pdf - Zeitschrift Seelenpflege

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pdf - Zeitschrift Seelenpflege
Seelenpflege
in Heilpädagogik
und Sozialtherapie
Bewusstsein und Wille
Hirten und Könige
Der Weg des Wissens durch die Nacht
Esoterischer Mut
2 | 2013
Editorial
«Das gemeinsame, wertschätzende Betrachten und Wahrnehmen»
ist gleichsam die komplementäre Seite zur künstlerischen Produktion und ein wichtiges Prinzip nicht nur im Kunstunterricht,
sondern der Pädagogik überhaupt. Claudia Fabisch-Pieper
beschreibt es als ein zentrales Geschehen ihres Unterrichts.
Die Bilder ihrer Schüler geben diesem Heft Gestalt und Farbe.
Auch die Beiträge sind keineswegs Grau in Grau. Von Bente
Edlund lesen sie die schriftliche Fassung ihres Vortrags an der
Internationalen Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie
im letzten Oktober am Goetheanum. Einen Farbtupfer aus
dieser Tagung steuert auch Heiner Priess mit seinem Beitrag
«Esoterischer Mut - Liebevolle Hingabe - Andacht zum Kleinen»
bei. Auch der Beitrag von Bernd Kalwitz «Der Weg des Wissens durch die Nacht» ist die Frucht einer Tagung, nämlich der
Internationalen Ausbildertagung 2012 in Kassel. Jan Göschel
schreibt unter dem Titel «Hirten und Könige» über Phänomene
aus den Autismus-Spektrum-Störungen.
Es ist Zeit, wieder aus dem Arbeitsfeld der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie zu berichten. Kein leichtes, aber am
Ende doch gelungenes Arbeitsjahr. Einige Berichte aus der internationalen Szene der Heilpädagogik und Sozialtherapie finden
sicherlich ebenfalls Ihr Interesse. Wir wünschen Ihnen einige
Mussestunden um diese interessanten Beiträge in Ruhe zu lesen.
Inhalt
Seite 6
Bewusstsein und Wille im
Heilpädagogischen Kurs
Rudolf Steiners
Bente Edlund
Seite 16 Aus dem Kunstunterricht der
Mittelstufe
Claudia Fabisch-Pieper
Seite 27
Jahresbericht 2012
Rüdiger Grimm
Seite 37
Die Sozialtherapeutische
Arbeitsgruppe
Andrea Kron-Petrovic
Meditative Menschenkunde –
der Weg des Wissens durch die
Nacht
Bernd Kalwitz
Seite 38
Seite 18 Hirten und Könige –
ein Weihnachtsbild zur
Autismusforschung
Jan Göschel
Solange man mit einer solchen Eigenschaft des Kindes, dass es zum B
pathie oder Antipathie hat, wenn es in gelindem Masse auftritt, solan
lich noch nicht wirksam erziehen. Erst dann, wenn man es so weit ge
wird, dass man sie mit einer gewissen Gelassenheit als objektives B
die im astralischen Leib befindliche Seelenverfassung da, die in rich
er alles übrige mehr oder weniger richtig besorgen. Denn, meine lie
genommen ist, was man als Erzieher oberflächlich redet oder nicht re
Seelenpflege
in Heilpädagogik
und Sozialtherapie
Bewusstsein und Wille
Hirten und Könige
Der Weg des Wissens durch die Nacht
Esoterischer Mut
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2 | 2013
Herausgeber:
Konferenz für Heilpädagogik und
Sozialtherapie
in der Medizinischen Sektion
der Freien Hochschule für
Geisteswissenschaften am Goetheanum
Dornach (Schweiz)
Redaktion:
Rüdiger Grimm
Bernhard Schmalenbach
Gabriele Scholtes
Seite 44 Esoterischer Mut – liebevolle
Hingabe – Andacht zum Kleinen
Heiner Priess
Seite 50 Nachruf Wilhelm Uhlenhoff
Rüdiger Grimm
Seite 53 Berichte:
Ausbildung in Thailand
Angelika Gäch
Arbeitsbericht der Ärzte
Christoph Wirz
Seite 54 Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Istok
Hans Gammeter
Seite 56 Rezensionen:
Andreas Fischer
Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen mit
Behinderungen
Thomas Schoch (Rezension)
Beispiel gehen will und nicht gehen kann (...) solange man damit Symnge man in Erregung kommen kann dabei, so lange kann man eigentebracht hat, dass einem eine solche Erscheinung zum objektiven Bild
Bild nimmt und nichts anderes dafür empfindet als Mitleid, dann ist
htiger Weise den Erzieher neben das Kind hinstellt. Und dann wird
eben Freunde, Sie glauben gar nicht, wie gleichgültig es im Grunde
edet, und wie stark es von Belang ist, wie man als Erzieher selbst ist.
Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
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Bente Edlund
Bewusstsein und Wille im Heilpädagogischen Kurs
Rudolf Steiners
Die Frage nach dem ‹guten Handeln›1 entfaltet sich im Übergang zwischen Bewusstsein und Willen. Die folgenden Ausführungen möchten diesen Bezug unter pädagogischer und heilpädagogischer Perspektive beleuchten, unter Berücksichtigung von
Ausführungen Rudolf Steiners in der Allgemeinen Menschenkunde und im Heilpädagogischen Kurs. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Thema des Willens. Von dort
ausgehend werden einige das Bewusstsein betreffende Aspekte behandelt.
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Beiträge
Zum Konzept des Willens in der Gegenwart
Der Begriff des Willens findet in der heutigen Diskussion nur wenig Beachtung. Im
Rahmen der Waldorfpädagogik und der anthroposophischen Heilpädagogik wiederum kann ‹Wille› als ein komplexes und dynamisches Konzept gelten; die Waldorfpädagogik ist die einzige Richtung der Pädagogik in Skandinavien, welche mit einem
genuinen Willensbegriff operiert. Dabei geht es zum einen um das Konzept und zum
anderen um das Erleben einer konkreten seelischen Kraft, welche wir Wille nennen
können. Es stellt sich die Frage, ob das einstmals zentrale philosophische Konzept
des Willens in unserer digitalisierten und intellektualisierten Gegenwart an Aktualität
und Gültigkeit verloren hat, oder ob nicht im Gegenteil der Frage nach dem Willen
heute eine besondere Bedeutung zukommt.
In seinem Heilpädagogischen Kurs erwähnt Rudolf Steiner im Zusammenhang mit
der Frage des Willens die Geschichte eines hier namentlich nicht genannten jungen
Mannes, der später als der Sohn des Philosophen Franz Brentanos identifiziert wurde.
Nach Steiner litt dieser Mann unter einer Art Willensstörung, die sich in der folgenden
Situation manifestierte: Er wollte mit der Strassenbahn fahren und stand auf dem
Bahnsteig, konnte jedoch seinen Körper nicht in Bewegung bringen, sodass die Bahn
letztendlich ohne ihn abfuhr. Im weiteren Verlauf seiner an dieser Stelle knappen
Ausführungen bringt Steiner diese Willenshemmung in einen Zusammenhang mit der
philosophischen Position des Vaters, dessen Seelenlehre zwar die Existenz von Vorstellen, Urteilen und den Erscheinungen von Antipathie und Sympathie vertrat, aber
nicht den Willen als solchen. Steiner sieht hier eine Parallele zum Willensproblem des
Vaters: Was bei diesem gedankliches Konzept, Inhalt des Bewusstseins war, wird bei
dem Sohn zu einer konkreten Wirklichkeit. Wilhelm Uhlenhoff ist in seinen Untersuchungen zu den im Heilpädagogischen Kurs beschriebenen Kindern (Uhlenhoff 2007)
der Geschichte Brentanos nachgegangen und schreibt zusammenfassend über ihn,
der eine Karriere als bedeutender Physiker absolvierte: «Anscheinend hatte er seine
angeborene Willensschwäche soweit überwunden, dass sie seinen Lebensberuf nicht
behindert hat.» (ebd. S. 254).
Ob nun eine angebliche Willensschwäche vorlag oder nicht – die Geschichte von Brentano und seinem Sohn kann heute als Bild einer besonderen pädagogisch-psychologischen Situation gesehen werden. Wir erleben auf der einen Seite Kinder, denen ein
deutlicher Willenszugriff zu fehlen scheint, die lethargisch wirken und wenig Energie
zeigen. Andererseits finden wir Kinder, die Herausforderungen annehmen und die
dadurch willensbezogen agieren, aber eine Art Überschuss an Willen zeigen, der sich
nicht selten in Aggressivität entlädt.
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Beiträge
Eine geistige Dimension der menschliche Seele als solcher wird von vielen Zeitgenossen angenommen. Dass aber im Willen eine geistige Kraft erscheint, welche
den Körper ‹ergreift›, ist weit weniger selbstverständlich. Insofern sind wir in einem
gewissem Sinne alle ‹Kinder› Brentanos: Es ist eine Aufgabe unserer Zeit, die Realität
des Willens wieder wahrzunehmen. Die Psychologie und Pädagogik Rudolf Steiners
können hier eine Hilfe sein.
Der Begriff des Willens in Alltagssprache und Alltagspsychologie
In der wissenschaftlichen Psychologie wird die Vorstellung einer geistigen Substantialität der Seele abgelehnt: man spricht auch weniger von ‹Bewusstsein› als von
bewussten oder mentalen Prozessen und ihrer neurologischen Grundlage. Dennoch
glauben, einer Studie von Teigen zufolge (Teigen 2005), mehr als 90% der Befragten,
dass der Mensch eine Seele hat. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass die
Mehrheit auch an einen Willen glaubt. Fragt man Studierende nach ihrem Verständnis
für diesen Begriff, dann entsteht eine Liste mit Bedeutungen wie Willenskraft, Motivation, Ausdauer, Entschlossenheit; gelegentlich werden auch Bewegung und motorische Potentiale genannt. Damit handelt es sich um Fähigkeiten, die der Mensch
in der Begegnung und AusADHDeinandersetzung mit den konkreten Aufgaben des
Daseins in der Welt entwickelt und realisiert. Angesprochen sind damit zunächst zwei
verschiedene Aspekte: die Eigenschaft zur Durchführung eines Vorhabens und die
Kraft, die man benötigt, um sich etwas gegenüber zu widersetzen.
Aspekte des Willens nach Rudolf Steiner
Der Begriff des Willens bei Rudolf Steiners hat sehr viele Dimensionen: als seelische
Kraft in der Interaktion mit den anderen Elementen des Seelenlebens wie in der komplexen Beziehung zur Leiblichkeit. Hier ist der Wille im Stoffwechsel-Gliedmassensystem verankert und in allen Bewegungen und Handlungen aktiv. In unseren Gefühlen
und Gedanken spielt er jedoch ebenfalls eine grosse Rolle. In der Allgemeinen Menschenkunde beschreibt Steiner den Willen in sieben Stufen: Durch Instinkte, Triebe
und Begierde drückt sich der Wille auf der körperlichen Ebene aus; auf der Gefühlsebene transformiert er sich zum Motiv; in Wunsch, Vorsatz und Entschluss zeigt sich
die geistige Seite des Willens. An dieser Stelle wird auch das Bewusstsein in seinen
verschiedenen Aspekten mit einbezogen, insofern das Unbewusste als die schlafende
Seele im Willen gekennzeichnet wird, während diese in den Gefühlen halbbewusst,
träumend erscheint und erst in den Gedanken zu vollem Bewusstsein kommt. Von
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Beiträge
den Instinkten und Trieben im Willen auf der leiblichen Stufe kommen wir über einen
gefühlsmässigen, träumenden Bewusstseinszustand zu einem bewussten Niveau des
Geistigen, zu Vorsatz und Entschluss (Steiner 1992, S. 66 ff.).
Elemente des Willens in gegenwärtigen Konzepten
Wenngleich heute kaum Theorien des Willens gefasst werden, findet sich die Realität
des Willens in verschiedenen Konzepten, wie etwa dem der Motivation und der Kompetenz.
Motivation, in einem pädagogischen Sinn verstanden, hat eindeutig mit Willen und
Initiative zu tun. Sie ist eine Verbindung aus Kraft, innerem Engagement, Sinn und
Zielbewusstsein. Es braucht Motivation, um sich Ziele zu setzen und diese konsequent zu verfolgen.
Im Zusammenhang mit den komplexen Anforderungen beispielsweise im Beruf verwenden wir den Begriff Kompetenz. Um situationsentsprechend handeln zu können
braucht es Kompetenzen in der Verbindung von Kenntnissen, Haltungen und Fähigkeiten. Es handelt sich hier um einen erweiterten Begriff des Wissens und Könnens inklusive der Fähigkeit, Theorie und Einsicht praktisch und sozial anwenden zu können.
Dies ist aber auch das Merkmal von Haltungen und Einstellungen: Steiner hat bereits
in seinem Heilpädagogischen Kurs die Frage der Moral direkt in Beziehung zu dem
menschlichen Willen gesetzt (Steiner 1995, S. 55 ff.).
Die Entwicklung des Willens in Waldorfpädagogik und Heilpädagogik
Eine eindringliche Erkenntnis der Erziehungspraxis für Kinder im Allgemeinen bildet
die Grundlage der Erziehung von Kindern mit besonderen Entwicklungsbedingungen.
Heilpädagogik in diesem Sinne kann auch verstanden werden als eine Pädagogik, die
sich in Richtung Medizin vertiefen lässt. In Bezug auf die Entwicklung des Willens und
des Bewusstseins gibt Steiner folgende Darstellung: Bei der Geburt ist der Kopf des
Kindes – leiblich gesehen – relativ vollständig ausgebildet. Das Bewusstsein selbst
ist noch unausgebildet, der Geist ‹schläft› im Kopf. Das Kind ist ein nachahmendes
Wesen, welches in einem unbewussten Prozess schlussfolgernd die Eindrücke der
Umwelt miterlebt und verarbeitet. Im Willen wiederum ist das Kind in einem noch
verhältnismässig unausgebildeten Zustand, aber gleichsam ‹wach›. Man kann dies
beim Strampeln des Säuglings sehen: Er ist lebendig und glücklich in der Bewegung,
gleichzeitig aber chaotisch und unwillkürlich tätig.
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Beiträge
Der wache, aber doch unvollkommene Willensmensch hat die Aufgabe, den Kopf zu
‹wecken›. Hier lässt sich ein Entwicklungsprozess von unten nach oben feststellen.
Steiner führt dazu aus, dass wir als Pädagogen eigentlich nur den Gliedmassen- und
Brustmenschen zu entwickeln brauchen; die Ausbildung des Kopfes ergibt sich dann
in der Konsequenz von selbst (Steiner 1992, S. 160 ff.). Mit dem siebten Lebensjahr
ungefähr entsteht eine grössere Wachheit für die Umwelt; das Kind lernt nun nicht
in erster Linie nachahmend, sondern ist auch in der Lage, über die sprachliche Vermittlung zu lernen. Auf dieser Grundlage baut die Waldorfpädagogik auf, indem sie –
bildhaft gesprochen – den Weg vom ‹Greifen lernen›, über das ‹Ergriffen werden› bis
zum ‹Begreifen› begleitet. Auf diese Weise bildet sie eine ausgezeichnete heilpädagogische und sonderpädagogische Unterrichtsmethode, da sie nicht primär auf den
Intellekt wirkt, sondern stets konkrete Erfahrungen ermöglicht. Gleichzeitig lässt sich
eine andere, gegensätzliche Entwicklung beobachten: eine formende und kontrollierende Gestaltungsbewegung von oben nach unten. Hier lernt das Kind allmählich
seinen Körper zu kontrollieren und zielbewusst einzusetzen; willensgesteuerte Bewegungen entwickeln sich und das Kind lernt mitunter die Augenmuskeln zu kontrollieren oder den Kopf hoch zu halten. Karl König beschreibt diese Bewegungsrichtung als
eine strukturierende, formende Bewegung, welche vom Kopf in Richtung Gliedmassen verläuft (vgl. König 1998). Dieser Prozess trägt den Charakter der Kontrolle, das
Beherrschen der Glieder, der Motorik, man könnte zugleich von einem Einschlafen
in dem Willen sprechen, einer Automatisierung. Erst wenn eine Bewegung in diesem
Sinne unbewusst geworden ist, hat sich eine echte Fähigkeit herausgebildet.
Das spielende Kind
Nehmen wir folgende Situation: Ein kleines Kind sitzt auf dem Boden und hat eine
Schüssel und einen Schneebesen zum Spielen bekommen. Es untersucht und experimentiert mit den Utensilien, allmählich bekommt seine Bewegung einen Charakter
der Rührbewegung. Einige Monate später ist es bereits sicherer in der Bewegung und
ahmt die ‹vollständige› Rührbewegung der Erwachsenen nach. Mit der Zeit entsteht
ein Kochspiel. Dann, mit ungefähr sechs Jahren, kann das Kind ein komplexes Rollenspiel inszenieren und leiten; es kocht, trägt vielleicht dabei eine Puppe, die es tröstet,
es unterhält sich mit anderen Kindern. Dabei kann es zwischen den Rollen als Mutter
oder Regisseur wechseln. Der gesamte Vorgang ist nun verinnerlicht. Das Bild dieses
spielenden Kindes kann uns vieles zeigen: Das Kind verhält sich in dieser Situation
motiviert und kompetent; es kann sich konzentrieren, ist aufmerksam, folgt dem Spiel
einer Idee, hat ein Motiv und ist fähig, sprachlich, sozial und praktisch zu agieren.
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Vase mit Tulpen, Armin Kellermann
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Beiträge
Ihren Ausgang nahm die Entwicklung in einer einfachen Bewegung, die weiter an eine
Vorstellung geknüpft wurde und zu einem komplexen Geschehen aus Bewegung und
Kommunikation erwuchs.
Eine ‹wache› Aufmerksamkeit im Kopf ist somit ein Resultat der Willensentwicklung,
die von unten nach oben gewirkt hat. In den Gliedern ist das Gegenteil passiert: ein
Automatisierungsprozess, der zu einem geschickten Handeln geführt hat.
Wille und Bewusstsein im Heilpädagogischen Kurs
In Steiners Darstellung der menschlichen Seele hat das Zusammenwirken der hauptsächlichen Elemente des Denkens, Fühlens und Wollens eine zentrale Bedeutung. In
der heilpädagogischen Betrachtung werden darüber hinaus leibliche Aspekte in den
Vordergrund gerückt. Zur Dreigliederung kommt die Polarität von oben und unten,
das Physisch-Ätherische auf der einen und Ich-organisation sowie Astralleib auf der
anderen Seite. In der Heilpädagogischen Diagnostik finden wir häufig Situationen,
bei denen dieser ‹Integrationsprozess› offensichtlich gestört ist, etwa in der Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit auf die Aussenwelt zu richten und sich gedanklich zu konzentrieren. Konzentration bedeutet das Vermögen, den Willen im Denken aktivieren
zu können. Auf der anderen Seite haben viele Schüler Mühe, Bewegungen zu erlernen
und als Handlungen zu automatisieren.
Im ersten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses führt Steiner (1995) aus, dass die
meisten Störungen bei Kindern im Grunde genommen Willensstörungen sind. Das
scheint einleuchtend, wenn man die Bedeutung des Willens in der Entwicklung des
Kindes in Betracht zieht, denn der Wille ist die wichtigste Triebkraft innerhalb der
kindlichen Entfaltung überhaupt. Auch kognitive Beeinträchtigungen sind ihrem
Wesen nach als Beeinträchtigungen des Willens zu verstehen. Eine Ausnahme bilden
jedoch Sinnestäuschungen, auch Halluzinationen bei Psychosen. Wille im Bereich des
Denkens bedeutet, seine Vorstellungen gezielt zu bewegen, beispielsweise einer Aufgabe entsprechend. Es bedeutet ferner, einen Gegenstand zu fokussieren und sich
nicht ablenken zu lassen. All dies verlangt Willenskraft.
Im pädagogischen Alltag hängt Motivation eng mit Aufmerksamkeit und Konzentration
zusammen. In diesen Fähigkeiten, wie sie auch von der Pädagogik und Psychologie
beschrieben werden, finden wir die Kraft des Willens, welche die anthroposophische
Menschenkunde beschreibt. Unter den Kindern und Jugendlichen mit Konzentrationsund Aufmerksamkeitsstörungen finden wir sowohl solche, welche mit ADHD (ADHS)
diagnostiziert sind, wie Kinder, die als lernbehindert oder geistig behindert gelten.
Die zentrale therapeutische und pädagogische Massnahme ist meines Erachtens das
Wecken von Interesse, ein Interesse für die Welt. Gespräche und handlungsbeglei12
Beiträge
tende Dialoge wirken dabei unterstützend. In der Psychologie wird hier der Begriff
der gemeinsamen Aufmerksamkeit verwendet (joint attention). Diese ermöglicht erst
die sprachliche und kognitive Entwicklung, und sie schafft eine Verbindung zwischen
der Innen- und der Aussenwelt. Damit erfolgt diese Verbindung nicht im direkten
Umgang mit der Umwelt, sondern vermittelt und begleitet durch andere Menschen.
Joint Attention – begleitet und unterstützt durch Sprache – ist demnach eine grundlegende pädagogisch-therapeutische Massnahme. Ihr zugrunde liegt eine Einstellung,
die Steiner als ‹geistiges Dabeisein› beschrieb: Sie bedeutet, sich durch Wille und
Bewusstsein mit jeder Aktivität zu verbinden.
Heilpädagogische Aspekte des Willens
Eine grundlegende heilpädagogische Bestrebung besteht darin, das Kind zu unterstützen, Bewusstsein und Wille in die richtige Verbindung zu bringen. Diese beiden
Qualitäten sollten nicht für sich isoliert gesehen, sondern als eine Ganzheit in der Entwicklung impulsiert und unterstützt werden. Eine Aktivität, die beides vermag, ist zum
Beispiel das Stricken. Dieses führt zu einer Geschicklichkeit und Automatisierung der
Bewegung und zugleich zu einer Stärkung des wahrnehmenden Bewusstseins. Steiner
hat im Heilpädagogischen Kurs sechs Zustände oder Tendenzen beschrieben, welche
bei Kindern mit Entwicklungsstörungen auftreten können. Drei von ihnen lassen sich
mit Unruhe und Labilität verbinden, drei weitere beinhalten eine Tendenz zu Passivität
und Rigidität und sind demnach mehr mit intellektuellen Behinderungen verknüpft.
Unter der Bezeichnung Maniakalie beschreibt Steiner einen Zustand, den wir heute
unter dem Begriff Hyperaktivität kennen: konstante Unruhe und ziellose Aktivität. In Kombination mit Konzentrationsschwäche und Aufmerksamkeitsstörungen
beschreibt Steiner die Impulsivität. Er sieht diese Störung im Zusammenhang mit
einer fehlenden Balance im Stoffwechsel. Als dritten Zustand nennt er die Hysterie,
verbunden mit Labilität und Unruhe. Es zeigt sich hier eine erhöhte Reizbarkeit der
Sinne. Steiner spricht von einem seelischen Wundsein, das auf ein erhöhtes Bewusstsein in den Sinnen selbst beruht.
Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Reizbarkeit ergeben die
Diagnose ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder). Kinder und Jugendliche
mit dieser Diagnose können ihre Sinneseindrücke nicht richtig filtern. Oben wurde
beschrieben, dass sich in der Entwicklung der ersten Jahre der Wille mit den Gedanken verbindet, damit Aufmerksamkeit und Konzentration entstehen. Gleichzeitig
muss sich der denkende Mensch mit dem Willensmenschen verbinden, damit Handlungen von Gedanken und Motiven gesteuert werden können. Bei Kindern mit ADHDZeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
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Beiträge
Diagnose können wir beobachten, dass die Integration von Denken und Willen nicht
oder nur eingeschränkt stattgefunden hat. Die Kraft des Willens ist nicht in der Lage,
sich im Gedankenmenschen als eine fokussierende Kraft zu behaupten. Bei den mehr
klassischen Entwicklungsstörungen sehen wir die Ursache oft nicht in kognitiven Problemen im engeren Sinne, sondern in Bewegungs- und Willensproblemen. Der Willenspol bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten erscheint zu schwach,
sie sind oft körperlich passiv. Um hier entgegenzuwirken, gilt es so früh wie möglich,
das Kind – körperlich und seelisch – in Bewegung zu bringen. Impuls und Kontrolle
sind hier die Schlüsselbegriffe und müssen als Qualitäten gefördert werden.
Als zweiten Zustand beschreibt Steiner das Problem der Zwangserscheinungen in Verbindung mit Verschlossenheit und Rigidität. Sie stellen ebenfalls eine Problematik des
Willens und des Bewusstseins dar: Die aufgenommenen Eindrücke können nicht richtig vom Willen aufgenommen werden und schlagen ständig ins Bewusstsein zurück.
Schliesslich sei noch der Zustand der Epilepsie angesprochen. Damals gehörte sie zu
einer der klassischen Diagnosen in der Heilpädagogik; verbunden mit dem Aufmerksamkeitsproblem handelt es sich um einen zentralen Begriff bei Steiner. Er empfiehlt
Sinnesübungen, die zu einer erhöhten Aufmerksamkeit führen sollen. So könnte man
Steiners Aufgaben für Epilepsie auch als Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen
im Allgemeinen verwenden.
Zuletzt sei noch ein weiterer Aspekt zur Aufmerksamkeit in Verbindung mit der sogenannten Kleptomanie genannt. Steiner zufolge muss man im Kopf eine Art ‹Dieb›
sein, sonst bekommt man Lernprobleme. Diese Eigenschaft des Aneignens gehört
aber nicht in die Willensregion. Wenn diese Funktion in die Willensregion ‹herunterrutscht›, wird man tatsächlich zum Dieb. Steiner behandelt im Heilpädagogischen
Kurs die Kleptomanie als ein Aneignen von Dingen ohne konkretes Bewusstsein. In
diesem Fall sollte man therapeutisch das Bewusstsein für die eigenen Hände wecken
und durch moralische Erzählungen die Empathie fördern.
Wir wissen, dass durch Erziehung, Nachahmung und Autorität allmählich ein Sinn
für Moral und für die Gemeinschaft mit anderen Menschen entwickelt werden kann.
Steiner betont entgegen der wissenschaftlichen Theorien seiner Zeit, dass Moral im
Zusammenleben mit anderen Menschen erlernt werden muss und nicht auf angeborene Anlagen beruht. Dies ist ein wesentlicher Standpunkt, der dazu beiträgt, dass
seine Ausführungen auch nach bald neunzig Jahren immer noch relevant sind.
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Beiträge
Ausblick
Heilpädagogische Aufgabenstellungen sind Herausforderungen an den Willen. Man
könnte folgernd leicht annehmen, dass eine der wichtigsten Eigenschaften im pädagogisch-therapeutischen Zusammenhang die Willenskraft selbst sei. An diesem Punkt
aber favorisiert Steiner genau das Gegenteil: Er spricht von einer inneren Gelassenheit, mit der man der Willensschwäche beim Kind gegenüberstehen soll. Es ist hier
also vor allem an das Bewusstsein des Heilpädagogen appelliert. Seine Geste ist
unterstützend: Der Willensimpuls – die Initiative – muss vom Kind selbst kommen,
nicht von uns. Dort, wo die Waldorfschule die ‹Erziehung zur Freiheit› zum Motto hat,
ist die Heilpädagogik vielmehr von einer Frage der ‹Verantwortung› für das Schicksal
geprägt. Hier müssen wir uns fragen: Wage ich die Verantwortung auf mich zu nehmen?
Die Möglichkeit des Scheiterns ist stets gegeben, und auch beim grössten Erfolg
gibt es ein Versagen. Ich wünsche uns daher Mut und möchte abschliessen mit den
Worten Samuel Becketts:
«Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.»
Heilpädagogin (Eckwälden), Master in Sonderpädagogik (Spezialpädagogik)
Universität in Oslo. Langjährige Praxis/Tätigkeit als Sonderlehrerin/Spezialpädagogin in Heilpädagogischen Schulen und Waldorfschule. Phd (UiO) Entwicklung/Geschichte der Anthroposophischen Heilpädagogik in Norwegen. Dozentin
(Assistant Professor) an der Rudolf Steiner Hochschule (R. Steiner University
College/Rudolf Steinerhøyskolen) in Oslo. Ab 2012 verantwortlich für ein neues
BA-Programm in Sozialpädagogik an der Rudolf Steiner Hochschule.
Anmerkungen
(1) Vortrag vom 9.10.2012 auf der ‹Internationalen Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie›
in Dornach.
Literatur
König, K. (1998). Die ersten drei Jahre des Kindes. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.
Steiner, R. (1992). Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293, 9. Aufl.
Rudolf Steiner Verlag, Dornach.
Steiner, R. (1995). Heilpädagogischer Kurs. GA 317, 8. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.
Teigen, K.H. (2005). En psykologihistorie. Fagbokforlaget, Bergen.
Uhlenhoff, W. (2007). Die Kinder des Heilpädagogischen Kurses. Krankheitsbilder und Lebenswege.
Freies Geistesleben, Stuttgart.
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Claudia Fabisch-Pieper
Aus dem Kunstunterricht der Mittelstufe
Titelbild: ‹Baumhaus›
Die fünf Bilder, die in dieser Ausgabe und
auf der Titelseite zu finden sind, wurden von
Schülerinnen und Schülern der sechsten und
siebten Klasse der Sonnenhellweg Schule in
Bielefeld, einer Waldorfförderschule mit den
Förderschwerpunkten ‹Lernen› und ‹Geistige
Entwicklung›, im letzten Schuljahr gemalt.
In dieser Schule wird in der fünften bis achten
Klasse das Fach ‹Kunst› mit jeweils einer Doppelstunde wöchentlich unterrichtet. In Ergänzung der künstlerischen Ausdrucksformen des
Hauptunterrichts, die vorrangig der Vertiefung
und Festigung des behandelten Themas dienen, stehen hier die individuellen Interessen
und Befindlichkeiten der Kinder und Jugendlichen im Zentrum des künstlerischen Arbeitens. Kleine Gruppen von ca. fünf Schülerinnen
und Schülern unterstützen dieses Ziel. In angeleiteten und freien Themenstellungen sollen
die malerischen Möglichkeiten erweitert und
eigenen Ausdrucksweisen Raum gegeben werden. Neben dem Malen ist das gemeinsame
wertschätzende Betrachten und Wahrnehmen
jedes einzelnen Bildes von erheblicher Bedeutung. In vielen Variationen nehmen jahreszeitliche Bezüge der Bildthemen einen breiten
Raum ein, aber auch spezielle Interessen der
Kinder und Jugendlichen werden aufgegriffen
und mit Hilfe von zusätzlichen Informationen
oder Abbildungen vertieft und weiterentwickelt. So wird über den Zeitraum des Mittelstufenunterrichts hin je nach Entwicklungsstand
mehr oder weniger angeleitet gemalt und der
wachsenden Individualisierung Gestaltungsund damit Entwicklungsräume eröffnet.
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Sowohl das Bildthema als auch Zeichenmaterial konnten frei gewählt werden. Armin, siebte
Klasse, zeichnete sein Bild mit Buntstiften auf
Zeichenpapier im Din A3-Format. Es erzählt vom
Plan in der Gemeinschaft, in der er lebt, ein
Baumhaus zu bauen. Man sieht dem Bild an,
dass er sich für das Vorhaben begeistert. Das
zentrale Schild mit dem Namen der Lebensgemeinschaft umgibt Armin mit aufmerksam beobachteten Details.
Bild Seite 11: ‹Vase mit Tulpen›
Nachdem das Bild ‹Rote Tulpen in weisser Vase›
von August Macke gemeinsam in der siebten
Klasse angeschaut und besprochen wurde, malten die Schülerinnen und Schüler es mit Ölkreide auf hellblauen Tonkarton grossformatig ab.
Die Bilder wurden sehr individuell, besonders
in Bezug auf die Grössenverhältnisse. Es kam
beim Abzeichnen nicht auf Ähnlichkeit an, sondern auf die persönliche Auseinandersetzung
mit dem Vorbild.
Bild Seite 17: ‹Baum mit Wiese›
Der Unterricht in der siebten Klasse begann mit einem gemeinsamen Gespräch über die Jahreszeit
und ihre besonderen Merkmale. Dann sollte ein
Bild mit einem oder mehreren Bäumen im Din-A3
Format gemalt werden. Can benutzte für sein Bild
Buntstifte und Ölkreiden. Die lichte und fröhliche
Frühlingsstimmung bekam auf seinem Bild durch
den Vogelschwarm eine heitere Dynamik.
Baum mit Wiese, Can Joost
Bild Seite 20: ‹Katzen›
Bild Seite 49: ‹Gelbe Blüten in grüner Wiese›
Sonja aus der sechsten Klasse hatte von zu
Hause zwei Plüschtiere mitgebracht, die sie
mit Aquarellfarben abmalen wollte. Das Din-A3formatige Aquarellpapier durfte nur leicht feucht
sein, damit die Gestaltungen nicht zu sehr verlaufen konnten. Sonja wählte und mischte ihre
Farben selbst und entwickelte ihr Bild spielerisch in innerer Kommunikation mit den Farben
und den mitgebrachten Vorbildern.
Die Schülerinnen und Schüler der sechsten Klasse tupften verschiedenen Gelbtöne auf nasses
Aquarellpapier, auf dem die Farbe stark auseinanderlief und so fast von alleine leuchtende Blüten bildete. In die Zwischenräume wurden dann
grüne Blättchen, Stängel und Gräser getupft, die
das satte Leuchten der Gelbtöne noch verstärken. Hier tauchte die ganze Gruppe gemeinsam
in ein frühlingshaftes Farberlebnis ein.
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Jan Göschel
Hirten und Könige – ein Weihnachtsbild zur
Autismusforschung
und eine Anregung zu einer imaginativen Menschenkunde
Der britische Autismusforscher Simon Baron-Cohen arbeitet schon seit einiger Zeit mit
einer Theorie des Autismus, die im Wesentlichen das Verhältnis zweier grundlegender
Bewusstseinsleistungen thematisiert: der ‹Empathie› einerseits und des ‹Systematisierens› andererseits.1
Unter ‹Empathie› versteht Baron-Cohen die Fähigkeit, die Gefühle, Gedanken und
Absichten anderer Menschen wahrzunehmen, zu verstehen und das eigene Verhalten
an ihnen auszurichten. Zum ‹Systematisieren› gehören all diejenigen Bewusstseinsleistungen, die sich auf das Erfassen von Ordnungsprinzipien, Gesetzmässigkeiten,
Zahlenverhältnissen und Mustern richten. Während die Empathiefähigkeit also
Golemans (2005) Begriff der emotionalen Intelligenz nahesteht, sind die kognitiven
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Beiträge
Leistungen des Systematisierens qualitativ mehr dem klassischen Intelligenzbegriff
verwandt. Nach Baron-Cohen stellen diese beiden Fähigkeiten zwei grundlegende
Dimensionen des psychologischen Profils dar, deren jeweilige individuelle Ausprägung sich mittels geeigneter Tests als EQ (Empathy Quotient) und SQ (Systemizing
Quotient) quantifizieren lässt. Die Verteilung von EQ und SQ in der Bevölkerung etabliert dabei in etwa die Normalkurve, das heisst, die meisten Menschen erzielen im
EQ-Test und im SQ-Test einen Quotienten, der in der Nähe des statistischen Mittels
liegt, während bedeutend höhere oder niedrigere Werte mit abfallender Häufigkeit
auf dem Spektrum auftreten.2
Baron-Cohen sieht diese Variation als überwiegend neurobiologisch verankert. Dabei
fällt ein systematischer Unterschied zwischen den Geschlechtern auf: Während
Frauen tendenziell höhere EQ-Werte erzielen, überwiegt bei Männern im statistischen
Mittel eher der SQ-Faktor. Obwohl natürlich beide Gruppen auch eine grosse Anzahl
von Individuen enthalten, die nicht in dieses Muster passen, scheint die unterschiedliche Verteilung von EQ und SQ statistisch stabil. Bei Menschen, die den klinischen
Kriterien für eine Autismus- oder Aspergerdiagnose entsprechen, liegt zumeist eine
extrem ausgeprägte Version des ‹typisch› männlichen psychologischen Profils vor:
Sie haben einen auffallend geringen Empathie-Quotienten, gepaart mit einem ungewöhnlich hohen Systematisierungs-Quotienten (Wheelwright et al. 2006). Dies führt
Baron-Cohen (2008) zu der Annahme, dass es sich beim Phänomen des Autismus im
Wesentlichen auch neurobiologisch um eine stark ausgeprägte Form des männlichen
Profils handelt. Er sieht dies unter anderem darin bestätigt, dass die Zahl der männlichen Autismus- und Aspergerdiagnosen diejenige der weiblichen weit übersteigt.
Aufgrund anderer Untersuchungen schliesst er zudem, dass die beiden Fähigkeiten,
Empathie und Systematisieren, obwohl sie zu einem gewissen Grad unabhängig
voneinander variieren, doch nicht völlig getrennt sind, sondern als Elemente eines
individuellen neurobiologischen und psychologischen Profils auch miteinander im
Wettstreit stehen, sodass ein überdurchschnittlicher EQ-Wert tendenziell eher einen
unterdurchschnittlichen SQ-Wert bedingt (und umgekehrt)( Goldenfeld, Baron-Cohen
& Wheelwright, 2006).
Nun beruht ein solches Verständnis der Variation im individuellen Persönlichkeitsprofil selbst eher auf einem systematisierenden Ansatz. Das sich ergebende Bild ist
sicher nicht ganz falsch, verstellt aber durch seine relativ statische Struktur vielleicht
auch den Blick auf die feineren und beweglicheren Aspekte des Phänomenzusammenhanges, den Baron-Cohen und seine Mitarbeiter zu erfassen suchen. Interessant
wäre die Beobachtung, wie sich derselbe Zusammenhang darstellt, wenn er an Stelle
eines einseitig systematisierenden Zuganges auch mit den Mitteln der Empathiefähigkeit erschlossen werden sollte. Dazu müssen die abstrakte Begrifflichkeit und das
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Beiträge
Denken in statistischen Mustern in offene und dynamische Bildvorstellungen umgestaltet werden, welche als blicklenkende Imaginationen geeignet sind, die entsprechenden Wesenszüge der betrachteten Erscheinungen hervorzuheben und dadurch
sichtbar und begreifbar zu machen. Als ‹Motivbilder› (Göschel 2012) hierzu eignen
sich die Bilder der Hirten und der Könige, die an beiden Enden der Weihnachtsnächte
stehen und diesen ihren Rahmen geben, so wie sie auch beispielsweise in den Oberuferer Weihnachtsspielen dargestellt sind (vgl. Martin, 1995).
Die Hirten sind bei ihren Schafen in der Nacht. Sie suchen nicht mit bewusster Absicht
nach dem Kind; die Verkündigung des Engels kommt ihnen im Traum zu. Durch ihre
offenen Herzen haben sie die Möglichkeit, diese Offenbarung aufzunehmen, ohne
sie aber zunächst begrifflich fassen zu können. Sie spüren dann, nach wie vor mehr
träumend als wachend, diesem Erlebnis, das sie tief ergriffen hat, nach. Ihre ‹Hellfühligkeit› führt sie schliesslich zur Geburtsstätte des Christkindes, wo ihr inneres
Erlebnis seine äussere Bestätigung erfährt. Die Hirten des Oberuferer Spieles machen
auf diesem Weg eine Verwandlung durch. Vor dem Traum und der anschliessenden
Begegnung mit dem Christkind sind ihre Gefühle und Seelenregungen noch wie eine
freilaufende Schafherde, die den ihnen entgegenkommenden Eindrücken relativ
schutzlos ausgeliefert ist. Das macht sie zwar sehr sensibel für alles, was sich in den
Feldern und Büschen regt, aber eben auch verletzbar. Auf mögliche Bedrohungen reagiert die Herde unmittelbar aus subjektiver Befindlichkeit, ohne dass sie im Hirten
ein sicheres Zentrum findet, das ihren Bewegungen Intentionalität, Richtung und
Geschlossenheit geben könnte. Erst nach ihrer Verwandlung treten die Hirten mit
einer neuen inneren Sicherheit auf. Sie haben die Fähigkeit erhalten, mit den durch
ihre Herzensoffenheit und Empfindsamkeit an sie herantretenden Wahrnehmungen
souverän und mit neuen Verständnismöglichkeiten umzugehen, ohne dass ihre Sensibilität dazu auch nur im Geringsten abgestumpft wäre. Im Gegenteil – ihre Gabe,
die Bedürfnisse und Nöte der Menschheit fühlend mitzuerleben, hat durch die neue
innerlich aufrechte Haltung und Stabilität eine Vertiefung erhalten, aus der sich der
tiefere Sinn des erlebten Geschehens allmählich zu klären beginnt.
Der Weg der Könige ist ein anderer. Sie erfassen denkend die kosmischen Zusammenhänge, haben die Bewegungen der Himmelskörper studiert, ihre Gesetzmässigkeiten
und Ordnungsprinzipien nach Mass und Zahl erfasst, und können aus ihren Einblicken in diese komplexen Zusammenhänge klare Vorhersagen und Fragestellungen
ableiten. Sie begeben sich aus bewusst gefasstem Entschluss auf eine Suche, deren
Ziel ihnen klar vor Augen steht. Dabei wird ihnen der Weg gewiesen von dem Stern,
dem sie mit ihren Instrumenten und ihren astronomischen und mathematischen
Kenntnissen folgen. Auf ihrem Weg begegnen sie dem Gegenbild des weisen Königs,
dem Herodes. Anstatt aus dem Einblick in die Weltgesetze so zu regieren, dass auch
20
Beiträge
Katzen, Sonja Schürholz
in der menschlichen Gemeinschaft alles in seine rechte Ordnung kommt, missbraucht
er seine Intelligenz zur Untermauerung seiner eigenen persönlichen Macht. Alles, was
höhere, überpersönliche Wirklichkeit ist, erlebt er als Bedrohung. Zunächst verkennen
die drei Weisen jedoch die tyrannischen Mächte, denen er zum Instrument geworden
ist. Sie grüssen ihn als König, als Ihresgleichen, und lassen sich auf das Versprechen
ein, ihm das Ergebnis ihrer Suche auf dem Rückweg mitzuteilen. Erst nach der Begegnung mit dem Kind, dem sie ihre Geistesgaben opfern, sie also der höheren Wirklichkeit und der Menschheitszukunft zur Verfügung stellen, werden sie der drohenden
Gefahr durch Herodes gewahr – und zwar diesmal im Traum! Ähnlich, wie bei der Verkündigung an die Hirten vor ihrer Begegnung mit dem Kind, erscheint den Königen
nun im Schlaf der Engel, der sie einen anderen Rückweg suchen lässt, ohne Herodes
die Nachricht vom Geburtsort des Jesuskindes zu überbringen. Es ist nicht die Sternenweisheit, sondern die Offenbarung aus den halbbewussten Seelentiefen, in denen
die Hirten beheimatet sind, die sie davor bewahrt, ihre neu gewonnenen Erkenntnisse
unwillentlich der paranoiden Herrschaftssucht des Herodes zu überlassen.
Sowohl das Bild des Hirten als auch das des Königs trägt in sich potentiell den ganzen
Menschen – allerdings jeweils unter anderem Vorzeichen. Vollständig sind beide
Bilder jedoch nur, wenn sie miteinander in innerer Beziehung stehen; das heisst,
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Beiträge
wenn in der Herzensoffenheit des Hirten die Bewusstseins- und Geisteskräfte des
Königs angelegt sind und wenn die systematische Verstandestätigkeit des Königs
von der seelisch-geistigen Aufnahmefähigkeit des Hirtenherzens durchdrungen wird.
Die unterschiedlichsten menschlichen Einseitigkeiten lassen sich als Variationen
dieser beiden Bilder und ihres Zusammenklanges auffassen. Dabei lässt sich zum
Beispiel an die polaren Konstitutionsbilder denken, die Steiner (1990) im ‹Heilpädagogischen Kurs› in drei sich jeweils gegenüberstehenden Paaren entwickelt. Nach
ihren klassischen Bezeichnungen sind diese in der anthroposophischen Heilpädagogik bekannt als der ‹epileptische› Typus, der dem ‹hysterischen› gegenübersteht; der
‹eisenreiche› (bzw. ‹schwefelarme›) Typus, im Gegensatz zum ‹schwefelreichen›; und
der ‹schwachsinnige› Typus als Gegenpol des ‹manischen› (siehe dazu auch Holtzapfel 2003). In ihrem Versuch, diese Konstitutionsbilder zu systematisieren und ein
Messinstrument für ihre Erfassung zu entwickeln, prägen Niemeijer und Baars (2004)
für diese drei Polaritätspaare folgende neue Begriffe und klären gleichzeitig, in welchem Organsystem und auf welcher damit verbundenen psychologischen Funktionsebene das jeweils bezeichnete Spannungsverhältnis seinen Schwerpunkt hat:
Überwiegen des zentripeda- Organsystem
len Formprinzips
Psychologische Ebene
Überwiegen des zentrifugalen Auflösungsprinzips
zwanghaft/eisenreich
(‹schwefelarm›)
Nerven-Sinnessystem
Denken
vergesslich/schwefelreich
(‹schwefelreich›)
geschlossen/gestaut
(‹epileptisch›)
Rhythmisches System
Fühlen
offen/ausfliessend
(‹hysterisch›)
schwer/träge
(‹schwachsinnig›)
Stoffwechsel-Gliedmassen- leicht/überbeweglich
(‹manisch›)
system
Wollen
Abb. 1: Spannungsverhältnis zwischen Organsystem und Funktionsebene
Das erste Polaritätspaar steht auf der psychologischen Ebene mit jener Bewusstseinsleistung im Zusammenhang, die Baron-Cohen als Systematisieren bezeichnet. Dies
ist die Ebene, auf der die Könige ihre Tätigkeit entfalten. Ein weiser König überschaut
sowohl Details als auch grosse Ordnungszusammenhänge und kann deren Gesetze
und Prinzipien so handhaben, dass um ihn herum Ordnung, Klarheit und ein harmonisches Zusammenspiel der verschiedenen Elemente seines Herrschaftsbereiches
entstehen und aufrechterhalten werden.
Der zwanghaft/eisenreiche König aber wird zum Tyrann, beziehungsweise von seiner
eigenen Tyrannei beherrscht.3 Sein Umgangsstil ist fest und vorhersehbar. Er verhakt
sich in einmal erfassten Formen und Gedankenmustern, die starr und unflexibel wei22
Beiträge
tergeführt werden, weil er das Gefühl hat, ohne sie den Grund unter den Füssen zu
verlieren. Er ist übergenau, pingelig und neigt stark zur Kontrolle des eigenen Tuns,
was bis zur Zwanghaftigkeit führen kann. Er ist oft launisch und gereizt und erinnert
sich selbst an fern zurückliegende Ereignisse, als ob sie gestern stattgefunden hätten.
Der ständig um seine Kontrolle fürchtende, machtbesessene und paranoide Herodes
gehört sicher diesem Typus an.
Am anderen Ende des Spektrums findet sich der vergesslich/schwefelreiche König.
Im Gegensatz zum herrschaftssüchtigen Herodes ist er der Thronfolger, der sich zwar
gerne im Palast vergnügt, aber für seine eigentliche Herrschaftsaufgabe wenig übrig
hat. In Gesprächen mit seinen Beratern hat er Schwierigkeiten, beim Thema zu bleiben. Er lässt seine Gedanken leicht fahren und es fällt ihm schwer, sich zuverlässig
an Vergangenes zu erinnern. Daher hat auch sein Handeln wenig Kontinuität; er ist
unvorhersehbar im Kontakt mit Anderen und unsicher, wenn er mit Entscheidungssituationen konfrontiert wird. Seiner Nachlässigkeit wegen müssen seine Höflinge
ständig hinter ihm aufräumen und seine Geschäfte in Ordnung bringen. Wenn alles
zu viel wird oder auch unter dem Einfluss von starkem Druck kommt es zu plötzlichen,
explosionsartigen Wutausbrüchen, die aber ebenso schnell wieder vergessen sind.
Mit dem zweiten Polaritätspaar wird die Bewusstseinsebene des Fühlens und der
rhythmischen Prozesse angesprochen, in der die Empathiefähigkeit angesiedelt ist.
Das ist der seelische Bereich der Hirten. Der gute Hirte steht mit seinem Stab inmitten
seiner Schafe und breitet sein Bewusstsein kontinuierlich über die gesamte Herde
aus. Er nimmt jede von aussen angeregte Bewegung wahr und kann der Herde selbst
kontrollierte und gezielte Bewegungsimpulse und Richtungen geben. Seine Schafe
bewegen sich frei auf der Weide, kommen aber auf seinen Ruf hin jederzeit zu ihm
zurück. Er kennt sie und ihre Befindlichkeiten so gut, dass jede Störung, jede unerwartete oder ungewohnte Regung ihm unmittelbar Aufschluss gibt über das eigene
Wohlbefinden der Herde und über deren Wahrnehmungen und Begegnungserlebnisse
in der Peripherie – sei es ein kommender Wetterumschwung, ein herannahender
Fremder oder gar ein aggressiver Wolf. Anstatt in Panik zu geraten wissen die Schafe,
dass sie immer bei ihrem Hirten sichere Zuflucht finden können. Deshalb können sie
sich mit Vertrauen frei auf der Weide bewegen.
Der geschlossen/gestaute Hirte behält seine Schafe zumeist im Stall. Selbst wenn
er die Stalltür öffnet, fällt es ihm schwer, sie durch die Öffnung ins Freie zu treiben.
Daher ist seine Herde zwar relativ sicher und unempfindlich, kommt sie doch kaum
je mit der Aussenwelt in unmittelbaren Kontakt. Andererseits hat aber auch der Hirte
im engen Innenraum keine Möglichkeit, die Bewegungen seiner Herde genauer kennenzulernen, sich mit ihr zu bewegen und durch sie die Umgebung wahrzunehmen.
Kommt die Herde doch einmal in Gang, kann er sie dann nicht mehr zurückhalten,
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
23
Beiträge
sondern sie bricht unkontrolliert durch die Stalltür nach aussen und der Hirte hat mit
seiner in der Enge unterentwickelten Beweglichkeit alle Mühe, ihr nachzukommen
und sie wieder einzusammeln.
Wie steht es aber nun um das dritte Polaritätspaar? Ein freies, selbstbestimmtes Handeln im Einklang mit der Wirklichkeit und mit den Bedürfnissen der Welt erfordert das
richtige Zusammenwirken von König und Hirten, von erkennender, ordnungsschaffender Geistesklarheit und mitfühlender, seelensorgender Herzensoffenheit. Das ist das
Bild, in das Rudolf Steiners ‹Grundsteinmeditation› mündet (Martin 1995):
In der Zeiten Wende
Trat das Welten-Geistes-Licht
In den irdischen Wesensstrom;
Nacht-Dunkel
Hatte ausgewaltet;
Taghelles Licht
Erstrahlte in Menschenseelen;
Licht,
Das erwärmet
Die armen Hirtenherzen;
Licht,
Das erleuchtet
Die weisen Königshäupter.
Göttliches Licht,
Christus-Sonne
Erwärme
Unsere Herzen;
Erleuchte
Unsere Häupter;
Dass gut werde,
Was wir
Aus Herzen gründen,
Was wir
Aus Häuptern
Zielvoll führen wollen.
Zur Entfaltung von Initiativkraft müssen im Handeln der Beginn und das Zu-Ende-Bringen in das richtige Verhältnis kommen. Dazu braucht es Enthusiasmus auf der einen
Seite und Geduld auf der anderen. Der Hirte, der in sich den König trägt, entwickelt
Geduld – die Souveränität, auszuharren und dabeizubleiben, komme, was wolle.
Sie schöpft aus der Möglichkeit grosse Zusammenhänge und lange Zeitspannen zu
24
Beiträge
überblicken. Der König, der in sich das Hirtenherz gefunden hat, entfaltet Enthusiasmus – die Begeisterung, die aus der Liebe zum Dienst am Anderen und an der Welt
erwächst. Im schweren/trägen Typus überwiegen Stetigkeit und Geduld, ohne dass
sie mit entsprechendem Enthusiasmus gepaart sind. Das Ergebnis ist Bewegungsarmut, ein schwerer Gang mit schwacher Muskelspannung, wenig Initiative bei gleichmässiger Stimmung, kaum Aufmerksamkeit und wenig Reaktion auf Begebenheiten
in der Umgebung. Im leicht/überbeweglichen Typus fehlt diese Stetigkeit; stattdessen
herrscht bei wechselhafter Stimmung ein ungezügelter und richtungsloser Enthusiasmus bis mitunter zu Hyperaktivität vor, der ständig neue Initiativen findet, sich aber
dann wieder leicht von äusseren Reizen und inneren Regungen ablenken lässt und
letztlich nichts zu Ende führt.
Eine heilpädagogische Menschenkenntnis sollte selbst dahin führen, dass sie im
Pädagogen sowohl Geduld als auch Enthusiasmus erweckt, sodass sie ihn zum handlungsfähigen Menschen mit Initiativkraft und Durchhaltevermögen macht. Darin liegt
der Wert eines lebendig-bildgestaltenden Blickes auf menschliche Situationen. Als
‹Motivbilder› oder handlungsleitende Erkenntnismittel können menschenbildliche
Imaginationen wie die der Hirten und der Könige dynamische Zusammenhänge,
Spannungsverhältnisse und innere Widersprüchlichkeiten fassen, die in formalisierten Begriffskonstrukten verloren gehen. So misst Baron-Cohens Empathie-Quotient
Symptome der Empfindsamkeit für die seelische Befindlichkeit anderer Menschen,
kann aber den Umgang damit nicht richtig fassen.
Der Blick bleibt verschwommen, wenn es um den differenzierten Einblick geht, ob
diese Sensibilität vor allem als Verwundbarkeit auftritt und zu Selbstverlust führt oder
ob sie mit einer inneren Sicherheit gepaart ist, aus der sie als Wahrnehmungs- und
Erkenntnismöglichkeit für menschliche Situationen erschlossen werden kann, ohne
dass der so Empfindende von seinen Eindrücken überwältigt wird und ihnen zum
Opfer fällt. Auch rechnet der linear definierte EQ-Begriff nicht mit der Möglichkeit,
anstelle der Ermittlung eines Gleichgewichts in einem statischen Durchschnitt eine
seelische Beweglichkeit zu erlangen, sich je nach Bedarf und Situation ganz zu öffnen
oder sich auch aus eigenem Entschluss zurückzuziehen und zeitweilig von äusseren
Eindrücken abzuschliessen.
Eine ähnliche Beweglichkeit liesse sich auch im Bereich des Systematisierens anstreben, wo es ebenfalls darum ginge, sich von der eigenen Tendenz zur Einseitigkeit
durch Ausbildung der Fähigkeit zu emanzipieren, sich zwischen beiden Polen situationsgemäss frei zu bewegen. In den statistischen Konstrukten, mit denen BaronCohens Forschung diese beiden Dimensionen erfasst, kommt diese differenzierte
Anschauungsweise zu kurz, da sie jene innere Beweglichkeit und die Sicherheit,
mit welcher der Einzelne diese Bewegungen intentional beherrschen und durchführen kann, nicht erfassen können. Werden konkrete Einzelsituationen aber mit Hilfe
lebendiger Bilder beleuchtet, die deren Wesensstruktur entsprechen, so lassen sich
in den Variationsmöglichkeit die jeweils relevanten dynamischen Prozesse, SpanZeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
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Beiträge
nungsverhältnisse und die in ihnen angelegten Entwicklungsmöglichkeiten auffinden und sichtbar sowie mitteilbar machen. Darin liegt der qualitative Vorzug einer
imaginativ-bildgestaltenden Menschenkunde, die in sich die systematische Klarheit
des Königsbewusstseins mit der Empathiefähigkeit der Hirten vereinigt. Aus einem
solchen gleichermassen liebe- und verständnisvollen Blick können der Wille und die
richtungsweisende Inspiration für (heil-)pädagogisches Handeln fliessen. Vielleicht
kann hierzu auch dieses Weihnachtsbild einen kleinen Beitrag leisten.
Jan Christopher Göschel wurde an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln
im Fach Heilpädagogik und Rehabilitationswissenschaften promoviert. Er ist Mitglied des Leitungskollegiums der Schulgemeinschaft Camphill Special School in der Nähe von Philadelphia
(Pennsylvania) und Leiter des Ausbildungsnetzwerkes der Camphill Gemeinschaften in Nordamerika.
Anmerkungen
(1) Baron-Cohen, 2008; Baron-Cohen & Wheelwright, 2004; Goldfeld, Baron-Cohen & Wheelwright, 2006; Wheelwright, Baron-Cohen, Goldenfeld, Delaney, Fine, Smith, Weil & Wakabayashi, 2006; Baron-Cohen, Richler, Bisarya,
Gurunathan & Wheelwright, 2003.
(2) Die aufgeführten Artikel und Fragebogeninstrumente von Baron-Cohen und seinen Mitarbeitern sind auf der Website des Autism Research Centre der Universität Cambridge (www.autismresearchcentre.com) zugängig.
(3) die folgenden Charakteristiken der sechs Konstitutionstypen mittels ihrer psychologischen Symptomatologie sind
weitgehend Niemeijer und Baars (2004) entnommen.
Literatur
Baron-Cohen, S. (2008): Autism and Asperger Syndrome. OUP, Oxford.
Baron-Cohen, S., Richler, J., Bisarya, D., Gurunathan, N. & Wheelwright, S. (2003): The
systemizing quotient (SQ): An investigation of adults with Asperger syndrome or high
functioning autism and normal sex differences. Philosophical Transactions of the Royal Society,
Series B, Special issue on ‹Autism: Mind and Brain› 358. p. 361-374.
Baron-Cohen, S. & Wheelwright, S. (2004): The empathy quotient (EQ). An investigation of
adults with Asperger syndrome and high functioning autism, and normal sex differences.
Journal of Autism and Developmental Disorders, 34. p. 163-175.
Goldenfeld, N., Baron-Cohen, S. & Wheelwright, S. (2006): Empathizing and systemizing in
males, females and autism. Clinical Neuropsychiatry 2(6).
Goleman, D. (2005): Emotional Intelligence: Why it can matter more than IQ (Tenth Anniversary
Edition). Bantam Books, New York.
Göschel, J.C. (2012): Der biografische Mythos als pädagogisches Leitbild: Transdisziplinäre
Förderplanung auf Grundlage der Kinderkonferenz in der anthroposophischen Heilpädagogik.
Verlag am Goetheanum & Athena Verlag, Dornach/CH & Oberhausen.
Holzapfel, W. (2003): Seelenpflegebedürftige Kinder (Band I und II). Verlag am
Goetheanum, Dornach/CH.
Lawrence, E.J., Shaw, P., Baker, D., Baron-Cohen, S. & David, A.S. (2004): Measuring empathy:
reliability and validity of the empathy quotient. Psychological Medicine, 34. p. 911-919.
Martin, M. (1995): Hirten und Könige in den Oberuferer Weihnachtsspielen. Verlag
am Goetheanum, Dornach/CH.
Niemeijer, M. & Baars, E. (2004): Bild-gestaltende Diagnostik der kindlichen Konstitution: Die
Entwicklung eines Messinstruments. Louis Bolk Instituut, Driebergen/NL.
Steiner, R. (1990): Heilpädagogischer Kurs. Rudolf Steiner Verlag, Dornach/CH.
Wheelwright, S., Baron-Cohen, S., Goldenfeld, N., Delaney, J., Fine, D., Smith, R., Weil, L. &
Wakabayashi, A. (2006): Predicting autism spectrum quotient (AQ) from the systemizing
quotient-revised (SQ-R) and empathy quotient (EQ). Brain Research, 1079. p. 47-56.
26
Medizinische Sektion
Freie Hochschule für Geisteswissenschaft
am Goetheanum
Konferenz für Heilpädagogik
und Sozialtherapie
Jahresbericht 2012
Was bedeutet Repräsentation?
Die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie ist eine Organisation von Repräsentantinnen und Repräsentanten, von Menschen also, die in den Zusammenkünften nicht um ihrer selbst
willen zusammen kommen, sondern als Vertreter von Ländern und Arbeitsgruppen. Gleichwohl
haben sie ihre Mitarbeit in diesem Kreis zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht und ihr Gelingen beruht gerade darauf, dass sie ein überpersönliches Anliegen auf persönliche Art und Weise – individuell – vertreten. Damit sind verschiedene Aufgaben und Anforderungen verbunden:
Als Repräsentant muss man
die «Lebensprozesse» einer
Organisation abbilden können, d. h. dasjenige, was sich
in der Zeit prozessual ereignet
und vollzieht «ins Bild» setzen
und die Ideen und Gedanken,
die in den Prozessen leben,
in ihrer Komplexität erkennen
und ins Wort bringen können.
Dann bringt man nicht nur ein
totes Bild des Bestehenden
mit, sondern ist Träger der Willensprozesse und Intentionen,
die in einem Zusammenhang
lebendig sind und ist fähig
diesen zu vertreten sowie bevollmächtigt, an Entschlüssen
in seinem Sinn mitzuwirken.
Im Austausch mit den anderen
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
Repräsentanten kann man mit
den eigenen Erfahrungen an
gemeinsamen Erkenntnissen
und Lösungen mitwirken. Um
das zu ermöglichen, muss man
das Mitgebrachte loslassen
und zurückstellen können, damit im Gespräch etwas Neues,
noch Unbekanntes, vielleicht
Unerwartetes entstehen kann.
Kommt man zurück, kann man
bemerken, dass man das Eigene nun im Licht eines grösseren Ganzen zu betrachten vermag. Der eigene Hintergrund,
auf dem man Alltagshandeln
und
Entwicklungsprozesse
verstehen kann, ist reicher und
tiefer geworden.
Im Zurückkommen ist man
nicht nur Repräsentant der
eigenen Organisation oder Gemeinschaft, sondern man ist
Repräsentant des Kreises, in
den hinein man delegiert worden ist. Die Brücke zwischen
dem einen und dem anderen
zu finden ist eine weitere Aufgabe: weniger eine Sache von
Berichten und Protokollen,
sondern mehr eine Frage, ob
die prozessualen Wandlungsprozesse der Repräsentationsaufgabe den jeweiligen
Menschen in veränderter (erweiterter) Weise in das jeweilige Ganze stellen. Dann wirkt
nicht mehr nur ein Bild oder
ein Gedanke, sondern eine lebendige Willensbeziehung.
27
Aufgaben
Was hier eher schlicht und
ohne die zahlreichen Implikationen und Probleme solcher
Prozesse angesprochen ist,
gehört zu den grundlegenden
Fragen einer gelingenden und
verbindlichen
Sozialkultur.
Insofern ist es von zentraler
Bedeutung, dass Repräsentation in ein Kollegium oder
eine Gemeinschaft zurückgebunden ist. Als Repräsentant
ist man nicht selbsternannt,
sondern man hat ein Mandat
auf Zeit und muss selbst prüfen, ob man dieses Mandat
noch besitzt oder nicht. Dieser
Selbstwahrnehmungsund
Prüfungsaspekt ergänzt die
kollegialen Wahlmodalitäten,
durch die ein Repräsentant benannt wird.
Der Auftrag der Repräsentanz
erfüllt sich aufgrund mehrerer
Bedingungen, die sein Gelingen erfordert. Zwei davon sind
Verbundenheit und Interesse.
Der Prozess der Abbildung eines sozialen Ganzen ist letztlich nur zu leisten, wenn man
damit innerlich verbunden ist,
mit Interesse und Liebe Anteil
28
nimmt. Ein Bild zu schaffen
heisst indes auch, einen Prozess der Distanznahme zu vollziehen, Abstand zu gewinnen,
«von Ferne» auf das Eigene zu
schauen, ein Prozess der mit
Zunahme an Freiheit und Unabhängigkeit verbunden ist.
In seinem «Motto der Sozialethik» hat Rudolf Steiner diese
polare Geste der Sozialgestaltung in ihrer reziproken Wirksamkeit formuliert: «Heilsam
ist nur, wenn im Spiegel der
Menschenseele sich bildet die
ganze Gemeinschaft und in der
Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft».
Die Aufgaben der Konferenz
Die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie ist
ein Organ der Medizinischen
Sektion der Freien Hochschule
für Geisteswissenschaft, die
ihren Sitz am Goetheanum in
Dornach, Schweiz hat. Sie ist
ein Netzwerk, in dem nationale Verbände und Einrichtungen
aus fast 50 Ländern zusammenarbeiten. Sie sieht ihre
Aufgabe in der Arbeit an den
auf der Anthroposophie beruhenden geisteswissenschaftlichen Grundlagen der Heilpädagogik und Sozialtherapie, der
Wahrnehmung aktueller Fragestellungen der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Arbeit, der Begegnung,
Wahrnehmung, Unterstützung
von Initiativen und Angeboten
für Menschen mit Hilfe- und
Unterstützungsbedarf im Sinne von deren Integration und
Inklusion in die Lebensfelder
der Gesellschaft und Gemeinschaft in einer kulturellen Vielfalt sowie der Gemeinschaftsbildung von Menschen, die
an gemeinsamen spirituellen,
kulturellen,
wissenschaftlichen und praktischen Aufgaben über Ländergrenzen hinweg zusammenwirken.
Die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie wurde
im Jahr 1979 gegründet, um
ein gemeinsames Organ für
die international wachsende
Bewegung der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie zu bilden.
Arbeitsgruppen
Zusammenarbeitsstrukturen
Zur Erfüllung ihrer selbstgewählten Aufgaben arbeitet die
Konferenz für Heilpädagogik
und Sozialtherapie in einer
jährlichen Plenarversammlung
zusammen sowie in einer Reihe von Arbeitsgruppen, die
sich mit speziellen Themen
befassen.
Die jährliche Klausurtagung
aller
Konferenzmitglieder
dient insbesondere der Arbeit
an grundlegenden Fragen und
der Wahrnehmung einer Bewegung, die sich in vielen Ländern und auf allen Kontinenten findet. Nach Jahren einer
fast sprunghaften Erweiterung
im Anschluss an den Fall des
«Eisernen Vorhangs» ist sie in
einen langsameren, aber stetigen Prozess der Erweiterung
und Differenzierung getreten.
So war im vergangenen Jahr
das Land Armenien erstmals
in der Konferenz vertreten. Vor
allem im asiatisch-pazifischen
Raum sind anthroposophische
Initiativen, darunter auch für
Heilpädagogik, im Entstehen
und in der Entwicklung begriffen.
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
Die meisten Arbeitsgruppen
der Konferenz arbeiten permanent und treffen sich meist
ein bis dreimal pro Jahr. Ergänzend gibt es auch ad-hocArbeitsgruppen, die zeitlich
begrenzte Aufgaben wahrnehmen. Derzeit arbeiten folgende
Gruppen:
- Sozialtherapeutische Gruppe
- Internationaler Ausbildungskreis mit Ausbildungsrat und
Anerkennungsgruppe
- Ärzte im Feld Heilpädagogik
und Sozialtherapie
- Europäische Kooperation für
Heilpädagogik und Sozialtherapie
- Wissenschaftskreis
- Koordinationsgruppe
Die Repräsentanten der Konferenz werden aus den jeweiligen Ländern, respektive den
Arbeitsgruppen, für die Zeit
von drei bis fünf Jahren entsandt. Der genaue Wahlmodus
ist den dortigen Verhältnissen
überlassen.
Die Konferenz unterhält ein
Sekretariat in Dornach, dessen
Aufgabe in der Koordination
der internationalen Zusammenarbeit besteht.
In ihrem nunmehr über 30-jährigen Bestehen hat sich die
Arbeitsweise der Konferenz
mehrfach geändert. Ursprünglich wurden ihre Mitglieder
durch die Leitung der Medizinischen Sektion in ihr Amt
berufen. Mit dem zunehmenden Wachstum der Bewegung
und der zu respektierenden
Autonomie der Länder wurde
der Auswahlmodus der Entsendung als adäquater empfunden. Ein weiterer Markstein
bestand in der Entwicklung
eines solidarischen Finanzierungsinstruments, mit dem die
Länder einen ihren Verhältnissen entsprechenden Beitrag
zur wirtschaftlichen Deckung
der Arbeit geben können.
Inzwischen zeigt sich, dass
aufgrund der Entwicklungen in
den Ländern, der wirtschaftlichen Bedingungen und von
zunehmenden
Differenzierungsprozessen die Struktur
der Konferenz weiterentwickelt werden muss, damit
sie ihren Aufgaben weiterhin
gewachsen bleibt. In welche
Richtungen diese gehen kön29
Tagungen
nen, ist Gegenstand der Beratungen im kommenden Jahr.
Die Konferenz im Jahr 2012
Einer der Höhepunkt des Jahres war die «Internationale
Tagung für Heilpädagogik
und Sozialtherapie», die von
mehr als 800 Menschen aus
fast 30 Ländern besucht wurde. Unter dem Titel: «Initiativ
werden – Die Kunst des guten
Handelns» gab es die Möglichkeit, interessante Vorträge zu
hören, sich in Arbeitsgruppen
weiter zu bilden, ein Kulturprogramm wahrzunehmen und
nicht zuletzt Menschen aus
anderen Ländern und Kulturen
kennen zu lernen. Nach der Tagung «Bewusstseinsbildung»
des Jahres 2010 und der diesjährigen Tagung mit der Frage
des Willens könnte die Tagung des Jahres 2014 mit dem
Thema «Heilpädagogik und
Sozialtherapie als Kultur der
Anteilnahme, Achtsamkeit und
Empathie» gestaltet werden.
Einmal im Jahr treffen sich
die Verantwortlichen der Ausbildungsstätten in Kassel zu
30
einer Tagung, an der aktuelle
Themen von Ausbildung im
Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie sowie Fragen des
Netzwerks der Ausbildungsstätten behandelt werden. In
diesem Jahr war es die Frage
der Vertiefung geisteswissenschaftlicher Inhalte im Hinblick auf eine zeitgemässe und
fähigkeitsorientierte Ausbildungskultur. Der Ausbildungsrat des Ausbildungskreises
traf in diesem Jahr auch zu
einer Konferenz mit allen Ausbildungsstätten des Vereinigten Königreichs in Edinburgh
zusammen, um die eher lose
gewordene Zusammenarbeit
mit ihnen neu zu festigen.
Die alle drei Jahre stattfindende Internationale Tagung in
Lateinamerika erfolgte diesmal in Quito (Ecuador), wo sich
erste heilpädagogische Initiativen auf anthroposophischer
Grundlage bilden und den internationalen Zusammenhang
in den spanisch und portugiesisch sprechenden Ländern
von Süd- und Mittelamerika
suchen. Es ist sehr erfreulich
zu beobachten, dass diese
Tagungen immer mehr in einer
Solidaritätsgeste mit allen anderen Ländern – Argentinien,
Brasilien, Chile, Kolumbien,
El Salvador, Peru wie auch
einigen anderen Ländern, in
denen es bisher noch keine
eigenen Einrichtungen gibt
– stattfinden. In einem weiteren Land Südamerikas gibt
es ebenfalls seit vielen Jahren
anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie: in
der Republik Suriname, in der
als einem der ganz wenigen
Ländern Lateinamerikas weder
spanisch noch portugiesisch
gesprochen wird, sondern
die Sprache der ehemaligen
Kolonialherrschaft der Niederlande.
Neben den öffentlichen Tagungen gibt es regelmässige
Tagungen für Heilpädagogen
und Sozialtherapeuten, die
Mitglieder der Ersten Klasse der Freien Hochschule für
Geisteswissenschaft sind und
insbesondere an der Frage
der esoterischen Aspekte des
Heilpädagogischen Kurses
Projekte
Rudolf Steiners arbeiten wollen. Neben den Dornacher
Zusammenkünften fand auch
eine Tagung für die skandinavischen Ländern in Marjatta
(Dänemark) statt.
Die Zusammenarbeit mit den
Landes- und Angehörigenverbänden auf Tagungen und in
Arbeitskreisen gehört zu den
prägenden Aufgaben der Konferenz. Im letzten Jahr standen
vor allem die Themen Inklusion von Menschen mit Behinderung, Fragen des religiösen
Lebens, der Gewaltprävention
und der Lebensgestaltung Erwachsener im Vordergrund.
Laufende Projekte
Das Projekt «Geschichte der
anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie»
konnte zum Ende des Jahres
abgeschlossen werden. Es
wurde vor mehreren Jahren
von Rüdiger Grimm und Brigitte Kaldenberg mit dem Aufbau
eines Archivs und der Dokumentation wichtiger Ereignisse
und Persönlichkeiten der Heilpädagogik und Sozialtherapie
begonnen und in den letzten
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
Jahren durch Rüdiger Grimm
und Volker Frielingsdorf für die
Publikation vorbereitet, die im
Lauf des Jahres erfolgen wird.
Ein markantes Ereignis auf
dem Weg dieses Projekts zum
Buch war ein Kolloquium, an
dem eine Reihe prominenter
Forscher aus dem Bereich der
Fachwissenschaft und der Anthroposophie einen Teil der
Ergebnisse diskutierten.
Ein Schwerpunkt besteht in
der Arbeit am «Heilpädagogischen Kurs» Rudolf Steiners.
Dazu wurde die Arbeit an den
Kolloquien der letzten Jahre
fortgeführt. Auch für das Jahr
2013 sind Veranstaltungen und
Publikationen zu diesem Thema in Planung.
In Zusammenarbeit mit dem
Verband für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie in der Schweiz
wurde ein Projekt zur Darstellung der anthroposophischen
Sozialtherapie auf den Weg gebracht, das im Jahr 2013 zum
Abschluss kommen soll. Das
Kernanliegen dieses Projekts
liegt darin, die Sozialtherapie
als aktuellen Beitrag zur Lebensgestaltung für Menschen
mit Behinderung einem Kreis
von Fachpersonen wie auch
der Öffentlichkeit darzustellen. Als Grundlage dieser Arbeit wurden bereits mehrere
Kolloquien und Expertengespräche durchgeführt.
Die Zusammenarbeit mit der
Alanus Hochschule findet zum
einen durch die Mitarbeit Rüdiger Grimms am Institut für
Heilpädagogik und Sozialtherapie und dem dort angebotenen Masterstudiengang «Leitung, Forschung und Bildung
in heilpädagogischen und
sozialtherapeutischen Aufgabenfeldern» statt. Im Auftrag
des deutschen Verbandes für
Heilpädagogik, Sozialtherapie
und Soziale Arbeit auch durch
die Mitarbeit an einem Projekt
zur Entwicklung eines Studiengangs zum Master of Education
im Bereich Sonderpädagogik,
mit dem ein staatlich voll anerkannter Ausbildungsgang
für Lehrer in der Heilpädagogik
konzipiert werden soll.
31
Publikationen
Publikationen
Die Zeitschrift Seelenpflege
stellte ihrer Leserschaft Material zu den Themen «Biografie» und «Biografiearbeit»
zur Verfügung, über Fragen
der Ausbildung und über die
Anwendung der rhythmischen
Massage in der Heilpädagogik. Weiter wurden Fragen der
heilpädagogischen
Schule,
über Religion und Spiritualität
und Beiträge zu vielen anderen
Themen bearbeitet. An dieser
Stelle sei den Autorinnen und
Autoren sehr herzlich für ihre
interessanten und weiterführenden Beiträge gedankt.
Die Internetseite der Konferenz erscheint seit einiger Zeit
in einem neuen Gewand und
wird nunmehr hauptsächlich
in deutscher und englischer
Sprache betrieben. Für spanisch und russisch wird es
künftig ein reduziertes Angebot mit den wichtigsten Informationen geben, da mittlerweile auch in diesen Ländern
eigene Websites über die anthroposophische Heilpädagogik
und Sozialtherapie existieren.
32
Sekretariat
Die bereits angekündigte neue
Buchreihe «Anthropos», die
in einer Kooperation des Verlags am Goetheanum und des
Athena Verlags in Oberhausen
erscheint, konnte einen sehr
erfolgreichen Start mit den folgenden Büchern verzeichnen:
Pim Blomaard: Beziehungsgestaltung in der Begleitung von
Menschen mit Behinderungen.
Andreas Fischer: Zur Qualität
in Institutionen für Menschen
mit Behinderungen.
Jan Göschel: Der biografische
Mythos als pädagogisches
Leitbild.
Alle drei Bücher, ursprünglich
als Dissertationen vorgelegt,
stellen einen wichtigen Beitrag
zum Diskurs zwischen anthroposophischer Heilpädagogik
und anderen Richtungen innerhalb der Fachwissenschaft
dar. Im Lauf des kommenden
Jahres sind bereits weitere Titel zur Publikation vorgesehen.
Vor allem für Menschen in
Ausbildung, aber auch für
Praktiker fehlen im Augenblick
Publikationen, die einführenden Charakter haben. Diesem
Mangel soll in nächster Zeit
durch die Einführung einer
weiteren Schriftenreihe abgeholfen werden, deren erste
Titel derzeit in Arbeit sind.
Dienstleistungen des Sekretariats
Die Mitarbeitenden im Dornacher Sekretariat der Konferenz für Heilpädagogik und
Sozialtherapie stehen zur
Verfügung für Information
und Beratung. Das Sekretariat
führt eine Adressdatenbank
mit allen Angeboten und Organisationen der anthroposophischen Heilpädagogik und
Sozialtherapie (internetbasiert
unter www.khsdornach.org).
Sie führt eine regelmässig
annotierte Bibliographie der
anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie, die
nach einer Pause nun im Frühjahr 2013 wieder online gehen
wird, ergänzt durch die Möglichkeit jetzt auch Texte direkt
durch Download zu beziehen.
Alle erfassten Titel sind auch
als physischer resp. digitaler
Bestand vorhanden. Darüber
hinaus existiert ein Archiv zur
Geschichte der Heilpädagogik
und eine wachsende Anzahl
von Fotografien. Leider ist es
aus Kostengründen bisher
nicht möglich gewesen, ein
erschliessbares
Fotoarchiv
aufzubauen, da die dafür notwendigen Personal- und Infrastrukturmittel nicht vorhanden
sind. Aus dem gleichen Grund
kann auch das Archiv derzeit
nicht regelmässig aktualisiert
werden.
Darüber hinaus werden die Unterlagen und Dokumente über
die internationale Zusammenarbeit der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie
archiviert. Über die Inhalte und
Wege der Zusammenarbeit der
Konferenz für Heilpädagogik
und Sozialtherapie gibt es
Leitbilder und Reglemente, die
auch auf der Internetseite der
Konferenz eingesehen werden
können.
Ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt besteht in der inhaltlichen und administrativen
Vorbereitung, Durchführung
und Nachbereitung von TagunZeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
gen, vor allem den zweijährlich
stattfindenden Internationalen
Kongressen am Goetheanum,
aber auch einer Reihe von
regelmässig stattfindenden
kleineren Tagungen. Grössere
Tagungen werden mit Hilfe der
Tagungsabteilung des Goetheanum durchgeführt. Vor allem
für die Zusammenarbeit bei
den Internationalen Tagungen
möchten wir den Kolleginnen
und Kollegen dort sehr herzlich
danken!
Ausserdem erreichen das
Sekretariat Anfragen und Bitten um Zusammenarbeit bei
Tagungen und Vortragsveranstaltungen, zur Mitwirkung
bei Arbeitsgruppen und um
schriftliche Beiträge.
Einen nicht geringen Teil stellt
die Mitarbeit und Repräsentation der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie in
anderen Organisationen dar,
z.B. in IKAM, der «Internationalen Koordination Anthroposophische Medizin» oder im
Kuratorium des «Instituts für
Mensch, Ethik und Wissenschaft» in Berlin.
Mitarbeitende
In der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie arbeiten derzeit mit:
Prof. Dr. phil. Rüdiger Grimm,
Leitung
Gabriele Scholtes, Redaktion
Zeitschrift Seelenpflege
Angela Wirth, Sekretariat
Nach vielen Jahren ihrer Mitarbeit ist Regina Denzler Mitte
des letzten Jahres in den Ruhestand getreten. Wir haben sie
herzlich und mit grosser Dankbarkeit verabschiedet. Mit der
Beendigung ihrer Mitarbeit ist
sie auch als Vorstandsmitglied
unseres Trägervereins ausgeschieden.
Honorarkräfte
Roland Maus, Grafik und Layout Zeitschrift Seelenpflege,
Tagungsprogramme
Prof. Dr. Bernhard Schmalenbach, Redaktion Zeitschrift
Seelenpflege
Ehrenamtliche Mitarbeit
Dr. Peter Arni, Redaktion Internetseite www.khsdornach.org
33
KHS 2012
Aufwand
Personalaufwand
66.441; 15%
Beitrag an Medizinische
Sektion
38.945; 8%
43.254; 9%
276.372; 61%
30.000; 7%
Jahresrechnung
Die Mittel, über welche die Konferenz verfügen kann, stammen zum überwiegenden Teil
aus Solidarbeiträgen der Länder respektive Organisationen.
Jedes Land leistet seinen Beitrag nach eigener Einschätzung
in Relation zu den Beiträgen der
anderen Länder. Für die Erstellung von Budget und Jahresabschluss ist der Trägerverein
«Fonds für Heilpädagogik und
Sozialtherapie» zuständig. Jahresrechnung und Budget werden den Konferenzmitgliedern
zur Verfügung gestellt und an
den jährlichen Klausurtagungen
besprochen.
Zusammen mit den übrigen Einnahmen, auch den Spendenmitteln für die Durchführung von
Projekten, stehen der Konferenz bei einer sparsamen Wirtschaftsführung ausreichende
Mittel zur Verfügung. Leider
bewirkte der Kurseinbruch des
Euro in den beiden Vorjahren
erhebliche Kursverluste und
damit Verluste in der Jahresrechnung. Die Festschreibung des
Verhältnisses von Euro und Franken auf 1:1,2 hat dieses Problem, dass bei gleichem Mitteleinsatz der Länder fast zehn
Prozent weniger Einnahmen für
die Konferenz zustande kommen, nicht beseitigen können,
34
Spesen
(Sekretär/Konferenzmitglied
er)
Zeitschrift
(Druck/Versand/Honorare)
Sekretariatskosten
Bilanz
Aktiven
31.12.2012
31.12.2011
Liquide Mittel
337‘242.37
332‘251.13
kurzfristige Forderungen
61‘192.25
3‘441.25
6‘088.10
4‘560.31
Studiendarlehen
31‘981.03
27‘693.71
Anlagevermögen
11‘589.29
14‘132.24
448‘093.04
382‘078.64
12‘895.46
6‘658.78
185‘204.06
12‘612.81
Transitorische Aktiven
Total Aktiven
Passiven
Kreditoren
Projekte und Tagungen
Transitorische Passiven
0.00
2‘608.00
Zweckgebundene Spenden
0.00
109‘270.72
120‘000.00
120‘000.00
5‘000.00
5‘000.00
Eigenkapital
125‘928.33
167‘017.09
Verlust 2012
934.81
41‘088.76
448‘093.04
382‘078.64
Studienfonds
Rückstellungen
Total Passiven
KHS 2012
Ertrag
1.636; 0%
935; 0%
25.534;
6%
61.749; 14%
Länderbeiträge
45.177; 10%
319.982; 70%
Zeitschrift
(Abonnemente,
Inserate)
Honorare /
Spesenrückvergütungen
Übrige Erträge
Erfolgsrechnung
Aufwand
2012
2011
276‘372.18
267‘032.07
Beitrag an Medizinische Sektion
30‘000.00
40‘000.00
Spesen (Sekretär/Konferenzmitglieder)
43‘254.23
46‘650.09
Zeitschrift (Druck/Versand/Honorare)
38‘945.35
43‘805.36
0.00
1‘200.00
66‘441.14
78‘915.46
455‘012.90
480‘315.94
319‘981.96
333‘565.82
Zeitschrift (Abonnemente, Inserate)
45‘176.79
48‘201.97
Honorare / Spesenrückvergütungen
25‘534.30
28‘441.44
Übrige Erträge
61‘748.96
29‘017.95
1‘636.08
2‘712.96
934.81
41‘088.76
455‘012.90
480‘315.94
Personalaufwand
Öffentlichkeitsarbeit
Sekretariatskosten
Total Aufwand
Ertrag
Länderbeiträge
Währungsdifferenzen
Verlust 2012
Total Ertrag
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
aber zumindest die Unsicherheit weiterer Schwankungen und
Verluste gemindert. Durch Spenden und Solidarbeiträge konnten die Defizite ebenso in einem
überschaubaren Rahmen gehalten werden wie durch den wirtschaftlichen Erfolg der letzten
Internationalen Tagungen. An
dieser Stelle sei allen von Herzen gedankt, die unsere Arbeit
mit ihrer Zuwendung ermöglicht haben und uns durch
ihre besondere Unterstützung
auch in schwierigen Zeiten die
Gewissheit gegeben haben,
dass die Arbeit der Konferenz für
Heilpädagogik und Sozialtherapie geschätzt wird.
Trägerschaft
Die Konferenz für Heilpädagogik
und Sozialtherapie versteht sich
als ein Arbeitsbereich innerhalb
der Medizinischen Sektion der
Freien Hochschule am Goetheanum in Dornach, die von Dr.
med. Michaela Glöckler geleitet wird.
Die Rechtsträgerschaft der Konferenz liegt im «Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie»,
einem nicht im Handelsregister eingetragenen Verein nach
Schweizer Recht. Handlungsbevollmächtigte Vorstände sind
Michael Dackweiler, Tennental
und Rüdiger Grimm, Dornach.
35
Konferenzmitglieder 2012
Argentinien
Myriam Orrillo (A)
Doris Unger
Armenien
Zaruhi Manoukyan
Australien
Martin Porteous
Belgien
Bart Vanmechelen
Brasilien
Paula Cardoso Mourao
Bettina Happ Dietrich
Chile
nn
Dänemark
Renate Gregersen
Lars Svendsen
Deutschland
Manfred Barth
Wolfgang Dahlhaus (A)
Johannes Denger
Rainer Dormann
Anette Gischler (N)
Stephan Göbel
Peter Keuschnigg
Andrea Kron-Petrovic
Helmut Pohlmann
Stefan Siegel-Holz
Elke Stanglow-Jorberg
Manfred Trautwein
Andrea Woorts
Cornelia Zimber-Braemer
Estland
Dr. Anne Daniel
Finnland
Ilkka Kuusisto
Leni Knutar
Frankreich
Magali Bourcart
Jessie Delage
Claude Stoehr
36
Georgien
Dr. Marina Schostak
Griechenland
Thomas Prange
Grossbritannien
England
Paul Bradford
Brigitte van Rooij
Nordirland
nn
Schottland
Angela Ralph
Indien
Liane da Gama
Irland (Republik)
Tony Whittle
Israel
Yftach Ben-Shalom
Italien
Elena Nardini
Kirgisien
Igor Schälike
Kolumbien
Anne Mordhorst
Lettland
Stella Mutule
Neuseeland
Russell Carter (A)
Raymond Eberhardt (N)
Niederlande + Surinam
Pim Blomaard (N)
Hans Lap
Merlijn Trouw
Norwegen
Rigmor Skälholt
Österreich
Leonardo Schmidt
Christine Thomas
Pakistan
Shaheeda Hanessen
Peru
Victor Cordova
Polen
Ewa Wasniewska
Portugal
Bert ten Brinke
Rumänien
Roxana Byrde
Russland
Dr. Tamara Isaeva
Schweden + Island
Katharina Karlsson
Mats-Ola Ohlsson
Cecilie Raeder
Dick Tibbling
Schweiz
Didier Emery (A)
Kathrin Fichtmüller (N)
Dr. Andreas Fischer
Udi Levy
Frieder Recht
Andreas Schutter
Matthias Spalinger
Spanien
Fidel Ortega Dueñas
Angelines Martinez- Cuencas
Südliches Afrika + Botswana
Halina Rubisz
Thailand
Anchana Soontornpitag
Tschechien
Dr. Anezka Janatova
Ukraine
Valeriya Medvedeva
Ungarn
Prof. Dr. Zsusza Mesterhazy
USA + Kanada
Kimberley Dorn Bay
Gäste
Hans Dackweiler
Koordinationsgruppe
Magali Bourcart
Michael Dackweiler
Brigitta Fankhauser
Andreas Fischer
Dr. Michaela Glöckler
Prof. Dr. Rüdiger Grimm
Mats-Ola Ohlsson
Brigitte van Rooij
Dr. Andrea Seemann
Bart Vanmechelen
Ausbildung
Andreas Fischer
ECCE
Béatrice Cussac
Christian Gaegaf
Bernard Heldt
Sabine von der Recke (N)
Adrienne Thier
Wissenschaftskreis
Dr. Götz Kaschubowski
Sozialtherapie
Brigitta Fankhauser
Ärzte
Dr. Ulla Bremme (A)
Dr. Andrea Seemann
Thomas Kraus (ausserordentliches Mitglied Kongresse ‹In der
Begegnung leben›)
Medizinische Sektion
Dr. Michaela Glöckler
Prof. Dr. Rüdiger Grimm
Gabriele Scholtes
N - Neues Mitglied
A - Ausgeschieden
Berichte
Die Sozialtherapeutische Arbeitsgruppe –
ein Organ der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie
Andrea Kron-Petroviv
Zweimal im Jahr trifft sich die Sozialtherapeutische Arbeitsgruppe (STAG) zu einem mehrtägigen Arbeitstreffen. In der Regel liegt bei
einer der Zusammenkünfte der Schwerpunkt
auf der Wahrnehmung und Vernetzung sozialtherapeutischer Initiativen und Einrichtungen
in Europa, das andere Mal findet intensive
inhaltliche Arbeit an den Grundmotiven der
Sozialtherapie statt.
Die Gruppe setzt sich zurzeit zusammen aus
zwölf BereichsvertreterInnen verschiedener
Arbeitsfelder (z.B. Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, Werkstätten, Hofgemeinschaften,
Einrichtungen der Sozialpsychiatrie und der
Ausbildung), die in sechs europäischen Ländern tätig sind. Weitere drei Menschen sind
der Arbeitsgruppe verbunden und stehen
schriftlich im Austausch. Darüber hinaus gibt
es einige intensive kollegiale Kontakte zu Nordund Südamerika und zum asiatischen Raum.
Ende 2011 initiierte die STAG ein inklusives
Symposium in Berlin (‹Im Gespräch›). Im
Frühjahr 2012 gestaltete die STAG eine Tagung mit der ECCE und den Vertretern des
iberischen Verbandes in San Juan auf Teneriffa zum Thema ‹Producing or Creating?›.
In verschiedenen Beiträgen wurde die ‹Produktivität und Kreativität› von Menschen mit
Hilfebedarf konkret geschildert. Dabei wurde
noch einmal deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit der Angehörigen von Menschen
mit Behinderungen und den professionellen
Begleitern ist, um mit den betroffenen Menschen eine individuell hilfreiche Lebens- und
Arbeitsgestaltung zu entwickeln.
Das im Herbst 2012 durchgeführte Arbeitstreffen bei ‹Porta e.V.› in Wuppertal bot die
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
Gelegenheit zu einem Gespräch mit einigen
BewohnerInnen der Einrichtung. Das Thema
war: «Wie kann ich mit einer chronisch-psychischen Erkrankung ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen? Was/wer hilft mir
dabei? Was/wer ist eher hinderlich?»
Das grosse Thema der STAG in den letzten
Jahren war und ist die Umsetzung des Inklusionsgedankens. Es ist erkennbar, dass es
dafür keine allgemeingültige Form gibt. Aber
es scheint ‹Haltungen› zu geben, die diesen
Prozess fördern oder behindern. Diese Haltungen und ihre strukturellen Rahmenbedingungen wahrzunehmen, aufzuzeigen und zu
reflektieren stellt eine wesentliche Aufgabe
der Arbeitsgruppe dar. Die Ergebnisse dieser
Arbeit werden in Form von Dokumentationen,
Weiterbildungen und Veranstaltungen zur
Verfügung gestellt.
Gemeinsam mit KollegInnen, Angehörigen
und Menschen mit Hilfebedarf möchten wir
an den unterschiedlichen Orten darüber
ins Gespräch kommen und Ideen und Impulse entwickeln, aus denen interessante
und tragfähige Formen der Begegnung, der
Gemeinschaftsgestaltung und der Arbeitsmöglichkeiten entstehen können. So wird
gerade für den Herbst 2013 ein zweites Symposium vorbereitet, um ‹das Gespräch› des
ersten fortzuführen.
Die STAG wird am jährlichen Treffen der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie
durch eine/n SprecherIn vertreten, wodurch
eine wechselseitige Wahrnehmung möglich
wird – auch für die Kolleginnen und Kollegen
der Länder, die nicht direkt in der Arbeitsgruppe vertreten sind.
37
Bernd Kalwitz
Meditative Menschenkunde – der Weg des
Wissens durch die Nacht
Die moderne Neurobiologie bestätigt durch ihre Befunde eindrucksvoll, worauf bereits
Rudolf Steiner wiederholt hingewiesen hat (Spitzer 2007, S. 121 ff.): Wir lernen am
meisten, wenn wir schlafen. Womit wir uns tagsüber gedanklich beschäftigt haben,
eignen wir uns im Durchgang durch die Nacht erst wirklich an, um es dann am nächsten
Tag schöpferisch und kreativ anwenden zu können. Insbesondere für den Umgang mit
der Menschenkunde hat Rudolf Steiner diesen Dreischritt, der ja auch die Grundlage
für die Didaktik der Waldorfpädagogik bildet, beschrieben und den Lehrern empfohlen
(vgl. Steiner 1993, S. 41 ff.). Was aber geschieht beim zweiten Schritt dieses Weges?
38
An dem Beispiel eines jungen Mannes mit Epilepsie, den ich mehrere Jahre begleitet
habe, ist mir einmal bewusst geworden, in welcher Dramatik unser Weg durch die Nacht
verläuft. Der Mann durchlitt morgens im Prozess des Aufwachens jedes Mal solche
Qualen, dass ich es kaum übers Herz brachte, ihn zu wecken. Das aufdämmernde
Bewusstsein bereitete ihm heftige körperliche Schmerzen, und nur unter Winden und
Stöhnen konnte er sich aus dem Schlaf in die Gegenwart des Tages kämpfen.
Ein erfahrener Heilpädagoge, mit dem ich über diese Situation sprach, wies mich
darauf hin, dass wir uns von dem, was jeden Morgen tatsächlich mit uns geschieht,
vermutlich eine viel zu einfache Vorstellung machen. Er versuchte, dies anhand eines
Vergleiches zu charakterisieren: Man stelle sich vor, es würde ein glühender Eisenstab
in ein Wasserglas getaucht. Dies entspräche der Situation, wenn unser geistig-seelisches Wesen morgens wieder in unsere Leiblichkeit eintaucht. Dieses Bild hat mich
tief beeindruckt und lange Zeit begleitet.
Dieser Umstülpungsprozess liegt auch dem Lernen zugrunde. So stellt sich die Frage,
wie man diesen Vorgang näher beschreiben kann und auf welche Weise man ihn in der
Gestaltung von Lern- und Ausbildungssituationen möglichst gut anregen kann. Eine
Orientierung können hier Vorgänge geben, welche diesem Prozess verwandt sind.
Umstülpungsprozesse in der Ernährung
Wir finden in der Welt an wesentlichen Stellen ähnliche Umstülpungen oder Durchgänge durch eine Art Nullpunkt, in denen Verwandlung möglich wird. Rudolf Steiner
selbst vergleicht den Schritt der Aneignung von gedanklich erarbeiteten Inhalten mit
der Verdauung eines Butterbrotes (ebd. S. 51). Wie lässt sich dies nachvollziehen?
Im Prozess der Ernährung nehmen wir nicht nur Substanzen aus unserer Umgebung
auf. Wann immer etwas in uns eindringt, was nicht zu unserem eigenen Wesen gehört,
wird es von unserem Immunsystem sofort als etwas Fremdes erkannt und bekämpft.
Sollte doch einmal etwas Körperfremdes dieser Abwehr entgehen und es schaffen,
in unserem Organismus seine eigene Dynamik zu entfalten, dann entsteht hieraus
immer ein Krankheitsherd, der unsere gesundheitliche Integrität bedroht. Das gilt
natürlich nicht nur für physische Substanzen, sondern in ähnlicher Weise für Sinneswahrnehmungen und Erlebnisse.
Damit wir etwas aus der Aussenwelt aufnehmen und in unser Wesen integrieren
können, müssen wir es durch unser Verdauungssystem erst so weit abbauen, dass es
seiner Eigenschaften völlig entkleidet wird. Alle Nahrungsbestandteile werden in ihre
kleinsten Bestandteile an Fetten, Kohlenhydraten und Aminosäuren zerlegt. Diese
Prozesse, die zu der Zeit, als Steiner auf sie aufmerksam machte, durchaus noch nicht
vollständig erforscht waren, sind heute Grundlage jeder Ernährungslehre.
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
39
Beiträge
Was sich der Biochemie jedoch noch zu verbergen scheint und worauf Steiner ebenfalls hingewiesen hat, ist die Tatsache, dass der Verdauungsprozess noch weiter
reicht: In unserem Innern folgen die aufgenommenen Substanzen nicht mehr den
ihnen in der Aussenwelt innewohnenden Kräfte, sondern sie gliedern sich – oft entgegen ihren stofflichen Eigenschaften – dem lebendigen menschlichen Organismus ein.
Hier geschieht etwas, was diese Stoffe grundlegend verändert, so dass beispielsweise
Mineralien dazu fähig werden, sich lebendigen Prozessen einzugliedern und sich
nicht ihren ursprünglichen Eigenschaften gemäss verhalten. Die hier wirksame Kraft
im lebendigen menschlichen Organismus wird uns im Grunde erst dann bewusst,
wenn der Mensch stirbt und sein Leib sofort zerfällt. Kann der lebendige Körper eine
mineralische Substanz nicht in seine Bildekräfte integrieren, dann werden wir krank,
etwa wenn die sich nun selbst überlassenen, mineralisierenden Substanzen unsere
zarten Blutgefässe in Kalkrohre verwandeln. Im gesunden Organismus dagegen sind
diese mineralischen Stoffe gebändigt, so dass sie die lebendige Substanz von Knochen und Zähnen bilden können.
Welche Prozesse ermöglichen es, dass die Stoffe bei der Aufnahme aus dem Darm
so grundlegend verwandelt und den Lebenskräften aufgeschlossen werden? Die Passage von Stoffen durch biologische Membranen wie die Darmwand ist für Physiologen
oft immer noch rätselhaft. Denn es gibt hier eine Phase, in der die Stoffe an komplizierte Transportproteine gebunden und als solche sehr schwer zu verfolgen sind. Der
Augenblick des Durchtrittes durch die Darmschleimhaut entzieht sich teilweise der
Beobachtung. Man kann nur verfolgen, was sich auf der einen Seite der Membran
anlagert und was sich auf der anderen Seite von ihr löst. Der Zwischenschritt kann im
Grunde nur hypothetisch erschlossen werden.
Rudolf Steiner beschrieb am Beispiel der Mineralien, wie Nahrungssubstanzen bei
ihrem Durchtritt durch die Darmwand nicht nur bis in ihre Einzelbausteine zerlegt
werden, sondern materiell komplett verschwinden, weil sie bis in den Zustand des
Wärmeäthers abgebaut werden (vgl. Steiner 1958, S. 187 ff.). Die physische Substanz
als solche existiert dann nicht mehr. Angesichts der beschriebenen komplexen Verbindung, die Nährstoffe biochemisch mit den Carrier-Proteinen der Darmwand eingehen, kann man ein solches Stadium auch physiologisch beinahe nachvollziehen
– auch wenn die physiologische Forschung dies bisher so nicht beschreibt. Steiners
Darstellung zufolge nehmen auf diese wärmeätherische Substanz nun kosmische Wirkungen Einfluss, Kräfte des Tierkreises und der Planeten. Diese bereiten die Substanz
darauf vor, sich in den Organismus einzugliedern.
40
Beiträge
Der ‹Durchgang durch den Nullpunkt› in der Entwicklung des Menschen
Ein zweites Beispiel eines Durchganges durch einen Nullpunkt betrifft die ontogenetische Entwicklung des Menschen. In der genetischen Forschung zeichnet sich immer
deutlicher ab, dass der DNA-Strang, auf dem das Erbgut des Menschen gespeichert
ist, gar nicht die entscheidende Rolle für die menschliche Existenz spielt, welche
man der DNA zugeschrieben hat. In den weitaus meisten Anteilen scheint sich das
Erbgut zwischen den menschlichen Individuen, ja sogar zwischen verschiedenen
Säugetieren nur in geringem Mass zu unterscheiden. Eine ungleich grössere Bedeutung haben diejenigen regulierenden Faktoren, welche den Abruf der gespeicherten
Information steuern. Diese können Sequenzen des DNA-Stranges mit Methylgruppen
«abdeckeln» und damit blockieren oder diese Methylierung entfernen und damit die
entsprechenden Bezirke ‹freigeben›, so dass sie abgelesen werden können. Diese
Steuerungsvorgänge scheinen die entscheidende Rolle in der Regulierung unseres
Stoffwechsels zu haben. Damit wird jeweils nur ein winziger Bruchteil der gesamten
Erbinformation zu einem bestimmten Moment aktiviert und beeinflusst die Entwicklung unseres Organismus. Diese Regulation wird sehr stark von Umwelteinflüssen
moduliert, und da ihre Funktionsweise manchmal sogar vererbt werden kann, spricht
man inzwischen wieder von ‹Epigenetik›, von der Vererbung erworbener Eigenschaften – lange Zeit ein Tabu infolge der Forschungen und Theorien Darwins.
Nur in einer ganz kurzen Phase, etwa vom ersten bis zum dritten Tag nach der Befruchtung sind alle diese Erbinformationen demethyliert, d.h. ‹unblockiert› (Haaf 2003).
Davor und danach ist dies während des gesamten Lebens nie wieder der Fall. In
diesem kurzen Moment, während das Ei in wundervollen Kreiselbewegungen durch
den Eileiter wandert, liegt das Erbgut der sich gerade verschmelzenden mütterlichen
und väterlichen Zellkerne offen da: offen für die Einflüsse des Kosmos. Kosmische
Kräfte können nun in ein völlig undifferenziertes genetisches Material hineinwirken
und es für die Aufnahme der Individualität vorbereiten, die aus der geistigen Welt
kommt und sich mit diesem leiblichen Keim verbinden will. Auch hier haben wir
einen Durchgang durch einen Prozess, den Steiner ‹Chaotisierung der Eiweisssubstanz› bezeichnet: ein Zustand tiefster Dunkelheit für die irdische Beobachtung, aber
grösster Offenheit für das Einwirken kosmischer Kräfte, die den Stoff befruchten und
verwandeln.
In diesem Sinne lassen sich auch in der menschlichen Biografie Phasen finden, in
denen sich etwas ‹verdunkelt› und für die äussere Beobachtung undeutlich wird, während auf der anderen Seite eine Offenheit für kosmische Einflüsse entsteht.
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
41
Beiträge
Innere Verwandlungsprozesse
In seiner Darstellung seelisch-geistiger Schulungswege regt Rudolf Steiner oft an, ein
intensives inneres Bild, eine Imagination aufzubauen. Darauf folgt dann ein Schritt,
bei dem man sich dieses Bild wieder ‹absuggerieren› (sic!) solle, um sich mit einem
leeren Bewusstsein dem zu öffnen, was in diesen nun ‹vorbereiteten inneren Raum›
hereintreten will (vgl. Steiner 1986, S. 162 f.). So haben wir auch auf dem meditativen Weg diesen Durchgang durch eine Leere, eine Passage durch die Nacht. Etwas
Ähnliches spielt sich beim Lernen ab. Ich möchte dies am Beispiel einer Situation
schildern, welche ich einmal erlebt habe. Ein Mensch mit Behinderungen stellte mich
immer wieder vor ein tiefes Rätsel. Er kam nach der Schule im Alter von 18 Jahren zu
uns in die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Zu der Zeit wog er knapp 30 kg und hatte
einen Körper, der seiner Gestalt nach kindlich wirkte, während sein Antlitz dem eines
alten Mannes glich, wenngleich ohne Falten. Er war durch eine massive Tetra-Spastik
vollständig gelähmt, konnte nicht sprechen und wurde stündlich mehrfach von heftigen Krampfanfällen durchgeschüttelt. Nur im Blick konnte man Kontakt mit ihm herstellen: dann wurde man von dunklen, grosse Augen wie aus einer unendlichen Ferne
heraus angeschaut.
Der junge Mann hatte sich bis zu seinem dritten Lebensjahr ganz normal entwickelt,
Fotos aus seiner Kindheit zeigten ihn als einen pausbäckigen, strahlenden Jungen. Er
hatte auch zunächst Laufen und Sprechen gelernt. Im dritten Lebensjahr hatte sich dann
plötzlich sein Blick eingetrübt, er war wie in sich zusammengesunken und kurz darauf
setzte ein dramatischer körperlicher Verfall ein. Er hörte auf zu sprechen, Krampfanfälle
traten auf und es entwickelte sich eine massive Spastik der Arme und Beine, die ihn
bald völlig lähmte. Der Aspekt seiner kindlichen Frische schwand völlig dahin, er wurde
aufgezehrt, wie man dies sonst nur bei konsumierenden Krankheiten kennt.
Obwohl natürlich alles Mögliche an Ursachenforschung betrieben wurde, fand man
keinen wirklichen Grund für diese Entwicklung, man konnte dem Verlauf nur hilflos
zusehen. Der allgemeine Abbau verlangsamte sich dann während seiner Schulzeit zwar
etwas, aber sein Leben schien oft wie an einem seidenen Faden zu hängen. Nach der
Schule lebte er noch zwei Jahre bei uns, machte in dieser Zeit einen zaghaften Schritt
ins Erwachsenenleben und starb dann im Alter von zwanzig Jahren. Sein Tod wirkte auf
uns, als würde er nur einen kleinen Schritt tun, von diesseits nach jenseits der Schwelle.
Während er mit uns lebte, beschäftigte uns sein rätselhaftes Schicksal natürlich intensiv. Immer wieder stellten wir uns die Frage, wie wir seinen Lebensimpulsen unter den
Bedingungen dieser besonderen Situation am besten entgegenkommen könnten. In
vielen Konferenzen versuchten wir, die menschenkundliche Signatur dieser Biografie
zu enträtseln. Mir stand dabei immer die Vorstellung vor Augen, der Prozess seiner
42
Beiträge
Inkarnation sei im Verlauf des dritten Lebensjahres ins Stocken geraten, und er habe
sich damals wieder weitgehend aus dem Körper, den er nie ganz ergreifen konnte,
zurückgezogen. Nach einer intensiven abendlichen Konferenz, in der wir uns vorgenommen hatten, das Besprochene durch die Nacht zu nehmen und am nächsten Tag
noch einmal aufzugreifen, begegnete ich auf dem Weg in meine Wohnung dem oben
beschriebenen Mann, der noch vor der Tür sass und mir eine gute Nacht wünschte. So
tauchte plötzlich halbbewusst das Bild des glühenden Eisenstabes wieder in meinem
Inneren auf, den man unter Zischen und Brodeln in ein Glas mit Wasser taucht. Am
nächsten Morgen nun stand mir eine ganz andere Vorstellung von der menschenkundlichen Situation vor Augen als die gemeinsam Erarbeitete am Abend zuvor. Es
ergab sich mir das Bild eines Menschen, der von einem viel zu tief in die Leiblichkeit
hineingestauchten, seelisch-geistigen Wesen wie ‹aufgezehrt› wird, ähnlich wie ein
glimmender Eisenstab alles Wasser verdampfen kann, wenn er zu tief eingetaucht
wird. Die Übermacht der Ich-Organisation und des Astralleibes trugen, so schien es
mir, ihr verzehrendes Feuer und die Spannung von Spastik und Krämpfen in den wie
zu Asche verbrennenden Leib hinein. Durch dieses neue Bild ergaben sich uns dann
neue Möglichkeiten, auf die konstitutionellen Bedingungen dieser ganz besonderen
Lebenssituation einzugehen.
Vieles hatte in dem Durchgang des im Laufe des Tages Erarbeiteten und Erlebten
durch die Nacht hineingespielt, um zu dieser Intuition zu führen. Sie selbst mag ‹richtig› oder ‹falsch› gewesen sein, aber sie öffnete die Tür für ein neues Sehen und für
neue Handlungsmöglichkeiten.
Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung eines Vortrags auf der Internationalen Ausbildungstagung 2012 in Kassel.
Dr. med. Bernd Kalwitz, Jahrgang 1956,
langjährige Einrichtungs- und Seminarleitung der sozialtherapeutischen
Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Vogthof in Ammersbek bei Hamburg, heute
stellvertretende Schulleitung der Fachschule Nord in Kiel und Dozent an der
Fachhochschule Ottersberg;
Schularzt der Rudolf Steiner Schule Bergstedt/Hamburg.
Literatur
Haaf, Thomas (2003): Geschlechterkonflikt im frühen Embryo. Deutsches Ärzteblatt 100:A 2300–2308 [Heft 36].
Spitzer, Manfred (2007): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg.
Steiner, Rudolf (1958): Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenworts (GA
230). Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Basel.
Steiner, Rudolf (1977): Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung (GA 302a). Rudolf Steiner Verlag, Dornach/
Basel.
Steiner, Rudolf (1986): Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
(GA 211). Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Basel.
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
43
Heiner Priess
Esoterischer Mut – liebevolle Hingabe – Andacht
zum Kleinen
Resümee einer Arbeitsgruppe der Internationalen Tagung für
Heilpädagogik und Sozialtherapie
Worte und Bewegungen sind durchdringende Wirkfaktoren im Erziehungsprozess
«Sie glauben gar nicht, wie gleichgültig es im Grunde genommen ist, was man als
Erzieher oberflächlich redet oder nicht redet, und wie stark es von Belang ist, wie man
als Erzieher selbst ist», sagt Rudolf Steiner im zweiten Vortrag des Heilpädagogischen
Kurses (Steiner 1985, S. 35). Auch in anderen pädagogischen Vorträgen kann man
ähnliche Äusserungen finden.
Redekunst und Fachwissen brauchen wir für die staatliche Prüfung und Qualifikation
– in unserem Berufsleben jedoch werden wir anders geprüft: Hier könnte man auch
von einer ‹Prüfung auf Herz und Nieren› sprechen.
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Beiträge
Im ersten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses geht es um die Leber, um das «Organ,
das dem Menschen die Courage gibt», so dass aus seinen Ideen Taten werden (ebd.
S. 22). Wie tief die Erziehung in die Organbildung eingreift wird dem folgend an einem
konkreten Beispiel erläutert:
Der Philosoph Franz Brentano hatte einen Sohn, dem er wohl physisch-organisch eine
gute Leber vererbt hat; aber Brentano hatte eine ganz besondere Art, sich zu bewegen. Rudolf Steiner beschreibt seine Bewegungsgestalt in dem Artikel ‹Philosophenhände›. Einleitend stellt er zunächst fest:
«Es verursachte mir immer einen tiefen Eindruck, wenn ich vor vielen Jahren in Wien
als Zuhörer Franz Brentano, den hervorragenden Seelenforscher, dem Rednerpult sich
nahen, dann seine Konzeptblätter entfalten und seine Gesten während des Vortrags
machen sah. All dies sagte eben so viel wie die Worte, die der Philosoph sprach; ja,
ich möchte fast das Paradoxon aussprechen: es sagte mehr.» (Steiner 1966, S. 166)
Die Reden des Philosophen konnten seinen Sohn noch nicht beeindrucken, denn der
Vater hatte eine Vorstellung vom Seelenleben, in dem der Wille nicht vorkam. Sein
inneres Bild vom Menschen äusserte sich jedoch auch in seinem Blick, in seiner Haltung, in seinen Bewegungen und seiner Sprache und beeinflusste somit die Leibbildung seines Sohnes.
Die Bewegungsgestalt wirkte solchermassen auf ihn, dass er über die Nachahmung
seine eigene Leber nicht richtig ausbilden konnte und an einer Willensschwäche litt,
die er allerdings später offensichtlich überwinden konnte.
Mit liebevoller Hingabe beobachtet der Student Rudolf Steiner die Gestik seines Lehrers, eine Kleinigkeit, eine Nebensache, die üblicherweise übersehen wird oder über
die man sich als Schüler lustig macht wenn die Stunde langweilig ist.
Liebevolle Hingabe und esoterischer Mut
Um in der Weise aufmerksam beobachten zu können, dass die Phänomene mehr
aussprechen als sie oberflächlich zeigen, sind bestimmte Voraussetzungen nötig.
Eine wird gleich am Anfang des Heilpädagogischen Kurses genannt: die Beobachtung
des sogenannten normalen Seelenlebens, in dem irgendwo in einer Ecke eine «sogenannte Unnormalität» sitzt (Steiner 1985, S. 11).
Das sogenannte normale Seelenleben mit seinen Einseitigkeiten ist ja zunächst das,
was ich von mir selbst kenne. Betrachte ich rückblickend in dieser Hinsicht mein eigenes Leben, dann muss ich feststellen, dass ich als Student die Gesten meiner Lehrer
nur bemerkt habe, wenn sie mich abgelenkt haben. Dann fühlte ich mich gestört und
eventuell belustigt. Ich habe damals jedenfalls versäumt, mehr über meine Lehrer zu
erfahren, als Worte sagen können.
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Was den liebevollen und genauen Blick hindert, wird im zehnten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses geschildert. Zu dem Blick in die Aussenwelt muss der mutige
Blick in die eigene Innenwelt als ein notwendiges Mittel gegen die Einseitigkeit der
Betrachtung getan werden. Rudolf Steiner äussert dort:
«Sie dürfen eigentlich nie die Ausrede gebrauchen: Ja, um solche Dinge wahrzunehmen, muss ich erst hellsehend sein. Das ist eine innere Faulheit, die derjenige, der
einen Erzieherberuf ergreift, eigentlich gar nicht haben darf. Sondern es handelt sich
darum (…) dass Sie durch die liebevolle Hingabe in sich die Fähigkeit erzeugen, hinzublicken einfach auf das, worauf es ankommt. Sie sagen sich in dem Moment selber
das Richtige. Natürlich gehört dazu der esoterische Mut. Dieser esoterische Mut wird
entwickelt, wenn ihm nicht eines gegenübersteht.» (ebd. S. 151 f.)
Das ist die Eitelkeit, wie Steiner in den darauf folgenden Sätzen weiter ausführt. Die
Eitelkeit, die an der Oberfläche bleibt, weil keine Veranlassung da ist oder weil es an
Mut fehlt, in sich selbst zu gehen und zu erkunden, was in den Seelentiefen verborgen
ist; und was wirksamer ist als das, «was man als Erzieher oberflächlich redet oder
nicht redet» (ebd. S. 35).
Ein anschauliches Beispiel für die Eitelkeit und seelische Befangenheit, wie sie vor
allem auch durch wissenschaftliche Standards geprägt sein können, kommt im zweiten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses zur Sprache: Rudolf Steiner liest einen Zeitungsartikel vor, in dem der Autor sich mit spöttischer Konnotation über den Vortrag
eines Staatsanwalts äussert. In diesem Vortrag über Friedrich Schiller und dessen
Dichtkunst schliesst der Staatsanwalt letztlich unter anderem auf Schillers grausame
Veranlagung und seinen Minderwertigkeitskomplex, womit er auch noch latente Verbrecherqualitäten des Publikums bedient. Der Staatsanwalt «hat natürlich ein reiches
Gebiet von abnormem Seelenleben kennengelernt (…) lässt sich dann wohl in reiferem
Alter darauf ein, allerlei medizinische Dinge kennenzulernen, verbindet dann das,
was er in seinem Berufe erfahren hat, mit dem, was er sich dann auf diese Weise
später erlesen hat und bildet sich daraus eine Theorie (...)» (ebd. S. 24). Zur Untermauerung dieser Theorie erschliesst sich der Anwalt, was ihm – auch auf dem Hintergrund damaliger wissenschaftlicher Standards – in den Sinn kommt und seinem
Selbstgefühl gut tut. Er sperrt Schiller in das Gefängnis seiner eigenen Befangenheit.
Übungen zur Überwindung innerer Befangenheit
Um solchen Fehlschlüssen zu entgehen, gibt Rudolf Steiner im zwölften Vortrag eine
Übung an, durch die die Heilpädagogin/der Heilpädagoge die persönliche Voreingenommenheit überwinden und den subjektiv eingeschränkten Blick erweitern kann:
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«Nicht wahr, da ist nun einmal dasjenige als ein Hindernis angegeben für eine solche
Entwickelung, was menschliche Egoität in dem Sinne ist, dass der Mensch zu sehr
sein Urteil auf das eigene Ich konzentriert.» (ebd. S. 183)
Den Hinweis, dass das Ich im Vergleich zu den anderen Wesensgliedern das am
wenigsten entwickelte ist, verdeutlicht er mit dem folgenden Bild:
«Das Ich ist erst das Baby. Und wer die Dinge durchschaut, hat, wenn jemand so richtig schwimmt in seinem Egoismus, die Imagination einer wollüstigen Kinderfrau (…)
Der heutige Mensch trägt sein Ich auf dem Arm und herzt es zärtlich. Dieses Bild zu
vergleichen mit dem, was man als tägliche Handlung tut, ist wiederum eine ausserordentlich nützliche Meditation für den Erzieher.» (ebd. S. 183 f.)
Diese vergleichende Gegenüberstellung hat mich zu einer Übung angeregt, die in der
Begegnung mit einem herausfordernden Schüler entstanden ist. Dieser durch traumatische Erlebnisse belastete Schüler sagte mir einmal: «Heilpädagoge, das ist ein
Schimpfwort für mich. Ich brauche keinen Heilpädagogen, ich bin doch nicht krank!»
Er wollte nichts mit dem zu tun haben, was ich (für die Prüfungen) gelernt habe, also
meine ‹Fachqualifikation›. Er suchte die Begegnung mit mir selbst, eine ‹Ich-Begegnung› forderte er heraus.
Manchmal war ich schwach und habe diese ‹Prüfungen auf Herz und Nieren› nicht
bestanden und die Beherrschung verloren. Dann konnte eine schlaflose Nacht folgen,
in der ich mich immer wieder gefragt habe, wie kann ich mein Fehlverhalten wieder
gut machen.
Nachdem es wieder einmal zu einem solchen Vorfall gekommen war, ging ich mit
diesem Vorsatz der Verbesserung am nächsten Morgen auf meinen Schüler zu. Aber
der schaute mir so frei in die Augen, als habe er alles vergessen. Ich sah Freiheit in
ihm und in mir erlebte ich Befangenheit!
Wie kann ich auch so frei werden, wie kann ich mein Seelenleben selbst wieder in ein
Gleichgewicht bringen? Diese Frage hat mich lange beschäftigt und angeregt durch
den zwölften Vortrag habe ich folgende Übung für mich gefunden:
Gegen den drängenden Wunsch, sie ungeschehen und ungesehen zu machen, stelle
ich mir die schlimme Situation mit meinem Schüler noch einmal so konkret wie möglich vor. Ich versuche, das Ereignis objektiv zu sehen und von meinem subjektiven
emotionalen Erlebnis zu trennen. Bei dieser seelischen Tätigkeit habe ich bemerkt,
wie durch die dafür aufgewendete Anstrengung wieder eigene Kraft in mein Gefühlsleben einzieht. Ich kann den Vorgang noch verstärken, indem ich nach einer guten
Situation mit dem Kind, in zeitlicher Nähe zu dem ersten Ereignis, suche. Dabei muss
ich mich vom ersten Ereignis innerlich entfernen, das ist eventuell gar nicht leicht,
aber sehr hilfreich.
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Nach einigem Suchen fällt mir eine Situation beim Mittagessen ein, bei der er etwas
fragte und wir für einen Moment einen kurzen unbeschwerten Blickkontakt hatten,
wie ein Sonnenstrahl durch schwarze Wolken. Ich hätte ihn auch spontan etwas
fragen können, ‹aus heiterem Himmel›, wie man so schön sagt, weil für einen Moment
unser Konflikt vergessen war. Aber dann konnte ich mich doch nicht äussern als ich
bemerkte, wie sich mir wiederum meine Gefühle in den Weg stellten. Diesen Moment
der Unbeschwertheit vor dem Anstossen an meine ‹seelische Behinderung› versuche ich mir nun intensiv vorzustellen und mich so fest in ihn hineinzuversetzen,
bis ein gleichwertiges Gegenbild zu dem ersten, belastenden Ereignis entstanden ist.
Im Laufe der Übung kann ich erleben, wie sich mein seelisches Gleichgewicht zwischen den Gegenbildern langsam wieder herstellt, wie das Ich seinen Platz in der
Mitte wieder einnimmt. Ich fühle mich mehr und mehr befreit für eine unbefangenere
Begegnung mit meinem Schüler.
Würde man diesen Vorgang auf Rudolf Steiners Bild vom ‹Ich-Baby› übertragen, so
könnte man hier vielleicht sagen: es hat eine kleine Neugeburt des Ich stattgefunden.
Rudolf Steiner gibt im Heilpädagogischen Kurs sehr viele Anregungen für Übungen im
Bereich der Seelenpflege. An einem Beispiel wollte ich zeigen, wie sie mir geholfen
haben, mich selbst und meine Schüler besser zu verstehen und wie sie mir immer
wieder neue Kraft für die tägliche Arbeit geben konnten.
Auch die mich als Heilpädagogen herausfordernden Kinder haben mir geholfen, weil
sie mich immer wieder auf den Weg gebracht haben, wenn ich stehen bleiben wollte.
Heiner Priess war 25 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule für Seelenpflege-bedürftige Kinder in Kiel, die er auch mit aufgebaut hat. Danach war
er Dozent am Rudolf Steiner Institut in Kassel und ist noch an weiteren Ausund Fortbildungsinitiativen in der Heilpädagogik im In- und Ausland tätig.
Literatur
Steiner, Rudolf (1985): Heilpädagogischer Kurs (GA 317). Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Basel.
Steiner, Rudolf (1966): Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart.
Gesammelte Aufsätze aus der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› 1921-1925 (GA 36). Rudolf Steiner
Verlag, Dornach/Basel.
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Gelbe Blüten in grüner Wiese, Sonja Schürholz
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Wilhelm Uhlenhoff, 15. Juli 1922 – 14. August 2012
Wilhelm Uhlenhoff wurde am 15. Juli 1922 in
Bremen geboren. Er war das älteste von vier Geschwistern. Seine Eltern – der Vater war Rechtsanwalt – lernten in diesen Jahren die «Christengemeinschaft» und die Waldorfpädagogik
kennen und so kamen die Kinder schon früh
in den Genuss von Baby-Eurythmie, später von
Religionsstunden. Eine Waldorfschule gab es
Wilhelm Uhlenhoff, er habe in seinem Elternhaus
und in Salem wichtige soziale Impulse und
Verantwortungsbereitschaft gewonnen.
Mit 19 Jahren wurde er zunächst zum Reichsarbeitsdienst und später zur Wehrmacht einberufen. Er erlebte den Ostfeldzug, gelangte mit
seiner Truppe bis zum Kaukasus, wo diese – von
den Russen aufgehalten – den Winter 1942/43
Wilhelm Uhlenhoff Ende der 50er Jahre und 2004
zu dieser Zeit in Bremen noch nicht, so besuchte Wilhelm eine Reformschule. Kurz nach der
«Machtübernahme» Hitlers zog die Familie nach
Überlingen, um zu «siedeln», d. h. auf dem Land
ein kleines Bauernanwesen zu übernehmen, das
die Eltern im Lauf der Zeit zu einem biologischdynamischen Gärtnerhof ausbauten. Wilhelm
ging in diesen Jahren als externer Schüler in die
bekannte reformpädagogische Schule «Schloss
Salem». Er wurde 1936 von Friedrich Rittelmeyer, dem Begründer der «Christengemeinschaft»
persönlich konfirmiert. Rückblickend bemerkte
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im Wald verbringen musste. Nach weiteren unsäglichen Kriegserlebnissen und einem Intermezzo mit dem Befehl zum Medizinstudium in
Freiburg geriet Wilhelm Uhlenhoff in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo er den späteren
anthroposophischen Arzt Adolf Küstermann
traf, der mit einer Gruppe Mitgefangener die
Vorträge Rudolf Steiners über das Johannesevangelium las. Die Begegnung mit Gerhard
Kienle veranlasste ihn, das Medizinstudium
nach seiner Entlassung in Tübingen fortzusetzen, in einem Kreis junger Menschen, die schon
Nachruf
früh den Impuls ins Auge fassten, eine Klinik auf
anthroposophischer Grundlage aufzubauen und
damit die anthroposophische Medizin in einen
gesellschaftlichen Brennpunkt zu rücken. Es
waren der Priester und Anthroposoph Diether
Lauenstein und der Arzt Herbert Siewecke, denen die Studenten eine gründliche Einführung
in die Anthroposophie und eine nach geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten erweiterte
Medizin verdankten. Für das Dissertationsthema «Die Metamorphose des Ätherleibs vom Organischen ins Seelische» fand Uhlenhoff jedoch
keinen Betreuer, so dass er den Plan einer Promotion wieder fallen liess.
Die Begegnung mit der Heilpädagogik kam 1952
durch Anna Luise Heder, der Gründerin des
«Heil- und Erziehungsinstituts für Seelenpflegebedürftige Kinder Lauterbad» bei Freudenstadt
im Schwarzwald. Uhlenhoff sollte die ärztliche
Betreuung der Kinder für ein Jahr übernehmen,
woraus letztlich eine sein Leben prägende, intensiv ergriffene Aufgabe wurde, welcher er über 32
Jahre treu blieb. In Tübingen hatte er seine spätere Frau Lioba Laubis kennengelernt, mit der er
1952 die Ehe schloss und eine grosse Familie mit
fünf Kindern gründete. Im Jahr 1959 wurde die
gesamte Einrichtung mit fast allen Kindern von
Freudenstadt nach Kassel verlegt, wo sie sich
auch heute noch befindet.
Wilhelm Uhlenhoff gehörte in Deutschland bald
zu den führenden Heilpädagogen. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit war er über Jahrzehnte
als Lehrer und Dozent über anthroposophische
Heilpädagogik und Medizin tätig, eine Tätigkeit,
die er z. B. in der Heilpädagogischen Lehrerbildung in Herne ausübte und ihn schliesslich bis
Südamerika führte.
Auch das Geschehen in den Netzwerken der
anthroposophischen Heilpädagogik in Deutschland und auf internationaler Ebene bestimmte
er mit. Mehr als zehn Jahre wirkte er im Vorstand
der «Vereinigung der Heil- und Erziehungsinstitute» in Deutschland mit, später im Verbandsrat
des «Verband für anthroposophische HeilpäZeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
dagogik, Sozialtherapie und Soziale Arbeit».
Von 1961 bis zum Jahr 2000 war er Mitglied im
internationalen «Initiativkreis» für Heilpädagogik
innerhalb der Medizinischen Sektion am Goetheanum und in deren Nachfolgeorgan, der «Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie».
Für Wilhelm Uhlenhoff war es immer wichtig zu
betonen, dass er im «Heil- und Erziehungsinstitut» in Lauterbad nicht nur eine heilpädagogische Aufgabe gefunden habe, sondern auch
ein Modell des sozialen Miteinanders, das – zu
seiner Zeit noch ungewöhnlich für die Heilpädagogik – keine direktorale sondern eine kollegiale Leitung hatte. Zu seinen sozialen Intentionen
gehörte auch, dass er 1966 Mitbegründer des
«Lauenstein-Sozialfonds e.V.» wurde, einer Einrichtung der Altersvorsorge für die Mitarbeiter
aus den Einrichtungen der Heilpädagogik und
Sozialtherapie, in der er 40 Jahre lang im Vorstand mitarbeitete.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Institut in
Lauterbad und der Rückkehr nach Überlingen
waren es vor allem zwei Initiativen, die ihn bewegten: Seit 1984 hatte er sich – angeregt durch
Gespräche mit Siegfried Pickert – schon mit den
Lebensläufen der Kinder beschäftigt, die Rudolf
Steiner im «Heilpädagogischen Kurs» des Jahres 1924 behandelt hatte, Kinder, die teils am
«Klinisch-Therapeutischen Institut» in Arlesheim, teils in dem neuen «Heil- und Erziehungsinstitut» auf dem Lauenstein bei Jena lebten.
Fast ausnahmslos waren ihre weiteren Schicksale, nachdem sie diese Einrichtungen verlassen hatten, dem Vergessen anheim gefallen, bis
Uhlenhoff die Fäden ihrer Biographien wieder
anzuknüpfen versuchte und an biographischem
Material zusammentrug, was noch zu finden
war. Sein 1994 erschienenes Buch «Die Kinder
des Heilpädagogischen Kurses» gehört zu den
Marksteinen und ersten Grundpfeilern einer
Historiographie der anthroposophischen Heilpädagogik. Wenn er über diese Kinder sprach
oder über Personen, welche die frühen Epochen
geprägt hatten, bemerkte man, wie tief er sich
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Nachruf
innerlich mit ihnen verbunden hatte, als habe er
mit ihnen gelebt. In seinen Untersuchungen zu
den Schicksalen der Kinder erlebte er nicht nur
Forscherinteresse, sondern eine Art von geistiger Führung, in der immer wieder glückliche Umstände zu bedeutsamen Entdeckungen führten.
Seit der «Wende» 1989 engagierte er sich auch
erfolgreich bei der Rückgewinnung und Wiederbegründung des ersten anthroposophischen
«Heil- und Erziehungsinstitutes», das von Jena
über Altefeld in Thüringen schliesslich durch die
Zeitumstände nach Seewalde in Mecklenburg
verlegt worden war, wo es den Krieg überdauert
hatte, aber 1949 durch die DDR-Behörden geschlossen und enteignet worden war. Der Wiederaufbau gestaltete sich schwierig, die abgelegene Einrichtung in einem der strukturärmsten
Landstriche fand zunächst wenig Resonanz bei
einer eventuellen Bewohnerschaft und verschiedene Probleme und Konflikte führten letztlich zu
Wilhelm Uhlenhoffs Ausscheiden aus dem dortigen Vorstand.
Und doch entstand aus der Seewaldener Initiative noch eine weitere Aufgabe, die ihn bis in
seine allerletzte Lebenszeit in Anspruch nahm:
Im Keller von «Ückermünde», einer Anstalt, die
nach den Wendejahren zu trauriger Berühmtheit
gelangt war, weil dort das Elend der Menschen,
die während der DDR-Zeit in Anstalten leben
mussten auf eine erschreckende Weise öffentlich geworden war, waren die Akten der Kinder
des Lauenstein-Seewalde gefunden worden. Auf
undurchsichtigen Wegen waren sie jedoch nicht
dem rechtmässigen Besitzer ausgehändigt worden, sondern gelangten in die Fachhochschule
Neubrandenburg, wo sie einer wissenschaftlichen Auswertung unterzogen werden sollten.
Erst nachdem der zuständige Lehrstuhlinhaber
das Interesse an diesen Dokumenten verloren
hatte, wurden sie dem «Verein Lauenstein» zurückgegeben. Uhlenhoff hat sich intensiv mit den
schwer lesbaren – z. T. in Sütterlin geschriebe52
nen – Dokumenten beschäftigt und die Grundlagen für eine weitergehende Auswertung gelegt,
indem er zu jeder Akte ein Dossier erstellte. Sein
Archiv mit Dokumenten aus der Geschichte der
anthroposophischen Heilpädagogik, seine biographischen Anmerkungen zu Mitarbeitenden
dieser Bewegung und die Kommentare zu den
Kindern des «Lauenstein» übergab er noch auf
dem Sterbebett an das Archiv der Konferenz für
Heilpädagogik und Sozialtherapie.
Mit Wilhelm Uhlenhoff ist ein wichtiger Mitgestalter und Zeitzeuge der Entwicklung der
anthroposophischen Heilpädagogik und der
anthroposophischen Bewegung hochbetagt
kurz vor seinem 90. Geburtstag in die geistige
Welt gegangen. Ihm ist vieles zu verdanken. Sein
Denken für die Heilpädagogik und Sozialtherapie war genuin und kompromisslos, von keinen
Zweifeln angekränkelt. Besonders im Alter war
er auch knorrig. Er hielt mit seiner Meinung
nicht hinter dem Berg und es kam ihm nicht darauf an, sie vornehm zu verpacken. Es ging ihm
um die Sache und er stand für sie ein, wobei er
in den letzten Jahren auch anderen gegenüber
gelassener und milder wurde. Persönlich war
er bescheiden und liess sich durch die körperlichen Einschränkungen des Alters nicht aufhalten, auch nicht, als sein Augenlicht immer
weiter nachliess, so dass in den letzten Jahren
schliesslich seine treue Gattin Lioba für ihn las,
schrieb und innersten Anteil an den Dingen, die
ihn so intensiv beschäftigten, nahm. Er starb am
14. August in Überlingen, an seiner Bestattung
nahmen seine grosse Familie und viele Kolleginnen und Kollegen aus der Heilpädagogik teil,
aber auch Menschen aus seinem lokalen Überlinger Umkreis, in welchem Wilhelm Uhlenhoff
gerade in den letzten Lebensjahren noch tiefe
Eindrücke hinterlassen hatte.
Rüdiger Grimm
Berichte
Heilpädagogik und Sozialtherapie in
Thailand
Angelika Gäch
Nach den grundständigen Ausbildungskursen
konnten sich die verschiedenen Initiativen in
Bangkok, Khon Kaen, Chiang Mai und anderen
Orten weiter vernetzen, und im Februar 2012 hat
in Zusammenarbeit mit Thomas Kraus, Berlin,
ein erster Kongress für Menschen mit Begleitungsbedarf in Thailand stattgefunden.
Eine Vertiefung durch regionale Fortbildungen
fand an zwei Wochenenden im Herbst 2012
statt, in denen neben weiterer Grundlagenarbeit
eigene Erfahrungen vertieft werden sollten.
Themen für die etwas 35 teilnehmenden Eltern,
Studierende und Berufspraktiker waren neben
der Bedeutung von Behinderung für den Betreffenden selbst, seine Familie, die Gesellschaft
und unsere Zeit das Kind, Jugendliche und Erwachsene als Akteure ihrer eigenen Entwicklung
unter dem salutogenetischen Gesichtspunkt
von Bewegung und Sinnesbetätigung. Das
Programm wurde ergänzt durch künstlerische
Arbeit im Bereich der Eurythmie und der plastischen Kunst. In den freien Arbeitsgruppen wurden einerseits ein spirituelles Grundverständnis
des Menschen auf der Basis des Buddhismus
und andererseits viele praktische Fragen nach
heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Alltagsproblemen deutlich.
Die Folgeveranstaltung in Khon Kaen hatte einen
offizielleren Charakter, da sie unter der Koordination von Professorin Orasa Kongtaln, Leiterin
der Fakultät für ‹Community Nursing› in den
Räumen und mit organisatorisch-personeller
Unterstützung der Universität stattfand. Auch
hier entwickelte sich unter den etwa 60 Teilnehmenden eine intensive Zusammenarbeit.
Rückblickend hoffe ich, dass die Heilpädagogik
und Sozialtherapie in Thailand mit den beiden
Veranstaltungen ein kleines Wegstück weiter geZeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
hen konnte. Persönlich bin ich dankbar für viele
lebendige Menschenbegegnungen und für ein
kurzes Eintauchen in die andere Kultur mit ihrer
reichen Geschichte, ihrer bewegten Gegenwart
und ihren vielen zukünftigen Aufgaben.
Bericht vom Arbeitstreffen der heilpädagogisch tätigen Ärzte
Christoph Wirz
Die jährlich im Frühjahr stattfindenden Treffen
der in Heilpädagogik und Sozialtherapie tätigen Ärzte und Ärztinnen sind nicht mehr von
Vorträgen geprägt, sondern von Referaten aus
dem Teilnehmerkreis zum Tagungsthema und
dem gegenseitigen Austausch. Der Charakter ist
also intimer geworden und die Mitarbeit jedes
einzelnen ist wichtig. Dieses Jahr stand der vierte Vortrag des heilpädagogischen Kurses und
damit die ‹kindliche Hysterie› im Vordergrund.
Ausserdem beschäftigte uns die Nomenklatur
der drei Polaritäten: Martin Niemeijer stellte
die Ergebnisse seiner langjährigen Forschungen
hinsichtlich der neuen beschreibenden Begriffe
vor, die nun auch in Buchform vorliegen. Mit Rüdiger Grimm tauschten wir uns über die Bezeichnungen im heilpädagogischen Kurs aus, die
infolge der Prägung durch das Zeitkolorit heute
teilweise diskriminierend anmuten (minderwertige Kinder, kindliche Hysterie, schwachsinnig).
Ein anderes Lebenswerk und seine Beziehung
zur umweltoffenen Konstitution stellte uns Carla
Papke-Hesse vor: ihre Bearbeitung des fragilen
X-Syndroms. Die Heil-Eurythmie mit Frau Romero – dieses Mal die seelischen Übungen – halfen
uns in die richtige Arbeitsstimmung zu kommen
und waren eine grosse Bereicherung.
Die Arbeitsgruppe ist offen für weitere Mitarbeitende. Wir treffen uns wieder im 2014 vom 5. bis
9. März in Wuppertal.
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Berichte
Lebens- und Arbeitsgemeinschaft
‹Istok› in Irkutsk Sibirien
Hans Gammeter
In der ostsibirischen Irkutsker Region besteht
seit dem Jahre 2000 eine kleine Lebensgemeinschaft für Menschen mit einer Behinderung. Der
Name Istok entstammt der russischen Sprache
und bedeutet ‹Quelle›.
In der Weihnachtsnacht 2012 wurde diese Gemeinschaft von einer verhängnisvollen Brandkatastrophe getroffen. Das neue grossräumige
Wohnhaus, welches über die letzten vier Jahre
entstanden ist und seit eineinhalb Jahren bewohnt werden konnte, ist abgebrannt. Dabei
kam für zwei Bewohnerinnen jede Hilfe zu spät.
Die zwei jungen Frauen haben das soziale Leben
in dieser Gemeinschaft mit ihrer Fröhlichkeit
geprägt. Elena 32-jährig, gehörte von Anfang an
dazu und die 24-jährige Aljessa kam vor sechs
Jahren nach Istok. Für die beiden Frauen war Istok eine wirkliche Heimat geworden.
Die Lebensgemeinschaft Istok ist aus der heilpädagogischen Tagesschule Talisman entstanden.
Die Behörden stellten zu diesem Zwecke ein verlassenes Raketen-Übungsgelände des Militärs
zur Verfügung. Auf einer leichten Anhöhe, umgeben von Birkenwäldern und Wiesen, liegt dieser landschaftlich ansprechende Platz. In den
ersten Jahren musste das Gelände von riesigen
Mengen militärischem Abfall gesäubert werden,
um diesen vergangenheitsbelasteten Ort einer
neuen Bestimmung zuzuführen.
Die Pioniergruppe, bestehend aus den Eltern
der Jugendlichen, war von der Camphill Gemeinschaftsidee inspiriert und traten an mich mit
der Bitte heran, die Aufbauarbeit zu begleiten.
So habe ich dieser Gruppe am Anfang zwei mal
sechs Monate vor Ort geholfen und die russischen Mitarbeitenden beim Aufbau begleitet.
Daraus wurde über die letzten 13 Jahre eine intensive Zusammenarbeit, da ich ein bis zweimal
jährlich nach Irkutsk reise. Die Gemeinschaft
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hat sich langsam entwickelt und heute leben 16
Menschen mit einer Behinderung mit den Mitarbeitern zusammen und teilen das Leben und
die Arbeit. Das einfache Leben ist geprägt von
Landwirtschaft mit fünf Kühen und deren Jungtieren, Garten, Holzwerkstatt, Kreativwerkraum
und Hauswirtschaft.
Mit Stolz können wir erleben, wie über die Jahre eine kleine Oase in dieser Wildnis aufgebaut
wurde. Eine Wildnis, die geprägt ist von klimatischen Extremen. Die lang andauernden kalten
Winter mit Temperaturen bis zu -40 Grad Kälte
sind für die Gemeinschaft ein grosser Prüfstein,
um das Leben aufrecht zu erhalten. Die kurze,
heisse Sommerzeit entschädigt sie mit einer
überwältigenden Blumenpracht und dem enormen Wachstum im Gemüsegarten.
Dieser Ort wird mit grosser Liebe von den Bewohnerinnen und Bewohnern geprägt und zu
ihrem neuen Lebensinhalt gestaltet. Ein reges
Kulturleben hat sich entwickelt. Die Jahresfeste,
meist verbunden mit Theaterspielen, sind besondere Höhepunkte, die mit geladenen Gästen
gefeiert werden. Übers Jahr finden regelmässig
Malkurse statt. Immer wieder kommen Freunde
und neue Menschen, welche die Gemeinschaft
erleben wollen. Es scheint, als ob an diesem Ort
die Zeit eine andere Dimension entwickle.
Da regelmässig junge PraktikantInnen aus verschiedenen Ländern in Istok gelebt und mitgearbeitet haben, ist eine intensive Beziehung
dieser Gemeinschaft zu Menschen aus anderen
Kulturen entstanden. Daraus hat sich ein jährlich stattfindendes Sommercamp mit Studenten
aus Russland und aus europäischen Ländern
entwickelt. Es entstanden verschiede Bauprojekte über die letzten Jahre. Das neue Haus wurde
in den vergangenen drei Jahren wärmegedämmt
und mit einem Eingangsbereich vergrössert.
Bei solchen Projekten wird die Gemeinschaft unterstützt von einer Initiativgruppe ‹West-Ost› aus
Deutschland und der Schweiz. Diese begleitet
und fördert seit den Anfängen die heilpädagogische und sozialtherapeutische Arbeit in Irkutsk.
Berichte
Ein junger Praktikant aus Deutschland, Tim Mergelsberg, der in Istok seinen Zivildienst leistete,
konnte sich für die Idee der Herstellung von Gefässen aus Birkenrinde begeistern. Dies ist ein
traditionelles Handwerk in Sibirien. Mit seinem
Freund Jakob Steigerwald, der ebenfalls in Istok
seinen Freiwilligendienst absolvierte, bauten
sie eine Werkstatt für Birkenrindenverarbeitung auf. Tims Idee war, die Werkstatt an einem
Wertschöpfungsprozess zu beteiligen. Damit
sollte Istok ermöglicht werden, sich langsam
von der Spendenabhängigkeit aus dem Westen
zu befreien. Heute wird ein Teil der Produkte von
Dosen über die Firma ‹Sagaan› in Deutschland
verkauft, welche Tim Mergelsberg zu diesem
Zweck gegründet hat. (www.sagaan.de)
Durch den Bau des neuen Hauses hatte die Gemeinschaft sich vergrössert und ein wichtiger
Entwicklungsschritt in die Zukunft konnte gemacht werden. Nach dem Brand sind nun viele
Fragen offen hinsichtlich der Zukunft. Bis jetzt
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
wurde die Gemeinschaft nur von Elternbeiträgen
und von Spenden finanziert. Von den Behörden
kam selten finanzielle Unterstützung. Die Gemeinschaft steht nun vor einer grossen Herausforderung.
Spenden oder Daueraufträge In Deutschland
Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.
Weinmeisterstrasse 16, 10178 Berlin
E-Mail: [email protected]
Postgirokonto Stuttgart
Stichwort für die Dorfinitiative:
BLZ 60010070, Kto. 39800704
Istok 6362
In der Schweiz
Hans Gammeter –Talisman
Freie Gemeinschaftsbank BCL
Zugunsten von
2.488.0 ACACIA 8392
ACACIA Fonds für Entwicklungszusammenarbeit
Konto 40-963-0
IBAN: CH13 0839 2000 0000 2488 0
Vermerk: Istok
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Andreas Fischer
Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen
für Menschen mit Behinderungen
Eine empirische Studie im
Zusammenhang mit dem QM-Verfahren «Wege zur Qualität»
Edition Anthropos
Verlag am Goetheanum & Athena
Verlag
Dornach 2012
Euro: 32,00 / CHF: 42,90
Rezension: Thomas Schoch
Neue Bücher
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Das Buch erscheint in der
neuen Reihe ‹Anthropos›, die
von Rüdiger Grimm, KHS Dornach, herausgegeben wird.
Einleitend stellt der Autor in der
als Dissertation verfassten Studie die Ausgangsfragen: «Kann
der spezielle Charakter der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen mit Behinderungen mit Hilfe eines Qualitätsverfahrens adäquat erfasst (...)
werden? Wird die fachliche Arbeit
für die betreuten Menschen
dadurch besser oder werden die
Mitarbeitenden von ihrer Kernaufgabe abgezogen?» (S. 16).
Fischer klärt zunächst im zweiten
Kapitel den Begriff der ‹Qualität›
und bringt diesen in Kapitel vier
in Zusammenhang mit der anthroposophischen
Ausrichtung.
In einer wohltuend klaren Sprache beleuchtet er die Kernaufgabe heilpädagogischer und
sozialtherapeutischer
Arbeit
aus verschiedenen Perspektiven, verweist auf unterschiedlichste Fachleute und verknüpft
deren Aussagen mit eigenen
Erkenntnissen und Erfahrungen.
Dabei arbeitet er das für praktisch Tätige tagtäglich erfahrbare
Erleben heraus, dass unser Han-
deln innerhalb eines offenen,
weil dialogisch bestimmten Prozesses erfolgen muss. Kenntnisreich weist Fischer auf viele Spannungsfelder hin, welche diese
Offenheit gefährden, wie beispielsweise der sensible Umgang
mit Macht und Ohnmacht im
sozialen Feld. Denn «während früher eindeutig die Seite
der Machtausübung im Vordergrund stand, ist heute in Institutionen bei vielen Mitarbeitenden
sehr oft eine grosse Verunsicherung – ‹was darf ich überhaupt
noch?› – spürbar“ (S. 25). Dies
führt auf der anderen Seite «wieder in eine Dilemmasituation: ich
kann meine berufliche Aufgabe
nur dann wahrnehmen, wenn
ich sie mit meiner Persönlichkeit,
also subjektiv, ergreife. Gleichzeitig muss ich Ansprüche höchster
Objektivität stellen, muss mein
Handeln doch durch Motive, die
in der Biographie meines Gegenübers zu finden sind, geleitet
und bestimmt werden“ (S. 175).
Fischer verzichtet auf vorschnelle
Lösungsansätze. Vielmehr lotet
er im zweiten und vierten Kapitel das Kerngeschehen heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Arbeit bis zu Grundfra-
gen des menschlichen Lebens
aus. Umfassend und praxisnah
reflektiert er ethisches Handeln,
welches letztlich nur in einem dialogischen Entwicklungsverständnis gründen kann. Daraus ergibt
sich die zentrale Bedeutung der
menschlichen Beziehung und
inneren Begegnung. Wie an vielen andern Stellen, unterstreicht
Fischer diese Erkenntnis durch
pointierte Aussagen direkt Betroffener: «ICH KONNTE NUR MIT
MENSCHEN KONTAKT HABEN DIE
MIR INNERLICH BEGEGNET SIND»
(zit. nach Riesen/Stärkle, S. 61).
Mitarbeitende als BeziehungsGestaltende sind nicht nur zentral für die heilpädagogische
und sozialpädagogische Arbeit.
Ebenso sind sie Ausgangs- und
Bezugspunkt des Qualitätsverfahrens ‹WZQ›. Der Qualitätsbegriff dieses Verfahrens ist die
Frage nach der jeweils adäquaten
‹Beziehungsdienstleistung›.
Aufbauend auf diesen Qualitätsbegriff beschreibt Fischer übersichtlich im zweiten Teil der Arbeit
im fünften Kapitel das Verfahren
‹Wege zur Qualität› und nennt
als Grundanliegen, dass Soziales
«nicht organisiert werden (kann),
es können aber offene und transparente Strukturen geschaffen
werden, damit Soziales möglich
wird, (…)» ( S. 124). Hilfreich in
der Darstellung des Verfahrens
wirkt sich aus, dass Fischer die
Fragestellungen und Indikatoren,
welche er für die breit abgestützte
Evaluation des Verfahrens angewendet hat, gleich am Schluss
jedes Kapitels aufführt. Dadurch
wird offensichtlich, welche praktische Relevanz die Gesichtspunkte von ‹WZQ› in der konkreten Umsetzung haben können.
In Kapitel 5.7.2 ‹Aspekte zur Entwicklungsbegleitung oder Förderplanung› weitet Fischer den
Zeitschrift Seelenpflege 2 | 2013
Gegenstand des Qualitätsverfahrens auf ein spezifisch heilpädagogisches Thema aus. Wer dieses
fundierte und anregende Kapitel
durchliest, gewinnt nicht nur vielfältige thematische Impulse. Vielmehr lässt sich exemplarisch der
individualisierende Umgang mit
‹WZQ› erkennen, welcher für die
Umsetzung des Verfahrens ebenso
notwendig ist, wie für die mögliche Bearbeitung von Fachfragen. Voraussetzung dazu sind ein
offener Sinn für reale Fragestellungen und ein lebensgemässes
Denken mit umfassender Sachund Fachkenntnis gekoppelt.
Im achten Kapitel fasst Fischer das
Ergebnis seiner umfassenden Evaluation zusammen: Einführung
und kontinuierlicher Umgang mit
‹WZQ› steigern eindeutig die Wirksamkeit der realen Betreuungsund Begleitarbeit. Dieses Ergebnis führt Fischer zurück auf die
enge Verknüpfung des Ansatzes
von ‹WZQ› mit den Grundlagen
der Begleitung von Menschen mit
Behinderung als «(...) Versuch,
die neuen Paradigmen wie Selbstbestimmung, Autonomie, Teilhabe und Empowerment im Hinblick auf die Beziehungsdienstleistung für die Mitarbeitenden einer
Institution umzusetzen» (S. 265).
Das Verdienst von Fischer liegt
darin, diese Gemeinsamkeit zwischen dem Verfahren ‹WZQ› und
der Heilpädagogik, Pädagogik und
Sozialtherapie früh erkannt, unterstützt und mit seinem Buch empirisch nachgewiesen zu haben.
Dem Buch wünschen wir eine
weite Verbreitung. Praktiker und
Lehrende finden darin für sich,
aber vor allem auch für gemeinsame Grundlagenarbeit zu heilpädagogischen oder sozialen Themen eine Fülle von Anregungen.
Termine
03./04. Mai 2013 und 21./22.
Juni 2013
Fachwissen, Diagnostik der
anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie
Einführungskurs der gahs |
Modul 2
CH-Zürich
Info: www.fortbildung-gahs.ch
30.05. und 01.06.2013
Vorbereitungswochenende für
Klassenlehrer in der Heilpädagogik
Mit Vortrag ‹Die Bedeutung von
Grenzen für die seelische Entwicklung›
DE-Hannover-Bothfeld
Info: [email protected]
30./31.08. und
20./21.09.2013
Berufshygiene, Umgang mit mir
– Umgang mit uns
Einführungskurs der gahs |
Modul 3
CH-Zürich
Info: www.fortbildung-gahs.ch
03. bis 05. Oktober 2013
Erde – Mensch – Kosmos
7. Fachtagung für HeileurythmistInnen und ÄrztInnen
CH-Arlesheim
Info: www.heileurythmie.ch und
www.berufsverband-heileurythmie.de
31. Oktober bis 05. November 2013
8. Internationale Musikwoche
für Heilpädagogik und Soziale Arbeit
DE-Brachenreuthe
Info: www.musikwoche-heilpaedagogik.de
57
Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie
32. Jahrgang 2013 Heft 2
Impressum
Herausgegeben von der Konferenz für Heil­pädagogik und
Sozialtherapie in der ­Medizinischen Sektion der Freien
Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach
(Schweiz)
Layout
Roland Maus
Redaktion
Dr. Rüdiger Grimm
Dr. Bernhard Schmalenbach
Gabriele Scholtes
Druck
Uehlin Print und Medien GmbH
Hohe-Flum-Strasse 40
DE-79650 Schopfheim
Administration
Angela Wirth
Anschrift
Zeitschrift Seelenpflege
Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach
Telefon: +41 61-701 84 85
Telefax: +41 61-701 81 04
eMail: [email protected]
Website: www.khsdornach.org
Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.
Abonnementspreise
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Studierende/Senioren
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Euro 42.--32.00
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34--25.50
15.--
10.00
Satz
Rüdiger Grimm, Gabriele Scholtes
Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und
Sozialtherapie, Dornach
ISSN 1420-5564
Das Abonnement ist mit einer Frist von sechs Wochen zum
Quartalsende kündbar.
Einrichtungsabo: Preis bei Bestellung ab 10 Ex.
Mediadaten: www.khsdornach.org
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