Der Ring, der nie gelungen

Transcrição

Der Ring, der nie gelungen
Sonntag, 10. Juli 2016
15.04 – 17.00 Uhr
Georg Solti.
Eine Sendereihe von Kai Luehrs-Kaiser
2. Folge:
„Der Ring, der nie gelungen“? Solti als Wagner-Dirigent
Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zur 2. Folge einer Sendereihe über
den Dirigenten Georg Solti. Heute über „Der Ring, der nie gelungen?“ Solti als
Wagner-Dirigent.
1
Decca
LC 00171
455 567-2
Track 403, 404
Richard Wagner
“Haha! Da hätte mein Lied” (Siegfrieds
Hornruf) aus “Siegfried”, 2. Akt
Wolfgang Windgassen, Tenor (Siegfried),
Kurt Böhme, Bass (Fafner)
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1962
5’36
Sie hörten die märchenhafte Tötungsszene aus dem „Siegfried“ von Richard
Wagner, also des 3. Teils (respektive des Zweiten Abends) innerhalb des Zyklus
„Der Ring des Nibelungen“.
Georg Solti dirigierte die Wiener Philharmoniker. Die Solisten waren: Wolfgang
Windgassen als Siegfried und Kurt Böhme als Drache Fafner, dem von dem naiven
Helden, der aus den Büschen kam, sein Schwert in das Herz gestoßen wird. 1962
war dies die erste Gesamtaufnahme dieser Oper – und nicht nur dieses einzelnen
Teiles des „Rings“. Das Wagnis, alle vier Teile ungekürzt auf Schallplatte zu bannen,
hatte zuvor als vermessen, als nicht realisierbar gegolten. Zuvor hatte es nur eine
einzige Gesamtaufnahme eines Einzelteils des „Rings“ gegeben, nämlich der
„Walküre“, 1954 unter Wilhelm Furtwängler. Georg Solti war mithin der erste, dem
ein solches Mammut-Projekt aller vier „Ring“-Teile übertragen wurde.
Dass sein „Ring“ bis heute als eine, wenn nicht als die Referenzaufnahme von
Wagners Tetralogie gilt, mag mit der Aufbruchstimmung zu tun haben, die bei dem
ganzen Projekt spürbar ist. Aber es liegt gewiss auch daran, dass damals – mit
Sängern wie Birgit Nilsson, Hans Hotter und George London – noch Sänger zur
Verfügung standen, die gleichfalls für eine Studioaufnahme dieser Werke nie
wieder zur Verfügung stehen sollten.
Heute, meine Damen und Herren, geht es um Georg Solti als Wagner-Dirigent.
Ich habe bereits in der letzten Woche angedeutet: Für Solti selber bedeuteten die
Aufnahmen von „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ Werk-Debüts; er hatte zuvor
szenisch lediglich „Rheingold“ und „Walküre“ dirigiert; und zwar in München. Auf
die ‚Herkunft’ Soltis (wenn man so sagen kann) aus dem deutschen StadttheaterSystem werden wir später in dieser Sendereihe noch zurückkommen.
Georg Solti – 2. Folge
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Heute geht es um Solti als Wagner-Dirigenten, und wie er mit dieser (für ihn selber
neuen und unerwarteten) Spezialisierung aufs schwere, deutsche Fach im Grunde
den Grundstein überhaupt für seine Weltkarriere legte. Wie war man bei dieser
Aufgabe überhaupt auf einen Dirigenten verfallen, dessen Erfahrungen in diesem
Repertoire sich offenbar in engen Grenzen hielten? Die Antwort auf diese Frage
liegt ganz eindeutig in der folgenden Aufnahme begründet, mit der Solti 1957
abrupt die Bühne der Wagner-Diskographie betreten hatte. Es handelt sich um Teile
der Akte 2 und den 3. Akt der „Walküre“, also des Ersten vollgültigen Abends der
Wagner-Tetralogie im Jahr 1957. Das Orchester bestand gleichfalls aus den Wiener
Philharmonikern. Als Sänger aber standen damals noch Protagonisten der älteren
Generation von Wagner-Sängern zur Verfügung, darunter Kirsten Flagstad, Set
Svanholm, Otto Edelmann und Marianne Schech.
Diese Ausgabe von kleinen Teilen des „Rings“, wenn ich mich so ausdrücken darf,
war kommerziell so erfolgreich gewesen, dass sie ihrem Dirigenten, Georg Solti, den
vorher genannten, mehr als lukrativen Folge-Auftrag bescherte. Wenn die
Weltkarriere Soltis tatsächlich eine Folge des „Ring“-Erfolgs gewesen sein sollte, so
hing alles am – in der Tat seidigen Faden – der folgenden, grandiosen Aufnahme.
Wir hören – tänzisch beschwingt wie kaum je wieder – den Beginn des 3. Akts.
Hojotohoh – und ab dafür!
2
Decca
LC 00171
425 986-2
Track 001,
002, 003,
004
Richard Wagner
“Hojotoho! Hojotoho!” aus “Die Walküre”, 3. Akt
Oda Balsberg, Sopran (Gerhilde), Ilona Steingruber,
Sopran (Ortlinde), Grace Hoffmann, Mezzo-Sopran
(Waltraute), Margaret Bence, Mezzo-Sopran
(Schwertleite), Claire Watson, Sopran (Helmwige),
Anny Delorie, Mezzo-Sopran (Siegrune), Frieda
Roesler, Mezzo-Sopran (Grimgerde), Hetty
Plümacher, Sopran (Roßweiße), Kirsten Flagstad,
Sopran (Brünnhilde), Otto Edelmann, Bass-Bariton
(Wotan)
Ltg. Georg Solti
1957
11’32
Der Beginn des 3. Aktes der „Walküre“, und zwar als Ausschnitt aus der alten
Aufnahme unter Leitung von Georg Solti – nicht aus der Gesamaufnahme der
Tetralogie, sondern der Aufnahme des 3. Aktes sowie der „Todverkündung“ aus
dem 2. Akt der „Walküre“, mit denen Solti 1957 gleichsam seine Talentprobe in
Sachen Wagner abgelegt hatte. Mit der Gesamtaufnahme des Zyklus begann man
erst ein Jahr später (in Gestalt des „Rheingold“).
Bevor wir hierzu kommen, noch die Solisten dieses grandiosen Vorläufers: Kirsten
Flagstad als Brünnhilfe sowie als Walküren: Oda Balsberg, Ilona Steingruber, Grace
Hoffmann, Margaret Bence, Claire Watson, Anny Delorie, Frieda Roesler und Hetty
Plümacher.
Damit hatte Solti – schon auf Geheiß des Schallplattenproduzenten John Culshaw –
gleichsam seine Wagner-Visitenkarte abgegeben. Erste Wahl für den gesamten
“Ring” war er danach trotzdem nicht. Eigentlich sollte Hans Knappertsbusch, der
damals konkurrenzlose Haudegen eines eher hemdsärmeligen Wagner-Mystizismus,
die Leitung übernehmen sollen. Aber Knappertsbusch hasste Schallplatten-
Georg Solti – 2. Folge
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Aufnahmen (übrigens ähnlich wie Furtwängler). So besann sich Culshaw auf den
damals 45-jährigen, jungen Ungarn Georg Solti, der auch in München und Frankfurt
schon eine so außerordentlich gute Presse gehabt hatte.
Noch andere Schwierigkeiten waren zu überwinden. Bei der Wahl eines Tenors für
die Rolle des Siegfried befand man sich (schon damals...) in ähnlicher Verlegenheit
wie man es heute wäre. Wolfgang Windgassen, der die Rolle schließlich
übernehmen sollte und den wir am Eingang dieser Sendung bereits hörten, war
keineswegs nach dem Sinn des Produzenten. Windgassen gilt uns zwar heute
beinahe als Idealverkörperung eines Wagner-Sängers. Doch seine Stimme war zu
klein. Er war in Stuttgart aus dem Mozart-Fach und aus Operetten hervorgegangen.
Wieland Wagner hatte sich seiner in Bayreuth angenommen und bewirkte wohl
tatsächlich eine Vergrößerung der Stimme. Ursprünglich jedoch wollte man jemand
anderen haben: den Tenor Ernst Kozub. Doch Kozub ‚packte’ die Aufgabe nicht.
1958 freilich startete man zunächst, ohne derlei Probleme lösen zu müssen. Im
„Rheingold“, hier eigentlich als Versuchsballon losgelassen, benötigt man keinen
großen Heldentenor. Zu diesem Zeitpunkt freilich konnte man sogar den Loge noch
mit Set Svanholm besetzen.
Auch die große Kirsten Flagstad, als Wagner-Heroine bis heute unerreicht, stand
noch einmal zur Verfügung – als Fricka. George London sang den Wotan und Gustav
Neidlinger den Alberich. Es war der letzte, audiophone Abglanz einer noch ganz
intakten Welt des Wagner-Gesangs.
Von da an ging’s bergab, könnte man sagen.
Georg Solti jedoch begann, beflügelt von solchen Sängerleistungen, seine Karriere
mit einer ”Rheingold“-Produktion, die alle Erwartungen übertraf.
3
Decca
LC 00171
455 556-2
Track 114,
115
Richard Wagner
“Was sinnt nun Wotan so wild?” und Schluss der 2.
Szene aus “Das Rheingold”
Set Svanholm, Tenor (Loge), Kirsten Flagstad,
Mezzo-Sopran (Fricka), Eberhard Wächter, Bariton
(Donner), Waldemar Kmentt, Tenor (Froh), George
London, Bass-Bariton (Wotan), Gustav Neidlinger,
Bass-Bariton (Alberich), Paul Kuén, Tenor (Mime)
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1958
8’00
Der Schluss der Zweiten Szene und Abfahrt nach Nibelheim aus dem „Rheingold“,
der ersten Gesamtaufnahme der Oper unter Leitung von Georg Solti. Im Jahr 1958
spielten die Wiener Philharmoniker. Die Solisten: Kirsten Flagstad (als Fricka),
George London (als Wotan), Set Svanholm (als Loge), Eberhard Wächter (Donner),
Waldemar Kmentt (Froh) sowie zuletzt Gustav Neidlinger (als Alberich) und Paul
Kuén (Mime).
Die Reaktionen waren gut. Man konnte weitermachen und den bis heute vielleicht
rundum befriedigendsten „Ring“ von allen schmieden.
Warum gilt Wagners Opus magnum trotzdem einigen Leuten als der „Ring, der nie
gelungen“? Nun, auf Schallplatten gibt es bestimmt Werke, die weniger gut
gelungen sind als gerade dieser, bei Solti noch vorzüglich besetzte „Ring des
Nibelungen“. Trotzdem mag man gerade in Bezug auf den Dirigenten eine gewisse
Georg Solti – 2. Folge
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Überbetonung der Leitmotive, eine ‚Zeigestock’-Dramaturgie beklagen, die zu jeder
Figur etwas phantasiearm jenes Versatzstück aus dem Setzkasten nimmt, das von
Wagner für die betreffende Figur angefertigt wurde.
Das bedeutet: Ein etwas unflexibler Umgang mit den repetitiven Elementen des
„Rings“. Das führt bei Solti zu einer gewissen Monotonie und Eindimensionalität des
Hergangs. Die Leitmotive werden allzu sehr in den Vordergrund gedrängt – und
irgendwann kann man sie fast nicht mehr hören. Genau das war zweifellos ein
Zeichen der mangelnden Erfahrung Soltis mit der Materie. Ein Versuch, sich in dem
Meer von musikalischen Bezügen mittels kleiner Motiv-Anker zurecht zu finden –
um nicht unterzugehen. Trotzdem, wie gesagt, wurde der „Ring“ denkbar glücklich
zu Ende geführt.
Ein Prachtbeispiel etwa mit der gloriosen Birgit Nilsson steht noch aus. Hier ist es
schon: Liebesduett und Siegfrieds Rheinfahrt aus Wagners „Götterdämmerung“.
Mit Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen, nunmehr im Jahr 1964. Denn sechs
Jahre dauerte die Vollendung dieses „Ring“. Die Wiener Philharmoniker unter
Georg Solti.
4
Decca
LC 00171
455 570-2
Track 105,
106, 107
Richard Wagner
“Willst du mir Minne schenken” und Siegfrieds
Rheinfahrt aus “Götterdämmerung”, 1. Akt
Birgit Nilsson, Sopran (Brünnhilde), Wolfgang
Windgassen, Tenor (Siegfried)
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1964
14’02
Liebesduett und Siegfrieds Rheinfahrt aus dem 1. Akt der „Götterdämmerung“ von
Richard Wagner. Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen feierten sich als erstes,
komplettes Walküren-Wälsen-Paar der Schallplattengeschichte. Georg Solti
dirigierte im Jahr 1964 die Wiener Philharmoniker und schloss damit die erste,
zyklische Schallplatten-Einspielung des „Rings“ noch durchaus nicht ab; denn man
hatte die Werke nicht in der richtigen Reihenfolge aufgenommen; „Walküre“ sollte
erst noch folgen. Und es war nicht das stärkste Stück. Denn, um den paradoxalen
Sachverhalt noch einmal auf den Punkt zu bringen: Solti war bei genau jenen
beiden Teilen des „Rings“ am Besten, die er noch gar nicht dirigiert hatte; bei
„Siegfried“ und „Götterdämmerung“.
Dietrich Fischer-Dieskau, der in der „Götterdämmerung“ einen, ich finde:
hinreißenden Gunther sang, berichtet, er habe Solti die Phrasen seiner Partie öfters
direkt vor der Aufnahme vorgesungen; gleichsam um zu zeigen, was er ihm
anzubieten hatte. Und Solti, jedes Mal in ein breites, beseligtes Grinsen ob so viel
Wohllaut ausbrechend, habe immer ausgesehen, als gehe ihm ein Licht auf.
Nun, so wird wohl auch gewesen sein.
Noch ein Wort zum Orchester. Die Wiener Philharmoniker, wie ein genaues
Hinhören lehrt, waren damals noch durchaus nicht das brillante und technisch über
jeden Zweifel erhabene Orchester, das sie heute sind. Kleinere Schwächen bei den
Blechbläsern, aber auch ein zu weicher Streicherklang könnte man durchaus als
unidiomatisch bekritteln.
Es ist kein Zufall, dass sich die Karriere der Wiener Philharmoniker als WagnerOrchester vor allem auf die Aufnahmen unter Solti erstreckt – und sich damit auch
Georg Solti – 2. Folge
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erschöpfte. Spätere „Ring“-Projekte etwa wurden nie wieder mit diesem Orchester
realisiert. Zweifellos auch wegen einer teilweise zu süffigen – zu Wienerischen
Klangauffassung.
Dennoch war das gloriose „Ring-Großprojekt“ der Auftakt zu einer der größten
Dirigentenkarrieren des 20. Jahrhunderts – aber durchaus nicht der Auftakt zu
einer der größten Wagner-Dirigentenkarrieren. Das muss hier gleichfalls
festgestellt werden. Nur mit zwei Opern Wagners gelangen Solti anschließend noch
maßstabsetzende Leistungen.
Zunächst zu den weniger befriedigenden Wagner-Aufnahmen Soltis. „Tristan und
Isolde“, bereits 1960 mit den Wiener Philharmonikern und Birgit Nilsson gleichsam
kurz zwischengeschaltet, während die „Ring“-Aufnahmen erst gerade begonnen
hatten, litt (selbst in den Augen Soltis) unter dem unzureichenden Fritz Uhl als
Titelheld. Solti wollte die Aufnahme in späteren Jahren wiederholen, aber das
scheiterte daran, dass Placido Domingo, der nunmehr vorgesehene Tristan, noch
nicht so weit war.
„Die Meistersinger“, 1975 mit Norman Bailey und René Kollo, war gleichfalls ein
Schmerzenskind Soltis; 1997 ließ er ihr in Chicago eine zweite Aufnahme folgen,
die indes gleichfalls mit José van Dam, René Pape und Ben Heppner zwar
erstklassig besetzt war, aber bereits einen Eindruck von Überreife und sogar
Müdigkeit erwecken konnte.
„Der fliegende Holländer“, 1976 in Chicago wiederum mit Norman Bailey, Martti
Talvela und Kollo, konnte es niemals mit den klassischen Aufnahmen unter Otto
Klemperer oder Antal Dorati aufnehmen.
„Lohengrin“ schließlich, 1986 mit Placido Domingo und Jessye Norman statuarisch
und unidiomatisch besetzt, litt kapital an einer Schwäche, welche die Welt lange
schon an Georg Solti wahrgenommen hatte – und die auch uns hier später noch
beschäftigen muss: an einer unsicheren Hand in Besetzungsfragen.
Das wären die Tiefpunkte. Und die Stärken? Nun, hören Sie einmal hier!
Mit „Tannhäuser“ etwa, 1970 mit René Kollo, Helga Dernesch und Christa Ludwig
in Wien entstanden, konnte Solti noch einmal von Sängersynergien profitieren, die
auch die alte Temperamentsmaschine des Dirigenten wieder voll in Gang setzte.
Dieser „Tannhäuser“ bot nebenbei mit Viktor Braun als Wolfram einen
interessanten, sonst vernachlässigten Sänger für eine der Hauptpartien. Hören wir
indes hier einen Auszug aus dem Venusberg.
5
Decca
LC 00171
414 581-2
Track 105, 106, 107
Richard Wagner
“Stets soll nur dir, nur dir mein Lied
ertönen!” aus “Tannhäuser”, 1. Akt
René Kollo, Tenor (Tannhäuser), Christa
Ludwig, Mezzo-Sopran (Venus)
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1970
11’19
René Kollo und Christa Ludwig – als Tannhäuser und Venus – in der Pariser Fassung
des „Tannhäuser“, maßstäblich aufgenommen 1970 mit den Wiener
Philharmonikern unter Georg Solti – hier im Kulturradio vom RBB in unserer 21teiligen Sendereihe über Georg Solti. Heute geht’s hier um Solti als WagnerDirigent.
Georg Solti – 2. Folge
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Denn die vielen Paradoxe, durch welche sein Dirigenten-Leben geprägt sind,
werden vermehrt durch die Tatsache, dass Solti zwar den Rang eines WeltklasseDirigenten durch Wagners „Ring“ begründete, von dem er weite Teile niemals zuvor
dirigiert hatte. Dass es ihm aber zugleich nicht gelang, die erfolgreiche „Ring“Strecke zu einem insgesamt erfolgreichen Wagner-Zyklus überhaupt zu erweitern.
Neben dem höchst erfolgreichen „Tannhäuser“ gab es – so muss man sagen – nur
noch ein einziges Werk Wagners, mit dem Solti einen epochalen Erfolg verbuchen
konnte. Und das war „Parsifal“.
1972 war der richtige Zeitpunkt, um zahlreiche Stammsänger späterer SoltiAufnahmen wie René Kollo und Christa Ludwig mit einigen Granden der jetzt
älteren Sänger-Generation zu kombinieren. Dazu zählte einerseits der (noch relativ
junge) Dietrich Fischer-Dieskau, der schon der „Götterdämmerung“ eigene Akzente
verliehen hatte. Aber auch Hans Hotter stand hier nochmals für die kleine Rolle des
Titurel zur Verfügung. Zoltan Kelemen war ein superb bösartiger Klingsor. Und
Gottlob Frick – einer der schwärzesten Bässe der Gesangsgeschichte – gab ein
ungewohnt warmstimmiges, menschliches Portrait der tragenden Rolle des
Gurnemanz.
Auch auf die Gefahr hin, diese Sendung mit einem Wagner-Overkill allzu sehr zu
beschweren, muss hier ein Ausschnitt auch aus dieser wunderbaren Aufnahme
folgen. Wenn man ihr etwas ankreiden könnte, so wäre es wiederum die allzu
zeigestockhafte Handhabung der Leitmotive. Sie führt teilweise zum unliebsamen
Eindruck, dass Wagners Spätwerk kaum mehr sei als ein Puzzle von FertigbauLeitmotiv-Teilen. Wir hören die Verwandlungsmusik des 1. Aktes – mit kurzem
Auftritt des Gurnemanz, der Gralsritter, der Jünglinge und Knaben.
6
Decca
LC 00171
470 805-2
Track 202
Richard Wagner
Verwandlungsmusik und “Nun achte wohl, und lass
mich seh’n” aus “Parsifal”, 1. Akt
Gottlob Frick, Bass (Gurnemanz), Robert Tear,
Tenor, Herbert Lackner, Bass-Bariton (Gralsritter)
Wiener Sängerknaben
Konzertvereinigung Wiener Staatsoperchor
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1972
12’14
Verwandlungsmusik und “Nun achte wohl, und lass mich seh’n” aus “Parsifal”, 1.
Akt.
Gottlob Frick (Gurnemanz), Robert Tear und Herbert Lackner (Gralsritter) sowie die
Wiener Sängerknaben, die Konzertvereinigung Wiener Staatsoperchor und Wiener
Philharmoniker unter Leitung von Georg Solti – hier im Kulturradio vom RBB in
unserer Sendereihe über den Dirigenten Georg Solti.
Dass Solti zwar durch Wagners „Ring“ groß wurde, aber – trotz des wunderbaren
“Parsifal“ und trotz einer sehr schönen Referenzaufnahme des „Tannhäuser“ –
keineswegs ein Wagner-Dirigent, der sozusagen sakrosankt gewesen wäre, das
sollte sich viel später noch einmal zeigen. Und zwar auf für Solti selber bittere
Weise.
Für das Jubiläumsjahr 1983 überredete Wolfgang Wagner den längst zu Weltruhm
gelangten Solti, sein spätes Bayreuth-Debüt zu absolvieren. Auf dem Programm
Georg Solti – 2. Folge
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stand Soltis Pracht-Werk schlechthin, der “Ring des Nibelungen“. Eine sichere Bank,
würde man denken. Ja mehr als das: eine Bayreuth-Sensation.
Nun lag zwischen dem „Ring“ auf Schallplatte und diesem geplanten Bayreuther
Solti-Ring eine weitere, negativ verlaufene „Ring“-Erfahrung von Solti. An der
Pariser Opéra hatte Solti 1976 – unter der Intendanz von Rolf Liebermann – einen
szenischen „Ring“ gestartet, der nie über den Ersten großen Abend hinauskam. Er
wurde, nachdem „Rheingold“ und „Walküre“ mit Ach und Krach über die Bühne
gegangen waren, abgebrochen.
Zugrunde lagen Konflikte Soltis mit den Regisseuren. Es handelte sich um Peter
Stein und Klaus Michael Grüber, beide von der Berliner Schaubühne. Nicht nur mit
dem Dirigenten, sondern auch mit einzelnen Sängern waren die Regisseure, damals
noch jung und revolutionär, aneinander geraten. Zwischen Christa Ludwig und
Klaus Michael Grüber waren schon während der Probenzeit Grobheiten
ausgetauscht worden, die sich hier nicht einmal zitieren lassen. Die ganze
Produktion flog auseinander – und hinterließ bei Georg Solti, dem Dirigenten,
massive Vorbehalte gegenüber der aktuellen Opernregie.
Als er viele Jahre später in Bayreuth für den „Ring“ zusagte, sollte dies für ihn mit
einer strengen Rückbesinnung auf die szenischen Anweisungen Wagners im
Libretto einhergehen. Also: Wasser im „Rheingold“, Feuer in der „Walküre“, Wald im
„Siegfried“. Und natürlich ein Bärenfell. Die Aufführung in der Regie des mit Solti
gut bekannten Sir Peter Hall wurde kein großer Erfolg. Aber Solti selber ging auch
nicht ungeschoren aus der Angelegenheit hervor. Die Bedingungen seien sehr
schwierig gewesen, räumte er selber ein. Die Probenzeiten in Bayreuth würden
nicht dem entsprechen, was er im Allgemeinen gewohnt sei. Es würde ganz auf sein
Improvisationstalent ankommen. Solti enttäuschte. Womit sein Image als einer der
besten Dirigenten der Welt durchaus einen kleinen Knacks erhielt.
Interessant ist es doch – und mag hier zur Entlastung angeführt werden –, wie sehr
Solti das vielleicht nicht befriedigende Ergebnis selber hatte kommen sehen.
O
7
Ein
Vormittag
mit Georg
Solti (= Nr.
1)
Track 001,
ab 1:55
Interview Georg Solti 1983 (über das Engagement
zum Bayreuther Ring):
“Ich habe mir die Finger schon zwei Mal am “Ring”
verbrannt, und ich wollte nichts mehr davon wissen.
Weil ich glaubte, dass man die szenischen
Anweisungen von Richard Wagner, dass man das
nicht machen kann. Respektive dass man das
reaktionär oder was findet. Ich mir klar darüber,
dass ich “Rheingold” ohne Wasser, “Walküre” ohne
Feuer oder “Siegfried” ohne Wald nicht machen
kann. Nicht will und nicht kann. (…) Herr Wagner hat
es akzeptiert. (…) (4:25) Wir wollen genau das
hinstellen, was Wagner geschrieben hat. Das ist
natürlich ein Wagnis heute. Den Chéreau–Ring hab
ich ungeheuer interessant gefunden, aber total
falsch. (…) (7:50) Ich habe nur zwei Bedingungen
gestellt. Ich möchte ein Mal im Leben Wasser sehen.
(…) Und dass die Mädchen nicht irgendwo in den
Kulissen versteckt sind. (…) (11 :45) Dann kam
sofort das zweite Wagnis. Ich wollte so gern, dass
2’40
Georg Solti – 2. Folge
Seite 8 von 11
niemand aus dem früheren Ring-Besetzung kommt,
sondern alles ganz neu. Es handelt sich um 40
Sänger. Ist mir auch gelungen bis auf zwei.
O
8
Ein
Vormittag
mit Georg
Solti (= Nr.
1)
Track 001,
ab ca. 15:40
bis 16:11
Interview Georg Solti 1983 (über das ihm
unbekannte Bayreuther Orchester):
Jürgen Meyer-Joosten: Sie haben ja noch die
Schwierigkeit, dass Sie ein Orchester haben, das sie
noch nie dirigiert haben!? (…)
GS: Ja. Das hat seine Vorteile auch. Nicht nur die
Nachteile.
JMJ: Worin würden Sie die sehen.
GS: Dass man nicht blasierte Musiker hat…
Georg Solti 1983 im Gespräch mit Jürgen Meyer-Joosten über den damals
geplanten Live-„Ring“ in Bayreuth.
Solti hatte in Bayreuth vor allem – wie so viele berühmte Dirigenten – mit der nicht
untückischen Akustik des Orchestergrabens zu kämpfen.
O
9
Ein
Vormittag
mit Georg
Solti (= Nr.
1)
Track 001,
ab 16:33 bis
18:30
Interview Georg Solti 1983 (über den Bayreuther
Orchestergraben):
Es ist eine Sitzweise da, die ich noch nie gemacht
habe. (…) Bei mir oben sind die Streicher. (…) Die
ersten Violinen sitzen da, und die zweiten da. Ich
werde stundenlang falsche Einsätze geben. Denn ich
bin es ja schon 50 Jahre lang anders gewohnt. Dann
sitzen die Holzbläser tief und die Blechbläser unten.
Die natürlich überhaupt nicht sehen und überhaupt
nicht hören. Das ist natürlich ein großer Nachteil
dieses Theaters, das so wunderbar klingt. Ein
Orchester kann wunderbar egalisieren, wenn Sie
hören. Sie hören aber nichts! Ich habe Pierre Boulez
gefragt, meinen alten Freund: Sag mal, Pierre, was
hört man denn da? Sagt er: Es ist so wie in einem
Swimming Pool. Stellen Sie sich vor, es ist Wasser
bis da. Und wenn Sie ein bisschen was von der Bühne
hören, ist es richtig. Wenn Sie zu viel hören, ist das
Orchester zu leise. Und wenn Sie gar nichts hören,
ist es zu laut. Nur, das ist natürlich ein bisschen zu
wenig. Das hat mir Pierre gesagt. Ich habe gefunden,
das ist ein hübscher Scherz. Aber wahrscheinlich ist
es wahr.
Ca. 1’50
So fasste Georg Solti die Voraussetzungen für seinen Bayreuther „Ring“, schon
bevor dieser in Szene ging, in ein Resümee zusammen, das bedenklich genug klingt.
O
1
0
Ein Vormittag
mit Georg Solti
(= Nr. 1)
Interview Georg Solti 1983 (über den
Bayreuther Ring):
Ich habe nicht genug Zeit. Es kommt auf meine
0’15
Georg Solti – 2. Folge
Track 001, ab
ca. 19:30 bis
20:00
7
Decca
LC 00171
455 562-2
Track 305
Seite 9 von 11
Geschicklichkeit an. Ich habe Angst.
Richard Wagner
“Kehrte der Vater nur heim!” (Schluss) aus “Die
Walküre”, 2. Akt
Régine Crespin, Sopran (Sieglinde), Gottlob Frick,
Bass (Hunding), James King, Tenor (Siegmund),
Birgit Nilsson, Sopran (Brünnhilde), Hans Hotter,
Bass (Wotan)
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1966
6’12
Der Schluss des 2. Akts aus Wagners „Walküre“, ein Ausschnitt aus der
Gesamtaufnahme des Ersten Tags im „Ring des Nibelungen“; jener Teil der
Tetralogie, mit dem Georg Solti seine Gesamtaufnahme des „Rings“
paradoxerweise abschloss; „Rheingold“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“
waren zum Teil antizyklisch vorangegangen; und zwar deswegen, weil es von der
„Walküre“ damals schon sowohl die Gesamtaufnahme Furtwänglers wie auch
verschiedene Teilaufnahmen gab, darunter diejenige der „Todverkündung“ und des
3. Aktes von Solti selber.
Soeben nun, in der Aufnahme von 1966 mit den Wiener Philharmonikern, waren die
Solisten die folgenden: Régine Crespin (Sieglinde), James King (Siegmund), Gottlob
Frick (Hunding) sowie Birgit Nilsson (Brünnhilde) und Hans Hotter (Wotan). Wagner
war für Georg Solti der Spiel- und Karrieremacher schlechthin; aber – so haben wir
festgestellt – längst nicht in Gestalt einer lückenlosen Siegesserie. Wie ist dies bloß
zu erklären?
Nun, es liegt, meine ich, doch in einem unkontinuierlichen Umgang Soltis mit
Wagner, also an einem ungeraden Angang auf diesen großen Komponisten, der
auch nur eine scheinbare Konstante in seinem Leben wurde. Die verzögerte
Erfahrung mit Wagner machte Solti im besonderen Maße anfällig für
Umgebungsfaktoren und Zittereffekte. Solti, ein im Interview äußerst ehrlicher und
meist unverblümter Mann, machte aus seiner späten Begegnung mit Wagner
übrigens kein Geheimnis:
O 11
Ein
Vormittag
mit Georg
Solti (= Nr.
1)
Track 001,
ab 21:20 bis
22:30
Interview Georg Solti (über erste WagnerErfahrungen):
Jürgen Meyer-Joosten: Wann haben Sie den Ring
zum ersten Mal zyklisch dirigiert?
GS: Recht spät in meinem Leben. Das war in England
zuerst. Ich hab zuerst in München mit “Walküre”
begonnen. Dann hab ich Rheingold, dann in
Frankfurt “Rheingold” und “Walküre” dirigiert.
“Siegfried” habe ich zum ersten Mal aufgenommen,
aber zuerst auf der Bühne erst 1964 in London
dirigiert. Dann habe ich in Paris einen Abortiv-Ring
gemacht, bei dem ich nach der Walküre
0’56
Georg Solti – 2. Folge
Seite 10 von 11
davongelaufen bin. Ich hätte schon früher
davonlaufen sollen, aber davon wollen wir nicht
reden. Das war meine Ring-Erfahrung. Dann habe ich
neuerdings eine Menge konzertante Ringe gemacht.
Übrigens hat sich Solti gelegentlich natürlich auch zu der Frage verhalten (und
verhalten müssen), wie er es als ungarischer Jude mit dem prononcierten
Antisemiten Wagner halte. Nebenbei, ehrlich gesagt: Was soll man schon auf eine
solche Frage antworten?! Solti hat sich knapp dahingehend geäußert, er wisse
zwischen der Musik Wagners und dem Charakter des Komponisten durchaus zu
unterscheiden. Wagners Antisemitismus mag unleugbar sein. Sein „musikalischer
Genius“, so Solti, ist es auch.
Hören Sie zum Ende der heutigen Folge unserer großen Sendereihe über Georg
Solti noch ein frühes Zeugnis der Wagner-Aktivitäten Soltis – aus dem Jahr 1947.
Solti war noch immer recht frisch in München. Am Prinzregententheater, der
damaligen Spielstätte der Bayerischen Staatsoper, war im April 1947 eine (rasch
zusammen gestellte) Premiere der „Walküre“ angesetzt worden. Es wurde Soltis –
damals ein verhungert aussehender Mannes mit früher Glatze – Debüt mit diesem
Werk. Besetzungsfragen war in diesen Jahren noch kein Problem. Mit Marianne
Schech (als Sieglinde) und Friedrich Dahlberg (als Hunding) standen Bayreuthwürdige Sänger zur Verfügung. Als Siegmund aber kam noch einmal ein Tenor zum
Zuge, der – rückblickend betrachtet – zu den zwei, drei Wagner-Tenören aller Zeiten
gerechnet werden darf: nämlich Franz Völker. Das waren noch DebütKonstellationen!
Hören Sie – als historisches Dokument von Graden – das klassische „Winterstürme
wichen dem Wonnemond“. Dass Franz Völker – einer der beste Lohengrine der
Wagner-Geschichte – in der Rolle des Wälsungen-Sprosses nur halb an seinem
Platze war, werden Sie trotzdem feststellen können. Georg Solti, am Pult des
Bayerischen Staatsorchesters, gibt einen erstaunlich flexiblen, weichen und
beinahe charmierenden Sänger-Begleiter. Der Kritiker Edmund Nick nannte Solti
trotzdem anschließend einen „fanatischen Eiferer“, der „die Härten der Konturen
scharf herausmeißelte“.
Heinz Pringsheim indes, Schwager von Thomas Mann und damals als Rezensent für
die „Süddeutsche Zeitung“ mit dabei, befand: „Dieser hervorragende Musiker weiß
sehr genau, welche stilbildenden Merkmale wesentlich sind. Insbesondere ist er sich
darüber klar, dass das geistige Gesetz dieses Stils nur in der strengen (...)
musikalischen Deklamation zu erfüllen ist“. Da fragt man sich: Wenn das schon
streng ist, dann pflegte man in München damals offenbar einen noch weicherkantableren Umgang mit Wagner – vielleicht genau den, der uns heute in häufigeren
Wagner-Kraftmeiereien oftmals fehlt.
Hier also: Solti am 7. Mai 1947 als – fast schon – Wagner-Weichmacher. Man lernt,
selbst bei einem scheinbar so sattsam bekannten Dirigenten wie ihm – doch nie aus.
Georg Solti – 2. Folge
8
Orfeo
LC 08175
C019 991 Z
Track 009,
010
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Richard Wagner
“Winterstürme wichen dem Wonnemond” (bis
Schluss) aus “Die Walküre”, 1 Akt
Franz Völker, Tenor (Siegmund), Marianne Schech,
Sopran (Sieglinde)
Bayerisches Staatsorchester
Ltg. Georg Solti
München, live 7. Mai 1947
14’57
“Winterstürme wichen dem Wonnemond” (bis Schluss) aus “Die Walküre”, 1 Akt,
von Richard Wagner. Sie hörten Georg Solti bei seinem “Walküren”-Debüt live in
München am 7. Mai 1947 (im Prinzregententheater). Es spielte das Bayerische
Staatsorchester. Die Solisten waren der legendäre Franz Völker (Siegmund) und
Marianne Schech (Sieglinde).
Und damit Schluss für heute innerhalb unserer Sendereihe über den Dirigenten
Georg Solti im Kulturradio vom RBB. Dies war eine Sendung über Solti als WagnerDirigenten – unter dem Titel: “Der ‘Ring, der nie gelungen’?”
In der nächsten Woche geht es um Soltis Anfänge in Ungarn: Eine Jugend in
Budapest.
Mein Name ist Kai Luehrs-Kaiser. Ich wünsche Ihnen im weiteren Verlauf unseres
Programms viel Vergnügen. Bis zur nächsten Woche.