darstellung der Suprasegmentalia mit einem
Unterkapitel zum Stellenwert prosodischer Informationen im Spracherwerb. Die abschließende
Präsentation phonologischer Regeln und Prozesse stellt neben Assimilation, Dissimilation und
Neutralisierung auch die im Französischen operierenden Prozesse enchaînement und liaison
sowie das h aspiré vor. Insgesamt gelingt es den Autorinnen in diesem Kapitel trotz einiger
Mängel,2 das im Vorwort (10 f.) angekündigte Vorhaben, Sprachwissenschaft „erfahrbar“ zu
machen, umzusetzen.
Kapitel 3 (87–133) beginnt mit einer Auflistung möglicher Verfahren zur Wortschatzerweiterung. Mit der Nennung der Wortbildung als produktivstes Verfahren wird das schwerpunktmäßige
Thema dieses Kapitels eingeführt. Die Flexion wird auf knapp drei Seiten (89–91) abgehandelt,
bevor in den Abschnitten 3.1 „Wortbausteine: Morphe, Morpheme und Allomorphe“ (91–94)
sowie 3.2 „Wortbildungs- und Flexionsaffixe“ (95–100) die nötigen Grundlagen für das Verständnis der Wortbildungsverfahren besprochen werden. Allerdings wirft auch dieses Kapitel
teilweise Fragen auf, etwa weshalb eine Einführung in die romanische Sprachwissenschaft zwar
das Circumfix (als in den drei romanischen Sprachen nicht relevanten Affixtyp) vorstellt, auf die
1
2
Die auf S. 75 aufgeführten Syllabierungsregeln reichen nicht aus, um z. B. die wortinterne Konsonantenverbindung des auf derselben Seite genannten mehrsilbigen Verbs calmer richtig zu behandeln.
Die vorgestellte Regel, der zufolge ein oder mehrere Konsonanten zum Onset gehören, sofern sie
vor dem Silbenkern stehen, würde im Falle der wortinternen Konsonanten eine falsche Voraussage
machen und zu [ka.lme] führen.
Zusätzlich zu den im Text genannten soll exemplarisch auf folgende Schwächen hingewiesen werden: Die Stimmhaftigkeit der alveolaren ital. Affrikate [dz] unterscheidet sie nicht von [d], sondern
von [ts] (vgl. S. 62). Auf S. 66 ist von „Zungenöffnung“ die Rede, statt von Zungenlage. In franz.
bien [bjε'] auf S. 70 bzw. pain [pε'] auf S. 72 fehlt die Tilde auf dem Nasalvokal. Auf S. 81 muss es
Vokalqualität statt „Vokalquantität“ heißen.
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Präsentation von z. B. Portmanteau-Morph(em)en jedoch verzichtet. Bei der Unterscheidung von
freien und gebundenen Morphen wird für ital. giornalista (vgl. S. 94) zudem nicht ersichtlich,
dass dessen Konstituente giornal(e) noch weiter segmentierbar ist. Abschnitt 3.3 (100–108) zu
Wortstruktur und Wortbildungsregeln macht den Leser zunächst mit verschiedenen Methoden
der Notation von Konstituentenstrukturen (indizierte Klammerung vs. Strukturbaum) vertraut,
bevor die Darstellung von Wortbildungsregeln in der Linguistik erläutert werden. Um den
Begriff des Kopfes in komplexen Wörtern einzuführen, greifen die Autorinnen dem Kapitel
zur Komposition vor, indem sie die unterschiedliche Kopfposition in germanischen und romanischen Sprachen anhand gut nachvollziehbarer Komposita veranschaulichen. Der Abschnitt
zur Wortstruktur endet mit einem Unterkapitel zur Hierarchie innerhalb komplexer Wörter, in
dem vergleichsweise früh auch Parasynthese und Nullmorph thematisiert werden. Abschnitt
3.4 zur Komposition (108–118) diskutiert zunächst die Frage nach der Abgrenzung gegenüber
syntaktisch gebildeten Wortgruppen. Mit der Beschreibung von unterschiedlich transparenten
Komposita leiten die Autorinnen anschließend auf die Unterscheidung von endozentrischen und
exozentrischen Komposita über. Erstere werden in einem eigenen Unterabschnitt nochmals in
Determinativ- und Kopulativkomposita unterteilt, für deren Darstellung neben volkstümlichen
auch gelehrte Bildungen herangezogen werden.3 Ein Abschnitt zum Erwerb von Komposita
durch mono- wie bilingual aufwachsende Kinder rundet Kapitel 3.4 ab. 3.5 ist der Derivation
gewidmet (118–127). Hier werden ausgewählte Präfixe der drei romanischen Sprachen inklusive
ihrer semantischen Funktion sowie die Suffigierung vorgestellt. Vergleichsweise viel Platz wird
dabei den verschiedenen Bedeutungsaspekten eingeräumt, die ein und dasselbe Suffix tragen
kann. Die Abschnitte 3.6 und 3.7 behandeln überblicksartig die Konversion (127 f.) bzw. Wortkürzungen (128–131).
Kapitel 4 (134–182) widmet sich der Romania. In Abschnitt 4.1 (135–152) werden zunächst
die elf romanischen Varietäten vorgestellt, die überwiegend als Sprachen anerkannt sind. Der
Leser erhält Informationen zu Dialekt und Kreolsprachen, die im weiteren Verlauf des Abschnitts
bzw. in Abschnitt 4.4 näher ausgeführt werden. Ferner beinhaltet Abschnitt 4.1 die sprachtypologische Einteilung in West- und Ostromania, die nicht-romanischen Sprachen in der Romania
sowie die indoeuropäische Sprachfamilie. Die Einführung in die Diasystematik nach Coseriu
und ihre Weiterentwicklung durch Koch/Oesterreicher schließt mit der Abgrenzung von Sprache vs. Dialekt. Ein eigener Teilabschnitt ist der Jugendsprache gewidmet. Mehrsprachigkeit
und Sprachkontakt werden anhand von Bilingualismus, Diglossie, H- und L-Varietät sowie
heritage languages erklärt. Abschnitt 4.2 (152–162) eröffnet den diachronen Teil des Kapitels
und skizziert die Entwicklung „[v]om Vulgärlatein zu den heutigen romanischen Sprachen“
(152). Hierfür werden zunächst der Romanisierungsprozess sowie die vorrömischen Sprachen
und Völker vor dem Hintergrund der Substrathypothese vorgestellt. Es folgen Ausführungen
zum Varietätengefüge des Lateinischen sowie eine Übersicht über die Quellen des Vulgärlateins. Der Zerfall des Römischen Reiches, Superstrat- und Adstrateinflüsse sowie die Frage
nach dem Beginn der Volkssprachen komplettieren den Abschnitt. 4.3 (162–171) skizziert die
Ausdifferenzierung des Französischen, Italienischen und Spanischen in drei Teilabschnitten,
womit den unterschiedlichen Entwicklungen und ihren Ursachen Rechnung getragen wird. Das
Kapitel schließt mit Abschnitt 4.4 (172–176), in dem Sprachwandel unter Berücksichtigung
von Grammatikalisierungstheorie und generativer Annahmen thematisiert wird. Anhand von
Kreolsprachen und den wichtigsten Annahmen zu ihrer Entstehung wird Sprachwandel, der
durch Sprachkontakt bedingt ist, erläutert.
Das fünfte Kapitel (183–218) wiederholt das sprachliche Zeichen nach de Saussure, um dann
zunächst auf die Semiotik im Allgemeinen einzugehen. Bei der ausführlichen Unterscheidung
3
Das auf S. 115 genannte medianoche ist jedoch kein rechtsköpfiges Kompositum des Italienischen.
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99
zwischen Index, Ikon und Symbol wird das sprachliche Zeichen nur am Rande mit einbezogen
(183–188). Bedeutung und Referenz werden durch das semiotische Dreieck, Intension, Extension
(und Konnotation) erklärt, die Beziehung zwischen Sprache und Welt anhand der Farbadjektive
erläutert (188–192). In Abschnitt 5.2 (192–200) sprechen die Autorinnen die problematische
Wortdefinition an, beschränken sich jedoch darauf, mit Lexem einen neuen Begriff einzuführen
und diesen als „lexikalische Grundeinheit“ (192) zu definieren.4 Anschließend widmen sie sich
Wortfeldern sowie den semantischen Relationen. Unter 5.3 (200–206) werden die zwei für
ein Einführungswerk gängigsten Theorien, die strukturalistische Merkmalsanalyse sowie die
Prototypentheorie, vorgestellt. In Abschnitt 5.4 (206–215) wird die Semantik mit drei anderen
Teildisziplinen verknüpft. Die Verfasserinnen stellen die Verbindung zwischen Semantik und
Pragmatik her, indem sie neben Ausdrucks- und Äußerungsbedeutung auch die Inferenzen von
Äußerungen ansprechen. Die Syntax-Semantik-Schnittstelle wird in der Terminologie Tesnières,
d. h. mit der Wertigkeit von Verben, Aktanten und Zirkumstanten erläutert. Neben der hilfreichen
Unterscheidung zwischen Wertigkeit und Transitivität wird auch die Frage nach der Relevanz
des Subjekts für die Bestimmung von Verbklassen thematisiert. Des Weiteren präsentieren die
Autorinnen ein gängiges Inventar an semantischen Rollen sowie die Notwendigkeit, dieses
sprachlich zu motivieren. Abschließend widmen sie sich dem „Aufbau des Wortschatzes im
Erstspracherwerb“ (212) mono- und bilingualer Kinder.
Kapitel 6 (219–261) widmet sich primär der generativen Syntax. In Abschnitt 6.1 (219–224)
werden Universalien, die verschiedenen Adäquatheitsebenen von Grammatiktheorie sowie der
Unterschied zwischen Grammatikalität und Akzeptabilität erklärt. Abschnitt 6.2 (224–239)
stellt die verschiedenen syntaktischen Kategorien vor; die VP, AP und PP kurz, die NP bzw. DP
vergleichsweise ausführlich. Die Autorinnen erörtern hier die variable Stellung des Adjektivs
und die Frage nach seiner zugrunde liegenden Position innerhalb der NP. Dabei stellen sie eine
weitere Verbindung zur Spracherwerbsforschung her, indem sie Untersuchungen zur Adjektivstellung bei bilingualen Kindern präsentieren. Anhand der Determinanten wird schließlich
der Unterschied zwischen lexikalischen und funktionalen Kategorien eingeführt. Im letzten
Teilabschnitt von 6.2 zeigt eine Studie zu Selbstreparaturen bei Sprechfehlern das Bewusstsein,
das kindliche Sprecher über Phrasengrenzen haben. Außerdem wird erklärt, wie sich Phrasenstrukturregeln in Form von Baumdiagrammen und indizierter Klammerung darstellen lassen. Der
Abschnitt schließt mit der Relation der Dominanz, einer formalen Definition von Konstituenz
sowie Konstituenztests. Abschnitt 6.3 (239–242) führt in drei Unterpunkten überblicksartig die
funktionalen Kategorien D, T und C ein. Abschnitt 6.4 (242–246) unterscheidet Komplemente
von Adjunkten und erklärt Argumentstruktur sowie Subkategorisierungseigenschaften anhand
von Verben, Adjektiven und deverbalen Nominalisierungen. 6.5 (247–258), die „Struktur von
Sätzen“ (247), bildet den komplexesten Abschnitt zur Syntax. Den Einstieg bildet die Einführung
der vP anhand von Ditransitiv-, Kausativ- und Passivkonstruktionen. Die entsprechenden Bäume
sind an dieser Stelle nicht ohne Weiteres zu verstehen, da die Grundzüge des X-Bar-Schemas
(Spezifikatorposition, Zwischenebenen) noch nicht hinreichend geklärt sind. Die Verfasserinnen
zeigen den strukturellen Unterschied zwischen direkten und indirekten Objekten und erläutern
die Position des Subjekts in der vP. Es folgen Ausführungen zur Struktur der TP sowie den
Zwischenebenen, die nun mit einigen Substitutionstests geklärt werden. Die Begründung für
die Position des Subjekts in der vP wird anschließend wieder aufgegriffen und durch floating
4
Bislang haben wir intuitiv mit dem ‚Wort‘ gearbeitet. Wir wissen jedoch – auch aus der Morphologie (vgl. Kapitel 3) – dass das Wort sprachwissenschaftlich eine problematische Einheit ist. In der
Semantik und der Lexikologie hat man daher den Terminus ‚Wort‘ durch Lexem bzw. Lexie ersetzt“
(192).
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quantifiers und ditransitive Verben präzisiert, bevor es zum Abschluss des Kapitels um die
Struktur der CP geht.
Kapitel 7 zur Pragmatik (262–283) führt anhand von Beispielen aus den drei romanischen
Sprachen in die situativen Deixisarten Personal-, Temporal- und Lokaldeixis sowie die anaphorische Referenz ein (264–268). In Abschnitt 7.2 (268–270) wird der Leser mit der konversationellen Implikatur vertraut gemacht, bevor in 7.3 (270–273) Präsuppositionen angesprochen
werden. Abschnitt 7.4 (273 f.) führt überblicksartig in die Sprechakttheorie nach Austin und
Searle ein. Vergleichsweise viel Raum wird in Abschnitt 7.5 (274–281) der Schnittstelle von
Syntax und Pragmatik eingeräumt. Anhand der Dislokation in den drei romanischen Sprachen
sowie der Null-Subjekt-Eigenschaft des Italienischen und Spanischen zeigen die Autorinnen
auf, wie syntaktische Strukturen von pragmatischen Faktoren gesteuert werden können.
Kapitel 8 (284–299) illustriert Verknüpfungsmöglichkeiten von Sprach- und Literaturwissenschaft. Abschnitt 8.1 (284–287) informiert u. a. über Poetik und Rhetorik einschließlich der
Grundformen rhetorischer Figuren. Abschnitt 8.2 (288–296) erklärt Konzepte und Grundbegriffe an der Schnittstelle von Sprach- und Literaturwissenschaft, wie Hermeneutik, Stil oder
die Funktionen von Sprache nach Jakobson. Des Weiteren werden z. B. mit Textlinguistik und
Translatologie Disziplinen vorgestellt, die Sprach- und Literaturwissenschaft gleichermaßen
tangieren. Die Autorinnen veranschaulichen anhand konkreter Beispiele, wie linguistische
Kenntnisse für die literaturwissenschaftliche Analyse nutzbar gemacht werden können. So wird
etwa anhand eines spanischen Romans aufgezeigt, inwiefern Varietätenlinguistik, Wortbildung
oder Pragmatik relevant sind, um die Sprache einer Figur und damit auch die Figur selbst zu
analysieren.
Als Besonderheit dieses Buches kann Kapitel 9 (300–324) angesehen werden, das dem
Studienanfänger durch zahlreiche screenshots anschauliche Hilfestellung für das Beschaffen
relevanter Fachliteratur bietet. Die exemplarische Darstellung einer Zitier- und Bibliografierweise rundet das Kapitel zu den Arbeitstechniken in der Linguistik ab.
Insgesamt bietet das Lehrwerk eine ausführliche und moderne Einführung in die romanische
Sprachwissenschaft. Als besonderes Merkmal, das es von anderen Einführungen unterscheidet,
kann der häufige Bezug auf Studien aus der (Wuppertaler) Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung hervorgehoben werden. Das Buch ist unterhaltsam und abwechslungsreich geschrieben, was jedoch stellenweise zulasten der Übersichtlichkeit geht. Generell könnte durch
ein Verzeichnis für Abkürzungen und bestimmte Notationen Verständnisproblemen vorgebeugt
werden.
Berlin
Barbara HENTSCHEL / Felicia LEMBECK
Aonghas ST-HILAIRE, Kwéyòl in Postcolonial Saint Lucia. Globalization, language planning,
and national development (Creole Language Library, 40), Amsterdam/Philadelphia: John
Benjamins, 2011, XV + 316 pp.
This book, which is divided into twelve chapters, aims to provide a sociolinguistic evaluation of the potential of the French based Creole (Kwéyòl) spoken on Saint Lucia to become a
long-term “tool for the economic, social, and cultural development of the island” (p. 2) and a
symbol of national identity. The author intends to show the interaction between globalization,
postcolonial national development and concrete language planning measures for a historically
devaluated Creole language and their effects on its status and use in local and national contexts.
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To this end, he provides a comprehensive description of the language planning activities undertaken for Kwéyòl, especially since 1979 when the island achieved full independence from
Great Britain. Furthermore, the author conducted field research on the status of and the attitudes
towards Kwéyòl (cf. p. XIV) and draws comparisons to other postcolonial territories worldwide.
As in many postcolonial Creole-speaking areas, Saint Lucia’s Creole faces the effects of globalization – one of which being that the former colonizers’ language(s) is/are favoured over the
local language(s). For this reason, the study takes into account the legacy of French and English
colonialism and the importance of wider cultural, linguistic, economic and political contexts
across the Caribbean, such as in the Francophonie and the Commonwealth.
In chapter 1 (“Introduction”), the author gives general information on Saint Lucia and other
Caribbean territories and presents concepts relevant for his work. In section 1.4 on theoretical
concepts of language planning, he offers a brief overview of corpus, status and acquisition
planning, language planning from above and from below, and on language planning as a part
of nation-building and as a means of preserving linguistic diversity. The author writes about
barriers and limits of language planning especially in relation to postcolonial situations in section 1.5. In section 1.6 entitled “The unique status of Creole languages”, he presents interesting
remarks on the difficulties of promoting Creoleness and Creole languages in a community where
cultural and national identity is not always clearly defined. This topic could have been further
pursued, for instance by mentioning the discrepancies between the claims for (e. g. orthographic)
standardization and national recognition and the actual speakers’ will and (often lacking) perceived need to write their language in everyday life.1 Moreover, it would have been interesting
had the author provided a systematic sociolinguistic categorization of different postcolonial
Creolophone contexts; these are described very generally as “skewed societal bilingualism” or
“linguistic dualism” (p. 30). It could have been fruitful to discuss critically classical linguistic
concepts such as diglossia adopted e. g. in Devonish (2008) or Reutner (2005) to (post)colonial,
conflictive linguistic situations. The author could also have stressed the distinction between
situations in which a lexical relationship exists between Creole and the coexisting European
language (e. g. between Creole and French in the French Antilles) and the less frequent situation
in which this lexical relationship is lacking (e. g. between Kwéyòl and English on Saint Lucia).
This distinction is of relevance given that, depending on the type of linguistic situation at hand,
different language planning measures are necessary, especially in relation to educational issues.2
Taken as a whole, unless the author chooses a sociolinguistic and postcolonial approach to
his study, the theoretical part of the introductory chapter remains rather short and unsystematic,
providing (particularly in section 1.5 “National development”) list-like examples for language planning activities from all over the world instead of a concise theoretical sociolinguistic
framework and a presentation of linguistic analytical tools.3
In chapter 2 (“Colonial background”), the author commences with a historical overview of
the beginnings of European colonialism in the Caribbean in the 16th century, continues with the
1
2
3
Cf. e. g. Ursula Reutner, Sprache und Identität einer postkolonialen Gesellschaft im Zeitalter der
Globalisierung, Hamburg: Buske, 2005, p. 318, and Hubert Devonish, “Language Planning in Pidgins
and Creoles”, in: The Handbook of Pidgin and Creole Studies, ed. by S. Kouwenberg and J. V. Singler,
Malden/Oxford: Blackwell, 2008, p. 619 and also p. 627 and p. 634 for the desired recognition of a
Creole as national language and the frequent denial to use it as an official language.
Cf. Dennis Craig, “Pidgins/Creoles and Education”, in: The Handbook of Pidgin and Creole Studies,
ed. by S. Kouwenberg and J. V. Singler, Malden/Oxford: Blackwell, 2008, p. 593.
As given, for example, in Susanne Mühleisen, Creole discourse. Exploring prestige formation and
change across Caribbean English-lexicon Creoles, Amsterdam: Benjamins, 2002, on language status,
function, attitudes and prestige.
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subsequent French and British colonialism on Saint Lucia and ends with the pre-independence
era in the 1970s when English begins to spread on the previously Creole-dominated island. From
a linguistic and Creolistic point of view, this chapter contains various problematic sections –
for example, in sections 2.1.1 and 2.1.3 on the African linguistic influence the author rarely
differentiates between the various French colonial territories in America in relation to the role
played by African slavery in the formation of Creole; furthermore, he does not talk about the
specific socio-historical conditions necessary for this process.
Chapter 3 focuses on “Kwéyòl cultural nationalism”. After providing some remarks on global trends of (linguistic) decolonization in Asia, Africa and the Caribbean in order to overcome
inherited postcolonial dependencies, the author identifies the pre-independence years 1969–71
as the turning point in the cultural history of Saint Lucia when pro-Kwéyòl activities marked
the beginning of the burgeoning cultural nationalist movement. He then relates in detail the
initiatives instigated by the Folk Research Center established in 1973, e. g. the festivities and
cultural events that started with the introduction of an annual Jounen Kwéyòl in 1983, which
then became a national holiday and, in 2004, the Creole Heritage Month.
Chapter 4 adopts a more global perspective on the role of English for Saint Lucia as an increasingly Anglophone country integrated via official and cultural ties into an English-speaking
world. This concerns especially Saint Lucia’s capital Castries as the economic and political
center of the island where the English-speaking upper class traditionally lives. The very detailed
chapter contains some repetitive passages, such as information on the British/English influence
on Saint Lucia which was already mentioned in preceding chapters.
Chapter 5 (“The Francophonie and Créolophonie”) provides a description of the Francophonie and the French based Créolophonie and their cooperation with Saint Lucia, an aspect
that could be particularly interesting for French linguists and Creolists. The chapter contains
good reflections on the symbolic role of language for Creole cultural nationalism in the French
départements d’outre-mer (DOMs) in the 1980s, a point that, according to the author, was less
important in independent nations more concerned with their socioeconomic development (p. 113).
Unfortunately, French Guiana is ignored (see p. 105, the same occurs in other chapters, cf. for
example p. 271) or subsumed under Antillean “island life” (p. 107); the most recent publications
the author cites for this DOM are Chalifoux (1989) and Mam Lam Fouck (1989), although the
particular (socio)linguistic situation (very distinct for Martinique and Guadeloupe) has changed
since then.4 As regards France’s language planning, the author is certainly generally right in
claiming an “[i]nternally [… ] maintained [… ] official position of non-acknowledgement of the
French Creoles” (p. 117) but he does not consider the recognition of the French based Creoles
as langues de France by the DGLFLF in 2001 and the subsequent creation of a CAPES créole
and other more recent educational programs.5 Some topics such as the unifying role of French
Creole music (section 5.4.4) or Jounen Kwéyòl festivities (section 5.5.3) could also have been
placed in other chapters as they appear repeatedly in the book.
As with chapter 3, chapter 6 “Government and democracy” starts with an overview of postcolonial trends in Asia, Africa and the Caribbean and then focuses on the impact of the Saint
Lucian governments (of differing political orientation) on linguistic and cultural pro-Kwéyòl
activities since national independence. In the present society, the author states that there is
4
5
Cf., for example, Isabelle Léglise and Bettina Migge, Pratiques et représentations linguistiques en
Guyane: regards croisés, Paris: IRD Éditions, 2007a.
Cf. DGLFLF, “Les langues de France: un patrimoine méconnu, une réalité vivante”, in: Délégation
générale à la langue française et aux langues de France, <http://www.dglf.culture.gouv.fr/>, date of
access: 08/01/2012; Robert Chaudenson (ed.), CAPES créole(s): le débat (Études créoles. Culture,
langue, société, XXIV/1), Paris: L’Harmattan, 2001, and Devonish 2008, pp. 631 f.
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growing public approval and latent popular support for future government sponsorship of
Kwéyòl-friendly language planning. Nevertheless, some of the information has already been
mentioned (cf. section 1.5.2) or could have been integrated into chapters 7 and 8 (e. g. section
6.3.3). In sections 6.5 to 6.7, the author investigates the Saint Lucians’ attitudes towards the
possibility of governmental use of Kwéyòl, full societal bilingualism and the perceived link
between language planning and development, nation-building and democracy. These sections
are based on narrative statements collected during the author’s field work.
Chapter 7 is dedicated to “Literacy, the schools, and higher education”. The author firstly
provides an overview of this aspect of language planning in Asia, Africa and the Caribbean.
Whereas the relevance of the evoked worldwide language planning activities for the comparison
with Saint Lucia is not always clear, the role of Creole in public education in the French DOMs
(see section 7.1.3) could have been more thoroughly investigated to provide a comparison with
the independent state of Saint Lucia. In this chapter, once again, the lack of sociolinguistic theory is evident when the author presents the role of French Creole in the Saint Lucian education
system (compare for example Craig 2008, pp. 602 f., for the educational goals in Creolophone
communities and pp. 600 ff. for a critical analysis of different options in educational language
policy for Creole languages and of sociolinguistic factors determining their success). The author
mentions several times the difficulty of creating a standard variety encountered typically with
vernaculars (pp. 143, 153 f., 177) but does not develop this observation further, e. g. by evaluating
the varying relevance of different written materials in Kwéyòl for the standardization process.
Chapter 8 deals with an aspect of less or non-guided language planning, namely “The mass
media”. The structure is the same as in chapter 6 and 7: an overview of postcolonial trends
worldwide is followed by the discussion of the role of Saint Lucian French Creole in the printed
media, in television and especially on the radio where the expansion of Kwéyòl programs could
reinforce the status of Creole as a medium of wider communication. The chapter concludes
with two pages (section 8.7) which present the attitudes of interviewed Saint Lucians toward
the use of Kwéyòl on the radio.
In chapter 9 entitled “The changing status of Kwéyòl”, the author finally discusses in more
detail the results of his attitudinal field research taking into account some social factors concerning the general population and pro-Kwéyòl cultural activists. According to the author, the
interviews reflect the social elevation of Kwéyòl since independence as well as a certain success of the promotion efforts for Kwéyòl. The somewhat short section 9.2 deals with the actual
language knowledge, intergenerational transmission and (oral) language use in families in their
daily lives on Saint Lucia, an aspect that could have been broadened as it is not irrelevant for
language persistence and (above all, educational) language planning activities (cf. especially
pp. 197, 205 and p. 217 of chapter 10).
Chapter 10, “The enduring attraction and assimilative power of English”, returns to some
of the topics already dealt with in chapter 4, but focuses more on speakers’ attitudes towards
Creole, English and sociolinguistic change (sections 10.1, 10.4 and 10.5). In section 10.3, the
author sketches briefly the competing situation between Creole, VESL (Vernacular English of
Saint Lucia) and Standard English on Saint Lucia.
Chapter 11, bearing the title “The role of French in the nation”, is linked to chapter 5 as it
adds the Saint Lucians’ perspective on the role of French on the island. In sections 11.3 to 11.5,
the author discusses attitudes towards cultural and pan-Creole cooperative projects, the French
language and the perceived cultural similarities with Martinique, Barbados, Haiti, Jamaica,
France and England.
In chapter 12, the author presents “Conclusions and language planning implications” for
Kwéyòl on Saint Lucia. He states above all that currently, in spite of
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tacit support for the goals of the pro-Kwéyòl cultural nationalist movement in terms of
instilling public respect for Kwéyòl as a national language, ardent proponents of Kwéyòl
– those willing to actively advocate for concrete changes in language policy and practice
in the nation’s institutions – are small in number and enjoy only limited influence in the
national political decision-making process. (p. 252)
Moreover, the author identifies two major aims of pro-Kwéyòl language planning. Firstly, it is
taken as a symbol for the search for national identity and democratization (a point stressed by
the intellectual pro-Kwéyòl activists) and secondly, more pragmatically, as a means to ensure
the communication with and the participation in public life of older and rural residents who
have limited proficiency in the English language. These aims also reflect the duality between
the English-dominant capital Castries and the still Creole-dominant rural districts (cf. pp. 252 f.
and also p. 189 of chapter 8). At the same time, the author states that active Creole promoters
come, above all, from English-dominant environments in Castries, where positive attitudes towards Kwéyòl have mainly gained ground since national independence (p. 253). Nevertheless,
the increasing cultural integration into the English-speaking world and persisting unfavourable
attitudes towards the Creole language would have a negative impact on its use and transmission.
The author is certainly right to conclude that “Kwéyòl […] and Creole culture have become
increasingly folklorized in postcolonial Saint Lucia, instead of dynamic, modern, and central
elements of contemporary island cultural life” (p. 255).
In section 12.4, the author intends to give concrete implications for future Saint Lucian
language planning favouring pan-Creole activities. For instance, he proposes that
Creole promoting institutions on the French West Indian islands, in particular, are well
placed to draw on the French language to create French Creole neologisms that Saint
Lucians language planners could borrow, as needed, to give renewed vigor to the increasingly Anglicized Kwéyòl. (p. 271, our underlining)
Thereby, the author seems to disregard the close lexical relationship between French based Creole and coexisting French in the DOMs that led French Antillean language planners, together
with other factors such as the strong identity discourse, at least originally to create a standard
variety as much distant from the acrolect French as possible and to avoid a reshaping of the
Creole language by uncontrolled borrowing from French.6 An “active official support of the
acquisition and generalized use of French” (p. 282) is proposed quite uncritically (cf. pp. 281 f.)
– this measure could easily be judged by pro-Creole activists as the creation of a new rival for
Kwéyòl in addition to English.
Furthermore, the introduction of Kwéyòl in Saint Lucian schools is judged “a potential boon
for the future development of the language” (p. 274), which is very optimistic considering that
results from the DOMs do not categorically prove this (cf. Reutner 2005). As is the case with
festivals, music and tourism, highlighted as positive signs for Creole persistence by the author
(cf. p. 277), teaching of Creole languages without intergenerational transmission and regular
use in everyday communication can equally contribute to the fossilization and folklorization
of the language (cf. for instance Reutner 2005 and Craig 2008).
Overall, the book provides a detailed data compilation on directed and less planned standardization efforts for Kwéyòl on Saint Lucia from the pre-independence period up to today and
some information on the perceptions of sociolinguistic change and actual language use based
on field research. This kind of work is particularly welcome in view of the relative scarcity of
6
Cf. Raphaël Confiant, “Construire le créole écrit…”, in: Dictionnaire des néologismes créoles, vol. 1,
ed. by ibid., Petit-Bourg, Guadeloupe: Ibis Rouge, 2001, pp. 9–29.
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sociolinguistic studies on the attitude of Creole speakers towards their language and in the more
applied linguistic field of language education and language planning for Creole languages.7
Nevertheless, one of the problems with this book is its overall layout and structure. The
information is presented in twelve sometimes lengthy and repetitive chapters containing numerous extremely short and only loosely connected subsections. These could have been compiled
in more coherent units permitting a smoother reading of the book. The study is based on vast
reading and provides a large bibliography on the subject. However, the sources are not always
up to date and the author does not always indicate his sources in the text consistently (cf. p. 31
or p. 253).
Lamentably, the results coming from the author’s own field work material fill only a small
part of the book and are interspersed over several chapters (chapters 3, 6–11). In order to provide
a more in-depth analysis, the author could have e. g. evaluated more systematically the correlations between the answers and the sociolinguistic parameters concerning his interviewees.
He fails to mention the general limitations of this kind of qualitative small scale investigation
(cf. pp. 164 f., 204–207 and chapter 9; compare e. g. Fleischmann 2008, pp. 87 f. and p. 104 or
Reutner 2005, chapter 4).
The main problem with the data on Saint Lucia provided in this book is the lack of theoretical
foundation and application of established sociolinguistic analytical methods which would have
greatly contributed not only to the analysis of the field material but also to the systematization
of the facts presented. For instance, chapters 3 and 5–8 start with mostly cursory information
on postcolonial tendencies in language planning in territories all over the world, including the
situation of Gaelic and Welsh in Scotland and Wales – this case constitutes internal colonialism
and is very different to postcolonial Creolophone contexts. Other comparisons, such as VESL to
Jopará in Paraguay (pp. 273 f.) or Kwéyòl to French in Québec (pp. 275 f.), are not convincing as
the languages differ in “socioeconomic environment, language status, and home support” (Craig
2008, p. 605). The comparative perspective is certainly indispensable for finding out more about
general interaction between globalization, language planning and national development. More
enlightening than the examples for language planning for a dominated language from extremely
different contexts could have been a systematized comparison of Saint Lucia in particular with
other Caribbean territories, all the more considering that the book claims to be interested in the
‘unique’ situation of Creole languages in language planning processes (cf. for example Devonish
2008, pp. 621 ff., who distinguishes the ‘anglophone approach’ in the English-lexicon-Creole
speaking Caribbean and the ‘francophone approach’ in the French overseas territories).
In this vein, a lot of findings for Saint Lucia could have been classified and explained in a
more general perspective in postcolonial Creole contexts. For instance, the specific motivations
for language planning for Creole languages such as the search for an own cultural identity and
the wish for nation-forming and democratization (pp. 208, 227 f., 251) or the contrasts between
cultural nationalism as an intellectual movement and the more pro-English attitudes of the rural
population can be found in other Creolophone territories and are obviously due to diglossic
conditions and “the consequent identity-marking roles and cultural values” (Devonish 2008,
p. 619, see also ibid. p. 621). Furthermore, the perceived ‘sinking’ quality of the Creole language
(p. 203) that accompanies its extension into new functional domains is certainly due to the (re-)
7
Cf. Isabelle Léglise and Bettina Migge, “Language and colonialism. Applied linguistics in the context
of creole communities”, in: Handbook of Language and Communication: Diversity and Change, ed.
by M. Hellinger and A. Pauwels, Berlin/New York: Mouton de Gruyter, 2007b, p. 324, and Christina
T. Fleischmann, Pour mwan mon lalang maternel i al avek mwan partou: a sociolinguistic study on
attitudes towards Seychellois Creole, Bern: Lang, 2008, pp. 50–54.
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appropriation of Kwéyòl by dominant English-speaking Saint Lucians such as radio presenters
and journalists using a less basilectal, Anglicized Creole (see Confiant 2001, pp. 17 f., for the
same phenomenon between Creole and French in the media on the French Antilles). At the same
time, a certain amount of abstraction is always necessary in order to create a new standard variety and it is not uncommon that the speech community perceives this variety as ‘unauthentic’.
In a general way, the book could have been more critical with regard to the possible effects of
planned language standardization, above all coming from a non-Creole speaking (or bilingual)
middle class. In the end, the success of such activities and the acceptance of a new standard
depend more on “language attitudes and real linguistic needs […] than […] [on] human and
financial resources” (Léglise/Migge 2007b, p. 324). To sum up, although the book provides
detailed information on language planning on Saint Lucia, the findings are not surprising in
postcolonial Creolophone contexts. Given the lack of theoretical analysis and systematization,
the study hardly provides really new insights on the subject. It does not fulfill its potential
for postcolonial studies and sociolinguistic standardization and language planning theories
to develop a more concise approach to the problems encountered by language planning in an
independent postcolonial Creole-speaking state in the wider context of national development
and globalization.
Regensburg/Aix-en-Provence
Evelyn WIESINGER
Tania WOLOSHYN/Nicholas HEWITT (Hgg.), ‚L’Invention du Midi‘: The Rise of the South of
France in the National and International Imagination (Nottingham French Studies, 50/1),
Nottingham: University of Nottingham, 2011, 119 S.
Prozesse der kulturellen Selbst- und Fremdwahrnehmung erfahren in den Kulturwissenschaften seit mehreren Jahrzehnten ein anhaltendes Interesse. Während im Fokus der romanistischen
oder anglistisch-amerikanistischen Auseinandersetzungen derzeit besonders Alteritätskonstruktionen in postkolonialer Perspektive stehen, bilden imagologische Fragestellungen, die Stereotype
in vorrangig nationaler bzw. internationaler Dimension untersuchen, eher einen klassischen
Forschungsgegenstand der Komparatistik.
Der von den Kunst- und Kulturwissenschaftlern Tania Woloshyn und Nicholas Hewitt herausgegebene Band zur ‚Erfindung des Südens‘ bewegt sich genau an der Schnittstelle dieser
beiden Bereiche. Er setzt, was den behandelten nationalen und geographischen Raum angeht,
einen sehr engen Fokus: Sein Ziel ist es, in interdisziplinärer Perspektive zu rekonstruieren,
welche Rolle der Midi innerhalb des Selbstverständnisses der französischen Nation spielt, welche
Elemente diesen Kulturraum kennzeichnen und wie seine Grenzen bestimmt werden. Um dies
zu leisten, wird eine dezidiert kulturwissenschaftliche Perspektive eingenommen.
Eine internationale Dimension, wie sie im Titel angekündigt wird, erlangt dieser Sammelband allerdings nur durch einen Beitrag über das Côte d’Azur-Bild im Hollywoodfilm (Cristina
Johnston). Zwar weisen auch die Aufsätze zur (Selbst-)Darstellung des französischen Südens
in touristischen Zusammenhängen oder die Geschichte der weitreichenden Vernetzung der
Cahiers du Sud (Nicholas Hewitt) mitunter eine internationale Perspektive auf; jedoch nur in
sehr mittelbarer Weise. In erster Linie stehen rein französische Untersuchungsgegenstände im
Zentrum: etwa touristische Marketingstrategien (Anne Dymond), die Félibrige-Vereinigung und
ihr Engagement für das Théâtre Antique d’Orange (Jessica Warhaugh) und weitere regionale
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Aktivitäten zum Erhalt des kulturellen Erbes in der Provence (Laurent Sébastien Fournier), das
Midi-Bild des Malers Edmond Cross (Tania Woloshyn), der Provencialismus des Schriftstellers
Charles Maurras (Brian Sudlow), das historische und kulturelle Selbstverständnis der ‚Ausnahmestadt‘ Marseille (Sophie Biass und Jean-Luc Fabiani) oder der Blick der französischen
Basken auf den Midi und seine Grenzen (John K. Walton).
Mit den genannten Beiträgern widmen sich zehn für die Problemstellung des Bandes ausgesprochen ausgewiesene, in Großbritannien, Kanada oder Frankreich tätige ‚Midi-Spezialisten‘
aus den Bereichen Anthropologie, Soziologie, Literatur- und Filmwissenschaft, Geschichte,
Politik und Kulturwissenschaft der Frage, wie der Süden Frankreichs repräsentiert wird. Wodurch
erlangt dieser Kulturraum eine imaginäre Entität und welche ästhetischen, geographischen oder
politischen Konzepte liegen solchen Konstruktionen zugrunde?
Dieser Blickwinkel, der sich auf den historischen Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert bis
heute konzentriert, hat den Vorteil, dass auf diese Weise die unscharfen Grenzen und vielfältigen
Überlappungen des untersuchten Raumes selbst herausgearbeitet und problematisiert werden
können. Denn im Gegensatz zur Region der Provence oder der Côte d’Azur – Räume, die sich
im Inneren der Nation geographisch relativ genau bestimmen lassen –, sind die räumlichen
Grenzen des Midi Gegenstand vorrangig imaginärer und symbolischer Repräsentationen. Seine offensichtlichen Überschneidungen mit dem Mittelmeerraum insgesamt, der Norden und
Süden, Orient und Okzident miteinander verbindet, lassen seine Konturen verschwimmen und
fordern immer wieder zu neuen Definitionen heraus: „Côte d’Azur, the Riviera, the South, the
Mediterranean, Provence – the Midi is all and none of these“ (S. 5).
Ein grundsätzliches Problem, das der Band bearbeiten will, ist also die mangelnde Präzision
des Begriffs Midi. Handelt es sich um ein nationales Konzept? Wie wird hierdurch ein französisches Nationalbewusstsein gestärkt oder womöglich überhaupt erst konstituiert? Anhand
welcher Oppositionen werden die Grenzen definiert? Steht der Midi im Gegensatz zu anderen
südlichen Regionen? Oder entsteht er erst in Abgrenzung zum Norden? Mit welchen Wertungen
und Vorstellungswelten gehen solche Definitionsbemühungen einher?
Solche Bestimmungsversuche ergeben kein einheitliches Bild, sondern sind in ganz unterschiedlichem Maße abhängig von den kulturellen, ökonomischen und historisch-politischen
Kontexten, in denen die einzelnen Untersuchungsobjekte zu verorten sind. Denn die vielfältigen und oftmals widersprüchlichen Imaginationen des französischen Südens setzen sich aus
zahlreichen sprachlichen, visuellen, filmischen oder musikalischen Facetten zusammen, die
freilich in touristischen Werbezusammenhängen eine andere Bedeutungsdimension entfalten als
beispielsweise im Marseiller Rap, in den politischen Schriften eines Charles Maurras oder in
den komplexen Kulturreflexionen der Dichter, die ihre Texte in Les Cahiers du Sud publizieren.
Hier zeigen sich die Potenziale und Grenzen eines Ansatzes, der programmatisch den cultural
studies verpflichtet ist. Der Band nimmt zahlreiche Gegenstände in den Blick, die bislang nur
selten Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen wurden, jedoch für die Vorstellungen des Midi
und seine kulturellen Repräsentationen im historischen Wandel von entscheidender Bedeutung
sind. Es wird allerdings kein kategorischer Unterschied gemacht, ob es sich um künstlerischästhetische Auseinandersetzungen oder aber um eine touristische Werbekampagne handelt.
Tourismus-Poster der Dritten Republik, Dokumente der südfranzösischen Eisenbahnkompagnie
CCFSF, essayistische Texte von Schriftstellern, Hollywood-Filme: Sämtliche visuellen und
textuellen Ausdrucksformen werden auf derselben Ebene behandelt.
Die zentralen Argumentationslinien, die sich so durch diesen Sammelband der Nottingham
French Studies ziehen, konstruieren den Midi erstens als einen in Relation zum Norden Frankreichs relativ einheitlichen Gegenraum, der sich kontinuierlich der zentralistischen Macht zu
entziehen versucht. Zweitens erscheint er als Kulturraum, der antikes Erbe und ein modernes
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französisches Nationalverständnis synthetisiert. Drittens haben wir es mit einem Kreuzungspunkt
unterschiedlicher Kulturen zu tun; mit einer kulturellen Transitregion, die durch bestimmte geographische, botanische und klimatische Besonderheiten zusammengehalten wird. Und schließlich
wird der Midi imaginiert als touristischer Sehnsuchtsort, der durch regionale Traditionen und
eine spezifisch mediterrane Lebensweise charakterisiert ist.
Derartige Rekonstruktionsversuche sind allerdings keine, die der vorliegende Band selbst
liefert. Der Leser muss sich das Bild des Midi anhand einer vergleichenden Reflexion der Einzelergebnisse sämtlicher Beiträge zusammensetzen. Der Sammelband bleibt vorrangig auf die
Untersuchungsgegenstände selbst konzentriert, die sich nicht immer ganz leicht zueinander
in Beziehung setzen lassen. Um größere Systematisierungen vornehmen zu können, hätte es
vielleicht eines gemeinsamen theoretischen Rahmens oder einer expliziteren methodologischen
Reflexion bedurft. Freilich tut es dafür nicht Not, dass sich die Beiträger auf einen bestimmten
kulturtheoretischen Ansatz einigen. Allein überhaupt die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen theoretischen Entwürfen zum Mittelmeerraum, die in eben dem behandelten Zeitrahmen
entstehen und umfassend rezipiert werden, böte schon eine Abstraktionsebene, auf der sich
wichtige Ergebnisse synthetisierend zu Tage fördern ließen: Man denke etwa an so wichtige
‚Denker des Südens‘ wie Braudel, Camus, Cassano, Matjevevic, Audisio oder Brauquier, von
denen in diesem Themenheft nur die beiden letzten ganz kurz genannt werden. Einen Ansatzpunkt für eine solche kulturtheoretische Perspektivierung des Problems liefert der Beitrag zur
Rekonstruktion der Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Cahiers du Sud. Denn anhand
der Position ihres Gründers Jean Ballard zeigt sich: Zur ‚Midi-Identität‘ gehört die Gleichzeitigkeit von historischer Tiefe und politischer Aktualität, und hier insbesondere die Tatsache, dass
die unterschiedlichsten Kulturen – die islamische, die jüdische, die berberische, die antike, die
christliche – in einem „concept of humanism“ zusammenlaufen, welches sich gegen Mussolinis
mare nostrum wendet und explizit auf die deutschsprachige und englische Kultur hin orientiert
ist (vgl. S. 102 f.).
Einige solcher theoretischen oder faktenübergreifenden Dimensionen eröffnet die vielversprechende Einleitung selbst: Hier wird beispielsweise vorgeschlagen, den Midi im Rahmen
eines an Saids Orientalism angelehnten ‚Mediterraneism‘ zu verstehen (vgl. S. 3) – auch wenn
ein derartiger Theoriekontext in den Beiträgen selbst nicht wieder aufscheint. Angesichts einer
solchen Denkbewegung, die kulturelle Identität vorrangig als Prozess der Alteritätskonstruktion versteht, mag es erstaunen, dass der postkoloniale frankophone Raum, insbesondere der
Maghreb, in dem vorliegenden Band – von der Situation der beurs in Marseille einmal abgesehen – eine gänzlich marginale Rolle spielt. Gerade im Kontrast zu den vielfach hochgradig
stereotypen Bildern des Midi im Hollywood-Kino, die sich vorrangig auf „Playboys, Thieves
and Racing Cars“ konzentrieren (S. 72), hätten die zahlreichen maghrebinischen Filme, die den
Süden Frankreichs aus einer ganz anderen Perspektive in den Blick nehmen, der Thematik des
Bandes eine wichtige Dimension hinzufügen können. Auch eine mythologische Perspektive
wird eingangs, z. B. mit dem Verweis auf Arkadien, eröffnet (vgl. S. 5) und bietet vielfältige
Anknüpfungsmöglichkeiten für kulturelle Erfindungen des „Rise of the South“. Sie wird jedoch
lediglich im letzten Beitrag über das Verhältnis des Baskenlands zum Midi, hier allerdings,
wenn auch nicht explizit, so doch in ausgesprochen fruchtbarer Weise, wieder aufgenommen.
Der Band liefert insgesamt also zahlreiche einzelne Antworten auf die Frage, wie der Midi
seit dem 19. Jahrhundert anhand von politischen, künstlerischen und touristischen Repräsentationen Teil der imaginary map der französischen Nation werden konnte: Es handelt sich um „a
complex intermingling of factors deriving from the commercial concerns of tourism, transport,
resorts and health, and the artistic representation of the South by artists, writers, and film-makers“
(S. 6). In den hier versammelten Beiträgen überwiegen die Imaginationen des Südens in popu-
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lären Medien und eine folkloristische Perspektive, die nicht zuletzt in den vielfältigen Formen
der Vermarktung und touristischen Erschließung ihren Niederschlag finden. Die „changing
boundaries – both real and imagined“ (S. 1) werden erklärtermaßen zum zentralen Gegenstand
der Untersuchung erhoben. Dass es sich bei den Grenzen des Midi immer auch um imaginierte,
d. h. symbolische Grenzen handelt, muss allerdings angesichts der ökonomisch-geographischen
Perspektive, die einen großen Teil der versammelten Beiträge durchzieht, etwas in den Hintergrund geraten. Aufgrund der hier erfolgten Material-Auswahl, anhand derer die Erfindung des
Südens rekonstruiert wird, haben wir es in dem vorliegenden Band notgedrungenermaßen immer
auch mit einer gewissen Verflachung des Midi als diskursives und kulturelles Konzept zu tun.
Saarbrücken
Christiane SOLTE-GRESSER
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