<xref ref-type="transliteration" rid="trans1" ptype="t930570" citart

Transcrição

<xref ref-type="transliteration" rid="trans1" ptype="t930570" citart
ZellulaireVerbandsstrukturen
Die Tropen von J. M. Hauer als individuelles Erkennungsmerkmal
von Zw6lftonreihen und ihrem Potential
von
KLAUS LAGALY
Vielleichtist aber gerade der gegenwArtigeZeitpunkt
fiur den Versuch einer naheren Auseinandersetzung
mit Hauers Werk und Theorie auBlerordentlich
giinstig, weil die Beobachtungenund Erfahrungen,die an
der jiingsten Entwicklungder neuen Musik gesammelt werdenkonnten,auchdem SchaffenHauersneue
Aspekte und Perspektivenabzugewinnenverm6gen.
(Walter Szmolyan')
Die heute gingigen Begriffe ,,Zwolftonmusik", ,,Zw6lftontechnik", oder
,,Zwolftonreihe"werden zumeist mit dem Namen Arnold Sch6nberg in Verbindung gebracht, ohne daB3darauf hingewiesen wird, daB3auch sein Landsmann
Josef Matthias Hauer ,,unabhangig von Sch6nberg und noch vor ihm eine
Methode der Komposition mit dem Total der zw6lf Halbt6ne der temperierten
chromatischen Skala gefunden und entwickelt hat, die sich wesentlich von der
Sch6nbergs unterscheidet"2. Wiihrend Sch6nbergs ,,Methode der Komposition
mit zw6lf nur aufeinander bezogenen T6nen" weltweit Verbreitung und Geltung erlangte, ist Hauers Verfahren weitgehend unbekannt geblieben3. Dies
mag (wie Szmolyan bemerkt) damit zusammenhangen, daf3Hauer keine Schtiler vom Range eines Anton Webern oder Alban Berg vorzuweisen hatte, die auf
seiner Lehre aufbauten und sie weiterentwickelten. Zwar hatte auch er Schiuler
bzw. ,Jiinger", die aber meist anderen Fachrichtungen angehorten.
1 W. Szmolyan,J. M. Hauer, in: OsterreichischeKomponistendes 20. Jahrhunderts,Band
6, 1965, S. 11. Szmolyanschrieb diese Zeilen vor 25 Jahren;aber auch heute haben sie noch
nichts an AktualitAteingebti3t,ganzim Gegenteil:die inzwischenverflosseneZeit (undmit ihr
die kulturelleEntwicklung)hat diesbeztiglicheBeobachtungenund Erfahrungennochweiter
vermehrt.
2 W. Szmolyan,a.a.O., S. 7.
a Noch krasser ist der Unterschied der Bekanntheitsgradebei den Kompositionen;wer
kennt heute schon ein musikalischesWerk Hauers?
Archiv fior Musikwissenschaft, Jahrgang XLVII, Heft 3 (1990)
@ Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
164
Klaus Lagaly
,,Hauer war schon zu Lebzeiten eine legendAre Gestalt"; Szmolyan beruft
sich in seinen Ausftihrungen auf den osterreichischen Komponisten und Musikwissenschaftler Egon Wellesz, der in einem Vortrag (gehalten am 5. 10. 1964
auf Einladung der Osterreichischen Gesellschaft
Musik in Wien) den ,,eigenfttr
den
Hauer
seine
auf
Umwelt
austibte, charakterisiert: ,,Hauer
tiimlichen Reiz",
war die merkwiirdigste Erscheinung, die mir je begegnet ist, eine einzigartige
Mischung von Genialitat und Dilettantismus"4. Egon Wellesz war in den Zehner- und Zwanzigerjahren Schiller von Arnold Sch6nberg in Wien und hat
durch Rudolf Reti (der verschiedene Kompositionen Hauers, darunter Nomos
op. 1, zur Aufftihrung brachte) ,,auch den anderen Vorkimpfer der Zwolftonmusik, Josef Matthias Hauer, pers6nlich"kennengelernt. Bereits vor der personlichen Bekanntschaft mit Hauer hat Wellesz seine Wertschitzung fir die
fritihen Kompositionen Hauers ausgedrtickt und spiter schreibt er: ,,Schon
damals empfing ich den Eindruck einer ganz ungewohnlichen Begabung, der
sich beim Anhoren der spiteren Kompositionen noch steigerte"5. Weiterhin ist
Wellesz der Meinung, daIBdie Kompositionen Hauers ,,starker wirken als das
meiste, was man heute (um 1920) zu horen bekommt. ... Vielleicht liegt in
dieser Musik sogar viel Zukunft"'.
Die Zukunft ist (wenn auch nicht im Sinne des kompositorischen Determinismus Hauers) offen und zeitlich unbegrenzt.
I. Biographische Daten
Josef Hauer - seinen zweiten Vornamen Matthias, den seines Vaters, ftigte
er spifter, laut Szmolyan7wahrscheinlich erst 1922, seinem ersten Taufnamen
bei - wurde am 19. MArz1883, also am Josefstag, als Sohn des Gefangenenhausaufsehers Matthias Hauer und dessen Ehefrau Maria Hauer, geb. Wallner, in
Wiener Neustadt (Niederosterreich) etwa 50 km stidlich von Wien, im Hause
Lange Gasse Nr. 23 geboren. Hauers eigenen Angaben zufolge waren seine
Vorfahren vaiterlicherseits pfailzische Weinbauern und stammten aus der
Gegend von Kaiserslautern; auf GeheiB von Maria Theresia wurden sie im
Piestingtal (nahe Wiener Neustadt) angesiedelt. Die Herkunft seines Namens
leitet er von der Berufsbezeichnung ,,Weinhauer"oder kurz ,,Hauer"fuir,,Weinbauer" ab. Seine Vorfahren miitterlicherseits stammen aus dem ungarischen
4 Hier zitiert nach Szmolyan,a.a.O., S. 7.
5 Zitat ebenda S. 7.
6 Zitat ebenda S. 7.
11. Die Feststellung Szmolyans,daBHauererst spiter seinen
7 Vgl. Szmolyan,a.a.O., S.
zweiten Vornamenangenommenhat, wird bestitigt durchdie den friiherenim Selbstverlag
erschienenenWerken zugefiigten InitialenJ. H. und die mit J. M. Hauer unterzeichneten
spiteren Werke wie etwa die uiberarbeiteteVersion der Tropentafelnvon 1948. Allerdings
gibt eine solche Gegeniiberstellungdie exakte Jahreszahl1922nicht her.
ZellulareVerbandsstrukturen
165
Bereich der Monarchie, und beide Elternteile wohnten bereits in Wiener Neustadt.
1897, als 14jihriger, trat Hauer in die Wiener Neustidter Lehrerbildungsanstalt ein, die er 1902 gemeinsam mit Ferdinand Ebner (der ebenfalls aus Wiener Neustadt stammte und dem er sein Nomos op. 1 1912 widmete) mit bestandener Reifeprtifung verliel3. Nach einer Anstellung als provisorischer Unterlehrer in Krumbach,,in der Buckligen Welt", wo er seine spitere Frau kennengelernt hatte, legte er in den Jahren 1906, 1907 und 1909 drei staatliche Lehramtspriifungen ab, ,,die ihn zum Unterricht im Gesange, im Violin- und Klavierspiel an Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten berechtigten"8. Im damaligen CafWLehn in Wiener Neustadt gab es um 1910 einen ,,Hauer-Tisch", dem
neben Gymnasialprofessoren, Juristen und Studenten auch Ferdinand Ebner
angeh6rte. Josef Hauer hatte durch seine radikalen Ansichten fiber Musik die
Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und war zum Mittelpunkt geworden.
Sein mit op. 1 bezeichnetes Werk Nomos in sieben Teilen stammt aus dem
Jahre 1912;die erste theoretische Schrift (der bis 1926 noch vier weitere folgen)
1Uberdie Klangfarbe op. 13, der Versuch einer Charakteristik der Intervalle
mit Hilfe von Goethes Farbenlehre, entstand 1918. Ein Jahr spiter (1919)
komponiert er mit Nomos ftir Klavier op. 19 sein erstes bewuf3t mit einer
Zw6lftonreihe bzw. Zw6lftonmelodie gestaltetes Werk.
Offentliche Beachtung seiner Person sowie seines Werkes erregte er bei
Aufffihrungen seiner Kompositionen im Rahmen von Festivals ftir Neue Musik
(z. B. Donaueschingen Musiktage 1924, Internationales Musik- und Theaterfest
der Gemeinde Wien 1924, Musikfest der Internationalen Gesellschaft f&irNeue
Musik Frankfurt a.M. 1927 u.a.). Respekt und Anerkennung speziell fir sein
theoretisches Schaffen zollte ihm sogar sein Antipode Arnold Sch6nberg in der
dritten Auflage seiner Harmonielehre, wenn er bemerkt, daf3Hauers Theorien
,,auch dort, wo ich Obertreibungen finde, tiefund originell sind, dessen Kompositionen auch dort, wo sie mir mehr ,Exempel' als Kompositionen erscheinen,
sch6pferische Begabung verraten, dessen Haltung ihn aber in jeder Hinsicht
achtenswert macht"'.
Mit der Zwolftonmusik fiAr Orchester op. 39 komponierte Hauer 1939 sein
letztes Werk, das er mit einer Opuszahl versah. Danach brach fir Hauer die
Phase der ,,Zw6lfton-" bzw. ,,Zw6lft6nespiele" an, von denen er ca. 1000
schrieb, geordnet nach Entstehungsdatum und Besetzung. Die Zw6lftonmelodien oder,,Melosfiille", besonders in der Spitphase der Zw6lftonspiele, entstanden durch Wuirfelnbzw. Ziehen von eigens zu diesem Zwecke praparierten
Tonscheiben.
Die verspiteten Ehrungen, der Professorentitel (1954) und der GroBeOsterVgl. Szmolyan,a.a.O., S. 14.
9 Vgl. A. Sch6nberg,Harmonielehre,3. Auflage, S. 488.
8
166
Klaus Lagaly
reichischeStaatspreis(1956),beeindrucktenund beeinflul3tenHauer wenig.
,,Unbeirrtzeichneteer bis zu seinemTodedie Melodienauf, durchdie er sich
von Gott ,angesprochen'fiihlteunddie er den Menschen,vernehmbar'machen
wollte"'.
Am 22. September1959starb der ,,alte Chineseim langenNachthemd"im
Alter von 76 Jahren.
II. Zur Bedeutungder Termini,,Tonalitit"und ,,Atonalitit"
in der TheorieHauers
die ohneseine
Untersuchungenzu HauersKonzeptionder Zwolftontechnik,
Theorieder Atonalitit, des atonalenMelos,unzugiinglich
ist, ftihrenunmittelbarzu generellenFragestellungen:etwa zurFragenachder Abhingigkeitbzw.
dem Zusammenhang
der Begriffspaare:
Natur Natur Natur Natur Materie
Naturgesetz
Geschichte
Kunst (bzw. naturlich - kiinstlich)
Geist
- Geist
Zwarweist HauersTheorieder Atonalitatin vielenEinzelaspektenObereinmit den AuffassungenseinerZeitgenossenauf;es liegt ihr
stimmungsmomente
aber ein vollkommenandererAnsatzzugrunde.In seiner SchriftVom Wesen
desMusikalischen.Ein LehrbuchderatonalenMusik(1920),die vonSzmolyan
als erstes Werk iber Zwolftonmusikgekennzeichnetwird, taucht wohl auch
erstmalsder Ausdruck,,atonal"auf, ,,der moglicherweisevon Hauergeprigt
worden ist, und bald zu einem vielverwendetenModeschlagwortwurde"".
Vom Wort her heil3t,,tonal"bzw. ,,atonal"bei Hauernicht ,,in einer Tonart"
bzw. ,,nichtin einer Tonartstehend";der Ausdruckist demnachnicht auf die
Tonartbezogen, sondernauf den fixiertenEinzeltonmit seiner exaktenTonhohe. TonaleMusikim strengen Sinne erreichtnach Hauerihre Variabilitat
sondernlediglichdurchrhythmischeund
nichtdurchTonh6henverinderungen,
einem Ton). Hauerist sich der Einauf
Trommeln
agogischeEinflisse (z.B.
durch
die
entsteht, durchausbewul3tund
diese Wortbezeichnung
schrinkung,
denkbareExtremfall
theoretisch
der
nenntMusikdieser Art rein tonal,womit
zurPolygemeintist. Dur-Moll-Tonalitit
wuirdeunterdiesenVoraussetzungen
tonalitiftundstrengeZwolftonigkeitdurchstindige Verwendungdes chromati-
10
1
Vgl. Szmolyan,a.a.O., S. 89.
Vgl. Szmolyan,a.a.O., S. 31.
ZellulareVerbandsstrukturen
167
schenTotals(vonHauerals das andereExtrem,,atonal"genannt)zurPantonalit~t.
FtUrdie Theoretikerder Atonalitatgalt und gilt eine historischeBezugnahme,aus der heraussogar die verschiedenenGedankengingeinnerhalbder
Theorie begrtindetwurden, als allgemeinverbindlich,was ffir Hauer nicht
zutrifft. Sicherlichist die extreme Formulierungvon M. Lichtenfeld:,,Hauers
nicht gerechtfertigt,
Konzeptionder Atonalitatdagegen ist geschichtsfrei""12
insbesonderewenn man die Qulle, auf die sie verweist, berficksichtigt:die
MusikHauers,,ist bewuBftantihistorisch,gewollt anfinglichundtrotz gewollter Atonalitit fast immerwohlklingend""'.
Einerseitsist hier von der Musik,
nichtvon der TheorieHauersdie Rede, andererseitsvon antihistorisch,nicht
aber von geschichtsfrei.Sch6nbergbeispielsweiselebte bewuf3taus der Tradition und nutzte die ,,Erfahrungdes geschichtlichenMaterials";Hauerjedoch
wandtesichmit allerEntschiedenheitgegen die uiberkommene
Musikals Basis.
In seinemTraditionsbewuf3tsein
ging Sch6nbergso weit, daf3er ,,amfiberkommenen Begriff der Theorie,der gleichermaf3en
in der tonalenPraxis wie im
Historismusdes 19. Jahrhundertswurzelt",festhielt und ,,eineKompositionstheorienurals aus nachtriglicherWerkbetrachtung
zusammengestellteRegelsammlunggelten lassen wollte"14.Wahrendalso Sch6nbergund seine Schiller
in ihren theoretischen Schriften ,,gr6f3tenWert auf die Beschreibungder
Verfahren"legten, derenklareDarstellung
Genealogieihrerkompositorischen
ihnen zur Begrtindungbzw. Apologieihres theoretischenSystems verhelfen
konnte, stellt ,,Hauer in seinem kiinstlich geschaffenen", also nicht natitrlich
gewachsenen, ahistorischenRaum die Leitsatze seiner Atonalitat und ...
auf, als handle es sich um erkenntniskritischeKategorien
Zw6lftontechnik"
oder musikisthetischePrinzipien1.
Die Zw6lftonmusik,die er auchals ,,Sprachedes Universum",,,Offenbarung
der Weltordnung"und ,,Harmonieder Spharen"bezeichnete, beansprucht
Hauernichterfunden,sondernlediglichgefundenzu haben;er habenuretwas
von Anfangan Dagewesenesden Menschen,,vernehmbar"
gemacht.Aus gnoSicht
dadurch
etwas
zum ,,FiUrunsseienwire
seologischer
,,Ansichseiendes"
den"geworden.
Bereits aus der Bemerkungvon H. Eimert, daB die MusikHauers trotz
gewollter(undvielleichtsogarpraktizierter)Atonalitatmeist wohlklingendist,
liMtsich erahnen,daBfdie Terminitonalund atonal,,fiirJosef MatthiasHauer
eine vom tiblichenSprachgebrauch
abweichendeBedeutung"haben.,,Sie sind
12
Vgl. M. Lichtenfeld, Untersuchungen zur Theorie der Zwlflontechnik bei Josef
Matthias Hauer, Regensburg 1964, S. 42.
is Vgl. H. Eimert, Artikel Hauer, MGGV, Sp. 1842.
14 Vgl. M. Lichtenfeld,Schinbergund Hauer, Melos32, 1965, S. 121.
15 Vgl. M. Lichtenfeld,Untersuchungen,a.a.O., S. 42. Anstelle von ,,geschichtsfrei"wird
hier der Ausdruck,,ahistorisch"gebraucht,der keineswegs synonymmit ,,antihistorisch"ist.
168
KlausLagaly
fiir ihn sowohlsynonymffir einstufigund vielstufig- im Idelfallzw6lfstufig-,
als auchfiir nattirlichundgeistig in Beziehungauf Musik.MusikalischeNaturphinomenesind fUirHauerdie Obertonreiheund alles was er daraus,in Uberableitet:Dreiklang,diatoeinstimmungmit vielen anderenMusiktheoretikern,
nische Skala,ja selbst die Klangfarbe.Geistigoder vergeistigtist demgegenfibernur die (zwilfstufige)gleichschwebendeTemperatur.,Rein tonal'ist nur
die Musik,die auf einer einzigenTonstufeverharrt;sie bedarf,um fiberhaupt
als Musikzu wirken,der rhythmischenDifferenzierung"'1.
In ihrer reinsten
,,Die tonale Musikwird aus dem Rhythmusgeboren""17.
Tonh6henunTonh6he.
Sobald
auf
einer
besteht
sie
Trommeln
im
Auspragung
terschiede auftreten, handelt es sich ffir Hauer nicht mehr um rein tonale
Musik.In diesemSinneist ,,reintonale"Musikdurchausdenkbar:,,DasTrommeln auf einem Ton, also das rein Rhythmische"machtuns oftmalsFreude,
,,undwir leben dannunsere Stimmungen,Affekte, unsere Ideen, unsere personlichenRhythmenaus, indemwir uns, ahnlichwie ein Faultier auf einem
Ast, auf einemTon (Grundton)lingere Zeit schaukeln.Eine rein tonaleMusik
ist ein Vergnfigen,ein Ventil ffir temperamentvolleMenschen,und ich kann
mir ganz gut vorstellen,wie etwa ein modernerKomponistdamitauskommt,
und darverschiedeneGerauschinstrumente
(Schlagwerk)zusammenzustellen
auf in mannigfaltigenund kompliziertenRhythmentrommelnzu lassen. Das
ist ein ,Kinderspiel',fuirdie AusfiihrenAufschreibensolcherSchlagzeugorgien
sie ihreVirtuositatzeigenk6nnen,
den soll es mituntersehr schwersein, so daB3
auf das Publikumwirkt dies jedoch barbarischund wild, und dieser sinnliche
Reiz bedeutet im Rahmender ganzenMusikdasselbe,was in der Kochkunst
Pfefferund Paprikabedeuten""18.
Als Verwirklichungdieser Art ,,tonaler"Musik,zumindestansatzweise,sei
auf Karlheinz Stockhausens Zyklus fir einen Schlagzeuger (1959)19und Litanie
II ffir drei Schlagzeuger(1980)von KarelGoeyvaerts20
verwiesen;allerdings
Vgl. R. Stephan, UberJosef Matthias Hauer, AfMwXVIII, 1961, S. 267.
17Vgl. J. M. Hauer, Melos und Rhythmus, Melos3, 1921/22,S. 186.
18 Vgl. J. M. Hauer, Vom Melos zur Pauke. Eine Einfilhrung in die Zwolftonmusik,
Reproduktionder ersten Auflage UE Wien, 1967, S. 7.
19WAhrendder Probenarbeitffir sein OrchesterwerkGruppenfilr drei Orchester(1958)
erlebte Stockhausen,daBdie 12 Schlagzeugergr6BtenteilsSchwierigkeitenbei der Verwirklichungihrer Partien hatten (obwohler andererseits,insgesamt gesehen, im Vergleichzu den
umfangreichenProbenarbeitenetwa von StrawinskysLe Sacre du Printemps bemerkt, daB
das betreffende Orchester ,,die ,Gruppen'in nicht einmal 10 Proben gut gespielt hat", vgl.
Stockhausen,TexteII, S. 72), und er gab WolfgangSteinecke,dem Initiatorder Darmstadter
Ferienkurse, die Anregung, ,,einen Instrumentalkursund Schlagzeugwettbewerbin Darmstadt einzurichten.Da es aber keine brauchbarenStucke fir Schlagzeugsolo gab, war Steineckes Replik:,Wenn Sie ein StUckfforSchlagzeugschreiben,macheich einen Wettbewerb'.
So war der Anlal3zur KompositionZyklus fir einen Schlagzeugerein padagogischer.Der
junge Kl1ner SchlagzeugerChristophCaskel, den Stockhausenbei den Proben zu Gruppen
kennengelernthatte - mit ihm hatte er auchdie Ausarbeitungder Partitur(ibrigens Stockhausens erster graphischerPartitur) von Zyklus besprochen-, erwies sich als geeigneter
16
ZellulareVerbandsstrukturen
169
wird in diesen Kompositionendurchdie VerwendungmehrererTonhohendie
Reinheitder Tonalitat(im VerstandnisHauers)getriibt. Im fibrigenhabensie
a priorieine v6llig andereMissionals ,,nur"die Exemplifizierungvon Hauers
Idee der reinen Tonalitat.(Beide Kompositionensind verschieden,nicht nur
was Besetzungund Instrumentarium
betrifft,sondernauchvom EntstehungsanlaBher: bei Stockhausenist dies ein padagogischer,vgl. Anm. 18;wahrend
die Kompositionvon Goeyvaertsals Auftragswerkfuirein speziellesEnsemble
anzusehenist, vgl. Anm. 19.)Die so charakterisiertereintonaleMusikstellt ftir
Hauerden ,,reinrhythmischenPol der Musik",also ein Extrem dar.
Als Gegensatzdazu ist das andere Extrem, der rein atonale,melischePol
anzusehen.Auf die selbst gestellte Frage nachder Existenzeiner solchenrein
atonalenMusikantwortetHauer:,,Genauso, wie wirobendenreintonalen,den
rein rhythmischenPol der Musikgefundenhaben,mit gleicherLogik21finden
wir auchden entgegengesetzten,den rein atonalen,denrein melischenPol der
Musik.Melosnennenwir das musikalischeErlebenund Geschehen,die SpanInterpret und spielte am 25. August 1959 die Uraufffihrungin Darmstadt.Zyklus, Pflichtstuck des folgendenSchlagzeugwettbewerbs,wurde spater zum meistgespieltenSchlagzeugSolo-Stuckder Neuen Musikund l1ste eine Welle von Schlagzeugwerkenaus"(vgl. M. Kurtz,
Stockhausen.Eine Biographie,Kassel, 1988,S. 133). Der padagogischeImpulswurde also in
mehrerer Hinsicht wirksam. (Eine ausffihrlicheAnalyse liefert der Komponistin Texte II,
Aufsdtze 1952-1962zur musikalischenPraxis, S. 74-100).
2 Das Werk entstand auf Anfrage eines amerikanischenSchlagzeugtriosaus Cincinnatti;
die vorgegebenenInstrumentehabenes bestimmtund gepragt. ,,Ichhabe von diesen Schlagzeugern aus Cincinnattieine Liste der Instrumentebekommen,mit denen sie eine Rundreise
durchEuropamachenwollten, und diese Instrumentehabeich dannKlangfolgengeschrieffir
ben, die sich aufbautenwie in Litanie I, aber ich habe den Aufbaumit den Instrumentenvon
an
Das
war
viel mehr vom Instrumentbestimmt, und ich habe dann
Anfang ausgearbeitet.
jedesmal so einen Auf- und Abbauausgeschriebenmit dem, was da vorhandenwar an Instrumenten, undzwarhabeich wegen dem KlangcharakterbestimmteGruppenausgewahlt.Inder
Kombinationder Instrumenteergab sich so ein bestimmterKlangcharakter,es ist viel mehr
ein Klangstick als Litanie I, und das ist bedingt von der Idee der Zusammenstellungder
Instrumente"(Zitat aus einem Gesprachdes Komponisteniber Litanie I-IV, Musiktexte6,
Oktober1984, S. 20/21).
21 Hierzu ware anzumerken:keine Logik ohne Axiomatik!(zumindestkeine aristotelische
Logik);HauersArgumentationgeht bereits von einer multipolaren,d.h. mindestensbipolaren
Musikauffassungaus (in metaphorischerAnlehnungan das Bild der Erdkugelmit ihremNordund SUdpol).Bezogen auf die beidengenanntenextremen Pole der Musikformulierter explizit: ,,In diesen EiswUstender beiden Pole halt es kein Menschauf die Dauer aus. Der Komponist muJ3dem HSrerentgegenkommen(dies laJBtsich w6rtlichverstehen, wenn er mit seiner
Nahe KorperwArmeausstrahlt), um ihn nicht in der Kalte erstarren zu lassen, und einen
KompromitB
schliel3en,also eine Position zwischen diesen beiden extremen Polen beziehen.
Hauer drUcktedas einmal sehr drastisch aus und meinte, man miisse die ,unvergleichlich
sch6neneinstimmigenatonalenMelodienin die komplizierteneuropaischenLarmgewohnheiten hineinorganisieren- mit mehr oder weniger musikalischemAnstand,je nachdemes einer
verantwortenkann',weil der europaiischeMenschnicht mehrimstandesei, aus einer Melodie
auch gleichzeitigderen Harmonieherauszuhiren"(zitiert nach Szmolyan,J. M. Hauer, 1965,
S. 32). Im allgemeinenlaIt sich aber von der Existenz eines solchenPols nicht notwendigauf
die eines zweiten schliel3en.Beispielsweisewissen wir nicht - um die Metaphorikbeizubehalten - ob, je nach Ausgangshypothese,die Zeit als Strecke, Strahloder Geradezu deuten ist.
Denkbarbzw. vorstellbarist die von Hauer dargestellte Bipolaritataber durchaus.
170
Klaus Lagaly
nung zwischen Tonen verschiedener H6he, wohlgemerkt: das Erleben und
Geschehen und die Spannungen, die sich in uns vollziehen". Melos ist ein
absolut geistig musikalischer Vorgang im musikalischen Menschen. Die verschieden hohen Tone sind nur die physikalische und physiologische Voraussetzung zu diesem Erleben, die Tone sind Erde, ,Ton', Materie. Damit es aber in
der Musik zu diesem rein melischen Erleben kommen kann, muissenwir naturgemal die Gegenseite, das heiRt die rein rhythmischen Geriuschmomente, so
viel als m6glich ausschaltens. Bei verschieden starken, verschieden langen
Tonen, die von verschiedenen Gerauschen stammen und die vielleicht noch
obendrein innerhalb der Oktave (dieser machtigsten Siule des Horens) innerhalb des Zirkels nicht gleichmlf3ig verteilt, nicht wohltemperiert sind, bei solchen Voraussetzungen wird sich die rein melische Spannung, das Gleichgewicht, das rein melische Erleben im H6rer begreiflicherweise schwer oder gar
nicht einstellen. Die ,a'tonale Musik ist eben auch eine ,a'rhythmische, und wir
dtirfen strenggenommen weder von einer rein tonalen noch von einer rein atonalen Musik reden, sondern nur von den beiden Polen der Musik. War bei dem
einen Pol nur Rhythmus, so ist nun beim anderen nur Melos"a.
,,Atonal"im Sinne Hauers kann Musik nur sein, ,,wenn sie auf engstem Raum
zwolft6nig, rhythmisch indifferent und auch in Dynamik und Klangfarbe mogWenn es auch strenggenommen keine atonale
lichst wenig differenziert
ist"'.
Musik geben kann', so kann man sich doch auf den rein melischen Pol konzentrieren: ,,reinigend und bereinigend wirkt der lingere Aufenthalt in diesen
luftigen SphAren, in dieser ,Hdhensonne'. Ganz besonders der Aufenthalt auf
dem melischen Pol der Musik ist eine Ubung, eine Stirkung in der musikalischen Tugend. Ein Musiker, der sich lange Zeit darin tibt, einstimmige Melodien mit den zwilf wohltemperierten T6nen zu singen, ein solcher Musiker
kommt weit ab vom Banalen, Trivialen und von falscher Sentimentalitit. Er ist
' Eine andere
Kennzeichnungvon ,,Melos"liefert Hauermit der folgendenBeschreibung:
,,Melosist die Bewegung zwischenden Tonen, die Spannungvon Ton zu Ton"(vgl. Musik16,
1923/24,S. 105). Hierbei handeltes sich um die physischebzw. akustischeSpannungan sich,
vom Erleben ihr Dasein haben kann und hat. Oberhauptverweist Stephan
die
unabhi•ngig
auf die mangelndeEindeutigkeitvon Hauers Begriffen.
a.a.O.
' Als
Konsequenzergab sich fiir Hauer darauszunAchsteine reservierte Einstellung zu
den Schlaginstrumentengenerell. Aber schon seit 1925 betont er sein nicht krampfhaftes
Verharrenam melischenPol, sein Entgegenkommendem Horer gegeniber: ,,Im Orchester
gibt es bekanntlichauchPauken,Trommelnund andereLarminstrumente.Bis zu den Pauken
bin ich schon gekommen, well sie noch stimmbar sind. Ich verwende sie zwar sparsam,
behandle sie aber doch nicht stiefmiitterlich"(vgl. Hauer, Vom Melos zur Pauke, a.a.O.,
S. 22).
?
Vgl. Hauer, VomMelos zur Pauke, a.a.O., S. 9/10.
2 Vgl. R. Stephan, UberJosef MatthiasHauer, a.a.O., S. 268/69.
a Hauersprichtdennochan mehrerenStellenvon ,,reinatonalerMusik"(vgl. die Hinweise
von Stephan, a.a.O., S. 269). Aber nicht die grundsAtzlicheM6glichkeiteiner rein atonalen
Musikwird von Hauergeleugnet, sonderndie praktischeRealisation,das standigeVerbleiben
in der ,,Eiswiiste".
ZellulareVerbandsstrukturen
171
diesen GefahrenentronnenfUralle Zeit, auchwenn er sich dannim Pers6nliundPolychen, Rhythmischen,Ideenhaften,in Stimmungen,im Harmonischen
phonen noch so sehr ,auslebt"'27
Hauernennt seine Musikatonal, weil er beim Komponierenvom atonalen,
demtonalen
melischenPol der Musikausgehtund sich im Kompositionsprozef3
Pol
in der
annAhert.
meine
Musik
steht
rhythmischen
,,Praktischgenommen
Mitte zwischenden beidenPolen, sie kannweder als rein atonalnochals rein
tonalangesprochenwerden.Da ich abervomatonalen,rein melischenErlebnis
der zwolf Tone ausgehe, sozusagendie andere Hemisphire nur bertihre,so
nenneich meine Musikwohl mit Recht eine atonale,eine melische"2.Es wird
also beim Erstellen einer Komposition(nachden KriterienHauers)im wahrsten Sinne, wie der Titel der Schriftbesagt, ein Weg ,,vomMeloszur Pauke"
bzw. vom Melosaus in RichtungPaukezuriickgelegt.
An mehrerenStellenseinertheoretischenSchriftenliefertHauereine tabelder Merkmaledes polarenVerhiltnisses ,,tonal"larischeGegenuiberstellung
,,atonal"anhandeiner Tafel von Begriffspaaren2.
Ton Intervall
Geriusch Klang
Rhythmus Melos
absoluteTonhohe relativeTonhohe
be,,ton"t wohltemperiert
tonal atonal
Obertonspektrum Klangfarbentotalitit
Geige, Horn,...
Klavier, Orgel, ...
jodeln, briillen,...
singen, sprechen,.
Regeln, Konvention Gesetz, Nomos
Gegenstand Bewegungsmoment
Bemerkungenzur Verwendungdes Terminus,,Atonalitit"allgemein
Bei allgemeinerenBetrachtungen,die zur Sachbestimmung
von ,,Atonalitait"
vom
Hauers)
(losgelist
Gedankengut
uiberhaupt
fiihren sollen, werden - in
in
nicht
formaler
Hinsicht
zwei
materialer,
generell
Grundvoraussetzungen
angefiihrt:
1. Die Verfuigbarkeit
des chromatischenTotals
2. Die Emanzipationder Dissonanz
Vgl. Hauer, VomMelos zur Pauke, a.a.O., S. 10.
a27 Vgl.
Hauer, ebenda.
*
Vgl. Hauer, Musikalisches Denken, Musikblitter des Anbruch, 1923, ebenso Atonale
Musik, Die Musik 16 (1923), und Vom Wesendes Musikalischen, a.a.O., S. 5.
172
Klaus Lagaly
Diese beiden Grundvoraussetzungen unter materialem Aspekt erfiillt Hauers ,,atonale" Musik in Theorie und Praxis; denn sie kommt von der Totalitit
her, was sich praktisch im Zw6lftontechnischen realisiert, und Dissonanzen
weist sie gar nicht mehr auf, sondern lediglich die zwalf Intervalle der gleichschwebenden Temperatur, die in der Konstellation des groi3enSeptakkords als
Schluf3klangvieler Zw6lftonspiele auftreten.
Vom historischen Standpunkt aus lassen sich wenigstens drei Entwicklungen zur Atonalitat angeben, die sich sowohl zeitlich als auch inhaltlich tiberschneiden:
1. Die Neutralisierung der Tongeschlechter
2. Die Aufl6sung bzw. Aul3erkraftsetzungder tonalen Funktionen
3. Die Emanzipation der Dissonanz
zu 1.: ,,Wie alle harmonischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts mundete
auch die Neutralisierung von Dur und Moll folgerichtig im chromatischen
Total, oder genauer, im chromatischen Geschlecht. Die Zweigeschlechtigkeit wurde aufgehoben im ,Ubergeschlecht' "30. Fur Hauer ist es in
erster Linie nicht der geschichtliche ProzeB, der zur Verwendung des
chromatischen Totals gefiihrt hat, sondern er nimmt dieses als ein dem
Geiste gegebenes bzw. zugingliches Startkapital an. Von einer v6lligen
Neutralisierung der Tongeschlechter kann man in der Theorie Hauers
nicht sprechen, da er Dur als reinen Ausdruck des Nattirlichen, Moll
dagegen bereits als Stufe der Vergeistigung deutet31.
zu 2.: Sieht er auch die traditionelle Funktionalitat in der atonalen Musik nicht
mehr als gegeben an (,,In der atonalen Musik gibt es keine Toniken,
Dominanten und Subdominanten... mehr"), so heif3tdies noch nicht, daB
seine Musik v6llig von diesen Beziehungen und Wirkungen frei ist (vgl.
die Beispiele und Nachweise von R. Stephan).
Die Frage nach der Emanzipation der Dissonanz deckt sich mit Punkt 2 der
obigen allgemeinen Untersuchung aus materieller Sicht.
,,Melodieist eine gltickliche Verschmelzung des Rhythmischen mit dem Melischen"32;das rein atonale Melos wird durch die rhythmische Gliederung zur
atonalen Melodie. ,,Ftir die atonale Melodie gelten die Gesetze der Konsonanz
und Dissonanz, wie sie in der Diatonik mit den ,Auflasungen' in die Dreiklinge
ihren Ausdruck finden, nicht mehr; sie schafft sich ihre Spannungs- und Ent'
Vgl. M. Lichtenfeld,Untersuchungenzur TheoriederZw6lftontechnikbeiJ. M. Hauer,
S. 32; der Ausdruck,,Obergeschlecht"stammt von Anton Webern, Wegezur Neuen Musik,
Wien (1960), S. 39.
und Mollals ,,gebrochene"Physis
31 Die Gegentiberstellungvon Dur als ,,ungebrochene"
erscheintdurchdie unmittelbareAbleitungdes Durdreiklangsaus der Obertonreihein Hauers
System logisch und gerechtfertigt.
2 Hauer, Vom Melos zur Pauke, S. 8.
Zellulire Verbandsstrukturen
173
spannungsmomente ganz von selbst, aus sich heraus, und unabhaingigvon den
physikalisch-physiologischen (,natuirlichen')Verhiltnissen der Obertonreihe,
ihrer Dreiklinge, Konsonanzenund Dissonanzen, denen ja das physische (nicht
aber das geistige) Ohr, das an der Obertonreihe, an der Natur klebt - jenes
Ohr, in dessen ,objektivem' Gegensein der elan vital gleichsam in der Materie
steckengeblieben ist - in einem gewissen Sinne unterworfen ist. Die atonale
Melodie ist gewif3 von der ,Natur' weit entfernt, dafuiraber, wenn sie echt ist,
etwas rein Geistiges, Musikalisches - die ,Melodie' kat exochen ... Aus der
atonalen Melodie, die dem heutigen Musikschaffen als Formprinzip zugrundeliegt, aus ihr heraus muf3alles (Formen, Ausdruck, Klangmittel) neu geboren
werden"'.
,,Wer nur einmal in seinem Leben eine atonale Melodie deutet, ...der wird
sich der geradezu unheimlichen Gesetze der Intuition, des rein Musikalischen
bewul3t werden; die tote Materie gewinnt Leben, das Ruhige im Nebeneinander des Raumes bekommt Bewegung im Nacheinander der Zeit. Die atonale
Melodie singt das Leben der Sprachen, der bildenden Ktinste, aber auch das
der Natur - des Universums. Sie ist die reinste, klarste Quelle der Erkenntnis
und des Wissens, die Form, die Bewegung selbst"'.
,,Die atonale Musik aber nimmt ihren Ausgangspunkt nicht von den ,nattirlichen', ,sinnlichen' Verhiltnissen der Obertonreihe z.B. des Horns, der Geige
usw., sondern vom Intervall an und fuirsich in seiner rein geistigen, d.h. eben
,musikalischen' Bedeutung. Jedem der Intervalle liegt (abgesehen von ihren
,nattirlichen' Beziehungen zueinander, wie sie aus der ,Natur', dem ,Gegenstindlichen' der Obertonreihe hervorgehen) ein nur dem betreffenden Intervall
eignendes farbiges und rhythmisches Moment zugrunde, das eben die ,geistige', ,urmusikalische' Bedeutung dieses Intervalls in sich begreift"35.Hieraus
wird deutlich, welche wesentliche Rolle dem Intervall in Hauers Denken
zukommt: ,,Im Intervall liegt nicht nur der Kern der Klangfarbe (das Melos),
sondern auch der des Rhythmus. ... Das Intervall ist eine ,Melodie', eine
,Musik' - gleichzeitig aber auch etwas physikalisch Mef3bares.Alles rein Musikalische steckt im Intervall, alles"36.Man erkennt und spuirtaus dieser Formulierung die Nahe der Begriffe ,Melodie' und ,Musik' deutlich. Hauer verwendet
haufig die Begriffe ,atonale Melodie' und ,atonale Musik' synonym.
,,Das Wesen des Intervalls ist Bewegung. Das Intervall ist eine GebArde.
Jede Gebirde bedeutet etwas; dadurch, daBfeine Bewegung etwas bedeutet, ist
sie Gebirde. Die Bedeutung einer Bewegung liegt im Geistigen. Das Intervall
ist eine geistige Bewegung (Bewegung des Geistes), darum bedeutet es an und
33 Hauer, Vom Wesendes Musikalischen, S. 23.
des Melos, S. 38.
*4 Hauer, Deutung
Hauer, Vom Wesendes Musikalischen, S. 25.
36 Hauer, ebenda, S. 13.
174
KlausLagaly
ffir sich etwas. Im Intervallist der Ton, der KlangnichtsBewegtes, sondern
die Bewegung selbst. Ftir die Physiker ist die Bewegung in einem Klang
bewegte Materie(Schwingungstheorie)"3".
Warder Tonnochtote Materie,so ist das Intervallbereitsbewegtes Leben.
Unter der Voraussetzung,dafBlaut Hauer die musikalischeFarbenlehre
(Klangfarbenlehre)
ganz in der Lehre von den Intervallenaufgeht und der
Bemerkung:,,JedegleichschwebendeTemperaturist also eine Klangfarbentotalitat"wird auch Hauers Aussage verstiindlich,dafBsich die atonaleMusik
keineranderenKunstannihert:,,dasGanzekannsich nichteinemseinerTeile,
das Bewegliche,Lebendigenichtdem ruhenden,Toten'... unterordnen"'.
HauerfMigt
beim Komponieren
verschiedeneBausteinezusammen;in seiner
Romantischen Fantasie beispielsweise spricht er von 288 solchen Bausteinen,
die eng miteinanderverwandtsind. An andererStellebezeichneter den einzelnen Bausteinals ,,Fall"bzw. ,,Melosfall".
,Jeder Bausteinist also ein kleinesin
sichgeschlossenesMusiksttick,eine Zelle im Organ,undaus Organenbautsich
der Karperauf"'39.
Eigentlichist bereitsdas Intervalleine Zelle,in derenKernsowohlMelosals
auchRhythmusverankertsind,wodurchder Baustein,d.h. der einzelneMelosBeschreifall schonzumZellverbandwird. Die Untersuchung,Kennzeichnung,
ist
ihrer
und
und
Zellverbande
Verwandtschaftsgrade
solcher
bung
ErklArung
der
Lehre
von
den
Tropen.
Aufgabe
III. HauersLehre von den Tropen
Zwolftonignoranten, lernet die Tropen!
J. M. Hauer4
In der atonalen Melodie, in der die traditionellen Gesetze von Konsonanzund
Dissonanzkeine Giiltigkeitmehrhaben,,,ist sowohldas rein Physische,Sinnliche, als auchdas TrivialeundSentimentalesoweitwie nurm6glichausgeschaltet und ihr Gesetz,ihr Nomos besteht darin, daB innerhalbeiner gewissen
Tonreihesich kein Tonwiederholenundkeinerausgelassenwerdendarf.1....
ihr Nomos besteht darin, dafBimmerund immerwieder alle zwalf Tone der
Hauer, ebenda, S. 13/14.
Hauer, Deutung des Melos, S. 41.
3
Hauer, VomMelos zur Pauke, S. 22.
Hauer sein Zwolftonspiel-mani40 Mit dieser Aufforderungbzw. ErmahnungbeschlieJ3t
fest, vgl. H. Pfrogner,Die Zwolfordnungder Tbne,Wien 1953, S. 232.
41' Diese Aussage deckt sich, bezogen auf die Zwolftonreihe,mit der Forderung Sch6nbergs.
37
'
ZellulareVerbandsstrukturen
175
So formuliertHauerkonsequenterTemperaturabgespieltwerdenmUissen"4.
weise: ,,DerSchwerpunktmeinerArbeitliegt darin,daBich immerwiederalle
unserertemzwolfT6nedes in sichgeschlossenenQuinten-undQuartenzirkels
bei umfanginsbesondere
Da
oder
periertenHalbtonleiterabspiele
anbringe"'3.
in
nicht
reicherenKompositionen
zwolf
T6ne
simtliche
stindig gleicherReihenfolge, in einerArt Dauer-Ostinato,
angebrachtwerdenk6nnen,benitigt Hauer
,,ein Verfahren..., das eine sinnvolle Veranderungder TonfolgenermigDazu entwickelter seine ,,Lehre von den Tropen",an die sich ,,die
licht""44.
hat
klammert45.
gesamteSatztechnikder Zwolftonmusik"
,,DieZwilftonleiter46
nennt
anderer
bekanntlich479001600[= 12!]Melosm6glichkeiten
Stelle
er
[an
sie ,,Melosffille"
nur
oder ,,Melosreihen"].
Um diese M6glichkeiten einigermaBen iiberschauenzu k6nnen,habeich sie schonim Jahre 1921in Tropen(Wendungen)eingeteilt,undzwarso:jede MelosreihewirddurcheinenTaktstrichin
zwei Halftenzerlegt, derenjede sechs T6neumfafit.Die Toneder einen Halfte
stehen nunzueinanderund zu den T6nender anderenHilfte in ganzbestimmten Intervallverhiiltnissen,
und auf diese Weise erhaltenwir 44 solcherMog44
also
lichkeiten,
Tropen'"47
Wie H. HeiBrichtigbemerkt,sind,,beiderGestaltungeinerReihedieersten
sechs Tone entscheidend,da ihre intervallischeZusammensetzung
auchdiejenige der zweiten sechs Tonebestimmt"48.
Aber diese Einteilungin 44 Tropenreduziertdie Gesamtzahlder Melosmoig= 10886400
lichkeitennicht, und fir jede Tropebestehenimmernoch
12!":44
in
der
Durch
Permutation
der
Tone
beiden
Halfm6glicheAnordnungen.
jeder
ten erhilt man6! x 6! = 720 x 720 = 518400m6glicheKombinationen.
Es gilt:
12! = 924 x 6! x 6!;der Multiplikator
924bezeichnetdie Anzahlallerm6glichen
ZwolfUmkehrungenbzw.Tongeschlechterergebensich, inTongeschlechter49.
42 Hauer, VomWesendes Musikalischen,hier zit. nach R.
Stephan,a.a.O., S. 272 FuBnote
1 mit Hinweis auf Stuckenschmidt.
a Hauer, Zur Einfithrungin meine Zwblftonmusik,NMZ45, 1924,S. 194;abgedrucktin
M. Rieple, Musik in Donaueschingen,Konstanz1959.
" R. Stephan, a.a.O., S. 272.
4
Hauer, VomMelos zur Pauke, S. 12.
46 Hauer spricht hier nicht von
,,Zw6lftonreihe",sondernvon ,,Zw6lftonleiter"und meint
damitdie AnzahlallerAnordnungsm6glichkeiten
bzw. allerPermutationender zwilf verschiedenen temperiertenHalbtone.
47 Hauer, Die Tropenund ihre Spannungenzum Dreiklang, Musik17, 1924/25,S. 258;und
Vom Melos zur Pauke, S. 12/13.
48 H.
HeilB,Elemente der musikalischenKomposition,1949.
49 Der Ausdruck ,,Tongeschlecht"wird in mehrfacherBedeutung und dementsprechend
auch in verschiedenerAnzahlin der Theorieder atonalenMusikgebraucht:
1. Das eine chromatischeGeschlecht(,,Ubergeschlecht"),in das die beidenGeschlechter,,Dur"
und ,,Moll"einmuinden.
2. Die verschiedeneAnzahlder Tongeschlechtereiner Trope (variabelvon minimal2 bis zu
maximal24).
3. Zwolf Umkehrungen,genanntTongeschlechter,durchjeweiliges Setzen des tiefsten Tones
als h6chsten.
176
Klaus Lagaly
dem elfmalder tiefste Tonals hochsterinnerhalbeinerTropegesetzt wird. Bei
35 der 44 Tropen,,lassensich die beidenHalftenso umstellen,daBdie erste zur
zweitenundumgekehrtdie zweite zur ersten wird"', wodurchsich die Anzahl
der M6glichkeiteninnerhalbeiner Tropeverdoppelt.Insgesamt8 der 44 Tropen (die ,,widergleichen"
Tropen)liefernbei Umstellungder beidenHilften die
gleichen Intervallverhailtnisse(10, 80, 170, 190, 240, 340, 410 und 44o)51.AuBer bei
4 Tropenergeben sich durchUmkehrungin die zwolf Tongeschlechterauch
zwalf verschiedeneMelosgruppen.
Die vier Ausnahmen sind:
- 6 Tongeschlechter
- 4 Tongeschlechter
380 - 12 Tongeschlechter
440 - 2 Tongeschlechter
80
340
Bei Trope38 ergibt sich die Zahl 12 aus 2 x 6; also 6 Tongeschlechterpro
Umstellung.Sie nimmtunterden4 genannteninsoferneine Sonderstellungein,
als sie die einzigenicht-widergleiche
ist. Somitergibt sich die Gesamtzahlder
Tongeschlechterfolgendermal3en:
35 x 24 = 840
+ 5 x 12 = 60 (10, 170, 190, 240, 410)
+ 1 x 24 = 24 (80, 340, 380, 440)
924
der vierAusnahmen
Der Wert24 ergibtsichals Summeder Tongeschlechter
(80, 340, 380, 440: 6 + 4 + 12 + 2 = 24).
zu konnen(wiefriiherdie Modulationen),
,,Umdie TropengehSrigausnUitzen
ist dasmusikalische,gefiihlsmAifige
AusarbeitenvonBeispielennotwendig.Die
musikalischeVorstellungskraftim Verein mit dem System muf3(genau wie
friiherbei den sieben T6nen)am Werkesein, damiteine ordentliche,anstandige Musikherauskommt,die Handund FuBhat"52
der einzelnenTropenbesteht in der Angabe
Eine weitere Chrakterisierung
ihrer,,Tritonusspannung".
Die zwolfstufigetemperierteLeitererm6glichteine
Teilung in zwei Hilften mit gleicher Tonzahl(von der Hauer ausgeht);das
Intervall,das 6 Halbtonschritteumfal3t,der Tritonus,teilt die Oktavein der
Mitte. In eineraus zwalfHalbtanenbestehendenSkalaergebensich6 in Bezug
auf Tonh6heverschiedeneTritonuspaare:
4. Nach Stephan,,entsprechendie Tropenin gewisser Weise den traditionellenTongeschlechtern", a.a.O., S. 272.
5. Die 924 Tongeschlechteraller Melosm6glichkeitendes chromatischenTotals.
50Hauer, VomMelos zur Pauke, S. 13.
Die Abkiirzung10 steht ffir Trope Nr. 1; entsprechenddie fibrigen.
51
'
Hauer, VomMelos zur Pauke, S. 14.
ZellulareVerbandsstrukturen
T1: c - fis
T2: cis -g
T3: d - gis
177
T4: dis - a
T5: e
T6: f
-b
- h
Teilt man eine beliebige Zw6lftonreihein zwei Hilften zu je 6 T6nen, so
k6nnenin einerHiilftemaximaldreiTritonuspaarevorkommen.Die Anzahlder
Tritonuspaarein jeder der beidenHilften ist gleich. Dies liiBtsich folgendermal3enbegriinden:
1. Fall: Kommenin der ersten Hilfte drei Tritonuspaarevor (ohneBeschrinkung der Allgemeinheitdie Paare T1-T3, andernfallswird umnumeriert), so bleibendie Paare T4-T6 fuirdie zweite Hilfte ibrig.
2. Fall: Weist die erste Hilfte zwei Tritonuspaareauf, so sind die beidenfibrigen T6nedieser Hilfte aus zwei verschiedenender verbleibendenvier
Tritonuspaarezu wAhlen,womitnochzwei unberiihrteTritonuspaare
fiir die zweite Tropenhilfteubrigbleiben.
3. Fall: Enthilt die erste Hilfte nur ein Tritonuspaar,so sind die restlichen
T6nevon Hilfte 1 aus vier verschiedenender fiinfverbleibendenTritonuspaareentnommen,so daBfiir Hilfte zwei noch ein Tritonuspaar
ibrigbleibt.
4. Fall: Kommtin der ersten Hilfte kein Tritonuspaarvor, so stammenalle
sechs T6nedieser Hiilfteaus sechs verschiedenenTritonuspaaren
und
damitauchdie verbleibendensechs, d.h. auchdie zweite Hilfte enthalt
kein Tritonuspaar.
Die Tritonusspannung
der einzelnenTropen(von HeiBals ,,Gegentonspannung"bezeichnet),liBt sich tabellarischerfassen:
Tabelleder ,,Tritonusspannungen"
in den einzelnenTropen:
10 0:0, 100 2:2, 190 0:0, 280 2:2, 370 1:1,
20 1:1, 110 2:2, 200 2:2, 29? 1: 1, 380 3:3,
301:1, 1201:1, 2101:1, 3002:2, 3902:2,
40 1:1, 13 2:2, 220 2:2, 310 2:2, 400 2:2,
50 1:1, 140 1:1, 230 2:2, 320 1:1, 410 0:0,
60 2:2, 150 1:1, 240 0:0, 330 2:2, 420 2:2,
70 2:2, 160 1:1, 250 1:1, 340 0:0, 430 1:1,
803:3, 1700:0, 2601:1, 3501:1, 443:3,
90 1:1, 180 1:1, 270 1:1, 360 1:1,
Verteilung:3:3 (3x)
2:2 (15x)
1:1 (20x)
0:0 (6x)
178
Klaus Lagaly
Alle Tropenmit Tritonusspannung
die Umkehrung
0:0 sind ,,widergleich";
dieser Aussage kannaufgrundder Anzahlnichtgelten.
Um eine beliebige Zwolftonmelodieeiner bestimmtenTrope zuordnenzu
k6nnen, werden die sechs T6ne jeder der beiden Hilften ,,in die Vertikale
undin enger Lageso notiert,daBdie TonemitHalbtonabzusammengeschoben
standnebeneinander,die TSnemit gr6f3erem
Abstanduntereinanderzu stehen
kommen.Es ergibt sich dadurchein tibersichtlichesTropenbild,das in der
Tropentafelaufgesuchtwerden kann. Hauerhat die ursprfinglicheNumerierung der Tropenspiter geindert, so daB fuirdie friiheren,mit Opuszahlen
versehenenWerkeim allgemeinendie BezeichnungenderTropentafelvon 1925
(in der SchriftZwolftontechnikpubliziert)gelten, fUrdie Zw6lftonspieledie
Numerierungder Tropentafelvon 1948zu verwendenist"".
Den folgendenBetrachtungenliegt die Tropentafelvom 11. August 1948
zugrunde.
Bereits die Bemerkung,daBT6ne mit griB3eremals Halbtonabstand(also
beispielsweisegroB3eSekunden)nicht nebeneinander,sondernuntereinander
notiert werden, weist auf eine spezielleNotationhin. ,,ZumAufschreibender
atonalenMusik"ist nachMeinungHauerseine Notenschriftgeeignet, die fiir
jeden temperiertenTon:c des d es e f fis g as a b h, ,,eineigenesZeichen(Punkt)
hat". Eine solche,,atonaleNotenschrift"hat er laut Vermerk5selbst entwikkelt, und er bezeichnetsie als einfacherals die ,,tonale"und speziell fuirdie
Zwolftonmusikals wesentlicheArbeitserleichterung.In der handschriftlichen
Erlauterungheil3tes: ,,Die Zw6lftonschriftist die anschauliche,leicht erlernbare Notenschriftfuirdas Volk. Sie ist demBildder Klaviaturentnommen.Die
Noten auf den Linien bedeutendie Tone der schwarzenTasten, die in den
Mit diesemHinweisund der
Zwischenraumen
die Tine der weil3enTasten"55.
eine
der
eindeutigeintuitivverstindlicheNotaFestlegung
Schltisselentsteht
tion.
Als Beispiel einer ,,reinatonalen"Melodiegibt Hauer einen ,,Baustein"in
alter und neuer Notation"an:
'
Vgl. Szmolyan,a.a.O., S. 51. Durchdie Anderungder Numerierungwird am Wesen der
der beidenNumerierungenhat Szmolyanin
Tropennichts verandert.Eine Gegenuiberstellung
einer Tabelle dargestellt. Acht der 44 Tropen haben ihre Nummer beibehalten (10, 20,
360, 370, 410, 440).
50, 90,
" Vgl. Hauer, Vom Wesendes Musikalischen,Berlin-Lichterfelde1966, S. 41/42. Auf das
Setzen der verschiedenen Vorzeichenzur Tonh6henbestimmungkann bei dieser Notation
ganzlichverzichtet werden, da mittels der gewahlten Schreibweisejeder Ton des chromatischen Totals a priorieindeutigfestgelegt ist.
'
Vgl. Hauers Anhang zum oben genanntenWerk, S. 48. Allerdingskommtman ohne
Kenntnisder den KlaviertastenzugeordnetenTonhihen nicht aus.
6 Hauer, a.a.O., S. 42. Der hier in der Zwolftonschrift
verwendeteSchlissel unterhalbdes
ZellulAre
Verbandsstrukturen
179
1
I.)
Die Kompositionenop. 15 bis op. 19 lieI3Hauerin seiner 1919erfundenen
,,Zwolftonschrift"drucken und verwendete zur Lagebezeichnungebenfalls
einen d-Schliissel:der Punktdes Schliisselsbezeichnetdas eingestrichened.
Danach erschien keine seiner Kompositionenmehr in dieser ,,Zwclftonschrift".,,Er benitzte die Zwolftonschrift
dannnur for das Konzipierenseiner
den
Werke, fiir
sogenannten,melischenEntwurf',der es ihm gestattete, die
aus der gewahlten Zwolftonreiheabgeleiteten Harmonien,Rhythmen und
Stimmfiihrungen
ibersichtlichdarzustellenund zu verfolgen"57.
Notiert man die Tonejeder Hilfte der 44 Tropenvertikal(wie Hauerempfiehlt und es mit seiner speziellenNotenschrifteinfachdurchfiihrbarist), so
entstehen verschiedeneSechstonakkordebzw. SechsklAngemit individuellen
Strukturen.Hauernenntsie nachder entsprechendenTrope,aus der sie gebildet sind, ,,z.B. die Sechstonklingeder 5. Tropeusw.".,,DieUmkehrungen(wie
bei den Dreiklingen:Sextakkord,Quartsextakkord)
unddie Transpositionen
in
die zwolf Tonlagen"Andernnichts,,amWesen der Akkorde"'.
Ein voreiligerRechnerbestimmtdie Gesamtzahlder verschiedenenSechsklinge mit 88 (2 in jeder der 44 Tropen),allerdingssind dabeidie Ausnahmen
die sich bei den ,,widergleichen"
(Wiederholungen),
Tropenergeben, nicht beriicksichtigt.
In 10entstehtderdemWesennachgleicheAkkorddurchTritonustransposition
In 80
In 170
In 190
In 240
In 340
In 410
In 440
...
...
...
...
...
...
...
durch Transposition um eine kleine Terz
durch Transposition um eine kleine Terz
durch Tritonustransposition
durch Tritonustransposition
durch Tritonustransposition (oder um einen Ganzton)
durch Tritonustransposition
durch Transposition um einen Halbton
zueinandersteDiejenigendieserTropen,derenHilften im Tritonusabstand
hen (10,
170, 190, 240,
340, und 410), haben Tritonusspannung 0:0; die beiden
Liniensystemsbezeichnetdie Lage von d', woraufder Herausgebernochmalsgesondert hinweist; dies ist aber unmittelbareinsichtig,wenn beide Notationenidentisch,d.h. gleichbedeutend sein sollen.
S. 36.
'57 Szmolyan,a.a.O.,
Vgl. Hauer, Die Tropenund ihre Spannungen zum Dreiklang, S. 258.
KlausLagaly
180
anderen(8"und 440) sind zwei der insgesamt3 Tropenmit Tritonusspannung
3:3 (vgl. die Tabelleder Tritonusspannungen
dereinzelnenTropen).Somitgibt
es in der Zwblftonmusik
80 (vomWesen her) verschiedeneSechsklAnge.
Wenn auch ,,die Transpositionender Skala in die zwilf Tonlagenftir das
Bedeutung
Melische,also fiir die Intervallverhiltnissekeineausschlaggebende
so sind sie bei Notierungund Bestimmungder Tropenunerlai3lich.
haben"59,
Hauer beginntbei seiner Numerierungder Tropentafelnmit dem Ton es als
Ausgangston(TafelI auf es) undendet mit seiner ZAhlungentsprechendbei d
(TafelXII auf d). Diese Numerierung,auf die nichteigens hingewiesenwird,
l•iBtsich etwa darausersehen, da3 eine auf fis basierendeTafel als Tafel IV
gekennzeichnet?ist oderan andererStelle die Tafelaufa (siehedie beigeffigte
Ubertragung)als TafelVII.
Wird eine Zwolftonfolgeoder Zwolftonmelodie(z.B. die von Hauer selbst
angegebene):f e d h c as I b a es cis fis g, d.h. Trope31, Tafel IV auf fis,
zweimalnacheinandernotiert, so lAit sichjede ihrer,,Phasen"einer bestimmten Tropeundeinerder zwilf Tafelnzuordnen;die 6. Phaseist wiederidentisch
mit der Ausgangstrope,d.h. mit der Grundgestalt,da sich (G)und (6)61lediglich durchdie Vertauschungder beidenHilften unterscheiden.
Die sechs Tropeneiner Zwilftonreihesind laut Hauer,,melischgebunden".
Die Bestimmungder Tropender Grundgestaltund der einzelnenPhasenmit
der jeweils zugeharigenTafel liefert eine eindeutigeCharakterisierung
jeder
Zwalftonmelodie.
beliebigen
Tropenschema:
(G):
f e d h c as
I b a es
cis
I
II
I
g [
f e d h c as
I
I
I
[
I I
I
I I I I I III
S
fis
II
1
"9 Hauer, VomMelos zur Pauke, S. 13;berticksichtigtmanzusatzlichzu den 12! verschiedenen Permutationeneiner Reihe noch die 12 Transpositionen,so ergeben sich 12 x 12! =
5749207200m6glicheAnordnungen.
in J. Sengstschmid,Zwischen Tropeund Zwblftonspiel,S. 31, abgedruckte
6 Vgl. die
Version.
61 Hierbei bezeichnet (G) die Grundgestaltund (6) die 6. Phase der zugrundeliegenden
Reihe, die beziiglichder Tropewiedermit der Grundgestaltidentischist unddahernichtmehr
explizit auftritt.(1)bedeutet die erste Phase der zugrundeliegendenZwolftonreihe,entsprechend (2) die zweite Phase usw. bis (5).
ZellulareVerbandsstrukturen
181
(G): (31/IV)62
(1): (40/VIII)
(2): (2/VI)
(3): (5/X)
(4): (15/VI)
(5): (35/IX)
kannes vorkommen,daBzwei undmehrPha,,Beigewissen Konstellationen
sen in der gleichenTropestehen, aber:jede Zwolftonmelodie
bewegt sich (mit
ihren Phasen!)in hochstenssechs Tropen"'. HauerbevorzugtsolcheReihen,
bei denenmehrerePhasender gleichenTropeangehorenkeineswegs;ganzim
Gegenteilbezeichneter sie als wenig abwechslungsreich.
Dennochhat er auchZwilftonmelodienbearbeitet,die eine solchespezielle
Konstellationaufweisen:
2
Mit gelben Blumen haenget und voll mit wilden Rosen6'
Tropenschema:
(G):
a h b cis
'I
S
d c
III
I II I I
I I
I
dis
e g fis
gis
'
a h b cis
dc
I
III
I
I I
' I
'
I
I
(G): (1/VII)
(1): (5/I)
(2): (17/II)
(3): (1/X)
(4): (17/X)
(5): (3/VI)
Die beiden widergleichenTropen1' und 170 kommenin dieser Anordnung
jeweils zweimalvor.
62
Die arabischenZahlenin der Klammerbezeichnendie Nummerder Trope (1-44), wAhrend die romischenZahlendie jeweilige Tropentafel(I-XII) kennzeichnen.
6
Hauer, Zwblftontechnik.Die Lehre von den Tropen. TheoretischeSchriften II, Wien,
1926, S. 5.
6
Der originaleAnfangvon H61lderlins
Hilfte des Lebenslautet: ,,Mitgelben Birnen ...".
182
KlausLagaly
Als Demonstrationder eindeutigenCharakterisierung
einer Zwalftonreihe
durchdas Tropenschemamit Angabeder Tropentafelnseien zwei Allintervallreihen betrachtet, deren erste Halfte auch in der Reihenfolgeder einzelnen
Tonetibereinstimmt;
es handeltsichum eine symmetrischeundeine nichtsymmetrischeAllintervallreihe.
Tropenschemader symmetrischenAllintervallreihe(AIR):
I
(G)
1I
I
Ii
It I
III
II I
t
c d dis
ais
I
I I
I
I
I I
r TI1
I
f
cis
h g e a gis
I
1I I t
I
I I
SI
I
I
I
cis
II c d dis ais
f is
It I
I
f
I
II
I
Die Symmetriebezuiglichdes Tritonuswird deutlich
durchden Unterschiedvon 6 Halbtonschritten(Tafel
VIII und Tafel II) im 1. und 2. Phasentripel.
(G): (17/VIII)
(1): (16/VIII)
(2): (42/VIII)
(3): (38/II)
(4): (42/II)
(5): (16/II)
Tropenschema der nichtsymmetrischen AIR:
(G):
c d dis
I II
I
ais
h gis
f
cis
I
I I
I
'
I
I
[~
_
(G): (17/VIII)
(1): (16/VIII)
(2): (43/VI)
(3): (33/XII)
II I
I
I
'
L
c d dis
e a g fis
I I
I
_
_
'
ais
cis
II
I
f
I
I
I
__
Schondie Folge der Tafeln103thier erkennen,daJ3bei
dieser ReihekeineIntervallspiegelung
vorliegt.Phase
2 bis Phase 4 sindhinsichtlichder Tropenkonstellation
verschiedenvon den entsprechendenPhasender sym-
ZellulareVerbandsstrukturen
183
metrischenAIR, obwohlnur die Tone g und gis der
zweiten Tropenhilfte der Grundgestaltvertauscht
sind.
(4): (32/II)
(5): (16/II)
IV. Schaffensperioden
im kompositorischen
WerkHauers
Trotz der verschiedenartigstenSchwierigkeiten,die sich bei der ErforundgenetischenEntschungvon HauersSatztechnikin ihrerchronologischen
wicklungergeben,lassen sich deutlichdrei vom Wesenher verschiedenePhasen seines kompositorischen
Schaffensunterscheiden.
1. Periode:
Diese erste Periodekannals Phase ,,freierAtonalitat"bezeichnetwerden;sie
erstrecktsichbis op. 18:DergefesseltePrometheusundist orientiertanHauers
selbst entwickelterKlangfarbenlehre.
3
Q
.
z
60
.1
. -oo
1: NTomo (2
Ouf
A
LA,
,o
J7.o
J._o
Opus 1: Nomos (1912/13)
.
so
'o~~~~
Bei dieser Kompositionhandeltes sich um ein im Februar1913vollendetes,
urspriinglichvon Hauer selbst instrumentiertes Orchesterwerkmit der
das allerdingsin dieser
Bezeichnung1. Symphonie(sieben Orchesterstiucke),
Form erst am 8.3. 1987im Rahmeneiner Veranstaltungder GalerieSt. Barbara des ORF und des InnsbruckerBrenner-Archivzur Urauffiihrunggelangte.
184
KlausLagaly
Im Werkverzeichnis
findetmandie Angabe:,,Opus1:Nomosin siebenTeilen
zu
zwei
und
vier Handen(Harmonium),FerdinandEbner gewidKlavier
fiur
met".Die Uraufffihrung
in dieserBesetzung,die am9. 5. 1914stattfand(ausgefiihrt von RudolfReti und Hauerselbst), war nochals ,,1. Symphonie(sieben
angekiindigt.
Orchesterstuicke)"
Der Titel ist angelehntan Platonsv6oog, woruntersowohlGesetzals auch
Weise (Melodie,Lied) verstandenwerden kann. Mit Hauers spiterem Verstindnis des ,,Nomosder atonalenMelodie"(demGesetzescharakter
zukommt)
in der
nicht
1
auch
deckt
sich
das
von
jedenfalls
Ergebnis
Opus keineswegs,
Ton
sich
kein
Tonreihe
schwicherenVersion, ,,daa innerhalbeiner gewissen
wiederholenund keinerausgelassenwerdendarf'.
Es liegt somit,,freie"Atonalitathinsichtlichdes von Hauerin seinentheoresowiehinsichttischenSchriftenbesondershervorgehobenen
Ganzheitsaspekts
lich der Anordnungdes chromatischen
vor. Ebensolassen
Materialsuiberhaupt
Musikauffassich zumindestdie FrUhwerkeHauersnichtals ,,geschichtsfreie"
des
zur
Welt
sen, da beispielsweisein Nomos op. 1 standig,,Bezlige
geschmiihten Wagner"festzustellensind und allgemeinergesehen:,,trotzaller ,Kurzatmigkeit'von HauersMusik- auchauf kleinstemRaum- die groBeGeste der
spitromantischenTraditionuberallprasentist"65.
0J . s2 (40).
p
Ir- r .,
A
-j
.•
A
A
A "AAl
A
A
A
A
A
;k
.
16.9. - 23. 10. 1913
Opus5:ApokalyptischePhantasiefiir Kammerorchester
'
Vgl. G. Crepaz,J. M. Hauer NOMOSop. 1, Melos, 1988, S. 31.
Zellulire Verbandsstrukturen
185
In Hauers Theorie der Klangfarbe wurde die Apokalyptische Phantasie als
Demonstrationsobjekt zur Verifizierung seiner Thesen herangezogen. Ferdinand Ebner (1882 - 1931), der bei der Abfassung der Arbeit iiber die Klangfarben mitgewirkt hatte', ,,schrieb im Juni 1919 eine auf Hauers Klangfarbenlehre aufbauende ,Analyse der apokalyptischen Phantasie', die im ersten Band
der Neuausgabe seiner gesammelten Schriften (1963) erstmalig abgedruckt
wurde:,Tatsichlich ist die Apokalyptische Phantasie die vollkommene kiinstlerische Konkretion der abstrakten Theorie der Klangfarbenlehre des Komponisten. Man achte aber auf eines: sie wurde im Herbst 1913 komponiert, die
grundlegenden Gedanken fir die Klangfarbenlehre entwickelten sich, langsam
und zunichst verworren genug, erst in den Jahren 1915/16. Davon kann also
gar nicht die Rede sein, daf3die Apokalyptische Phantasie auf Grundabstrakter
Spekulationen, etwa nach farbigen Prinzipien, die am Ende mit der Musik gar
nicht zu tun haben, mfihsam zusammenkonstruiert wurde'. Ebner war es iibrigens auch, der das - dem Komponisten zunAchstunbekannt gebliebene - Gesetz
des formalen Aufbaus dieses fuirHauer so bedeutsamen Werkes entdeckte"".
Ein Gesetz der,,atonalen Melodie"weist dieses Werk aber ebensowenig auf wie
Nomos op. 1, nicht einmal wenn man sich die ,,gewisse Tonreihe" nur aus den
vier T6nen c-es-g-h bestehend denkt, wie sie harmonischgesehen in Form des
groBen Septakkordes in Hauers Spatwerk (in den Zw6lftonspielen) zentrale
Bedeutung erlangen.
Als Kompositionsprinziplassen sich hier neben den klangfarbenspezifischen
eher gewisse symmetrische Anordnungen von Intervallen und Akkorden feststellen.
2. Periode:
Beginnend mit Opus 19 und seither erstmals bewui3t und konsequent auf das
von ihm entdeckte ,,Zw6lftongesetz", die ,,panchromatischeRegel" Bezug nehmend, bildet fir Hauer die Lehre von den Tropen die theoretische Grundlage
der folgenden Kompositionen.
Mag man einerseits von einer noch unentwickelten, primitiven Kompositionstechnik sprechen, so handelt es sich bei der dritten mit ,,Nomos" bezeichneten Komposition Hauers doch im wahrsten und strengsten Sinne um das von
ihm als Idealfall propagierte Zw6lftongesetz: ,,Zu Beginn bringt Hauer fiinfmal
dieselbe Zwilftonreihe unisono in Oktavparallelen, wobei die Lagen der Tone
stindig gewechselt werden. Die linearen zwilftinigen Figuren werden schlief3-
66Der von Ebner stammendeText ist in der Schriftbesondersgekennzeichnet;im
ubrigen
war Ebner Hauer mehrfachbehilflich,insbesonderebeim Abfassen theoretischerSchriften.
67Vgl. Szmolyan,a.a.O., S. 20.
186
KlausLagaly
............................................
.. ............................
•...........................
. .. . .
......
..
.......
42
8..
p
VP
?q
1 FU
.1
.. ..............
..................
..................
.............
•
I
'
--I-
---
,,4
Opus 19: Nomos fiir Klavier (Harmonium)(25.8. - 29.8. 1919)
lich durch Begleitakkorde und -tone gestiitzt, die den linearen Zwolftonkomplexen entnommen sind"'. Dieses in der Zwolftonschrift gedruckte Werk weist
folgende Zwolftonmelodie auf: b es f cis g e a c fis d h as
'
Vgl. Szmolyan,a.a.O., S. 36.
187
ZellulareVerbandsstrukturen
6
10. Doch, wie Rosea, verginglich war das fronune Leben
tr
, , jr r , Id*
r "r"r
r
ke
. .. . ,T
-
'
.
.
U
in:
F
war das frommeLeben",aus
Opus25 Nr. 10:,,Dochwie Rosen, vergainglich
nachFriedrichHilderlin (22.8.
60 kleineStitckefitr Klaviermit Uberschriften
- 11. 10. 1923)
Der Anfang dieses Beispiels eignet sich besondersgut fir eine ,,tropale"
Analyse, weil die verwendeteZwolftonmelodiedurcheinen wirklichenTaktstrich in zwei Gruppenzu je sechs Tonengeteilt ist69.
mit ihren5 Phasenhat folgendeGeDie zugrundeliegendeZwolftonmelodie
stalt:
(G):c h b ges a f
d cis
g dis gis e
c h b ges a f
69 Genausogeht Hauer in der Lehre von den Tropen vor, indem er die
zw61lfT6ne der
gleichschwebendenTemperaturin zwei gleichgrole Hilften zu je sechs T6nen teilt. Andere
Sttickedieses Opusenthaltenalle zw61lfT6ne in einem Takt (vgl. Nr. 6) oder weisen durchdie
Taktteilungdas Verhiltnis 7:5 auf (vgl. etwa Nr. 16).
188
Klaus Lagaly
(G): (6/XI)
(1): (25/X)
(2): (34/III)
(3): (21/XI)
(4): (39/XI)
(5): (10/XI)
Aus der Grundgestalt und den 5 Phasen lassen sich verschiedene Grade
,,melischer" Verwandtschaft der darin auftretenden Tropen erkennen. So hat
die erste Hailfte der Phase 1 zugeordneten Trope ftinf T6ne mit der ersten
Halfte der Grundgestalt gemeinsam; dieser Verwandtschaftsgrad nimmt ab bis
zu einem gemeinsamen Ton in der ersten Hilfte (und dementsprechend auch in
der zweiten Halfte) der Grundgestalt und der 5. Phase. Auf diese Weise lassen
sich melische Bindungen von beliebigem Verwandtschaftsgrad konstruieren,
ohne daBman die Tropentafel zu Rate zieht. Analog ergeben sich auch verschiedene Verwandtschaftsgrade innerhalb der einzelnen Phasen (nicht mehr notwendig ausgerichtet auf die Grundgestalt).
Das vorliegende Beispiel la13tsich auf mehrere Arten deuten:
1. Durch Verbindung melisch verwandter Tropen, wie sie sich aus obigem Tropenschema ersehen lassen.
2. Im Obergang vom ersten zum zweiten Taktpaar (und damit im Wechsel von der ersten zur zweiten Trope) ergibt sich folgendes Schema:
(G):h
b a f gis
e
I
des
c fis
I
'
I
d g es
Hh
b a f gis
e
j j
I
(G): (6/X)
(2): (34/II)
(3): (21/X)
(4): (39/X)
(5): (10/X)
- also einfach eine Transposition um einen Halbton tiefer.
3. Durch horizontale Oberlagerung von Fiinf-, Vier- und Dreitongruppen, wie sie von Sengstschmid70beschrieben wird.
70 Vgl. J. Sengstschmid,Zwischen Tropeund Zw6lftonspiel,J. M. Hauers Zwalftontechnik in ausgewdhltenBeispielen, Regensburg1980, S. 46f.
ZellulireVerbandsstrukturen
189
4. In traditioneller Dur- Moll- tonaler Betrachtung ergeben die Auflosungen auf den Schluf3zeiten der einzelnen Takte folgende Klangsequenz: F cis E c B fis A f Ges d C gis H g D b es G e As Des; dadurch
wird zwar das chromatische Total ausgesch6pft, aber nicht mehr im
Sinne eines Nomos.
3. Periode:
Nach der Zw61lftonmusikfilr Orchester op. 89, die 1939 entstand, hat Hauer
keines seiner Werke mehr mit einer Opuszahlversehen. Von diesem Zeitpunkt
an ,,liJ3tsich eine dritte und letzte Phase seines Schaffens konstatieren, die im
sogenannten ,Zw61lftonspiel'gipfelt. Fuir diese dritte Periode ist eine strenge
und totale Organisierung und Determinierung aller Komponenten der Musik
charakteristisch. Diese Determinierung kiindigt sich bereits in den frtiheren
Werken Hauers an; sie ist auch das Kennzeichen mancher sogenannter serieller
Techniken der Gegenwartsmusik"''7.
Die insgesamt annihernd 1000 ,,Zw6lftonspiele", die Hauer bis zu seinem
Tode schuf72, lassen sich rein schematisch einteilen in solche mit und ohne
Entstehungsdatum. Eines der letzten datierten stammt vom September 1958.
In seinen Untersuchungen spezieller Zwalftonspiele gelingt Sengstschmid73
anhand eines exakt formulierten Regelsystems eine ,,auf die Note genaue"
Rekonstruktion des datierten Zw6lftonspiels vom 11. 6. 1955. Sein Aufsatz
Anatomie eines Zwolftonspiels74(,,Anatomie"kann hier verstanden werden als
mikroskopische Anatomie, d.h. Lehre von feinem Gewebs- und Zellaufbau
,,lebender" Klinge) befal3t sich mit Hauers Zw6lftonspiel vom 30. Januar 1957;
unter Anwendung von 11 Spielregeln werden die verschiedenen kompositorischen M6glichkeiten dargestellt, was sich, eingeschrankt auf die
Tonh6henAus einer
struktur, zusammenfassend so charakterisieren lAB3t:
Zw6lftonreihe,
deren Potential mit Hilfe der Tropenuntersuchung bestimmt und erkannt werden kann, ,,mit dem Ambitus einer grof3en Septim wird eine vierstimmige
Klangreihe abgeleitet, die sich nach der dazugehcrigen Dreitongruppen-Kombination orientiert. Der formale Ablauf des Zw6lftonspiels ergibt sich, indem
man diese Klangreihe in zweifacher Weise modifiziert: zum einen erzielt man
durch Oktavversetzung der Dreitongruppen drei ,Umkehrungen' der Klangreihe (so wie die ,Umkehrung' eines Septakkords zum Quintsextakkord, zum
Terzquartakkord sowie zum Sekundakkord fUhrt);andererseits lAf3tsich jede
ist demnachdie Musikaus der Mitte
71 Vgl. Szmolyan,a.a.O., S. 9; mit Gegenwartsmusik
der sechzigerJahre gemeint.
7 Neben den Zw6lftonspielenhat Hauer in dieser Phase nur wenig andersartigeMusik
geschrieben.
7
Vgl. J. Sengstschmid,KreativesSpielen mit T6nen, Regensburgo.J.
J.
Sengstschmid, Anatomie eines Zw6lftonspiels. Ein Blick in die WerkstattJosef
74
Matthias Hauers, ZfMth1971, S. 14-34.
190
Klaus Lagaly
dieser vier Erscheinungsformen
der Klangreihenochrtickliufigim Sinne des
Akkordkrebsesverwenden.Somiterhaltenwir insgesamt8 zusammengehorige
aneinanKlangreihen,und sie werden nachdem Prinzipder ,Terrassenform'
hinterdreimal
in
dieser
Die
8
treten
Komposition
Klangreihen
dergefiigt""75.
einanderauf. Hauersieht die gewahlteZwolftonreiheals in sich geschlossene
Ganzheitan:
9
a
es
f
as
d
b
des
c
h
ges
e
mit ihrenPhasenunterscheidetsich
Der Tropenplandieser Zwolftonmelodie
nur in der Anordnung,je nachdem,ob man die Reihe im oder gegen den
Uhrzeigersinnliest:
(G):g
a f b des
I I
I
(18/)
iii(G):
I
I
ges
e h c d as es
'
I
(13/XI
II
I
I g a
(3):
t
f b des
I lI
ll
I)I
I
I
(1):(26/V)
(2): (23/V)
IG
(4): (9/IX)
(5):(42/IX)
Die Anordnung der Tropen im Gegenuhrzeigersinn:
5
Vgl. J. Sengstschmid,Zwischen Tropeund Zw(lftonspiel, S. 130.
ges
ZellulareVerbandsstrukturen
as d c h I e ges
des
b f a
(G):g.es
I'I I II I I
i1i
I
tI
III
I
191
II g es as d c h I
I
I II
'
'
II I
I
I1
(G):(26/V)
(3):(9/IX)
(1): (18/III)
(4): (13/XII)
(2): (42/IX)
(5):(23/V)
Dieser Zw6lftonreiheentsprichtnachAnwendungder Regeln die ebenfalls
in sich geschlosseneHarmonisierung(Klangreihe)(Beispiel7):
7
4•
4--
-IV-
Der groBeSeptakkordas-c-es-g erhilt eine Sonderstellungin der KomposisowieObergangselementzwischenvertion;er ist Anfangs-undSchluBakkord
schiedenenAbschnitten.Es fallt auf, daf3die T6nedieses Septakkordesin der
gegen den UhrzeigersinngelesenenZwolftonreihenahe beieinanderliegen.
Trotz der strengen Regeln und der damit verbundenenDeterminiertheit
liegt bei den fertigen Zwolftonspielenkeine wirklicheAtonalitAtim Sinne
Hauersvor, geschweigedenn ein Nomosder atonalenMelodie.
So gesehenerscheintauchdie dritte Schaffensperiode
Hauersebensowie die
erste wieder als eine Phase ,,freier"Atonalitat.
(Fortsetzung und Schlufl im ndchsten Heft)