Sprachkultur im 18. Jahrhundert
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Sprachkultur im 18. Jahrhundert
KARL EIBL Sprachkultur im 18. Jahrhundert Über die Erzeugung von Gesellschaft durch Literatur* Im Rahm en einer sprachw issenschaftlichen Tagung, die fast ausschließlich G egenwartsproblem e them atisiert, spielt der L iteraturhistoriker, der zu Fragen des 18. Jahrhunderts spricht, eine etwas exotische Rolle. Ich will versuchen, dieser Rolle gerecht zu w erden und durch eine abw eichende Perspektive einige bekannte Dinge in ein etwas verfrem dendes Licht zu tauchen. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, daß um 1800 die E n twicklung zu einer überregionalen sprachlichen N orm ihr Ziel erreicht hat, daß daran die L iteratursprache einen w esentlichen A nteil h at und daß diese Entw icklung irgendwie m it der E ntw icklung des deutschen Bürgertum s zusam m enhängt. Bei näherem Hinsehn ergeben sich einige Schw ierigkeiten, die man in Fragestellungen um m ünzen sollte. Die ältere Forschung hat die Standardoder H ochsprache dieses Z eitraum s m it nur gedäm pftem Interesse behandelt, quasi nur der V ollständigkeit halber; vor die Frage nach der S tandardsprache schob sich die nach der D ichtersprache, häufig von L iteraturhistorikern bearbeitet. Die O rientierung der Bildungssprache des 19. Jahrhunderts und besonders der W ilhelminischen Zeit an der ‘Klassik’ ließ einen solchen Staffettenw echsel durchaus plausibel erscheinen. In den letzten Jah rzeh n ten hat sich das geändert. Zwar hat die Sprachw issenschaft im Westen, von wenigen A usnahm en abgesehen, hier eine D enkpause eingelegt. A ktiver ist die Sprachw issenschaft im O sten, in der S ow jetunion und in der DDR gewesen, wenngleich es anscheinend Mühe m acht, über die Schallm auer von 1730 auch bei der D etailforschung hinw egzukom m en. Da tau cht nun freilich ein anderes Problem auf. Der Begriff der ‘L iteratu rsprache’, wie er im O sten in G ebrauch ist, bezeichnet nicht etw a die po etische Sprache, sondern das, was bei uns ‘Standard-’ oder ‘H ochsprache’ heißt. Leider ist das kein reines D efinitionsproblem , sondern hat auch Rückwirkungen auf das Forschungsprogram m . Wenn der L iteraturhistoriker das in der DDR erschienene m onum entale U ntersuchungsw erk “ Zur A usbildung der N orm der deutschen L iteratursprache (1470 - 1730) ” darauf * Gerade u n ter dem A spekt der ‘S prachkultur’ ist das Drucken von Vorträgen nicht unproblem atisch. Eine U m form ung in die T extsorte ‘wissenschaftliche A bhandlung’ war wegen des sehr w eit ausgreifenden Them as n icht möglich. Ich habe deshalb nur einige R etuschen vorgenomm en, die den T ext als ‘wissenschaftlichen Essay’ lesbar m achen sollen. 108 befragt, w elchen Beitrag denn die poetische L iteratur zu dieser ‘A usbildung’ geliefert hat, wird er das nicht identifizieren können. Denn im T ex tkorpus stehen unterschiedslos T raktate, Briefe, V erw altungstexte, E rbauungstexte, auch poetische T exte usw. Wenn aber solcherm aßen die verschiedenen Rekrutierungsbereiche der Sprachnorm , religiöser, gelehrter, umgangssprachlicher, juristischer usw., nicht m ehr unterschieden w erden, dann w ird nicht nur der L iteraturhistoriker en ttäu sch t: Es fällt eine ganze D im ension dieser E ntw icklung weg, näm lich die sozialgeschichtliche. Sie kön n te nur über eine R ekonstruktion der Beiträge aus den verschiedenen Lebensbereichen erfaßt w erden, und nur eine solche R ekonstruktion w iederum könnte rückw irkend die Sprachgeschichte in die Lage versetzen, auch Beiträge zur Sozialgeschichte zu liefern. Es lauert hier eine geschichtsphilosophisch-teleologische Falle, die von der präsum tiven Einheitlichkeit der Standardsprache des 19. Jahrhunderts und des Bürgertums des 19. Ja h rhunderts hier auch bereits die V erhältnisse des 18. Jahrh u n d erts vorstruktu rie rt und so einen Pauschalbegriff von Bürgertum zu einem Pauschalbegriff von ‘L iteratursprache’ in eine gleichfalls pauschale Beziehung setzt. — Hierzu wird später noch m ehr zu sagen sein, da auch Sozialhistoriker (und L iteraturhistoriker sowieso) sich diesem gedanklichen Sog m.E. nicht hinreichend w idersetzen. Ich w erde im folgenden den Versuch einer situationslogischen R ekonstruktion des V erhältnisses von Gesellschaft, L iteratur und Sprache im 18. Jh. unternehm en, d.h. versuchen, die Phänom ene als Problemlösungsversuche zu deuten. I. Die Eingangs-Frage, die zu diesem Zweck zu stellen ist. lautet: Wer braucht um 1700 überhaupt eine überregionale Sprachnorm , und zu welchem Zweck braucht er sie? Dafür kom m en ja nu r Personengruppen in Frage, die tatsächlich eine überregionale K om m unikation pflegen oder pflegen wollen. Daß der Adel, wie bekannt, in dieser Z eit französisch spricht und schreibt, hat sicher eine Ursache in der politischen und kulturellen D om inanz des französischen Hofes, eine w eitere darin, daß hier ein Standesm erkm al die Abgrenzung vom übrigen Volk erm öglicht. A ber schon in der ständigen W iederholung dieser beiden Faktoren liegt eine Einseitigkeit der D eutung. Es wäre einfach tö ric h t gewesen, an die Stelle der fertigen internationalen S tandesnorm eine erst zu entw ickelnde und bloß nationale N orm zu setzen. Ä hnliches gilt für die G elehrten. Sie pflegten das Latein n ich t nu r deshalb, weil das so T radition war, sondern auch deshalb, weil es ihnen die K om m unikation auch m it den Fachkollegen in Bologna oder Paris erm öglichte. Noch Christian Wolff, der seine w ichtigsten Bücher zunächst deutsch geschrieben h atte, publiziert 109 sie schließlich auch lateinisch, weil er sonst in seiner Wirkung zur Provinzialität verdam m t gewesen w äre. Umso bem erkensw erter und fast irritierend ist es, daß seit Thom asius im m er w ieder Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten w erden. V on der Seite des W issenschaftsbetriebes her gesehen gibt es dafür keine N otw endigkeit. A uch die naheliegende Erklärung, daß neue Schichten an die U niversität drängen, ist wenig verläßlich, wenngleich es natürlich auch zu dieser Zeit, wie zu jeder anderen, Klagen über m angelnde Lateinkenntnisse der S tudenten gibt. G erade im Zeitalter der A ufklärung nim m t die Zahl der U niversitätsstudenten nicht etw a zu, sondern sie stagniert, nim m t sogar ab; erst nach 1800 geht die Kurve steil nach oben. — Jedenfalls hatten auch die G elehrten eigentlich eine überregionale N orm der deutschen Sprache nicht nötiger als früher. So kann man nun die einzelnen Bevölkerungsgruppen durchgehen. Für w eitere überregionale K om m unikationsbedürfnisse gibt es einen ganzen Fächer von Fachsprachen. Es gibt für die überregionale Verw altung deutschsprachige N orm en, es gibt für K aufleute eine A rt G eschäftsdeutsch, das ausreicht, so lange der W irrwarr an regionalen Münzen und M aßen, die Vielzahl der Zollschranken und die schlechten Wege w eit schlimm ere Hürden sind als die verschiedenen M undarten. Und auch die w andernden Handwerksgesellen kom m en m it überregionalen Fachsprachen aus, die, nach dem Zeugnis Leibnizens, sehr hoch ausgebildet sind. Angeblich verw endet man sogar in türkischen Bergwerken Begriffe des deutschen Bergbaus. Selbst die D ichter, die spätbarocken, schreiben in einem Idiom , dessen Form elschatz viele Züge einer Fachsprache träg t und bei Geburts-, H ochzeits- und Begräbniscarmina Feierlichkeit verbürgte. Und der größte Teil der Bevölkerung, die seßhaften Bauern, brauchte ohnedies keine überregionale Sprachnorm , ebensow enig wie der norm ale, seßhafte Stadtbürger, für den eher die innerm undartliche Differenzierung von Bedeutung ist. Regionale Sprachen für die K om m unikation der Seßhaften, überregionale Standes- und Fachsprachen für die überregionalen K om m unikationsbedürfnisse — w er b raucht da noch eine überregionale Standardsprache? Der erste massive Vereinheitlichungs-Schub war bekanntlich von jener Krise ausgegangen, die, je nach Perspektive, un ter dem K urznam en der ‘R efo rm ation’ oder der ‘frühbürgerlichen R evolution’ zusam m engefaßt wird. Die Frage nach der ‘richtigen’ Bibelübersetzung beförderte die Frage nach der ‘richtigen’ deutschen Sprache. Religiöse und politische Werbung schuf neue Publiken, neue K om m unikationsgem einschaften. Besonders w ichtig aber scheint mir, daß die Instabilität der V erhältnisse zu einem neuen Sprach b e d a r f führte: Zu einem Bedarf näm lich einer Sprache, in der man über die V oraussetzungen des Lebens und Zusam m enlebens re110 flektieren konnte. Wenn m an, wie ich es in diesem A bschnitt getan habe, einen sehr w eiten Begriff von ‘F achsprache’ verw endet (auch wer eine E isenbahn-Fahrkarte kauft, bedient sich in diesem Sinn einer Fachsprache), dann schrum pft der Bereich der Standardsprache auf diesen Kern einer Reflexions- oder M etasprache. Ich will das nun keineswegs als neue Definition vorschlagen, sondern nur darauf hinweisen, daß diesem Reflexionsbedarf offenbar eine Führungsrolle bei der E ntstehung einer S tandardsprache zufällt. Um 1700 h atten sich die politischen und religiösen V erhältnisse weitgehend stabilisiert, die aus der ‘R efo rm atio n ’ stam m enden A nstöße erschöpft. Die religiöse Sprache h atte sich — bei aller konfessionellen Z ersplitterung — als M ittel der Verständigung über die Grundlagen des m enschlichen Daseins und Zusam m enlebens neu gefestigt. Religiöse Sprache ist um 1700 d i e überregionale, wenngleich konfessionell differenzierte, N orm , die an sie gebundene E thik d i e überregionale und tendentiell, ihrem eigenen A nspruch nach, auch überständische E thik. II. Dieses Bild ist natürlich vereinfacht. Schon um 1700 ist manches wieder in Bewegung, sozial und sprachlich. G leichwohl erscheint m ir folgender Schluß erlaubt: Wenn das Sprachensystem um 1700 so flächendeckend ist, wenn für jedes Bedürfnis eine entsprechende sprachliche N orm zur Verfügung steht, w enn w ir es also sozusagen m it einer Situation sprachlicher Vollversorgung zu tu n haben, — und w enn w ir hu n d ert Jahre später eine voll ausgebildete profane überregionale und überständische Norm vorfinden, dann müssen in dieser Zeit gewaltige V eränderungen des Sprach b e d a r f s vor sich gegangen sein: Es m uß sich die N otw endigkeit überständischer und überregionaler V erständigung, und dam it auch die N otw endigkeit einer diskursiven V erständigung über die Bedingungen von Verständigung ergeben haben. Die V eränderungen sind tatsächlich so einschneidend, daß Karl Bosl sagen konnte, eigentlich sei in Deutschland das M ittelalter erst um 1750 zu Ende gegangen. Und w enn wir diese V eränderungen verstehen wollen, stoßen w ir unweigerlich auf den Begriff ‘Bürgertum ’. Zum al in germ anistischen A rbeiten m u tet dieses W ort gelegentlich an wie die Bezeichnung eines m ythischen Fabelwesens, über das m an allerlei merkwürdige Geschichten erzählen kann, das aber in L uft zerrinnt, w enn man es anfassen will. Hier ist das eingangs erw ähnte teleologische Motiv am Werk, das die G eschichte nur aus dem A spekt des Zulaufens auf das Bildungs- und G roßbürgertum des 19. Jah rhunderts sieht. Wird dieser A spekt verab111 solutiert, dann en tste h t eine gradlinige D eszendenz vom Stadtbürgertum des M ittelalters über das der R eform ation bis ins 19. Jah rh u n d ert, als seien das im m er dieselben L eute gewesen oder die K inder und K indeskinder derselben L eute. Erscheinungen des 18. Jahrhu n d erts, die m it diesem Bürgertum Zusammenhängen, w erden dann leicht allesamt über den Leisten des Em anzipationskam pfes oder des antifeudalistischen Kampfes geschlagen, und was sich dem nicht fügt, w ird der ‘deutschen Misere’ angelastet und — o ft erstaunlich naiv — m it dem psychoanalytischen Begriff der K om pensation erledigt. Der A spekt ist gewiß berechtigt. N icht gegen ihn w ende ich m ich, sondern gegen seine V erabsolutierung, die zwar ein kom paktes G eschichtsbild erzeugt, aber bestim m te Probleme nicht hinreichend in den Blick bekom m t. Selbst zünftige Sozialhistoriker berufen sich zum eist auf Quellen aus dem letzten D rittel des Jahrhunderts, nicht aus ideologischer Befangenheit, sondern deshalb, weil um diese Zeit die Quellen reichlich sprudeln. Wenn man dann aber verallgem einert und von d e m 18. Jh . spricht, ergibt das ein völlig falsches Bild. — Ich will dem hier entgegensetzen den A spekt der inneren K onstitutionsproblem e dieses ‘Bürgertum s’ des 18. Jahrhunderts, oder, um den entscheidenden P unkt gleich m itzubennen, dieses N e u -Bürgertum s des 18. Jahrhunderts. N och am Ende des 18. Jahrhunderts definiert das Allgemeine L andrecht für die preußischen Staaten Bürger als jene Individuen, welche “w eder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet w erden k ö n n en ” . Da wird also alles, was n icht in die klare agrarstaatliche Paarung von A del und Bauern hineinpaßt, m it einer N egativ-Definition belegt. Das ließe sich noch m it der B orniertheit der Gesetzesm acher erklären, obw ohl d arunter recht aufgeklärte K öpfe w aren. Doch die em pirische sozialgeschichtliche Forschung ist auch fast 200 Jahre später noch nicht w eiter gekom m en. So heißt es 1976 in einem Forschungsüberblick: “ Zum Bürgertum als der Summe der nichtadeligen, nichtbäuerlichen und n ich tu n terstän d ischen Kräfte gehören so heterogene Schichten und G ruppen, daß von einer E inheit nichts zu erkennen ist” . Die Ursache für diese D efinitionsproblem e liegt in der Sache selbst. Und m ehr noch: Unser D efinitionsproblem ist ein reales Problem für das Bürgertum dieser Zeit, — das Problem , durch das es letztlich doch als Einheit konstitu iert w ird. Das ist zu erläutern: Zwar gibt es da einzelne altbürgerliche G ruppen m it eindeutigen überlieferten V erhaltensnorm en, Patrizier etw a oder H andw erker. A ber was gibt es da nicht alles: Den Bankier und den L ateinschullehrer, den Schriftsteller und den D om änenpächter, den M anufakturbesitzer und den Offizier, den Krämer und den reichen K aufm ann und den H ofm eister, 112 der dessen Söhne Latein beibringen soll, und dazu das Heer der Pfarrer und der V erw altungsbeam ten in unterschiedlichsten Positionen. Sie alle haben keine gem einsame H erkunft, keine gem einsamen T raditionen, keine gem einsame ökonom ische Stellung. Was sie aber gem einsam haben, ist eben dieses Problem , nichts gemeinsam zu haben. Ich will das an einem Lebenslauf exem plifizieren. Da gibt es in A rtern in Thüringen in der M itte des 17. Jahrhunderts einen H ufschmied mit Namen Geede oder so ähnlich. Der hat einen Sohn, der das H andwerk eines Schneiders lernt. Nach seiner Lehrzeit geht der Schneider, wie es sich für einen Gesellen gehört, auf W anderschaft. Er geht nach Westen, nach Frankreich. 12 Jahre ist er d o rt, setzt sich in der Seidenw eberstadt Lyon fest. Doch die A ufhebung des T oleranzdikts von N antes zwingt den P rotestanten, Frankreich den Rücken zu kehren. Er w andert nach F rankfu rt, heiratet d o rt eine S chneiderstochter und wird zünftig. G öthe nennt er sich je tzt, m it A kzent auf dem e, denn er w eiß Kleider m it französischem Schick anzufertigen, für die Frauen der Patrizier, der Handelsherrn, sogar für die Damen des D arm städter Hofes. Zeitweise beschäftigt er nicht nur die erlaubten drei, sondern sechs Gesellen. Als seine Frau stirbt, hat er ein Vermögen von 19 000 G ulden. Er heiratet wieder, 1705, eine Schneidersw itw e, die auch ein Wirtshaus m it W einhandel in die Ehe bringt. Die Zeiten sind schlecht für die Winzer im linksrheinischen D eutschland, ständig d ro h t Krieg, sie verkaufen schnell und billig; der F rankfurter W einhändler aber kann lagern und w arten. Seinen Sohn läßt der Schneider Ju ra studieren, er finanziert ihm die Kavalierstour nach Italien, und als er 1730 stirbt, hinterläßt er ihm 17 Säcke voll Geld unterschiedlichster W ährungen, das Weinlager, G rundstücke, — insgesamt ein Vermögen von 90 000 G ulden. Der Sohn kann es sich leisten, nur noch dieses Vermögen zu verw alten, sich den T itel eines Kaiserlichen Rats zu kaufen und die T o ch ter des S tadtschultheißen zu heiraten. Ich will nicht behaupten, daß das ein typischer L ebenslauf der Zeit ist (und untypisch sind gewiß die Schicksale des Enkels des Schneiders). Unser empirisches sozialgeschichtliches Wissen zum ersten D rittel des 18. Jahrhunderts, ich w iederhole es, ist äußerst dünn, n ich t zuletzt deshalb, weil die Vorgänge sich w eitgehend im Dunkeln abspielen und erst deutlicher sichtbar w erden, nachdem eine gewisse Konsoldierung eingetreten ist. Erst eine Vielzahl solcher Lebensläufe von ansonsten unbekannten L euten k ö nnte ein einigerm aßen sicheres Bild liefern und z.B. Bew egungs-'Straßen’ sichtbar m achen. Es ist eine Zeit, in der wir nicht m ehr die S tatik der überlieferten überindividuellen V erhältnisse voraussetzen können, aber auch noch nicht die Zeugnisse selbstbew ußter W ortführer und Interpreten des N euen vorfinden. Umso w ichtiger wären 113 sprachgeschichtliche D etailuntersuchungen, die hier Aufschlüsse geben könnten. Unsere Erzählung kann aber zum indest zeigen, was im ersten D rittel des Jahrhunderts m ö g l i c h ist. Es existiert ein Bewegungsraum, regional wie sozial, und — dies der Erzählung kurzer Sinn — w enn wir vom Bürgertum dieser Zeit sprechen und dam it manches sehr H eterogene zusam m enfassen, dann bezeichnen w ir dam it keinen hom ogenen ‘S tan d ’, sondern diesen B e w e g u n g s r a u m . Hier finden A ufstiege sta tt, ‘Lebensläufe nach aufsteigender L inie’, auch Abstiege, hier k o m m t es zur unvorhergesehenen Interaktion von Personen ganz unterschiedlicher H erkunft, von N orm ensystem en ganz unterschiedlicher S tru k tu r und T radition und hier b esteh t bereits auch ein recht großer Reflexions- und Diskursbedarf, weil auch Selbstverständigung notw endig ist. D am it wird vielleicht klar, was das heißt: daß das G emeinsame des Bürgertums sein Problem ist, nichts Gemeinsames zu haben. Es m uß geschaffen w erden. N otw endig ist eine gemeinsame V orstrukturierung und Standardisierung der W irklichkeit, eine R eduktion von K om plexität, die das Handeln wechselseitig berechenbar m acht, auch w enn m an die angestam m te Bezugsgruppe verläßt. Diese R eduktion von K om plexität trägt im 18. Ja h rh u n d ert den Namen ‘M oral’ und dann, nach der K onsolidierung, ‘Bildung’. Eine allgemeinmenschliche M oral soll es sein, keine ständische, eine, die man bei jedem Positionswechsel räum licher und sozialer A rt w ieder auffinden kann, und so w erden die W örter ‘bürgerlich’ und ‘m enschlich’ o ft zu Synonym en. Niemals zuvor ist über Moral soviel nachgedacht und geschrieben w orden, denn niemals hatte man ein neues V erhaltensfundam ent überständischer und überregionaler A rt so nötig. — Noch ehe die V erbindung zur Sprachgeschichte hergestellt ist, läßt sich bereits sagen: Der zweite A kt in der G eschichte der E ntstehung der deutschen Standardsprache ist — wie der erste, von der ‘R efo rm atio n ’ bew irkte — das Ergebnis einer Krise der regional und ständisch partikularen O rdnungen. III. Z unächst küm m ern sich die G elehrten um das neue Problem , Leute vom Schlage eines Thom asius oder G ottsched, verm utlich n ich t aus purer M enschenliebe und S olidarität, sondern auch deshalb, weil hier ein neuer Bedarf, ein neues ‘Publicum ’, ein neuer M arkt sich au ftu t. Die relative A utonom ie des universitären Lehr- und D isputionswesens gibt für die G ebildeten der Zeit auch das Modell einer bürgerlichen Ö ffentlichkeit ab, das Modell einer res publica litteraria, in die grundsätzlich das gesamte N eubürgertum einbezogen ist. Es ist eine politisch vielfach gebrem ste Ö ffentlichkeit, die sich ihre Lücken suchen m uß, um sich verwirklichen 114 zu können. Eine solche Lücke sind die ‘schönen W issenschaften’ und ‘freien K ünste’. Wenn es dem König von Preußen einfällt, ein Gedicht zu m achen, dann m uß er sich gefallen lassen, daß er vom rechtlosen Juden Mendelssohn rezensiert wird. So w eit die ‘schönen W issenschaften’ und ‘freien K ünste’ scheinbar von der Politik en tfe rn t sind, so sind sie doch als M edium der V erständigung noch über ganz andere Dinge brauchbar als solche der K unst. Wer z.B. in einer Kritik oder in einer Poetik über bestim m te V erhaltensw eisen oder Eigenschaften eines Helden räsonniert, m eint dam it nicht nur eine fiktive Kunstfigur, sondern begründet das auch m it seinen allgem eineren A nsichten über das m enschliche Leben. — Das also ist der e r s t e F aktor, welcher der L iteratur eine besondere Stellung zu verschaffen vermag: Als der heim lichen S tätte einer ö ffen tlichen Rede m it tendentiell universeller T hem atik und dam it als Forum des Diskurses, in dem die neue Intersubjektivität sich bilden kann. Als z w e i t e s wäre die Eigenart poetischer Rede als gebundener Rede zu nennen. Jan M ukarovsky, der strukturalistische Poetiker, hat den Bühlerschen S prachfunktionen eine vierte hinzugefügt, die ästhetische, welche die A ufm erksam keit au f das Zeichen selbst lenke. Ich will diese Theorie hier nicht übernehm en, weil sie m it einigen diskussionsbedürftigen V oraussetzungen operiert, sondern nur bei ihr anknüpfen. Etwas salopp kann diese ‘ästhetische F u n k tio n ’ gedeutet w erden als eine V erschnürung von T exten, die ihre T ransportierbarkeit erh ö h t. Dieser Sachverhalt w urde in den letzten Jahren, als das N achdenken über T ex tästhetik im m er w ieder zur A bw eichungspoetik zurückkam , etwas vernachlässigt. Wenn ein T ext gereim t ist und ein bestim m tes M etrum aufweist, dann ist er w esentlich leichter aus seiner S ituation zu lösen, ohne daß er in seinem W ortlaut verändert wird. Das gilt schon für simple Bauernregeln, die durch ein solches R ekurrenzsystem verschnürt werden. Natürlich können in ausgebildeteren poetischen Form en dann weit kom plexere M ittel der Bindung eintreten, die Reim und M etrum sogar überflüssig m achen, Pointierungen etw a, ganze G eschichten m it Anfang, M itte und Ende, von denen man n icht einfach etwas weglassen kann, bis hin zu raffinierten M ethoden der m etaphorischen V erklam m erung und sym bolischen Querverweise. Es sind T exte von besonders starker Kohärenz, — von so starker K ohärenz, daß sogar A bstriche bei der Logizitä t und beim R ealitätsbezug gem acht w erden können, ohne daß sie deshalb zerfallen. Solche verschnürte und transportable Texte, räum lich wie zeitlich transportabel bis hin zur sogenannten ‘Zeitlosigkeit’ großer Dichtung — solche T exte also eignen sich in besonderem Maße dazu, als Topoi (‘Ö rter’) der V erständigung kanonisiert zu w erden und in ähnlichem Maße Intersubjektivität zu begründen wie ein ‘heiliger’ T ext; aber diese 115 Intersubjetivität kann nun als profane die religiöse ergänzen, gelegentlich auch in K onkurrenz zu ihr treten. H inzu kom m t ein d r i t t e r M om ent. Poesie im 18. Ja h rh u n d e rt ist vornehm lich erzählende oder dram atische Poesie; daneben natürlich auch eine Fülle von gereim ter K leindichtung, die man aber nu r auf etwas m ißverständliche Weise als lyrisch bezeichnen k ö nnte (das ‘L yrische’ im m odernen Sinn gibt es erst seit G oethe). Solche D ichtung find et ihre Domäne in der konkreten Falldarstellung, im Exem pel. So m eint z.B. schon Thomasius, das Studium der Poesie sei u.a. für den angehenden Juristen deshalb sehr nützlich, weil er lernen könne, wie m an zu einem ‘lege’ einen geschickten ‘casum ’ finden könne. D ichtung in diesem Sinne ist MoralKasuistik an Exem peln. Die m ehr als ein Ja h rh u n d ert dauernde Fixierung am G oethischen Typus von Poesie hat uns solche Ä ußerungen im m er wieder belächeln lassen. A ber das ist unhistorisch. Wenn G ottsched m eint, am Anfang der poetischen P roduktion stehe im m er ein m oralischer L ehrsatz, zu dem man dann eine passende Fabel sucht, dann ist das nicht Engstirnigkeit, sondern A usdruck eines kulturpolitischen Programms der Herstellung von Intersubjektivität durch D ichtung. Kein A utor einer m oralischen W ochenschrift läßt es sich nehm en, seine Lehren erzählerisch-szenisch einzukleiden oder in fingierten Briefen vorzutragen. Und auch die Schaubühne, die noch Schiller als m oralische A nstalt deu ten wird, kann sich Ansehen erw erben als eine A rt A bendschule der Intersubjektivitä t. ‘M itleiden’, so sagt Lessing, sollen wir in der Tragödie lernen, und das m eint nichts anderes als Intersubjektivität. Für Christian Wolff ist die Kirche die geistliche, das T heater die w eltliche V erkündigungsanstalt der Moral. Die “ C om ödien und T ragödien” hätten “ einen Vorzug für den w ahren E xem peln” , denn bei den “w ahren E xem peln” liegt o ft allzuviel Zeit zwischen der T at und ihren Folgen. “ Hingegen in Com ödien und Tragödien folget alles, was zusamm en gehöret, in einer kurzen Reihe aufeinander, und lässet sich daraus der Erfolg der Handlungen viel besser und leichter begreiffen, als w enn man im menschlichen Leben darauf acht h a t.” Im Besonderen des poetischen Exem pels, so m einte er, solle das Allgemeine anschauend erkannt w erden. Es ist eine Dichtungslehre, die dann später m it dem Begriff des ‘T ypischen’ in ganz anderem K ontext w iederkehren wird. IV. Ihre herausragende B edeutung kom m t die D ichtung erst in den späten 4 0er und in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts. Die 30er und frühen 40er Jahre sind beherrscht von einer anderen D om inante, die unter dichtungsgeschichtlichem A spekt als V orstufe bezeichnet w erden muß. 116 Ich spreche in diesem Zusam m enhang von der ‘Gottsched-W olff-Zeit’ oder der Phase der norm ativen F orderung oder des Objektivism us (das letzte im A nschluß an Brüggemann). Denn in dieser Phase sollen die Maximen des richtigen H andelns noch auf deduktivem Weg aus obersten Prinzipien der V ernunft und N atur abgeleitet w erden. Da diese Instanzen aber Leerform eln sind, setzen sie den sozialen Konsens, den sie begründen sollen, bereits voraus. Es ist ein nur scheinbar deduktives, in W irklichkeit zirkuläres Verfahren, bei dem V ernunft und N atur doch im m er wieder durch A u to ritäten oder Berufungen auf den gesunden M enschenverstand, also durch Tradition gestützt w erden müssen. Man nen n t zuweilen als Sym bolfigur der A ufklärung Prom etheus, der das F euer vom Himmel geholt h at; das ist durch eine zweite Sym bolfigur zu ergänzen, näm lich M ünchhausen, der sich am eignenen Schopf aus dem Sum pf zog. Die L etztinstanzen von V ernunft und N atur mögen subjektiv tatsächlich die entscheidende Rolle gespielt haben, aber aus der D istanz gesehen h atten sie nu r eine persuasive Hilfsfu n k tion bei der H erstellung des sozialen Konsens, der aus alten, h etero genen Quellen neu zusam m engestellt und befestigt w erden m ußte. V ernunft und N atur als L etztinstanzen waren in dieser Phase der Konsensbildung nur kurzfristig einzusetzen. Schon je tz t bedient man sich gern der Ü berzeugungskraft der poetischen Exem pel. Die sächsiche T ypenkom ödie ist vielleicht das auffälligste Beispiel. In ihr sollen die ‘L aster’, d.h. A bw eichungen vom vernünftigen M ittelm aß angeprangert w erden. Es gab da gewiß manches zu lachen und zu lernen. A ber die ‘Tugend’ blieb, als bloßes V erm eiden von A bw eichungen, leer und blaß. In den späten 40er und den 50er Jahren treten neue M ittel hinzu. Das ‘d electare’ der neuen Poesie schafft einen konsensbildenden kulturellen ‘Ü berschuß’, F reundschaft und Geselligkeit w erden gefeiert, und in der A nakreontik auch das gepflegte erotische Spiel. Z ur N atur und zur V ern u n ft tr itt als w eitere Instanz das ‘H erz’. Es beginnt jene Zeit, die in den Literaturgeschichten als ‘E m pfindsam keit’ erscheint. Ein H erz hat jeder, auch der U ngebildete, der kein collegium logicum durchlaufen hat. Man könnte von der G ellert-Zeit sprechen, auch von der Zeit des jungen Lessing, des jungen Wieland und eines guten D utzend w eiterer A utoren, die heute keiner m ehr liest, die aber eine förm liche D ichtungskultur bildeten: Pyra, Lange, Hagedorn, Uz, G ötz, Gleim, J. E. Schlegel, Rabener, Weiße, Gessner, Kästner, Ewald von Kleist, Cram er, R ost, Gieseke, Zachariae und noch einige m ehr. 1751 wird Geliert Professor in Leipzig, qualifiziert durch drei K om ödien, einen Rom an, eine lateinische Program m schrift für die rührende K om odie und einen Band m it 117 Fabeln und Erzählungen. Diese Fabeln und Erzählungen w erden, nach der Bibel, zum w eitestverbreiteten Buch Deutschlands. D ichtung w irkt unm ittelbar aufs Herz und ist deshalb wie keine andere In stitu tio n fähig, die neue Intersubjektivität zu festigen. Ich kann hier auf die inhaltliche Seite dieses L iteraturtypus nicht eingehen; es genüge der Hinweis, daß die fortw ährende T hem atisierung von F reundschaft, Geselligkeit, Gelassenheit und Genügsamkeit die K onfliktverm eidung, also den sozialen Konsens, zum obersten G ebot m acht. V. Schon seit einiger Zeit ist hier im plicite von Sprachgeschichte die Rede. Die Kodifizierung einer sprachlichen Norm setzt ja voraus, daß es anerkannte V orbilder gibt, bei denen die G ram m atiker anknüpfen können. Die Entw icklung im 18. Jh. läßt sich un ter diesem G esichtspunkt exem plarisch an den unterschiedlichen A rgum entationssituationen G ottscheds und Adelungs verdeutlichen. G ottsched war bei seinen sprachlichen N orm ierungsversuchen vor einem ähnlichen Problem gestanden wie bei seinen poetischen und m oralischen. V ernunft und N atur allein k onnten die sprachliche N orm nicht begründen. Um aufzuzeichnen, was das ‘b este’ Deutsch war, m ußte er eine V orentscheidung treffen. G ottsched setzte fest, das ‘beste’ D eutsch sei ein geläutertes M eißnisch. Damit aber folgte er nicht der V ernunft und N atur, sondern der T radition (was d urchaus vernünftig war). Wenn er dafür die Begründung gab, daß das Meißnische in der M itte des deutschen Sprachraum s lag, war das eher ein Zeichen seiner A rgum entationsnot. Kein Wunder, daß man ihm von der Periphere her, von Schlesien und vor allem der Schweiz, heftig w idersprach. Zwar berief sich G ottsched auch auf die ‘b esten’ Schriftsteller, aber abgesehen davon, daß das auch zirkulär war: Wer sollten diese ‘b esten ’ Schriftsteller sein, in den 40er Jahren des 18. Jh ., zumal er m it den neu aufkeim enden Bestrebungen der jungen G eneration nichts im Sinn hatte? Er nen n t A utoren wie O pitz, die H ofdichter Canitz und Besser und den A bt Mosheim, gewiß verdienstvolle M änner, aber doch von viel zu geringer Wirkung, als daß sie das A rgum entationsdefizit h ätten ausgleichen können. Da ist Adelung in einer völlig anderen S ituation. Neben den von G ottsched favorisierten A utoren kann er sich auf ‘b este’ A utoren berufen, die, wie G eliert und die anderen genannten, tatsächlich bereits hohe überregionale A nerkennung genossen. Es gibt in den 50er Jahren eine vielgelesene, überregionale poetische N ationalliteratur, und diese L iteratur folgt bereits einer weitgehend einheitlichen Sprachnorm . Natürlich h ätte Adelung sein W örterbuch nicht allein m it diesen A utoren bestreiten können; eher schon h ätten sie für seine Bemühungen um Stil 118 und G ram m atik ausgereicht. V or allem aber h atten sie eine A rt PilotF u n k tion als vorzeigbare V orbilder, hinter deren Schild dann auch andere Bereiche berücksichtigt w erden konnten. Der Beitrag dieser L iteratur bei der D urchsetzung einer überregionalen N orm ist von der älteren, dichtungssprachlich orientierten Forschung nur ungenügend berücksichtigt w orden. N och bei Blackall z.B. kom m t sie nicht vor. Denn ihre unm ittelbar dichtungsgeschichtliche Bedeutung ist, gelinde gesagt, unauffällig, verglichen etw a m it den gleichzeitigen Bemühungen K lopstocks. A ber ihre konsensstiftende Wirkung m acht sie w ahrscheinlich zum w ichtigsten Beitrag der Poesie bei der E ntstehung der überregionalen N orm überhaupt. Deshalb m eine eingangs geäußerte Befürchtung, daß ein zu pauschaler Begriff von Literatursprache hier w eiterhin ein Forschungsdesiderat ungesehen lassen könnte. Für Adelung jedenfalls (und noch für didaktische Handbücher des frühen 19. Jahrhunderts) ist dies die ‘klassische’ Periode der deutschen L iteratur, und schon als er in den 70er Jahren sein W örterbuch erscheinen läßt, kann er sich nicht m ehr auf die inzwischen nachgewachsene neue G eneration berufen. Es beginnt eine d ritte Phase sowohl in der Geschichte der D ichtung wie in der G eschichte bürgerlicher Intersubjektivität. VI. Ohnedies ist das eben entw orfene Bild etwas einseitig. Schon die poetische Sprache K lopstocks, die den 50er Jahren zugehört, ist für Norm ierungsversuche nicht brauchbar, sondern schöpft ihr Pathos aus der N orm abweichung. Und schon in der zw eiten Hälfte der 50er Jahre en tste h t m it dem Bürgerlichen Trauerspiel eine literarische S tätte der K onfliktform ulierung, und zwar jenes innerbürgerlichen K onflikts, der aus rigoristischer N orm und Glücksbedürfnis des Einzelnen entspringt (der K onflikt m it der höfischen Welt kom m t erst rund zwanzig Jahre später auf die Bühne). Gegenläufig zum Prozeß der Festigung des bürgerlichen MoralKonsens und des bürgerlichen Sprach-Konsens vollzieht sich schon hier eine Bewegung, welche die N orm en bereits voraussetzt und die Kosten der N orm ierung them atisiert oder aus der A bweichung F unken schlägt. Um 1770 kom m t das voll zum D urchbruch. Der A ugenblick der gefestigten N orm ist zugleich schon der A ugenblick der Revolte gegen die Norm. Es m elden sich m it lauter Stim m er die Abweichler, sei’s angestoßen durch das Sprachdenken Ham anns, sei’s auch nur deshalb, weil der expandierende literarische M arkt dem Provokateur besondere Chancen zu bieten scheint. Etwas zugespitzt könnte m an sagen: In den 70er 119 Jahren beginnt, angesichts der eben erst gefestigten Norm , das Zeitalter der A bw eichungspoetik und der A bw eichungsethik, jenes bis an die Gegenwart reichende Z eitalter also, das der N orm im m er wieder den em phatischen Begriff einer W ahrheit gegenüberstellt, die über jede Norm hinausgreift. Die R eduktion von K om plexität durch N orm ierung wird als W ahrheitsverlust em pfunden. Der Sturm und Drang, von dem hier die Rede ist, ist bereits die erste binnenbürgerliche Rebellion. Die Dichtung w endet sich in den 70er Jahren jenen Them en zu, für die w eder die Leipziger noch die Berliner A ufklärer hinreichende Lösungen oder zum indest Form ulierungen gefunden h atten, sozialen Problem en, dem Problem des Todes, das im m er wieder als cantus firmus au ftritt, und jenem Problem , das man heute m it dem W ort der ‘Selbstverwirklichung’ zu bezeichnen pflegt. Schon in den 70er Jahren, nach zwei G enerationen, hat das Neu-Bürgertum den ganzen Turnus vom k o n tu rlosen K onglom erat zu jener reduzierten K om plexität durchgem acht, die allererst Intersubjektivität erm öglicht, zugleich aber auch als V erkürzung der W ahrheit und Knebelung der E ntfaltung des Einzelnen em pfunden w ird. Man hat früher gesagt und sagt es gelegentlich auch heute noch, der S turm und Drang sei die Zeit der E ntdeckung des Individuums. Das ist sicher nicht falsch. A ber m an m uß hinzufügen: Es ist die Entdeckung des e i n g e s c h r ä n k t e n Individuum s; die Them atisierung der Individualität m acht ja überhaupt erst einen Sinn, Individualität ist überhaupt erst ein entdeckungswürdiges Problem, wenn überindividuelle norm ative S trukturen einen so hohen Geltungsgrad erreicht haben, daß der Einzelne sich an ihrem W iderstand als Einzelner erfahren kann. Geliert und sein Kreis h atten Gelassenheit, Bescheidenheit und Geselligkeit gepredigt. Zum K ultbuch der 70er G eneration aber avanciert der ‘W erther’, der eben dies zum Them a hat: ‘Einschränkung’ des A uthentizitätsstrebens in allen denkbaren V erw irklichungsbereichen: m etaphysisch, erotisch, künstlerisch, sozial, bis hin zur Sprache. Der erste K onflikt W erthers m it seinem Chef ist ein sprachlicher: Der G esandte will ihm seine Inversionen nicht durchgehen lassen ... VII. Doch ich will hier nicht repetieren, was zur Sprache der Sturm - und Drang-Zeit zu sagen w äre, sondern ich will zum A bschluß auf die längerfristig, bis in die Gegenwart w irkende T endenz hinweisen, die in dieser Periode erstm als deutlich greifbar w ird. Sprachliche Norm ierung und N orm ierung der W irklichkeit zum Zwecke der Berechenbarkeit und Intersubjektivität gehen im m er Hand in H and. Und seit jener 120 ersten binnenbürgerlichen Rebellion wird es im m er w ieder Bewegungen geben, welche die zum Zwecke der N orm ierung reduzierte K om plexität w iederherstellen w ollen. W ahrscheinlich verdankt die bürgerliche Gesellschaft gerade diesen R ebellionen ihre bem erkensw erte Ü berlebensfähigkeit, denn sie halten die N orm en locker und erm öglichen die Anpassungen an neue S ituationen. Jede der vielen T odesannoncen der bürgerlichen Gesellschaft läutete in W irklichkeit eine neue M etam orphose ein. Mit dem Sturm und Drang beginnt eine A rt F u n k t i o n s d u a l i s m u s der L iteratur offenkundig zu w erden (vorhanden war er in A nsätzen schon im m er), — der bis in die G egenwart reicht, eng m it dem F unktionsdualismus einer recht verstandenen ‘S prachkultur’ zusam m enhängt und le tz tlich die Ratio der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Beweglichkeit m itbegründet. A uf der einen Seite gibt es eine F unktion von L iteratur, die ich als subsidiär bezeichne. Diese F unktion dom iniert sow ohl in der G ottsched-Z eit als auch in der G ellert-Zeit, und sie dom iniert überall da, wo L iteratur in den D ienst einer bestim m ten Sozialisation gestellt w ird. Sie u n te rstützt die Standardisierungen der W irklichkeit wie die der Sprache. Sie m acht bei w eitem den H auptanteil des G ebrauchs von L iteratu r bis in die G egenwart au s: A uch sogenannte ‘kritische’ L iteratur ist subsidär, w enn sie zur Stabilisierung des W irklichkeitsbildes oppositioneller Zirkel dient. — Daneben aber gibt es eine zw eite F unktio n von L iteratur, die ich als kom plem entär bezeichne und die erstm als in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts m it M acht herv o rtritt. Sie zielt au f die jeweils u n beleuchtete Seite der W ahrheit, auf das, was bei den Problem lösungen der jeweiligen R ationalität vernachlässigt, verdrängt, als irrelevant beiseite gestellt w urde. Ihr S pektrum ist so w eit wie der Raum , der bei der jeweiligen R eduktion von K om plexität ausgeblendet w urde und gerade deshalb die M enschen beunruhigt. Er reicht von der ‘sym bolisch-augenblicklichen O ffenbarung des U nerforschlichen’, wie G oethe es nennt, über die sozialen und psychischen K osten unserer Problem lösungen bis hin, zum Beispiel, zum unversorgten Problem des Todes. Falsch jedoch wäre es, diese zweite, in fortschrittlichen Milieus auf A nhieb attraktiver erscheinende F unktion d irekt erfassen zu wollen und nur ihr unsere Pflege angedeihen zu lassen. G erade die erste, die subsidiäre F unktion begründet, wie eh und je, Intersubjektivität, und dieses G eschäft sollte man n icht den P roduzenten von ‘Dallas’ allein überlassen. Die ‘A usdruckskraft’ der N orm abw eichung w irkt nur deshalb, weil sie die N orm voraussetzt und ein z u s ä t z l i c h e s Register ist; nicht U nfähigkeit, sondern nur das souveräne — zum indest passive — 121 Beherrschen der N orm m acht die A bw eichung zu einem A kt der Freiheit. Mag sein, daß institutioneile Sprachnorm ung sich auch heute noch in derselben Begründungsnot befinden wie zu Zeiten G ottscheds und A delungs und sich, wie diese, dem V orw urf der Pedanterie aussetzt. Die arbiträren Elem ente einer Einzelsprache sind nicht strik t begründbar, und die Begründungen der m otivierten Elem ente sind zum eist nur als Eselsbrücken zu gebrauchen. Scheinrationale D etailbegründung verdeckt hier nur, was, wie bei G ottsched und Adelung, die eigentliche Quelle der N orm ist: T radition, die nicht begründbar, doch der kritischen Weiterführung zugänglich ist. ‘Begründet’ ist S prachkultur nur in der U nentbehrlichkeit einer R eduktion von K om plexität für jede Verständigung, und in der N o tw endigkeit zugleich, diese R eduktion nicht zur Bornierung verkom m en zu lassen, sondern ein möglichst hohes Maß an D ifferenzierung zu erm öglichen. So kann sie auch an die K om plem entär-Funktion von D ichtung anknüpfen. Denn anders als G ottsched und Adelung können wir uns auch d o rt auf die ‘b esten’ S chriftsteller berufen, wo es n icht n u r um die D urchsetzung einer N orm , sondern auch um deren Relativierung geht. Selbst die Wilhelminische Klassikerpflege m ußte G oethes norm enverw irrende Sprachmagie m it-transportieren,und selbst der Büchmannisierte Schiller en th ält noch die ‘C ntrebande’ der Freiheit. Wenn ‘S p rach k u ltu r’ beides will, Einübung von N orm en und Locker-H alten der N orm en, wird sie sich in besonderem Maße am Beispiel der Poesie orientieren können. L iteratur Berger, Günter, u.a.: In terpretation als Gesellschaftsgeschichte. Anm erkungen zu Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held, in: K indt, W alther/Schm idt, Siegfried J. (Hrsgg.), Interpretationsanalysen, M ünchen 1976, S. 145 - 165. Beutler, Ernst: Das Goethesche Familienvermögen von 1687 — 1885, in: E m st Beutler, Essays um G oethe, Bremen 1957, S. 389 -4 0 0 . 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