Globale Welt - Was tun
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Globale Welt - Was tun
Martin Cordes / Hans-Jürgen Pabst (Hrsg.) Globale Welt – was tun? Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln – im Auftrag der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft – herausgegeben von Martin Cordes und Rolf Hüper 13 Globale Welt – was tun? Beiträge zur Globalisierungsdiskussion herausgegeben von Martin Cordes und Hans-Jürgen Pabst Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Globale Welt – was tun? : Beiträge zur Globalisierungsdiskussion / hrsg. von Martin Cordes und Hans-Jürgen Pabst. - Hannover : Blumhardt-Verl., 2002 (Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln ; 13) ISBN 3-932011-40-6 © 2002 Blumhardt Verlag im Institut für praxisbezogene Forschung (IpF) Evangelische Fachhochschule Hannover Blumhardtstr. 2 D-30625 Hannover Telefon: +49 (511) 5301-108 Fax: +49 (511) 5301-139 E-mail: [email protected] http://www.efh-hannover.de/efhinfo/verlag/ Alle Rechte beim Verlag Druck: Gruner Druck GmbH, Erlangen Titelgraphik: Steffen Sander ISBN 3-932011-40-6 Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber....................................................................... 7 Einleitung ............................................................................................... 9 Grußworte zum 70jährigen Jubiläum der Studiengesellschaft ................ 15 Tagungsbeiträge Annette Kleinfeld Globalisierung: Bedrohung oder Chance? ................................................... 25 Friedrich Heckmann Perspektiven für die Globalisierungsproblematik der Märkte – Denkanstöße für eine ethische Urteilsbildung............................................. 55 Hans-Hermann Tiemann Globalisierung und Kultur........................................................................... 93 Michael Kranzusch Der Mensch in seiner Welt. Zur wechselseitigen Irritation und Relevanz von Anthropologie und Globalisierungsdiskussion ...................................117 Barbara Ketelhut Umbrüche in einer Region. Auswirkungen von internationalen Investitionen im Weserbergland auf die Lebenswelten...............................131 Klaus P. Japp Struktureffekte transnationaler Risikokommunikation: Das Beispiel des BSE-Konflikts ...................................................................149 Uwe Heinrich Die „Globalisierungsfalle“ als Lernfeld in der Entwicklungspolitik...........181 Fritz Erich Anhelm Gegenmacht oder Mitgestaltung? Stiftungen und NGOs als Architekten des Wandels .................................................................................................187 Lourens Minnema Hinduistische und buddhistische Bewertung wirtschaftlicher Tätigkeit und ihrer Folgen..........................................................................................197 Wilhelm Fahlbusch Resümee der Tagung ...................................................................................213 Anhang Spiritualität und Ökonomie. Ein Schlüsselproblem der Gegenwart Mainzer Erklärung der deutschen Sektion der 'Weltkonferenz der Religionen für den Frieden' (WCRP) (1996) .............................................217 Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten Dokumente der Tagung der 9. Synode der Ev. Kirche in Deutschland (2001) .....................................................................................................................221 Literatur zur Globalisierung .......................................................................269 Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft..........................................278 Autorinnen, Autoren und Herausgeber .....................................................280 Vorwort der Herausgeber Die „Globalisierung“ provoziert seit etwa zehn Jahren öffentliche Diskussionen. Gegenwärtig treten die sozialen und politischen Folgen der ökonomischen Globalisierung immer deutlicher ins Bewusstsein. Die globale Welt eröffnet Möglichkeiten, von denen vorhergehende Generationen kaum zu träumen wagten. Motor dieser Entwicklung ist die globale Wirtschaft, die in wenigen Jahrzehnten einen bisher nicht vorstellbaren Reichtum erzeugt hat. Dieser könnte allen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen. Der Welthandel steigerte sich allein im Jahr 2000 um 11 Prozent und belief sich auf 3.900 Mrd. US-$. Die Summe aller weltweit produzierten Güter und Dienstleistungen legte in den zehn Jahren bis zu den Kurskorrekturen des Jahres 2001 um 40 Prozent zu. Es gibt jedoch auch ein anderes Gesicht der Globalisierung. 826 Millionen Menschen sind permanent unterernährt, obwohl die Erde doppelt so viele Menschen ernähren könnte, wie heute auf ihr leben. Täglich sterben 100.000 Menschen an Hunger und seinen unmittelbaren Folgen. Alle sieben Sekunden ist darunter ein Kind. Alle sechs Minuten erblindet ein Mensch auf Grund eines Vitamin-A-Mangels. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Noch größer ist die Zahl der Analphabeten und derer, die keine Arbeit haben. Die Auswirkungen der großen und kleinen Katastrophen, von denen die 6,2 Milliarden Menschen auf diesem Planeten von Nairobi bis New York betroffen sind, sind unübersehbar. Wachsende Armut in vielen Teilen der Welt wirft die Frage nach Konzepten auf, wie die sich rapide globalisierende Weltwirtschaft verantwortlich zu gestalten wäre. Hier Orientierungen zu versuchen, war das Anliegen von zwei Tagungen der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft in der Ev.luth. Landeskirche Hannovers. Im Frühjahr 1997 und zum 70-jährigen Jubiläum der Studiengesellschaft im Herbst 1999 wurden die mit der „Globalisierung“ verbundenen Probleme in Vorträgen und Diskussionen ausgelotet. 7 Die Studiengesellschaft verfolgt das Ziel, mit Experten aus verschiedensten gesellschaftlich relevanten Wissenschaftsdisziplinen und mit Praktikern aus anderen Arbeitsfeldern in einen interdisziplinären Dialog zu treten und dessen Ergebnisse für Kirche und Gesellschaft fruchtbar zu machen. Ein am Ende der zweiten Globalisierungstagung gezogenes Resümee ist in dem vorliegenden Band enthalten. Eine eigene Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Kirchen zur Globalisierung oder zu einer ihrer sozialwissenschaftlichen Darstellungsformen zu finden, bleibt der Lektüre und Benutzung des Buches vorbehalten. Diesem Ziel dient auch der Abdruck weiterer Texte, und zwar zunächst der Mainzer Erklärung „Spiritualität und Ökonomie“ (1996) und zwei Dokumenten der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema „Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten“ aus dem Jahre 2001. Nach der Wirtschaftsdenkschrift von 1991 „Gemeinwohl und Eigennutz“ und dem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort des Rates der EKD und der deutschen Bischofskonferenz „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) unterstreicht die Kirche damit den hohen Stellenwert, den sie diesem Thema beimisst. Die Herausgeber danken den Referentinnen und Referenten für die Überlassung ihrer Texte für den Druck, sowie Dr.-Ing. Volker Ahrens und Dr. theol. Hans-Hermann Tiemann für ihre intensive Mitwirkung bei den Tagungen und der Redigierung der Texte. Zu danken ist der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers für einen Druckkostenzuschuss und der Hanns-LiljeStiftung, Hannover, für eine finanzielle Förderung der Tagungsarbeit. Ein besonderer Dank gilt Andreas Osterloh und Thomas Göbe, die die Druckvorlage sorgfältig erstellt haben. Hannover, im Mai 2002 Martin Cordes Hans-Jürgen Pabst 8 Einleitung Der vorliegende Band zum Globalisierungsproblem enthält Beiträge von zwei Tagungen der Sozialwissenschftlichen Studiengesellschaft in der Ev.luth. Landeskirche Hannovers. Die erste fand am 26. April 1997 unter dem Titel „Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos? Denkanstöße zur Globalisierungsdebatte“ im Ev. Schulpfarramt in Hannover statt. Mit der zweiten Tagung vom 5./6. November 1999 unter dem Titel „Globale Welt - Was tun? Lösungsperspektiven zur Globalisierungsproblematik“ beging die Studiengesellschaft ihr 70-jähriges Jubiläum in der Ev. Fachhochschule Hannover. Mit diesen Themenstellungen folgte sie ihrem Auftrag, neue gesellschaftliche Herausforderungen für die kirchliche Praxis aufzunehmen. Die Studiengesellschaft ist im Jahr 1929 unmittelbar vor der „Weltwirtschaftskrise“ gegründet worden. Von Anfang an war sie darum mit global bedingten wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Mit ökonomischen Fragen haben sich die Teilnehmer immer wieder intensiv auseinander gesetzt, besonders gelegentlich der regelmäßigen Betriebsbesuche, zuletzt 1999 bei der Continental Reifen-AG und 2001 bei der Versicherungsgruppe Hannover (VGH) sowie bei der Exkursion zum Wuppertal-Institut Ernst-Ulrich von Weizsäckers im Frühjahr 2000. Das Konzept der Studiengesellschaft, soziale Fragen aus der ökonomischen Praxis und ethischen Reflexion mit der kirchlichen Wirklichkeit zusammenzuführen, scheint weiterhin auf Resonanz zu stoßen, auch wenn die Kommunikationsbedingungen sich im Zeitalter der Postmoderne und des Internet durchaus verändert haben. Diese Umstellung bedeutet freilich, dass die Diskussion neue Parameter aufnehmen muss und ältere in den Hintergrund treten. Die Frage des gewerkschaftlichen Engagements und zuletzt des Kampfes um eine innerbetriebliche Mitbestimmung, die noch vor ca. zehn Jahren besonders auch innerhalb des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) diskutiert und dort für die Arbeit mit Beschäftigten multinationaler Konzerne auf international vernetzte Basiskontakte ausgeweitet wurde, erwies sich nicht mehr als eine Hauptfrage, wie das Resümee von Prof. Wilhelm Fahlbusch zur Tagung im Jahr 1999 ergab. Das Gerechtigkeitsthema hat eine neue Dimension erreicht und tendiert dazu, die alte Entgegensetzung von Kapital und Arbeit zu verändern. 9 Die globalen Wettbewerbsbedingungen erfordern neue Kritikhorizonte und erweiterte Kooperationen. Folgende Themenbereiche werden in den Beiträgen dieses Bandes wiederholt aufgegriffen und systematisch weitergeführt: - Begriff und Erscheinungsformen der „Globalisierung“, - die weltweite Entgrenzung der Wirtschaft und ihre Bedeutung, - die Wahrnehmung globaler Risiken, - Identität und Würde des Menschen im Zeitalter der Globalität und - Ansätze für ein Welt-Ethos sowie eine globale Weltordnung. Die Beiträge im Einzelnen: Annette Kleinfeld entwirft ein Bild der technischen Bedingungen sowie der Unternehmensstrategien, welche die Vision eines globalen Marktes haben Wirklichkeit werden lassen. Sie zeigt, wie die bisherige nationale, soziale und neuerdings auch ökologische Wirtschaftspolitik durch diese Entwicklung wichtiger Grundlagen beraubt wird. Sie fragt nach Spielräumen für eine Wirtschaftsethik, die sich mit dem Leitgesichtspunkt der Effektivität vereinbaren lässt. Der einzelne Mensch muss sich als „Homo oeconomicus“ wie ein einzelnes „Profit-Center“ immer mobiler und flexibler auf die Erfordernisse des Marktes einstellen und wird dabei zunehmend heimatlos. Demgegenüber fragt die Autorin nach Möglichkeiten, einen die ganze Welt umfassenden, rechtlichen Ordnungsrahmen sowie ein „Weltethos“ in Geltung zu setzen. Die Kultur- und Religionswelt Indiens und Ostasiens ist herausgefordert, sich im globalen Wettbewerb der Kulturen zu behaupten bzw. nach dem Grad ihrer Kompatibilität mit der globalen Wirtschaft messen zu lassen. Für die europäische Kultur wird sich zeigen, ob sie in der Lage ist, eine Balance zwischen Eigennutz und Gemeinwohl herzustellen und so humane Lebensbedingungen zu gewährleisten. Friedrich Heckmann skizziert die Internationalisierung der Märkte und bietet Denkanstöße für eine ethische Urteilsbildung aus wirtschaftspolitischer Perspektive. Die Menschheit steht am Scheideweg zwischen einem 10 bloßen Überlebensszenario, einer „Pax Triadica“ der mächtigen Wirtschaftsregionen, und dem „Rio-Prozess“ einer ökologisch nachhaltigen globalen Entwicklung. Der Autor befragt kritisch die Werte, nach denen wir leben, und setzt ihnen das christliche Gerechtigkeitsverständnis entgegen. Hans-Hermann Tiemann untersucht die Globalisierung der Wirtschaft als kulturelle Dynamik. Daraus entwickelt er theologische und kulturgeschichtliche Optionen zur Globalisierung. Zwar kann auch das globale Zeitalter keine Gerechtigkeit versprechen, jedoch ist die Möglichkeit der Bedarfsdeckung für alle Menschen auf neue Weise gegeben. Von daher plädiert der Autor für eine globale Verantwortung und eine partizipatorische, dialogische Weltkultur. Michael Kranzusch benennt ethnische und kulturelle Hybrid-Bildungen und Melange-Effekte, die sich in den neuen, globalen Kommunikationszusammenhängen ergeben. Diese erläutert er anhand der Globalisierungstheorie Ulrich Becks. Der global denkende und handelnde Mensch muss komplexe Anpassungs- und Integrationsleistungen erbringen, mit denen die meisten Menschen - wie auch die bisherige Anthropologie - überfordert sind. Barbara Ketelhut untersucht die Auswirkungen internationaler Firmenübernahmen auf die Lebenswelt von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im Weserbergland. Mit einem kooperativen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekt will sie Ansätze für einen solidarischen Widerstand herausarbeiten, der Auswirkungen des wirtschaftlichen Wandels auf Familien und Tagesabläufe der abhängig Beschäftigten begegnet. Klaus Peter Japp thematisiert die transnationale Kommunikation über „ökologisches Nichtwissen“, d. h. über schwer kalkulierbare Gefahren in der Umwelt. Am Beispiel des BSE-Konflikts zeigt er einen „emergenten Struktureffekt“ auf, der sich ergibt, wenn Teilsysteme unterschiedlich auf Bedrohungen reagieren, und etwa eine bloße „Gefahrenabwehr“ neben der „Risikovorsorge“ gewissermaßen ein begrenztes Experiment mit der Schadensursache erlaubt. Der soziale Umgang mit Nichtwissen wird zum Problem: Für riskante Entscheidungen hat die Politik unter „welt-öffentlichem Beobachtungsdruck“ die Verantwortung zu übernehmen. Der Autor entwickelt von da aus einen erweiterten Begriff des „Systemvertrauens“, das auch zufällige, 11 emergente Effekte mit einbezieht und ein personales oder bloß institutionelles Vertrauen überbietet. Uwe Heinrich warnt vor einer „Globalisierungsfalle“ in der Entwicklungspolitik. Nachdem scheinbar revolutionäre Großprojekte in der Entwicklungshilfe gescheitert sind, konzentrieren die großen EntwicklungshilfeOrganisationen ihre Förderung auf Projekte, die auf lokale Ressourcen und Bedürfnisse abgestimmt sind. Als Beispiel nennt er für Tanzania die große Anzahl von Bautischlereien, die auf einige durch Entwicklungshilfe eingerichtete Werkstätten zurückgehen, heute selbstständig arbeiten und ihr Know-how an Auszubildende weitergeben. Fritz Erich Anhelm stellt Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, kurz „NGOs“, als neue, global wirksame Faktoren vor. Beträchtliche Fördermittel werden von nicht-staatlichen Einrichtungen für gemeinnützige Zwecke erbracht, besonders in der internationalen Bildungsförderung und Entwicklungshilfe. Am Beispiel der privaten Soros-Foundation sowie der „World Alliance for Citizens' Participation“, einem Netz von Stiftungen und NGOs, erläutert er, wie sich hier gegenüber der Dynamik des Geldes in der Wirtschaft und der Dynamik der Macht in der Politik eine zivilgesellschaftliche Dynamik der Kommunikation entfaltet. Auch die Kirchen wollen dazu beitragen, dass sich zeichenhaft eine „Gegenkultur“ zur Globalisierung entwickeln und die Lebenswelt sich nach ethischen Gesichtspunkten wandeln kann. Hatte Kleinfeld bereits darauf hingewiesen, dass östliche Religionen als mögliches Gegengewicht zur Hektik der sich global ausbreitenden westlichen Ökonomie in Frage kommen, so behandelt Lourens Minnema systematisch die Stellung des Hinduismus und Buddhismus zu ökonomischer Tätigkeit. Religion und Kultur normieren nicht nur das Handeln der Menschen mit festen Wertvorstellungen, sondern wirken auch subversiv und kreativ, bilden Gegenkulturen und verwirklichen, etwa im wirtschaftlich erfolgreichen Ostasien, unter globalisierten Bedingungen auf neue Weise ihr strukturelles Potenzial. 12 Die meisten der Beiträge variieren schon von ihrem Ansatz her in gewisser Hinsicht einen Satz von Max Weber, den dieser in einer Vorbemerkung seinen 1920 erschienenen Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie voranstellte: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch - wie wenigstens wir uns gern vorstellen - in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ Die Aufsätze dienen dazu, die Dynamik, die Beherrschbarkeit und die Sinngrenzen des Kapitalismus, einer ursprünglich europäischen Kulturerscheinung, zu hinterfragen, seine globale Auswirkungen an den eigenen geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zu messen sowie mit den Bedingungen anderer Kulturkreise zu vergleichen. Die Autoren bleiben jedoch nicht bei der Analyse stehen, sondern versuchen, den Diskurs voranzutreiben, Lösungsperspektiven zu eröffnen und zu zeigen, wie das globale System den Menschen dienen kann, ohne ihre Freiheit zu beeinträchtigen. Diesem Ziel dienen auch die im Anhang abgedruckten Dokumente der deutschen Sektion der „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden“ (1996) bzw. der 9. Synode der Ev. Kirche in Deutschland (2001). 13 Grußworte zur Jubiläumstagung anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers am 5./6. November 1999 in der Evangelischen Fachhochschule Hannover Jan Tillmann Grußwort für die Evangelische Fachhochschule Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist meine Aufgabe, Sie im Namen der Evangelischen Fachhochschule Hannover zu begrüßen und willkommen zu heißen. „GLOBALE WELT - WAS TUN?“ ist Ihre Frage, und gleichzeitig feiern Sie das 70-jährige Bestehen der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft. Gegründet also: 1929. Jede und jeder von Ihnen weiß, welche ökonomische Bedeutung dieses Jahr hatte. Aber führen wir uns diese Zeitspanne von damals bis heute kurz vor Augen: 1927 überquerte Charles Lindbergh als Erster mit einem Flugzeug den Atlantik - eine Sensation! Aber nur 42 Jahre später landete Neil Armstrong als erster Mensch auf dem Mond. Es ist eine irrwitzig-rasante technische Entwicklung, die sich in den letzten zwei Generationen vollzogen hat. In ihr lag die NS-Zeit mit dem Zweiten Weltkrieg, die Spaltung der Welt in Blöcke mit atomarer Bedrohung. Der Höhepunkt des Kalten Krieges war 1969. Dann kam der plötzliche Zusammenbruch des Ostblocks und das dann folgende Phänomen, das wir Globalisierung nennen. Hat es je eine so schnelle, völlige Veränderung der Welt gegeben mit so vielen Unstetigkeiten, Verwerfungen und Verwandlungen in den Beziehungen der Menschen untereinander? Wie wurden sie verarbeitet? Die Ziele der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft entnehme ich aus dem Einladungsschreiben. Darin steht ein mutiger und zugleich bescheidener Satz: „Die Studiengesellschaft greift soziale Fragen auf, die gegenwärtige Herausforderungen für die evangelische Kirche darstellen. Sie diskutiert und för15 dert ethisch und theologisch reflektierte Lösungsansätze.“ Das heißt nicht, dass Antworten gegeben werden, sondern dass Einsichten und Perspektiven gemeinsam überlegt und besprochen werden. Das ist eine weitsichtige und kluge Aufgabenstellung. Sie bedeutet, sich etwas vorzunehmen, was nicht in die „Shareholder-Value“-Mentalität der Gegenwart passt. Welch eine Aufgabe bei der rasanten Veränderung und ihren nicht absehbaren Folgen für das Zusammenleben der Menschen! Welch eine Aufgabe, wenn so etwas in dieser Gesellschaft aufgenommen, diskutiert und bedacht wird! Das geschieht abseits von drückenden Tagesentscheidungen und vollzieht sich gegen den wohlfeilen Strom des technisch-ökonomisch kontrollierenden Zeitgeistes. Es ist eine „Not-wendige“ Arbeit. Wer freiwillig eine solche Arbeit übernimmt, stellt sich gegen den offiziellen Strom der Effektivität. Es nötigt Respekt ab, wird mitunter auch belächelt. Ich glaube, dass sich durch solch ein Engagement die Welt verändern kann, weil Sorge getragen wird, dass sie lebenswert bleibt. Es gibt Denkmäler für unbekannte Soldaten. Es müsste auch Denkmäler geben für solche, die sich verantwortlich fühlen. Das bedeutet für das Thema „Globalisierung“: 1. Es gibt neben der allgegenwärtigen Wachstumsideologie auch ein Wachstum an Mut, Einsicht und anderen Perspektiven, auch wenn sie nicht unmittelbar erfolgsorientiert sind. Es ist tröstlich, dass Immanuel Kant in seinen „Prolegomena“ gesagt hat, dass die menschliche Vernunft mehr Fragen habe als Antworten. 2. Was an Veränderungen geschieht, ist kaum zu begreifen. Es ist nur schwer in unser existenzielles Erleben zu bringen. Das Weltbild, das ich als Kind hatte, war Deutschland mit ein bisschen Frankreich, England usw. darum herum. Dahinter begann eine riesige, unbekannte, verlockende Welt, ein Abenteuer. Für uns Ältere stammte diese Weltdimension am ehesten noch aus den KarlMay-Romanen, die wir lasen. Heute ist da ein Weltbild, das eher einer Vielzahl von Busbahnhöfen ähnelt, mit einigen Parks dazwischen. Alaska, Mexiko, Neuseeland - kein Problem! Mal eben telefonieren, mal eben hinfliegen. Ich trage zwei inkompatible Bilder dieser Erde in mir herum. Und wie dieses ein Beispiel ist, so gibt es ungeheuer viele neue Wirklichkeiten. Wie passen sie zusammen? Welche noch unbekannten Nebenwirkungen haben sie? Welche 16 Auswirkungen haben diese auf die sozialen Beziehungen? Wie kommt man klar mit den Geistern, die man rief? Wer wird sich für sie zuständig erklären? Es muss wohl Menschen geben, die sich außerhalb der wohlfeilen Trends engagieren. Ich wünsche Ihnen Mut, „Wachstum“, Einsichten und Perspektiven. Ich wünsche Ihnen und mir, dass es Ihnen in der Evangelischen Fachhochschule gefällt und dass Sie wiederkommen. 17 Grußwort des Vizepräsidenten des Landeskirchenamtes der Ev.luth. Landeskirche Hannovers, Dr. theol. Günter Linnenbrink Die Arbeit der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft habe ich während meines Dienstes in der Hannoverschen Landeskirche, - und das sind nun schon über 23 Jahre - immer aufmerksam verfolgt. Manche Beiträge und Publikationen habe ich mit Interesse und Zustimmung gelesen. Dankbar habe ich auch registriert, dass die Studiengesellschaft in zunehmendem Maße ihre Themen mit entwicklungspolitischen Gesichtspunkten und Erfahrungen verknüpfte. Auch das Globalisierungsthema ist ein solches. Ich wünsche der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft noch viele Dezennien der erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit und grüße Sie und alle Mitglieder herzlich. Grußwort des Landessuperintendenten Walter Herrenbrück (Synodalrat der Evangelisch-reformierten Kirche) Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers wird 70. In den Kreis der Gratulanten reiht sich die Evangelischreformierte Kirche gern ein. Beruf und Arbeit, Familie und Gesellschaft, Fragen der Ökologie und der Ökonomie und ... und: die Themenpalette, die auf den Tagungen der Studiengesellschaft verhandelt werden, ist breit. Die Themen sind aktuell und finden Aufmerksamkeit - nicht nur bei kirchlichen Insidern. Wenn die Studiengesellschaft im November 1999 sich auf ihre Jubiläumstagung mit „Lösungsperspektiven zur Globalisierungsproblematik“ befasst, dann wird deutlich, worum es geht: komplexe Tatbestände zu analysieren und nach Orientierungen zu suchen. Sozialwissenschaftliche Fragestellungen mit theologischen Aussagen zu verknüpfen, sachkundige Referentinnen und Referenten einzuladen, Zeit für Gespräche zu haben: das ist ein wichtiger Brückenschlag zwischen Kirche und Arbeitswelt, zwischen Kirche und Gesellschaft, zwischen Theologie und Humanwissenschaften. Das bleibt wichtig - auch über den 70. Geburtstag hinaus. 18 Grußwort des Landessozialpfarrers Otto Lange Der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt (KDA) hat erst vor einem Jahr sein 50jähriges Jubiläum gefeiert. Seine Ursprünge und seine Entstehungsgeschichte sind eng verbunden mit der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft, seiner „älteren Schwester“, zum Teil sind sie identisch. Diese Zusammengehörigkeit von Studiengesellschaft und KDA ist in unterschiedlicher Intensität immer erhalten geblieben. Wir haben gemeinsame Themen, Veranstaltungsformen und Akteure und wenden uns teilweise an dieselben Zielgruppen. Mit einem herzlichen Dank für die Bände 1 und 2 der „Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln“, die sich ausführlich mit dem Aufgabenfeld des KDA beschäftigen, verbinde ich unsere solidarischen Grüße und kräftigen Wünsche für die Jubilarin! Zur Fragestellung des Tagungsthemas gibt das „Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ (1997) eine Reihe sehr deutlicher Antworten - direkte und indirekte. Im Grunde durchzieht die globale Perspektive den ganzen Text; wird doch die Lage in Deutschland in allen wesentlichen Punkten in ihrer europäischen und weltweiten Einbindung betrachtet und bewertet. So erweist sich der Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ vom Inhalt her als programmatische Aussage über die Grundlagen einer anzustrebenden Weltwirtschafts- und Sozialordnung. Dieses politische Bekenntnis wird hergeleitet aus dem Glaubensbekenntnis: aus der sozialen Botschaft der Bibel, die als ökumenische eine internationale ist, wie es nicht anders sein kann. Stichworte sind: - die unveräußerliche Würde aller Menschen, - ihr Status als gleichberechtigte und mitverantwortliche „Sachwalter Gottes auf Erden“ im Horizont seines Reiches, - das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe sowie - Gerechtigkeit als „Schlüsselbegriff der biblischen Überlieferung, der alles umschließt, was eine heile Existenz des Menschen ausmacht.“ (Ziffern 93f., 103f., 108f.) 19 Unter der Voraussetzung, dass es beim produktiven Kompromiss zwischen der Freiheit des Marktes und dem sozialen Ausgleich als gleichberechtigten Säulen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft bleibt, sehen die Kirchen in dieser Ordnung weiterhin „den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik.“ (9) Dazu gehören im Kern der sozial gerechte Ausgleich und die Beteiligung und Teilhabe aller am gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben. (143) Diese Forderung ist nicht geographisch zu begrenzen. „Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten. Die Erwartung, eine ... gewissermaßen adjektivlose, reine Marktwirtschaft könne den Herausforderungen besser gerecht werden, ist ein Irrglaube.“ (11) Vor diesem Hintergrund wird das Ereignis „Globalisierung“ als zu gestaltende sozialethische und politische Aufgabe und nicht als Grund zur Aufgabe vor einer schicksalhaften Naturgewalt gesehen. Gegen die „ungehinderte Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen auf Weltebene“ und zugunsten der „Chancen wirtschaftlicher Entwicklung für die ärmeren Länder“ müssen die internationalen Organisationen der Staaten mit ordnungspolitischer Kompetenz ausgestattet werden, um „eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für wirtschaftliches und soziales Handeln“ durchsetzen zu können. (33;163) 20 Ingrid Lukatis Grußwort für das Pastoralsoziologische Institut 70 Jahre Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft – eine freie Vereinigung innerhalb der ev.-luth. Landeskirche! Ich danke ganz herzlich für die Chance, aus diesem Anlass ein Grußwort sprechen zu dürfen. Ich tue dies als Sozialwissenschaftlerin in der Landeskirche und derzeitige Leiterin des Pastoralsoziologischen Instituts der Evangelischen Fachhochschule Hannover – viele von Ihnen kennen unsere Einrichtung eher noch unter unserem alten Namen: Pastoralsoziologische Arbeitsstelle. Mich und unser gesamtes Institut verbinden doch gewissermaßen geschwisterliche Bande mit Ihrer inzwischen so traditionsreichen Initiative! Soziale Fragen aufzugreifen, die der Kirche als aktuelle Herausforderung begegnen, das ist schließlich unser gemeinsames Anliegen: Wie kann und soll die Kirche als Ganze auf Prozesse sozialen Wandels reagieren? Welche neuen Chancen eröffnen sich für Kirchengemeinden, für Pastorinnen und Pastoren, überhaupt: für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bezahlte und ehrenamtlich tätige? Vor welche Herausforderungen sehen sie sich gestellt? Um auf solche Fragen eine Antwort zu finden, bedarf es zunächst einmal des genauen Hinschauens. Solches „Hinschauen“ ist in dreifacher Weise erforderlich: Da ist zum einen die „Mikro-Betrachtung“, der Blick auf die unterschiedlichen „Lebensalltage“ der Menschen. Nur wer über den Horizont der eigenen Primärerfahrung hinausblickt, wird wenigstens in Ansätzen eine Vorstellung davon gewinnen, wie Menschen an verschiedenen Orten unserer Gesellschaft leben, wie unterschiedlich sie von sozialen und ökonomischen Veränderungsprozessen betroffen sind – als Junge und Alte, als Berufstätige und Arbeitslose, Arbeit-Suchende, als Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, und als finanziell Abgesicherte, als Deutsche und Ausländer, und nicht zuletzt: als Männer und Frauen. Die Kirche kann mit ihrer Verkündigung nur dann die Menschen erreichen, wenn sie bereit ist, sich in deren konkreten Erfahrungszusammenhang einzu21 klinken, d. h. das Evangelium unter „Alltagsbedingungen“ auszulegen. Das ist durchaus nicht gleichbedeutend damit, die christliche Botschaft im Alltag „aufgehen“ zu lassen, ihren „alltagstranszendierenden“ Charakter zu verwischen. Aber um den Alltag transzendieren zu können, ist zuerst einmal Verortung im Alltag notwendig. In dieser Einsicht liegt ein wichtiger Grund dafür, dass wir als PSI in der Kirche überhaupt Pastoralsoziologie betreiben und dafür, dass wir es in der von uns praktizierten Weise tun: Wir konfrontieren kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Lebenssituationen, Alltagserfahrungen, Problemen und Zukunftsperspektiven von Menschen und versuchen mit ihnen zusammen, solche – möglichst realitätsnahen – Wahrnehmungen mit kirchlicher Tradition und Lehre zu verbinden. Wo Mitglieder der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft sich durch Praxiserkundungen in an-„schau“-licher Weise Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten verschaffen, die ihnen zunächst einmal „fremd“ sind, da sind auch sie unmittelbar um die Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizontes bemüht. Darüber hinaus trägt die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft mit ihren Tagungen und Veröffentlichungen wesentlich dazu bei, Hilfen zur Erschließung „fremder“ Lebensumstände zu leisten. Die wissenschaftliche Buchreihe „Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln“ mit ihren bisher zwölf Bänden eröffnet solch neue Einblicke – z. B. in Veränderungen, die Menschen erfahren, wenn sie „erwerbsarbeits-los“ werden oder in Erfahrungen, wie Frauen sie in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen machen. Der andere „Pol“ solchen „Hinschauens“ wird markiert durch die „MakroPerspektive“. Das Thema, das im Rahmen dieser Jubiläumstagung bearbeitet wird, liefert ein geradezu klassisches Beispiel hierfür: „Globale Welt – Was tun?“ Gesellschaftliche und ökonomische Groß-Systeme kommen hier in den Blick; im konkreten Fall geht es buchstäblich um weltweite Entwicklungen und um die Bedeutung, die diese für das Leben der Menschen haben. Aus kirchlicher Sicht erwächst aus der Wahrnehmung solcher Veränderung die Herausforderung, Position zu beziehen: Sozial- und wirtschaftsethische Stellungnahmen sind gefordert, und die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft leistet dazu einen Beitrag, indem sie als Gesprächs- und Studienforum die notwendigen Debatten aufnimmt und weiterführt. 22 Die Arbeit unseres Instituts – ich habe eingangs ja von einer Art geschwisterlichem Nebeneinander gesprochen – ist an dieser Stelle als komplementär zu beschreiben: Vom PSI werden gesellschaftliche Veränderungen hauptsächlich dort thematisiert, wo dies der Kirche und ihren Teilbereichen helfen kann, ihr eigenes Verhalten gegenüber der Gesellschaft und ihren Mitgliedern im Licht solcher Wandlungsprozesse zu überprüfen – oder, anders gesagt: wo sie dazu herausgefordert werden. Beispielsweise konfrontiert die Beschäftigung mit dem gesellschaftlichen „Individualisierungsprozess“ die Kirche mit der Frage, wie christliche Lehrtätigkeit heute aussehen kann – angesichts wachsender Autonomie-Bestrebungen. Äußerungen, die in dogmatischer Weise Geltung einfordern, können sich da leicht als nicht „sach-dienlich“, weil Zugänge verschließend, erweisen. Wo Bedürfnisse nach Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit kirchlichen Redens aus solchen Autonomie-Bestrebungen resultieren, da ist die Entscheidung für einen differenzierten Lebensweltbezug bei der Weitergabe der christlichen Botschaft ein Resultat der Beschäftigung mit sozialwissenschaftlicher Einsicht. Zwischen Mikro- und Makro-Perspektive liegt jene Blickrichtung, die in den Sozialwissenschaften gern als die „intermediäre“ bezeichnet wird – also die nach der Organisationsgestalt, dem Organisationshandeln der Kirche. Wenn ich die Publikationen der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft zugrunde lege, so begegnet mir dieser Themenkreis als ein Haupt-Arbeitsfeld: Mehrfach geht es um die „soziale Arbeit“ der Kirche, um Diakonie als Versuch, die Nöte und Leiden der einzelnen Menschen im Kontext gesellschaftlicher Strukturen in den Blick zu nehmen, ihre „Bedingtheit“ durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu erkennen und institutionell handelnd auf solcher Erkenntnis aufzubauen. Einrichtungen des kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt und soziale Arbeit an erwerbslosen Menschen, diakonische Arbeit an unterschiedlichen Zielgruppen im großstädtischen Kontext oder unter Bedingungen des Strafvollzuges – das sind Themen, denen hier nachgegangen wird. Auch die Gestalt kirchlicher Berufe findet Beachtung – z. B. im Blick auf Diakonissen oder auf GemeindereferentInnen in der katholischen Kirche, ein Handlungsfeld, das sich, empirisch betrachtet, ebenfalls überwiegend als „Frauenberuf“ darstellt. Wie nehmen solche Berufe und das ihnen verfügbare Handlungsfeld gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf? 23 Resultieren aus der Entwicklung und Veränderung dieser Berufe umgekehrt neue Impulse für Gesellschaft und Kirche? Die enge Verbundenheit zwischen der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft und unserem Institut kommt also teils in gegenseitiger Ergänzung, teils in parallelen Fragestellungen und nicht selten eben auch in gemeinsamen Vorhaben zum Ausdruck. Aus solcher Nähe der Anliegen und Bestrebungen heraus also grüße ich Sie – zugleich im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen im PSI – zu dieser Jubiläumstagung sehr herzlich. 70 Jahre sind noch lange nicht genug! Wir freuen uns auf weitere Gelegenheiten zur Zusammenarbeit, wünschen der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft auch in Zukunft spannende, ertragreiche Diskussionen und Anstoß gebende Erkenntnisse, von denen nachhaltige Wirkungen ausgehen – zum Wohle von Kirche und Gesellschaft und der Menschen, die darin leben. 24 Tagungsbeiträge Globalisierung: Bedrohung oder Chance? Annette Kleinfeld 1. Einleitung Es zeugt von der Weisheit östlichen Denkens, dass im Chinesischen ein und dasselbe Schriftzeichen für „Chance“ und zugleich für „Gefahr“ steht. Unser Begriff „Risiko“ birgt die gleiche Ambiguität in sich. Von Risiko sprechen wir jedoch in der Regel nur dann, wenn es um eine Entscheidung unter Unsicherheit geht, um die Einführung eines neuen Produkts oder einer neuen Technologie etwa, deren Folgen in ihrer ganzen und langfristigen Tragweite aus Mangel an Erfahrungswerten nicht klar abschätzbar sind. Was derzeit unter diesem doppelten Vorzeichen diskutiert wird - der ökonomische Globalisierungsprozess, - zeichnet sich allerdings über die Unvorhersehbarkeit seiner mittel- und langfristigen Auswirkungen hinaus durch etwas aus, das die Debatte darüber von Diskussionen wie der über die Einführung der Transrapid-Schwebebahn deutlich unterscheidet. Die gegenwärtige Erörterung von Chancen und Gefahren der Globalisierung dient nicht der Entscheidungsfindung, ob das fragliche Projekt verwirklicht werden soll oder nicht. Diese Wahl ist längst gefallen mit der Entscheidung für das marktwirtschaftliche System als das beste aller möglichen Wirtschaftssysteme. Der freie Weltmarkt oder zumindest Marktwirtschaft im Weltmaßstab so fordert es die Logik dieses Systems - ist und bleibt das erklärte Endziel seiner 25 Theoretiker - solange wenigstens, bis man doch noch irgendwann konsumtaugliches Leben im All ausfindig gemacht haben wird. Wir sind nun die Zeugen, wie diese Vision eines globalen Marktes Wirklichkeit wird. Wir sind auch diejenigen, die angesichts der zunehmend spürbaren Auswirkungen dieser Entwicklung für die nationalen Volkswirtschaften Überlegungen über die Chancen und die möglichen Gefahren anstellen können, spekulativ, prospektiv, - stoppen allerdings, vielleicht weil uns die optimistischen Prognosen derer, die diesen Prozess begrüßen, nicht überzeugen, - stoppen können wir das Ganze zumindest unter den gegenwärtig gegebenen Bedingungen wohl nicht mehr. Empfiehlt es sich da nicht, die skeptisch-pessimistische Perspektive lieber gleich aufzugeben, sich auf die Seite der Optimisten zu schlagen und angesichts des unaufhaltsamen Globalisierungsgeschehens einfach in Gelassenheit zu üben? Die Tugend der Gelassenheit erschöpft sich jedoch gerade nicht in der Einnahme einer fatalistischen Position dieser Art, sondern besteht - aristotelisch ausgedrückt - in einer Art und Weise des Wirklichkeitsbezugs, der die Mitte bildet zwischen Fanatismus und Fatalismus. Als solche verhilft diese Haltung dazu, in die Wirklichkeit einzugreifen, wo es möglich und gefordert ist, und den Dingen ihren Lauf zu lassen, wo nichts mehr zu tun bleibt, ohne jedoch daran zu verzweifeln und alles „hinzuwerfen“. Ersteres setzt eine bewusste, analytisch-kritische Haltung gegenüber der Wirklichkeit voraus, die dazu befähigt, die Möglichkeiten ebenso wie die Grenzen des eigenen Handelns zu erkennen. Voraussetzung für das zweite, für das Loslassen-Können als nichtresignative Akzeptanz der eigenen Begrenztheit, ist das Vertrauen-Können auf eine übergeordnete Macht, die den Weltlauf auch ohne das Zutun des Menschen zum Besten fügt. Ich selbst denke dabei eigentlich an etwas anderes als an die „unsichtbare Hand“ des Marktes; bezogen auf die Globalisierung scheint es jedoch eben dieser Glaube an den Marktmechanismus zu sein, aus dem sich der gelassene Optimismus seiner Befürworter speist. Was bleibt, neben diesem wie auch immer begründeten Ur-Vertrauen, ist der erste Aspekt: zu prüfen, ob und inwiefern der Mensch selbst dazu beitragen kann, aus dem bislang noch fraglichen Guten das Beste zu machen, ob und wie sich in den Vollzug des Globalisierungsprozesses eingreifen lässt, um etwaige externe Effekte von vornherein zu vermeiden, anstatt sie hinterher mühsam internalisieren zu müssen. Besagte kritische Haltung scheint mir dafür eine wesentliche Bedingung zu sein. 26 Und aus eben einer solchen Perspektive heraus möchte ich im Folgenden zunächst die unmittelbaren Konsequenzen und begleitenden Phänomene der Globalisierung kurz skizzieren, die sich auf nationaler wie internationaler Ebene heute abzeichnen. In einem zweiten Schritt versuche ich die Fragen herauszuarbeiten, die mir dabei unter philosophischen, ethischen und wirtschaftsethischen Gesichtspunkten als relevant erscheinen. 2. Die Ermöglichungsbedingungen der Globalisierung Es sind vor allem drei Faktoren, die der „neuen industriellen Revolution“, wie die Globalisierung von einigen Ökonomen und Politologen genannt wird, Bahn gebrochen haben: (a) der zunehmende Abbau von internationalen Handelsschranken während der letzten Jahre, initiiert bzw. verstärkt durch den Fall des eisernen Vorhangs und dessen, was sich dahinter verschanzte - des Kommunismus, der - wie es nun scheint - das letzte und einzige Bollwerk gegen die Macht entfesselter Marktkräfte im Weltmaßstab gebildet hat; (b) die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Bereich der Mikroelektronik und Telekommunikation. Durch PCs, Telefax, Glasfaserkabel, Satelliten, hochauflösende Monitore und Modems zur Datenfernübertragung können Firmengeflechte weltweit gesteuert werden, kann das Know-how von Spezialisten eines Landes mit dem Wissen und den Talenten von Spezialisten anderer Länder zu intellektuellen Synergien verbunden und optimal genutzt werden. Dies ermöglicht es nicht nur multinationalen Konzernen, ihr expandierendes Imperium mit einer Handvoll Mitarbeiter vom Ursprungsland aus zu regieren. Gleichzeitig verstärkt es den Entwicklungstrend, große Massenproduktionsunternehmen mit einem bürokratischen Aufbau und Arbeitsstil durch Out-Sourcing, Dezentralisierung und Lizenzvergabe in Firmennetze aus zahlreichen eigenständigen Untereinheiten (kreative Teams, unabhängige „Profit-Centers“, Ableger-Partnerschaften) umzuwandeln, d. h. schwerfällige, verkrustete „Kernunternehmen“ durch flexible, 27 problemlösungs- und innovationsorientierte „Qualitätsunternehmen“ zu ersetzen 1 . Am stärksten tobt der „Rausch der Globalisierung“ aber auf den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten. Zu den technologischen Voraussetzungen kommt als Ursache dafür, dass das Kapital der „mobilste“ Faktor ist, der zugleich am sensibelsten auf veränderte Standortbedingungen aller Art reagiert, sofern diese das Risiko- und Ertragskalkül der Anleger beeinflussen. Verschlechtern sich diese Bedingungen in einem Land in signifikanter Weise, kommt es zur „Kapitalflucht“. Das Gleiche gilt für den umgekehrten Fall. Die Folge ist ein enormer „Disziplinierungseffekt“ für alle Betroffenen, der sich auf die Güter und Dienstleistungen erbringende Realwirtschaft der einzelnen Länder spürbar niederschlägt. Die zunehmende Orientierung der großen Konzerne am berühmt-berüchtigten „ShareholderValue“ ist in erster Linie eine - angeblich oder tatsächlich - gebotene Reaktion auf diese Entwicklung 2 . Dank der weltweiten Vernetzung gibt es darüber hinaus im globalen Spekulationskasino keinen Feierabend mehr. Las Vegas lässt grüßen: Morgens öffnet die Börse in Tokio, dann in Hongkong, am Nachmittag bestimmt Europa das Geschehen, und wenn Frankfurt und London schließen, übernimmt New York. Multimedia-Ticker sorgen dafür, dass jeder Broker weltweit über alle Kurse, alle Firmennachrichten und Charts zur gleichen Zeit, d. h. in „Real Time“ verfügt. Wer eine Sekunde eher reagiert, kann Millionen verdienen oder verlieren. Der Unterschied zu Las Vegas? Die Summen, die in diesem Kreislauf der vermeintlich ewigen Wiederkehr des Gleichen täglich bewegt werden, sind fast doppelt so hoch wie die Währungsreserven aller Zentralbanken. Hinter den Billionen Mark, die weltweit transferiert werden, stehen unmittelbar keine Firmen und Waren, sondern Wetten auf die Zukunft. Würden alle Spieler auf einmal das Kasino verlassen und ihre Chips eintauschen wollen, wäre das Erwachen aus der virtuellen zur eigentlichen Wirklichkeit ein böses. 1 Vgl. Robert B. Reich : Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie, Frankfurt a.M. 2 (Fischer) 1996, S. 93ff, 104ff, 126. Vgl. P. Ulrich : Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern, Stuttgart, Wien (Haupt) 1997, S. 379ff. 28 Der dritte Ermöglichungsfaktor der Globalisierung steht in engem Zusammenhang mit der beschriebenen technologischen Entwicklung: (c) ein grundlegender Wandel des Produktionsfaktors Arbeit von der körperlichen zur Kopfarbeit, die an keinen Standort mehr gebunden ist. Dass Wissen Macht bedeutet, ist uns seit längerem geläufig; dass Wissen zum entscheidenden Produktionsfaktor geworden ist, wichtiger als Arbeit und Kapital, verleiht dieser Weisheit eine neue - eine ökonomische Dimension. Gemeint ist folgerichtig auch nur ökonomisch relevantes Wissen, d. h. technisches Spezialwissen und jenes Wissen, das in der postmodernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft immer stärker an Bedeutung gewinnt und zu dem befähigt, was der amerikanische Arbeitsminister Robert B. Reich in seinem einschlägigen Werk „Die neue Weltwirtschaft“ symbolanalytische Dienstleistungen nennt 3 , d. h. die Problemidentifizierung, Problemlösung und strategische Vermittlung von Lösungen. Die Wissensarbeiter und Symbolanalytiker sind die Katalysatoren der neuen industriellen Revolution, wie es der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin formuliert 4 . Sie halten die Hightech-Wirtschaft am Laufen. Wissen und technische Fertigkeiten werden in Zukunft die einzigen Quellen etwaiger Wettbewerbsvorteile sein, schließt daraus sein Kollege Lester Thurow 5 . Dieses Wissen aber, so etwa Siemens-Chef Heinrich von Pierer in einem Interview mit dem „SPIEGEL“ 6 , ist weltweit vorhanden und durch die internationale Vernetzung auch jederzeit verfügbar. Man kann es dort „einkaufen“, wo es am billigsten ist. Und genau das passiert. Zum echten Wettbewerbsfaktor wird die Herausbildung einer geistigen Elite von Forschern, Biotechnikern, Ingenieuren, Unternehmensberatern und Programmierern also nur dann, wenn ihre Leistung unterhalb des Preisniveaus bleibt, auf dem vergleichbare Leistungen aus Schwellenländern wie 3 4 5 6 Vgl. Robert B. Reich, a.a.O., S. 198ff. Vgl. Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Frankfurt a.M., New York (Campus), 3. Aufl. 1995/96, S. 112. Vgl. Lester Thurow: The Future of Capitalism. How Today's Economic Forces will Shape Tomorrow's World, London (Staples) 1996, S. 167ff. Vgl. dazu "Allein der Markt regiert", in: DER SPIEGEL 39/1996, S. 87. 29 Indonesien oder Malaysia angeboten werden, die inzwischen auch auf diesem Sektor massiv aufholen. Was sind nun die Folgen dieser Veränderungen und inwiefern beeinflussen und gestalten sie den Globalisierungsprozess? Produktion auf der Basis des neuen, alles entscheidenden Produktionsfaktors „Wissen“ hat zwei neue Komponenten: 1. eine Vergrößerung der sogenannten Skalenerträge („economies of scales“). Das bedeutet: der produktive Beitrag des Produktionsfaktors Wissen wächst schneller, als er im Produktionsprozess verbraucht wird. Denn Wissen kann für mehrere verschiedene Produktionsprozesse gleichzeitig eingesetzt, ohne dabei aufgebraucht zu werden 7 . 2. der Produktionsprozess ist nicht mehr an Standorte gebunden. Die heute marktführenden Branchen, die zugleich die Branchen der Zukunft sind, nämlich Mikroelektronik, Biotechnologie, Telekommunikation und Computerindustrie, können sich so gut wie überall in der Welt ansiedeln. Die Wahl des Standorts richtet sich nicht mehr nach geologischen oder geographischen Gegebenheiten, weil die Produktion nicht mehr von Rohstoffquellen oder Bodenschätzen abhängig ist. Kapital kann - dank des beschriebenen Netzes innerhalb der Finanzwelt - bei Banken und Börsen in aller Welt aufgenommen werden. Die Folge ist, dass im Zentrum des heutigen Globalisierungsprozesses - anders als Ende des 19. Jahrhunderts, als die Weltwirtschaft im Zuge des Imperialismus schon einmal zusammengewachsen war - nicht der Handel oder die Gewinnung von Rohstoffen für die Produktion im Heimatland steht, sondern die Verlagerung der Produktion und ganzer Fertigungsstätten in andere Länder und Kontinente. Der internationale Wettbewerb ist somit primär ein Wettbewerb um Standorte geworden. 7 Vgl. dazu Peter Koslowski: "Die zunehmende Bedeutung und Globalisierung der Märkte. Konsequenzen für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur", in: P. Koslowski (Hrsg.): Weltwirtschaftsethos. Globalisierung und Wirtschaftsethik, Wien (Passagen) 1997, S. 47-78, hier S. 50. 30 Wonach richtet sich aber nun diese freie Wahl des Standorts? Danach, wo es neue, kaufkräftige Absatzmärkte gibt, deren Bedarf durch bloßen Export im Heimatland hergestellter Produkte gar nicht mehr gedeckt werden kann wie zum Beispiel China. Durch die Herstellung vor Ort können die Produkte darüber hinaus stärker auf die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen Marktes zugeschnitten, die ungesättigten Märkte somit in optimaler Weise erschlossen werden. So sagen zumindest die Einen wie etwa von Pierer. Die Anderen sagen: Neben den willigen Konsumenten sind es vor allem die billigsten Arbeitskräfte, die besten Techniker, die schnellsten Lieferanten oder aber die geringere Höhe der Steuersätze und bürokratischen Hürden, die die großen Unternehmen dazu veranlassen, als Standort ihrer Fertigung dem einen Land gegenüber einem anderen, immer häufiger gegenüber dem eigenen, den Vorzug zu geben. Damit kommen wir zu den Auswirkungen der Globalisierung für die nationalen Volkswirtschaften. 3. Die Auswirkungen auf nationaler Ebene Die nationalen Regierungen stehen den oben dargestellten Entwicklungen machtlos gegenüber. Und was noch schwerer wiegt, es scheint, als wären sie dabei, ein zusätzlicher Spielball der „Global Players“ im freien Spiel der Marktkräfte zu werden. Denn mit dem Wettbewerb um Standorte und damit um Arbeitsplätze sind die Nationalstaaten erpressbar geworden, zumindest für die großen Konzerne: Wird ihren Forderungen nach Subventionen oder Steuervergünstigungen kein Gehör geschenkt, drohen sie damit, ins Ausland abzuwandern. Angesichts der bereits bestehenden, alarmierend hohen Arbeitslosigkeit, für die demographische Verschiebungen, ein Lebensformenwandel und der wirtschaftliche Produktivitätsanstieg durch die Rationalisierung und Automatisierung der letzten Jahre entscheidend mitverantwortlich sind, fügen sich die Regierungen. Doch der neue Exportschlager Deutschlands, so formuliert es bissig der „SPIEGEL“ 8 , heißt trotzdem „Arbeitsplätze“. 8 Vgl. „Allein der Markt regiert", a.a.O., S. 84. 31 Unter diesen Bedingungen Maßnahmen wie die lange diskutierte Öko-Steuer durchsetzen zu wollen, um damit eine zusätzliche Hürde für Investitionen vor allem auch ausländischer Firmen in Deutschland zu schaffen, scheint utopisch. Aber nicht nur das Attribut „ökologisch“, das dadurch für unsere Marktwirtschaft konkretisiert werden soll, steht derzeit auf dem Prüfstand. Mit den sinkenden Beschäftigungschancen ist der aus den 50-er und 60-er Jahren stammenden Konzeption unseres bisherigen Sozialstaates ihre normative Grundlage genommen: die Ausrichtung auf Vollbeschäftigung. Sofern diese Grundvoraussetzung jeder komfortablen Sozialpolitik angesichts der genannten Entwicklungen auch in absehbarer Zukunft nicht mehr zu gewährleisten sein wird, kommt man um eine Reform der staatlichen wie der betrieblichen Sicherungssysteme nicht herum, und so scheint ein Abbau insbesondere von übertariflichen und firmenspezifischen Sonderleistungen, die unsere Marktwirtschaft bislang als „soziale“ ausgewiesen haben, unvermeidlich. Für eine solche Reform lässt sich durchaus auch unter wirtschaftsethischen Gesichtspunkten plädieren, sofern die konkreten Reformschritte auf der Grundlage ethischer Gerechtigkeitskriterien vollzogen werden und dazu führen, dass die wirklich Bedürftigen künftig stärker berücksichtigt werden. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der wirtschafts- und unternehmensethischen Debatte der letzten Jahre, dass sich Ethik und Effizienz keineswegs ausschließen und dass es häufig gerade ineffiziente Strukturen und Regelungen sind, die zugleich unmoralische und sozial unverträgliche Auswirkungen haben. Dass dies nicht nur für unsere staatlich geregelten, sondern auch für verteilungsorientierte sozialpolitische Maßnahmen in Betrieben gilt, wurde u. a. auf der Jahrestagung 1997 des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik - European Business Ethics Network (EBEN Deutschland e.V.) - in Seeheim-Jugenheim (Hessen), überzeugend dargestellt 9 . 9 Vgl. dazu Annette Kleinfeld: „Gerechtigkeit, Globalisierung, Zukunft der Arbeit. Tagung des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik - EBEN Deutschland e.V.", in: DBW - Die Betriebswirtschaft 5/97, S. 737 - 739. 32 Schenkt man allerdings den Prognosen einiger der bereits oben zitierten amerikanischen Autoren Glauben, dann ist der derzeitige Streit um die Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaats sowie um Investitionen und Arbeitsplätze erst die Spitze des Eisbergs der mittelfristigen Globalisierungsfolgen. Ist denn, so fragt man sich in der Tat, die geforderte Senkung von Steuern und Lohnnebenkosten wirklich ein probates Mittel zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland im Konkurrenzkampf mit Verzichtsgesellschaften in Asien und Billiglohnländern fast vor der Haustür? Wie eingangs erwähnt, gibt es auch optimistische Stimmen. Wie lauten nun deren Argumente und Prognosen? Langfristig werden sich die Schieflagen im Bereich der Löhne und Gehälter zwischen den Ländern ausgleichen. Mit den Bedürfnissen der heranwachsenden neuen Wohlstandsgesellschaften werden auch die Lohnforderungen in diesen Ländern steigen und sich dem Westniveau angleichen. Gemäß dem Gesetz der „komparativen Kostenvorteile“ nach David Ricardo, das in verfeinerter Form auch heute noch von Wirtschaftswissenschaftlern vertreten wird, steigen Produktion und Einkommen in dem Maß, in dem Arbeitsteilung und Spezialisierung zunehmen. Mit der Globalisierung ist diese Arbeitsteilung im Weltmaßstab möglich. Wenn sich die einzelnen Länder auf das spezialisieren, wofür sie jeweils die besten oder meisten Ressourcen anzubieten haben - also etwa kapitalstarke Länder auf kapitalträchtige Produkte wie Hightech, Länder, die über ein großes Quantum an Arbeitskräften verfügen auf humankapitalintensive Produkte und sich damit internationale Wettbewerbsvorteile sichern, wird der Wohlstand auf die Dauer für alle zunehmen. Ist also die Globalisierung doch nicht das „Bermuda-Dreieck, in dem das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft“ gemeinsam mit unserem Wohlfahrtsstaat versinken wird, wie Peter Koslowski entschieden verneint10 ? 10 Vgl. P. Koslowski, a.a.O., S. 52. 33 Was genau gibt jedoch Anlass zu der Hoffnung, dass es gerade unsere „soziale Marktwirtschaft“ sein wird, die sich weltweit durchsetzt, und dass die Globalisierung langfristig die Reichtumsgrenzen zwischen den Kontinenten zum Verschwinden bringen wird? Lassen die geschilderten Entwicklungen insbesondere auf den globalen Finanzmärkten nicht einen ganz anderen Schluss zu, jenen nämlich, den HansPeter Martin und Harald Schumann 11 ziehen? Die Art und Weise, in der die Schere zwischen Arm und Reich die Welt teilt, wird sich infolge der Globalisierung in der Tat verändern: Das erwirtschaftete Kapital wird sich künftig neu verteilen. Ein Teil der Entwicklungsländer wird Anschluss finden an den Wohlstand des Westens, die Schwellenländer, allen voran die sogenannten „Tigerstaaten“, Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan, vor allem aber China, werden weiter aufholen und - so die längerfristigen Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) - uns überholen. Die Schere selbst jedoch wird größer werden, mit dem Unterschied allerdings, dass sie sich nicht mehr zwischen den reichen Industrienationen des Westens und den armen Kontinenten der Dritten Welt öffnet, sondern zwischen einzelnen Personen oder Schichten in allen Nationen der zusammenwachsenden Weltgesellschaft. Aber auch die Nivellierung der Wohlstandsdifferenzen zwischen den Ländern wird noch lange nicht die ganze Welt erfassen. Den Entwicklungsländern nämlich, so der Präsident des IWF, Michel Camdessus, die keinen Anschluss finden, weil sie weder über Waren verfügen, für die es in der Ersten Welt Märkte gibt, noch über Kapital, um selbst zu produzieren - geschweige denn über den neuen Produktionsfaktor „Wissen“ -, droht im Rahmen der neuen Weltwirtschaft die „Marginalisierung“12 . Und wird es nicht ebenso auch dem Anteil der Bevölkerung in den bisherigen oder zukünftigen Industriestaaten gehen, der keine qualifizierte Arbeitsleistung anzubieten hat, der nicht über die genannte „neue technische Intelligenz“ verfügt oder aber aus welchen Gründen auch immer zu dem notwendigen Wissenserwerb und den geforderten geistigen Leistungen nicht in der Lage, vielleicht auch einfach nicht willens ist? Wie steht es mit den „individuellen Lebenschancen“, die dank der genannten Entwicklungen in Zukunft nur noch von der persönlichen Leistung und Moti11 Hans Peter Martin, Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, Reinbek b. Hamburg (Rowohlt), 4. Aufl. 1996. 12 Zitiert nach DER SPIEGEL 39/1996, S. 95. 34 vation des Einzelnen abhängen13 , für die weniger Begabten, für geistig Behinderte, psychisch oder chronisch Kranke? Mit anderen Worten: Wer sind die Gewinner im „Global Monopoly“ und wer die Verlierer? Zu den Gewinnern wird neben den Anteilseignern der mächtigen Konzerne, die - begünstigt durch das Shareholder-Value-Konzept - daraus Kapital schlagen und es im globalen Kasino zu sich vermehrendem Einsatz bringen, bestenfalls besagte Elite von „Wissensarbeitern“ gehören. Gegenüber der Anzahl derer, die auf der Verliererseite stehen werden, ist sie jedoch verschwindend gering: 20 zu 80 nämlich, so Martin und Schumann in Anlehnung an Prognosen, denen zufolge im 21. Jahrhundert zwanzig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung ausreichen werden, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten14 . In den Industrieländern haben schon heute 30 Millionen Menschen keine Arbeit mehr - die höchste Zahl seit der Weltwirtschaftskrise im Anschluss an den Schwarzen Freitag von 1929, die dem ersten Globalisierungsschub seinerzeit ein Ende gesetzt hat. Dass es gerade amerikanische Ökonomen wie Lester Thurow und Jeremy Rifkin sind, die die Zukunft des Kapitalismus und der Arbeit in düsteren Farben malen, obwohl andernorts immer noch das „amerikanische Modell“ gepredigt wird, mag daran liegen, dass die Auswirkungen der „ökonomischen Zeitenwende“ qua Globalisierung in den USA schon deutlichere Ausmaße angenommen haben: Der Mittelstand bröckelt sichtlich, die Reallöhne sind auf das Niveau der siebziger Jahre abgesunken, und neben den Arbeitslosen bildet sich eine neue Klasse der „working poor“, die zwar Arbeit haben, aber kaum mehr verdienen als vergleichbar Beschäftigte in Ländern der Dritten Welt15 . Als Falle, in der die Gesellschaft untergehen wird, der der Welthandel doch eigentlich dienen soll, bezeichnet auch der britische Europa-Abgeordnete und Milliardär James Goldsmith die Globalisierung und plädiert für Protektionismus. Die Gewinner der Globalisierung erinnern ihn an die Gewinner 13 Vgl. dazu Peter Koslowski , a.a.O., S. 48f, S. 51f. 14 Vgl. dazu Martin / Schumann, a.a.O., S. 12ff. 15 Vgl. dazu Lester Thurow , a.a.O., S. 173. 35 eines Pokerspiels auf der Titanic, die nicht anders als die Verlierer dem baldigen Untergang geweiht waren16 . Aber kann man der potentiellen Falle durch Protektionismus entgehen? Und falls ja, wie ließe sich diese Strategie angesichts der wachsenden Ohnmacht der nationalen Regierungen noch durchsetzen? Das führt zu einer weiteren Frage, die in den folgenden Abschnitten vertieft werden soll: Wer sind überhaupt die Akteure, die diesen Prozess in Gang gesetzt haben und mit aller Kraft vorantreiben? Wer sind sie und von welcher Motivation sind sie geleitet? Anders formuliert: auf welcher ethischen Grundlage vollzieht sich die Globalisierung? Oder gibt es gar keine frei entscheidenden Akteure mehr, womit sich die letztere Frage erübrigen würde? Liegt das Geschick der zusammenwachsenden Weltgesellschaft inklusive ihrer Nationalstaaten und regierungen - zumindest weltimmanent - nur noch in der „unsichtbaren Hand des Marktes“, vermeintlich oder tatsächlich geknebelt von ökonomischen Sach- und Wettbewerbszwängen, Opfern der Liberalisierung und Entgrenzung eines Systems, das als solches wohl in der Tat kaum mehr im Dienst des Menschen stehen kann, zumindest aber nicht mehr im Dienst der vielberufenen Entfaltung seiner individuellen Freiheit? Wenn dem so wäre, dann ist jedoch die Frage, die neben Goldsmith auch Martin und Schumann stellen, durchaus berechtigt: wie lange hat dann dieses System selbst noch Bestand? Zerstört der „Turbo-Kapitalismus“, wie die entfesselten Marktkräfte im Zuge der Globalisierung heute meist genannt werden17 , über kurz oder lang nicht die Grundlagen seiner eigenen Existenz: den funktionsfähigen Staat und die demokratische Stabilität? Vielleicht sollte man sich bei allem berechtigten Optimismus und Glauben an die wohlstandsfördernde Kraft des Marktmechanismus, die die oben gehörten pessimistischen Stimmen möglicherweise früher oder später widerle- 16 James Goldsmith: Die Falle und wie wir ihr entrinnen können. Holm (Deukalion) 1996, zitiert nach DER SPIEGEL 39/1996, a.a.O., S. 94. 17 Dieser Begriff wurde 1995 von dem amerikanischen Ökonomen Edward Luttwak geprägt und bezeichnet eine Situation, in der die wirtschaftliche Ertragslage von Unternehmen allen anderen Funktionen übergeordnet wird. Vgl. Jörg Staute: Das Ende der Unternehmenskultur. Firmenalltag im Turbokapitalismus, Frankfurt a.M., New York (Campus) 1997, S. 20. 36 gen wird, doch eines vor Augen führen: das, was das eigentlich Neue an dieser sogenannten „neuen industriellen Revolution“ der Globalisierung ist? Das spezifisch Revolutionäre des gegenwärtigen Prozesses besteht nicht nur darin, dass uns erstmals in der Geschichte der Menschheit, wie Lester Thurow hervorhebt, eine globale Wirtschaft zur Verfügung steht, in der alles überall und jederzeit produziert und verkauft werden kann18 , sondern darin, dass sich die Marktkräfte erstmals in der Geschichte der Marktwirtschaft jenseits eines verbindlichen politischen Ordnungsrahmens entfalten, jenseits ethischer und rechtlicher Begrenzungen, vor allem aber jenseits eines durch einen Nationalstaat und eine gemeinsame kulturelle und religiöse Identität konstituierten, homogenen Gemeinwesens. Eben diese Faktoren gehören aber zu den notwendigen Grundlagen des marktwirtschaftlichen Systems. Nicht nur die Stammväter der „Sozialen Marktwirtschaft“, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, auch der Begründer der Marktwirtschaft und Theoretiker der vielzitierten „unsichtbaren Hand“ selbst, nämlich Adam Smith, haben das Funktionieren des Marktmechanismus an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Nur in einem „einfachen System der natürlichen Freiheit“, so Smith, unterstützt von den drei Säulen Moral, Recht und Staat im Rahmen eines Gemeinwesens, das sich einerseits an allgemein gültigen Normen und Rechtsprinzipien orientiert und dessen Freiheitsrechte andererseits durch einen souveränen Staat und die von ihm verwalteten Gesetze geschützt werden, kann das Prinzip des Wettbewerbs die Verfolgung individueller Interessen für die Steigerung des Gemeinwohls fruchtbar werden lassen19 . Der globalen Marktwirtschaft in ihrer bisherigen Form fehlt es nicht nur an diesen Voraussetzungen. Durch die Entmachtung der nationalen Regierungen schwächt sie darüber hinaus gerade jene Institutionen, durch die diese Bedingungen hergestellt und damit zugleich in ihren eigenen Existenz- 18 Vgl. L. Thurow, a.a.O., S. 165. 19 Vgl. Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments (1759, London 1853), New York (Mc Millan) 1966, S. 122f., 166-170, 224-240. Vgl. auch H.C. Recktenwaldt: „Würdigung des Werkes", in: A. Smith: Der Wohlstand der Nationen, hrsg. v. H.C. Recktenwaldt, Ausgabe nach der 5. Aufl. des Originals „The Wealth of Nations“ (1776), London 1789, München (dtv) 1978, S. XLIff., XXXIIff. 37 grundlagen gesichert werden können. Dazu gehört nicht zuletzt eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die auf die ökonomischen Entwicklungen, die ja letztlich ihren Wohlstand fördern sollen, in politischen Willensbildungsprozessen Einfluss nehmen und sie steuern kann. Damit aber ein solches, den westlichen Gesellschaften analoges Gemeinschaftsgebilde im Weltmaßstab entstehen kann, gilt es zunächst jene Kräfte und Institutionen zu stärken, die dazu beitragen, dass sich das Zusammenwachsen der Welt nicht bloß auf rein ökonomischer Ebene vollzieht wie bisher. Der Weg dorthin ist weit. Vielen erscheint er gar nicht gangbar, und die Annahme, man könne sich irgendwann auf bestimmte Grundwerte als Voraussetzung gemeinsamer Spielregeln oder gar als Fundament einer gemeinsamen Verfassung einigen, wird angesichts der kulturellen Vielfalt und der Pluralität der Weltanschauungen als utopisch abgetan. 4. Der globale „Homo oeconomicus“ So ist und bleibt bis auf weiteres das einzig verbindende Element zwischen den „Global Players“ der Markt selbst und sein Gesetz des Wettbewerbs: das ökonomische Prinzip, Effizienz, Gewinnmaximierung, Produktivitäts- und Leistungssteigerung - die einzig verbindliche Orientierung für den global agierenden „Homo oeconomicus“. „Profit“, so Daimler-Chef Jürgen Schrempp, heißt das erklärte Ziel, das alle vereint. Worüber man sich ferner qua „World Wide Web“ interkulturell austauscht und auch regelmäßig Konsens erzielt, sind die neuesten Management-Tools, die die Erreichung dieses Zieles fördern sollen: „Lean Management“ und „Just-In-Time“-Produktion aus Japan, „Re-Engineering“ und „Down-Sizing“ aus den USA, und auch das „Shareholder-Value“-Konzept umrundete einmal den Globus, bevor es zu den anderen „Tools“ in die Trickkiste gepackt wurde. Der neue Typus des „Homo oeconomicus“, der die Globalisierung vorantreibt, zeichnet sich dadurch aus, dass er überall und damit nirgends mehr wirklich zu Hause ist, immer unterwegs per Flugzeug oder Internet - standortlos von Beruf. Aber auch die genannten Spezialisten der Zukunft, die Symbolanalytiker, haben in ihrem Job keine Chance mehr, Fuß zu fassen, 38 d. h. sich auf etwas einzulassen oder sich als Teil eines größeren Ganzen zu erfahren: „Werkerfahrung“, wie es Max Müller einst genannt hat20 , die dadurch zustande kommt, dass man an einem Produktionsprozess teilhat, mit dessen Ergebnis man sich identifizieren kann. Voraussetzung der symbolanalytischen Leistungen hingegen ist die permanente Einnahme einer MetaPerspektive. Idealtypus des Symbolanalytikers ist der Consultant der sich von außen und oben seinen Gegenständen zu nähern hat, heute hier, morgen dort meist im Alleingang oder in wechselnden Teams. Immerhin - er lebt, was er predigt: Mobilität - sie ist das Gebot der Stunde oder besser: der Globalisierung. Und weil dem so ist, lässt sich sein Mobilisierungsprogramm auch auf alles und jeden anwenden: nicht nur die Wirtschaft oder die einzelnen Firmen, die er berät, sollen davon erfasst werden, sondern auch deren Teile bis hin zum kleinsten Angestellten. Und hier wird auch deutlich, worum es inhaltlich geht: um Flexibilität, um das Vermögen der immer schnelleren Anpassung an die noch schneller sich ändernden Erfordernisse des Marktes, die die Globalisierung mit sich bringen. Dementsprechend wird nun auch die Persönlichkeit des Einzelnen zum Profit-Center, das sich ständig neu an der Nachfrage ausrichten muss. Mobilität bezieht sich also erst in zweiter Linie auf die physische Beweglichkeit, an erster Stelle auf Kommunikation und alle mentalen Ressourcen. Moral und die persönliche Lebensphilosophie werden dabei ebenso zu Marktfaktoren, die es den sich verändernden Bedingungen anzupassen gilt, wie der eigene Charakter21 . Der zeitgemäße Angestellte wird zur Durchgangsstation ausgebildet für eine Fülle von Daten und Informationen, die er unbeschränkt miteinander verknüpfen kann, ohne sich dabei mit ihren konkreten Inhalten zu belasten. Denn: Leichtes Gepäck erhöht die Mobilität. Schlüssel dazu ist das Denken in Prozessen. Es scheint, als würde die Elite der Zukunft eine Gruppe notorisch Heimatloser und geistig Entwurzelter. Eintauchen und fallen lassen können sie sich nur noch in die virtuelle Wirklichkeit des Cyber-Space. Verliert der erfolgrei- 20 Vgl. Max Müller: „Person und Funktion", in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 69, Hbd. 2, 1961/62, S. 371-404, hier S. 393. 21 Vgl. dazu Mark Siemons: „Das Regime der Berater. Wie mit der Globalisierung ein neuer Menschentypus in den Betrieben Einzug hält", in: FAZ, Nr. 232 v. 5.10.1996, Bilder und Zeiten. 39 che Mensch des 21. Jahrhunderts im Zuge der Globalisierungs-Revolution nach dem „bestirnten Himmel über sich“ (Kant ) nun auch noch den festen Boden unter sich? Es bleibt die Frage, die sich vor dem Hintergrund des gerade Geschilderten fast erübrigt, angesichts des genannten Defizits einer politischen und rechtlichen Rahmenordnung aber um so dringlicher stellt: Wie steht es mit dem „moralischen Gesetz“ in ihm? Denn ist dafür „Sesshaftigkeit“ im Sinne jener dauerhaften Verbundenheit mit einer bestimmten Gemeinschaft, Kultur und deren Werten, die es im Blick auf das dargestellte Mobilitäts-Ideal des symbolanalytischen Trainers gerade zu verlernen gilt, nicht die Voraussetzung? Der Verdacht drängt sich auf, dass die als theoretisches Hilfskonstrukt gedachte Fiktion der Wirtschaftswissenschaften in der Form des „Homo oeconomicus“, die hier - aber eben auch nur hier - ihre Berechtigung hat, einmal mehr zum Leitbild für die Gestaltung wirtschaftlicher Realität und für den in ihr handelnden Menschen geworden ist. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, fehlt es dieser Kunstfigur vor allem an dreierlei: an dem Bewusstsein seiner Endlichkeit, an der Einbettung in eine Gemeinschaft und - daraus resultierend - an einer Orientierung an ethischen Normen und Wertvorstellungen, die ihm qua sozio-kultureller Prägung durch diese Gemeinschaft zuteil wurden22 . Es ist auffällig, wie stark der oben skizzierte, globalisierte und globalisierende Wirtschaftsakteur diesem Schema entspricht. Als Surfer und Jetter zwischen den Kontinenten fühlt er sich bald keinem Kulturkreis mehr verbunden und das „moralische Gesetz“ in ihm ist der Gefahr der Relativierung ausgesetzt - weniger angesichts der Unterschiedlichkeit der Normen und Wertestandards der einzelnen Kulturen, mit denen er tagtäglich zu tun hat, als im Zuge des dargestellten Mobilisierungsprogramms. Aber gehört er dann am Ende nicht doch zu den Verlierern - in immaterieller Hinsicht, als Person, die auch er vor allem anderen ist? Im Begriff der Person kulminiert die spezifisch christlich-abendländische Deutung des Menschen. Dieses Selbstverständnis kommt insbesondere in einem bestimmten Strukturprinzip zum Ausdruck, das sich in der philosophischen und theolo- 22 Vgl. dazu Annette Kleinfeld: Persona Oeconomica. Personalität als Ansatz der Unternehmensethik, Heidelberg (Physica) 1998, S. 138-153. 40 gischen Tradition des Personbegriffs als durchgängiges Merkmal aufweisen lässt. In Anlehnung an die Einsichten der philosophischen Anthropologie, insbesondere Helmut Plessners, lässt sich dieses Strukturmerkmal als Moment der Zweieinheitlichkeit von Natur und Geist bestimmen, als Paradox der Gleichzeitigkeit von Einzigkeit und allgemeinem Sein, von Individualität und Relationalität23 . Der Mensch erfährt dieses Paradox u. a. als Spannung von Sollen und Sein, von Freiheit und Endlichkeit. Es erweist sich im Drang nach unbegrenzter Entäußerung einerseits, im Zwang zur Selbstbegrenzung aufgrund der faktisch gegebenen eigenen Begrenztheit oder aber als moralische Forderung zur Selbstbegrenzung an der Grenze zur Freiheit fremder Existenz andererseits. Wo der Bezug zu einer Gemeinschaft, die Einbettung in ein soziales Gefüge, nicht mehr gegeben ist, kann der zweite Aspekt, die menschliche Relationalität, nicht mehr lebbar und erfahrbar sein. Damit kann aber auch das, was Kant das „moralische Gefühl“ nennt und was es uns erleichtert, dem Sittengesetz gemäß zu handeln, nicht mehr entwickelt werden. Das genannte Strukturprinzip der Person muss darüber hinaus auch zum Strukturprinzip gesellschaftlicher Prozesse und Institutionen werden, wenn diese dem Spezifischen des Menschseins, das im Begriff der Person zum Ausdruck kommt, Rechnung tragen wollen. Marktwirtschaft ohne die prädikativen Erweiterungen, um die wir uns während der letzten Jahrzehnte bemüht haben und die sich im Zuge der Globalisierung als nicht mehr wettbewerbsfähige Faktoren zu erweisen scheinen - eine Marktwirtschaft also, die sich nicht als soziale und ökologische versteht und konzipiert ist, lässt den einen der beiden wesentlichen Aspekte des Menschseins außer acht: die natürliche Begrenztheit des Menschen, die sich u. a. in seiner Bedürftigkeit erweist, und die daraus resultierende Notwendigkeit der Selbstbegrenzung angesichts der Bedürftigkeit anderer. Der Globalisierungsprozess, wie er sich gegenwärtig vollzieht, scheint demgegenüber auf eine Wirtschaftsform hinauszulaufen, die das dargestellte Prinzip menschlicher Personalität nicht zum Strukturprinzip ihres Systems erhebt, somit aber dem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit und Mehr- 23 Vgl. dazu A. Kleinfeld, ebda., S. 159ff. 41 dimensionalität auf Dauer nicht gerecht werden kann. Aus der Kolonisierung der Lebenswelten durch die normative Kraft des ökonomischen Denkens, die Habermas in den siebziger Jahren für die westlichen Industrienationen geltend gemacht hatte24 , wird somit die Kolonialisierung der Welt im eigentlichen Sinn des Wortes durch den „Homo oeconomicus“ in der oben geschilderten, defizitären Form. Diese einseitige Dominanz des ökonomischen Systems kommt in der zunehmenden Bedeutung der Märkte für gesellschaftliche Vermittlungsprozesse und einem damit einhergehenden Funktionsverlust des Staates sowie politischer Abstimmungs- und Willensbildungsprozesse zum Ausdruck. Als solche erschwert sie jedoch gerade die Bildung einer neuen Ordnung im Weltmaßstab, folgt man den Überlegungen von Systemtheoretikern wie Talcott Parsons. Der Interpenetrations-Theorie Parsons zufolge ist die entscheidende Voraussetzung für die Bildung neuer Ordnungen und auch für jede gesellschaftliche Entwicklung zu höheren Stufen der Selbstentfaltung ein Gleichgewicht und eine wechselseitige Durchdringung analytisch differenzierbarer Handlungssubsysteme. Parsons unterscheidet vier primäre Handlungssubsysteme oder Sphären, die soziale Systeme strukturieren: 1. die Gemeinschaftssphäre auf der Basis religiösen und moralischen Handelns, 2. die kulturelle Sphäre, zu der er den menschlichen Wissens- und Erkenntnisdrang zählt, 3. die politische und 4. die ökonomische Sphäre. Solange sich nur die dynamisierenden Kräfte entfalten, die den letzteren beiden Sphären innewohnen, oder solange die vier Sphären isoliert nebeneinander stehen, sind anomische Erscheinungen die Konsequenz der Entwicklungen. Erst die Interpenetration von Gemeinschaftssphäre, kultureller, politischer und ökonomischer Sphäre kann neue Ordnungen schaffen und dies auf immer höheren Stufen, je mehr Interpenetrationszonen sich zwischen den Extrempunkten des vierdimensionalen Handlungsraums herausbilden25 . 24 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 3. duchges. Aufl., Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, S. 460. 25 Vgl. z. B. Talcott Parsons: „On the Concept of Political Power”, in: ders.: Politics and Social Structure. New York (The Free Press) 1969, S. 397-404; ders.: „Social Structure and the Symbolic Media of Interchange”, in: ders.: Social Systems and the Evolution of Action Theory. New York (The Free Press), S. 204-228; ders.: „A Paradigm of the Human Condi- 42 Um der einseitigen Dynamisierung der ökonomischen Sphäre entgegenzuwirken, die einer globalen Ordnungsbildung demnach gerade im Wege steht, gilt es zunächst, eine Schere zu schließen, die sich neben der neu gestalteten Armut-Reichtums-Schere herausgebildet hat: die Schere zwischen global denkenden Wirtschaftsakteuren und rein national denkenden Politikern. Letzteren käme die vordringliche Aufgabe zu, an der Stärkung jener Institutionen zu arbeiten, die zur Herstellung des bislang fehlenden politischen und rechtlichen Ordnungsrahmens im Weltmaßstab notwendig wären: multilaterale politische Beziehungen und ein internationales Rechtssystem. Dass dafür wiederum ein allgemein verbindliches Ethos, zumindest ein Kanon an bestimmten moralischen Grundwerten, auf die man sich interkulturell verständigen kann, als normatives Fundament die Voraussetzung bildet, dürfte zumindest im Westen Konsens sein. Dies wird u. a. von der gegenwärtigen Diskussion um ein Weltethos und die weltweite Durchsetzbarkeit der Menschenrechte widergespiegelt26 . Angesichts der einseitigen ökonomischen Form, in der sich die Globalisierung bislang vollzieht, scheint jedoch der Frage nach einem Weltethos die Frage nach der Begründbarkeit eines Weltwirtschaftsethos vorgelagert zu sein. 5. Globalisierung: Zusammenwachsen der Kulturen oder Kolonialisierung der Welt? Um zu verhindern, dass die gegenwärtigen Entwicklungen - wenige Jahre nach dem triumphalen Begräbnis des Marxismus-Leninismus - die Theorien von dessen geistigem Vater Karl Marx bestätigen, muss das, was im Anschluss an die ökonomischen Liberalisierungsschübe im 19. und 20. Jahrhundert im Westen entstanden ist, auf globaler Ebene wiederholt werden. Die im Weltmaßstab entfesselten Marktkräfte müssen in die gemäßigte und gebändigte Form einer sozialen Marktwirtschaft überführt werden, wie sie Europa, allem voran tion", in: ders.: Action Theory and the Human Condition. New York (The Free Press), S. 392-414. 26 Vgl. die Überlegungen Hans Küngs : Projekt Weltethos. München, Zürich (Piper)1990; ders.: Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München, Zürich (Piper) 1997. 43 Deutschland, während der letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Solche und ähnliche Forderungen sind u. a. die Reaktion auf die beängstigenden Visionen Lester Thurows und anderer von einem heranwachsenden neuen „Lumpenproletariat“, das im Kapitalismus keinen Platz mehr findet neben der Klasse der Wissensarbeiter, die Macht und Reichtum erlangt27 . Diese westliche Ausprägung der Marktwirtschaft setzt aber einerseits besagte politische Rahmenbedingungen voraus und impliziert andererseits ein bestimmtes Ethos. Dieses Ethos, so die Auffassung Peter Koslowskis, darf den anderen Ländern der Erde nicht vorenthalten werden28 . Die moralischen Grundwerte, die zur Etablierung des Modells der sozialen Marktwirtschaft beigetragen haben, ebenso wie die Ergänzung und Vertiefung dieses Ethos im Rahmen der wirtschaftsethischen Debatte der letzten Jahre im Westen sollten vielmehr die Stützpfeiler zunächst eines Weltwirtschaftsethos bilden. Langfristig könnte dieses wiederum zur Grundlage eines Weltethos werden, von dem das Handeln der künftigen Weltgesellschaft auch in den übrigen Sphären gesellschaftlichen Handelns im Sinne Parsons gleichermaßen durchdrungen ist. Zwei Probleme ergeben sich dabei aus meiner Sicht: 1. Was berechtigt uns dazu, gerade die Grundwerte des christlich-abendländisch geprägten Westens als Fundament eines Weltwirtschaftsethos zu postulieren? Und müsste man dann nicht eher von einer Weltwirtschaftsethik sprechen? 2. Wie lässt sich eine solche Ethik, die unabhängig von dem bestehenden Ethos der verschiedenen Kulturkreise formuliert wird, weltweit implementieren? Die Antwort auf die erstere Frage lautet: Weil diese Werte - Respekt vor der individuellen Freiheit und Würde der Person, Recht auf Eigentum, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, Verantwortung für die natürliche Umwelt etc. - universale Gültigkeit beanspruchen. Um die Begründung dieses Anspruchs 27 Vgl. L. Thurow, a.a.O.; vgl. auch H. Afheldt: Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder, München (Beck) 1994. 28 Vgl. P. Koslowski, a.a.O., S. 53. 44 hat sich die abendländische Moralphilosophie der Neuzeit zur Genüge bemüht. Es sind also philosophisch-ethische Argumente, die hier zum Tragen kommen. Ein begründeter Anspruch auf universale Gültigkeit ist aber nicht gleichzusetzen mit einer faktisch gegebenen globalen Geltung, die ein Weltwirtschaftsethos auszeichnen müsste. Universale Gültigkeit impliziert und legitimiert zwar den Anspruch auf letzteres, garantiert aber nicht gleichzeitig eine weltweite Implementierbarkeit, denn diese, die Durchsetzung ethischer Prinzipien und Normen, hängt noch von anderen Faktoren ab. Der Begriff „Ethos“ steht bekanntlich für die Summe geltender Normen und Wertvorstellungen, die sich in einem System im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Der Begriff „Weltwirtschaftsethos“ bezieht sich also auf das bestehende Wertsystem der globalen Wirtschaft. Ein einheitliches Ethos dieser Art existiert aber bislang noch nicht. Was es bereits gibt, ist zweierlei: (1) ein von rein ökonomischen Zielen und Werten geleiteter Prozess auf der normativen Grundlage einer sozialutilitaristischen Ethik angelsächsischer Prägung, der als solcher auf die Entstehung eines freien Weltmarktes mit dem Ziel eines größtmöglichen Wohlstands für die größtmögliche Zahl von Menschen ausgerichtet ist. Die Erreichung dieses Zieles soll dabei allein der Marktmechanismus garantieren. Er hat die individuellen Präferenzen der Akteure am Markt in Handlungen mit gemeinwohlförderlichen Auswirkungen zu transformieren. (2) eine Pluralität von Wirtschaftsgesinnungen und kulturspezifischen Ausprägungen eines Wirtschafts- und Arbeitsethos. Überall da, wo sich das marktwirtschaftliche System bereits durchgesetzt hat oder dabei ist, sich zu etablieren, entstehen neue Spielarten, die dadurch zustande kommen, dass sich das traditionell gewachsene und religiös geprägte Wertsystem der jeweiligen Länder mit den Anforderungen des marktwirtschaftlichen Systems verbindet. Im Idealfall gelingt eine fruchtbare Synthese, die dem wirtschaftlichen Wachstum und Entwicklungsprozess unmittelbar zuträglich ist, so wie Max Weber seinerzeit die protestantische Ethik als Faktor für den Aufstieg und die Entfaltung des Kapitalismus eingestuft hat29 . 29 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/1905). Hrsg. u. eingel. v. K. Lichtblau und J. Weiß, Weinheim (Beltz Athenäum), 2. Aufl. 1996. 45 Kann oder, besser gesagt, soll die Marktwirtschaft dabei nun als „trojanisches Pferd“ fungieren, mit dem der Westen sein christlich-abendländisch geprägtes Ethos - legitimiert durch besagten ethischen Universalismus - in andere Kulturkreise einschleust? Oder bleibt es bei dem oben angedeuteten Wirtschaftsimperialismus, bei der Kolonialisierung der bislang von Kommerz und Konsumrausch unbehelligten Teile der Welt durch das kapitalistische Prinzip? Dass letzteres eintritt, erhoffen sich zumindest die westlichen Politiker und Ökonomen. Sie stützen ja genau darauf ihre optimistischen Prognosen, dass sich die Unterschiede im Lohnniveau aufgrund der wachsenden Bedürfnisse in den heutigen Billiglohnländern mittelfristig ausgleichen werden. Aber setzen sie damit nicht voraus, dass auch ersteres über kurz oder lang eingetreten sein wird: die Relativierung des jeweiligen kulturspezifischen Ethos dieser Länder durch Orientierung und Adaption an das Leitbild des „Homo oeconomicus“ in der oben geschilderten Form? Könnte es nicht sein, dass die Weltauffassung in Ländern alt-buddhistischer und hinduistischer Prägung dieser Entwicklung im Wege steht? Warum sollte ein überzeugter, „orthodoxer“ Buddhist oder Hindu, für den das Leben im Hier und Jetzt bloßer Schein ist, respektive Durchgangsstation seiner Seele auf ihrem Erlösungsweg, Abarbeitung seines Karmas, diese Nichtigkeit der Welt plötzlich affirmieren und nach materiellem Reichtum streben? Doch wohl erst dann, wenn seine Kultur und die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, jenen Säkularisationsprozess durchläuft, den der Westen bereits hinter sich hat. Oder aber, weil sich zeigen sollte, dass es entgegen den Annahmen Max Webers neben dem Protestantismus auch noch andere Religionen und Weltanschauungen gibt, die zu einer produktiven Synthese mit dem marktwirtschaftlichen System in der Lage sind, wie es in Bezug auf die spezifisch japanische Ausprägung des Buddhismus, des Shintoismus und Konfuzianismus Japan, die Tigerstaaten und China vorgeführt haben. Schwierig und nahezu undenkbar erscheint jedoch eine solche Verbindung von religiöser Weltanschauung und Kapitalismus in hinduistisch geprägten Ländern, ohne dass die spezifischen Inhalte und die ethische Orientierung des Hinduismus grundlegend modifiziert, damit aber letztlich ausgehöhlt werden würden. Ein Blick auf die Zustände im heutigen Indien, wie sie beispielsweise Thomas Ross schildert, lässt kaum einen anderen Schluss zu: Die Atmosphäre von Ruhe und Wärme, von gelebter Spiritualität und Tradition, 46 die sich aus der spezifisch hinduistischen Einheit von Heiligem und Profanem speist, zieht nicht nur den westlichen Besucher in ihren Bann, sondern auch jeden Inder, egal wie lange er im Westen gelebt hat, damit aber zurück in ein vorindustrielles Zeitalter mit einem scheinbar unauflöslichen Kastenwesen30 . Der Hinduismus fördert Qualitäten und setzt Werte, die jenen, die wir für eine leistungsstarke Marktwirtschaft als notwendig ansehen, geradezu entgegengesetzt sind: Gefühl, Sensibilität, Anpassungsfähigkeit und eine schier unbegrenzte Fähigkeit, mit Chaos und Anarchie zu leben, zeichnen nach Ross den typischen Hindu aus, während Disziplin, Leistungswillen, Durchsetzungskraft, Entscheidungs- und Innovationsfreude auf dem Boden der traditionellen indischen Kultur nur schlecht oder gar nicht gedeihen können31 . Es scheint fast so, als würde die Zukunft der Weltreligionen, respektive das Schicksal der von ihnen geprägten Völker, davon abhängen, ob sich ihr traditionelles Ethos, ihre nationale Mentalität und andere kulturspezifische Gegebenheiten mit dem Wertsystem des Kapitalismus vereinbaren oder gar dafür fruchtbar machen lassen. Im Zuge der Globalisierung sind wir dadurch mit einem neuen Phänomen konfrontiert: mit einem Wettbewerb der Kulturen. Vielleicht wird ja irgendwann auch die religionswissenschaftliche Frage nach dem „Ranking“ der Weltreligionen auf diesem Wege entschieden werden können - durch Bezugnahme auf das Kriterium wirtschaftlichen Erfolgs, den ein Land dank seines religiös untermauerten Wirtschaftsethos errungen hat. Die Position eines christlichen Exklusivismus könnte ja den weltweiten Siegeszug der Marktwirtschaft auf der Basis eines überwiegend christlich geprägten Wertsystems durchaus in dieser Hinsicht und damit als ihre Bestätigung deuten, wenn es da nicht besagtes Gegenbeispiel der buddhistisch und konfuzianistisch bestimmten asiatischen „Neuaufsteiger“ gäbe. 30 Vgl. Thomas Ross: „Hinduismus", in: Marktwirtschaft Teufelswerk? Die Weltreligionen + Die Wirtschaft, hrsg. v. informedia-Stiftung, Gemeinnützige Stiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik, Köln (informedia-Stiftung) 1992, S. 73-83. 31 Vgl. T. Ross, ebda., S. 76. 47 Man mag Überlegungen dieser Art für absurd, vielleicht sogar für blasphemisch halten. Erinnert man sich aber des oben dargestellten Beratungsprogramms für Unternehmen im Zeitalter der Globalisierung, in dessen Kontext Persönlichkeit als Profit-Center gedeutet wird, dann erscheint es doch ziemlich naheliegend, neben Charakter und Lebensphilosophie auch Religiosität in erster Linie als Marktfaktor aufzufassen. Wo das Wohl der Menschheit rein materiell bestimmt wird, das Bewusstsein der Erlösungsbedürftigkeit verschwindet und die Frage nach dem Heil und Seelenfrieden des Menschen von dem Streben nach einem rein innerweltlich bestimmten Glück abgelöst wird, liegt da die Annahme so fern, dass auch die Religion früher oder später nur noch in ihrer funktionalen Bedeutung dafür gesehen werden wird? Und wo der Glaube an eine transzendente Macht, die die Geschicke des Menschen in letzter Hinsicht zum Besten lenkt, durch den Glauben an den Marktmechanismus mit analogen Fähigkeiten und Wirkmöglichkeiten ersetzt wird, muss da nicht konsequenterweise an die Stelle des religiösen Ethos, das im Dienst menschlicher Erlösung stand, ein ökonomisches Ethos treten, das der Erreichung des nun zum höchsten avancierten Zieles materiellen Wohlstands dient? Die tröstenden Worte der Manager sich globalisierender Unternehmen in Deutschland - „keine Sorge, in ein paar Jahren sieht alles ganz anders aus“ bedeuten sie nicht letztlich: „keine Sorge, in ein paar Jahren wird der neue 'Heilsweg', den die Marktwirtschaft weist, auch in denjenigen Ländern als allein gültiger und zu gehender akzeptiert worden sein, denen heute noch ein traditionsbedingter überdurchschnittlicher Arbeitseifer und eine religiös motivierte Verzichtsbereitschaft Wettbewerbsvorteile gegenüber dem Westen bescheren“? Und zeigt nicht die Entwicklung eben hier, im Westen, dass diese Zukunftsvision gute Chancen hat, Realität zu werden? Was Max Weber noch auf den Protestantismus zurückführen konnte und was seinerzeit in der Tat noch an bestimmte religiöse Vorstellungen rück- und eingebunden war - ein bestimmtes Arbeitsethos - hat sich längst aufgelöst, das Streben nach materiellem Wohlstand verselbstständigt. Arbeit im Sinne von Leistung ist zum Selbstzweck geworden, Erfolg im Sinne erfüllter Leistung, die sich bezahlt macht, zur einzigen Quelle, aus welcher der moderne wie der postmoderne Mensch sein Selbstwertgefühl schöpfen kann. 48 Trotz allem soeben geäußerten Pessimismus meine ich, dass im Kontakt und Aufeinandertreffen unterschiedlicher Nationalitäten und kultureller Identitäten, zu denen es im Zuge der Internationalisierung von Unternehmen verstärkt kommt und kommen wird, eine der größten Chancen der Globalisierung liegt, dann nämlich, wenn die Schlüsselqualifikation der sozialen Kompetenz, die während der letzten Jahre von Führungskräften wie Mitarbeitern zunehmend gefordert worden ist, im Kontext der Globalisierung aus sachlich gebotenen Gründen zur interkulturellen Kompetenz erweitert wird. Entsprechende Fortbildungskurse und interne Schulungen lassen sich als erste Anzeichen dafür werten, dass deren Relevanz zumindest von den größeren Unternehmen bereits gesehen wird. Dies könnte auch die Rettung für den oben dargestellten, von Entwurzelung und kultureller Heimatlosigkeit bedrohten Typus des globalen Wirtschaftsakteurs bedeuten. Denn um analysieren zu können, inwiefern die neuartigen Management- und Führungsprobleme, die sich auf internationaler Ebene ergeben, durch interkulturelle Differenzen bedingt sind, muss er zunächst einmal seine eigene soziokulturelle Prägung reflektieren und sich bewusst machen, inwiefern diese sein alltägliches Handeln implizit oder explizit bestimmt. In der damit verbundenen notwendigen Rückbesinnung auf seine kulturelle Identität und religiöse Verwurzelung liegt die Chance, sie für sich selbst qua geistiger Vergegenwärtigung lebendig zu erhalten und so zu bewahren. In der Konfrontation mit dem ganz Anderen fremder Kulturen und in dem Bemühen, dieses Andere erfassen zu wollen, kann und muss er darüber hinaus jene Aspekte und Vermögen seiner Personalität zur Entfaltung bringen, die ihn zugleich als moralische Person ausmachen und die er dem oben genannten Paradox der Gleichzeitigkeit von einzelnem und allgemeinem Sein verdankt: die Fähigkeit nämlich, die rein egozentrische Perspektive aufzugeben, den subjektiv bestimmten Standpunkt zeitweilig zu verlassen, sich in den anderen hineinzuversetzen und so zu „ver-stehen“ im eigentlichen Bedeutungssinn des Wortes. 49 6. Die Entstehung eines Weltwirtschaftsethos Der notwendige Erwerb interkultureller Kompetenz, der sich für die international tätigen Unternehmen aus dem pragmatischen Interesse an einem reibungslosen, weil nur dann effizienten Management ergibt, könnte als positive Nebenwirkung der ökonomischen Globalisierung - ganz im Sinne des Marktprinzips - zur Initialzündung für einen interkulturellen Dialog werden, der für das Zusammenwachsen der Weltgemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Hier liegt meines Erachtens das Potential für die Entstehung eines Weltwirtschaftsethos, das nicht zu besagtem trojanischem Pferd eines westlichen Kulturimperialismus wird. Ein solches Ethos aber kann nicht eingleisig begründet werden, sondern muss sich durch zunehmende Orientierung an interkulturell konsensfähigen und damit global verbindlich zu machenden Prinzipien in konkreten Handlungssituationen und Interaktionszusammenhängen allmählich herausbilden. Angesichts des praxisorientierten Kontextes, dem er entspringt, würde sich ein interkultureller Dialog dieser Art zunächst jenseits aller heiklen dogmatischen Fragen bewegen, wie sie etwa einen interreligiösen Dialog gleicher Zielrichtung bestimmen, so auch Küngs „Projekt Weltethos“. Damit ein interkultureller Dialog für die Verständigung auf ein gemeinsames Ethos fruchtbar gemacht werden kann, muss er auch auf der Meta-Ebene geführt werden, dann jedoch in der Form eines interkulturellen philosophischen Austausches. Dass damit zugleich implizit, aber eben nur implizit, ein interreligiöser Dialog stattfindet, ist dadurch bedingt, dass die Weltanschauung und die normativen Orientierungen einer Kultur entscheidend von den religiösen Überzeugungen abhängen, die sie geprägt haben. Die Frage, ob und inwieweit eine solche religiöse Prägung auch für die Entwürfe der neuzeitlichen Philosophie des Westens gilt, allem voran für die Ansätze eines ethischen Universalismus, gewinnt im Kontext der Diskussion um die leitenden Werte für ein Weltwirtschaftsethos neue Aktualität. Es bleibt zu klären, ob die Ethik-Entwürfe, wie sie insbesondere im Anschluss an Kant entstanden sind, an der Herausforderung scheitern, sich als global gültige Orientierungen bewähren zu müssen. Dies könnte geschehen, wenn sich zeigen sollte, dass die Werte, auf die dabei rekurriert wird, zu stark in der christlich geprägten abendländischen Kultur verwurzelt sind, als dass sie sich in und für andere Kulturen kommunizierbar machen ließen, oder, weil 50 sich zeigen sollte, dass ethische Prinzipien universaler Geltung eben doch nicht aus der „praktischen Vernunft“ jenseits aller Theologie ableitbar sind, wie Schopenhauer an Kants Anspruch einer Moralbegründung dieser Art kritisiert32 - eine Kritik, die sich jedoch gegenüber Schopenhauers eigenem Entwurf einer Mitleidsethik gleichermaßen geltend machen ließe. Aber nicht nur der ethische Universalismus westlicher Herkunft steht auf dem Prüfstand globaler Implementierbarkeit. Das Gleiche gilt für die wirtschaftsethischen Ansätze, die bislang von amerikanischen und europäischen Theoretikern vorgelegt wurden. Hier geht es neben der Frage der globalen Gültigkeit der ethischen Prinzipien, die diesen Konzepten jeweils zugrunde liegen, vor allem um die Frage, ob die vorausgesetzten Rahmenbedingungen im Weltmaßstab gegeben sind. Für ein demgegenüber interkulturell zu entwickelndes Weltwirtschaftsethos lässt sich auch aus ökonomischer Sicht plädieren, wenn man die Überlegungen der älteren Historischen Schule der Nationalökonomie zugrunde legt. Diesen zufolge kann auch die weltweite Implementierung des marktwirtschaftlichen Systems selbst nur dann erfolgreich sein, wenn dabei auf den jeweiligen kulturellen Kontext Bezug genommen, d. h. die kulturspezifischen Besonderheiten mit ins ökonomische Kalkül gezogen werden33 . Analog dazu müssten die Prinzipien ethischen Wirtschaftens im Weltmaßstab auf moralische Normen und Werte rekurrieren, die sich - wenn vielleicht auch mit einer anderen Begrifflichkeit - auch in anderen Kulturen auffinden lassen. Die Suche nach diesem kleinsten gemeinsamen Nenner im Ethos aller Kulturen bildet meines Erachtens die erste Voraussetzung für die Entwicklung eines Weltwirtschaftsethos auf einer Art drittem Weg zwischen der bloßen Akzeptanz eines pluralistischen ethischen Relativismus und der kul- 32 Vgl. Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, Kap. II, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. W. Frhr. v. Löhneysen, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1968, Bd. III, S. 642-715. 33 Vgl. Peter Koslowski : Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Weltwirtschaftsethos. Globalisierung und Wirtschaftsethik, a.a.O., S. 17-22, hier S. 19; zur Aktualität der Historischen Schule der Nationalökonomie für die wirtschaftsethische Diskussion vgl.: ders. (Hrsg.): The Theory of Ethical Economy in the Historical School. Wilhelm Roscher, Lorenz v. Stein, Gustav Schmoller, Wilhelm Dilthey and Contemporary Theory, Heidelberg (Springer), 1. Aufl., 1995, Nachdruck 1997. 51 turimperialistischen Durchsetzung eines ethischen Universalismus westlicher Prägung. Ein sinnvoller Anknüpfungspunkt eines solchen philosophisch geführten interkulturellen Dialogs könnte die Frage sein, in die nach Kant alle zentralen philosophischen Fragen münden und deren Gegenstand das ausmacht, was alle Menschen miteinander verbindet: ihr Menschsein34 . Denkbar wäre beispielsweise eine Untersuchung, ob sich das oben erwähnte Strukturprinzip der Zweieinheitlichkeit oder etwas diesem Prinzip Analoges im Menschenbild anderer Kulturen finden lässt. Oder ob und inwiefern die westliche Deutung des Menschen als Person erweitert werden muss, damit sie als Bezugspunkt fungieren kann zur Begründung ethischer Prinzipien und Wertorientierungen für das Handeln der Menschen in dieser Welt. Überlegungen dieser Art könnten darüber hinaus an den Tag bringen, was den eigentlichen Wettbewerbsvorteil der abendländischen Kultur ausmacht und sie zugleich als Marktführer in der Branche der Zukunft, den symbolanalytischen Diensten, ausweist: das Vermögen, übergreifende Ordnungsstrukturen auf der Basis demokratischer Grundwerte zu schaffen, d. h. Konzepte menschlichen Miteinanders zu entwickeln, die es erlauben, eine Mitte zu finden und zu leben zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, zwischen übertriebener Ich-Bezogenheit und einem vollkommenen Aufgehen im Allgemeinen einer Gruppe, wovon beispielsweise die Haltung der Menschen in asiatischen Kulturen - noch, aber wie lange noch? - geprägt ist. Personalität leben bedeutet beide Aspekte zur Entfaltung zu bringen: Individualität und Relationalität, persönliche Stärken und Talente ebenso wie die Synergien, die sich durch Kooperation mit anderen in einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft ergeben. Dass die Zukunft des Westens unter den Bedingungen des Informationszeitalters entscheidend davon abhängt, ob es ihm gelingt, diese Balance zwischen Egoismus und Solidarität zu finden, hat in jüngerer Zeit der Ökonom und Informationstheoretiker Leo Nefiodow 34 Vgl. Immanuel Kant: Logik, Einleitung, Ges. Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9, Berlin (Reimers) 1923, S. 25. 52 herausgestellt35 . Interessanterweise hält Nefiodow die Rückbesinnung auf spezifisch christliche Werte dabei für zentral. Und in der Tat: das christliche Gebot der Nächstenliebe fordert nicht nur zu einer vorübergehenden Relativierung der egozentrischen Perspektive auf, was jede Form moralischen Handelns voraussetzt. In der Liebe als höchster Form der Selbsttranszendenz wird das Wohlergehen des anderen Teil der eigenen subjektiven Ausrichtung und damit die geforderte Mitte gelebt. Durch die dauerhafte Öffnung für den anderen, die Liebe ausmacht, wird das kleine, auf sich selbst fixierte und in sich zentrierte Ego transformiert und gewinnt eine neue Existenzform sein eigentliches personales Selbst. Vielleicht wird es also doch nicht nur der Export seiner „Ethik des Kapitalismus“ (Peter Koslowski ) sein, die dem Westen im Wettbewerb der Kulturen in Zukunft seine Marktanteile sichern wird. Vielleicht geht aber auch Indien aus diesem Wettbewerb als Sieger hervor, dann nämlich, wenn sich zeigen sollte, dass der Mensch weder physisch noch psychisch dem Mobilitätsprogramm gewachsen ist, das der internationale Konkurrenzdruck im Zuge der Globalisierung zu fordern scheint, und dass Immobilität und Phlegma das Gebot der Stunde sind, wenn sich das „Profit-Center Mensch“ im Wettbewerb der individuellen Lebenschancen die Chance auf ein menschliches Leben sichern will. 35 Vgl. Leo Nefiodow: Der 6. Kondratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information, St. Augustin (Rhein-Sieg) 1996, bes. S. 123-142. 53 Perspektiven für die Globalisierungsproblematik der Märkte - Denkanstöße für eine ethische Urteilsbildung Friedrich Heckmann Wer immer heute von Globalisierung redet, sollte aus intellektueller Redlichkeit heraus sein Möglichstes tun, präzise zu beschreiben, wovon er redet. Ich habe in einer hannoverschen Zeitung einen Kommentar zu den Demonstrationen in Berlin im Herbst 1999 gefunden, der in dem Satz gipfelte: So „wird dieses Land nicht fit für die Globalisierung“. 1 An anderer Stelle ist die Rede vom „Globalen Sumpf“ 2 oder von der „Globalisierung der Krankheit“ 3 . Da wabert ein Begriff durch unsere Gazetten, auch durch die wissenschaftliche Literatur, und es wäre sicher spannend, dem nachzugehen, welche Funktion diese Waberlohe hat. Ich will daher in einem ersten Schritt versuchen, den Begriff der Globalisierung einzugrenzen, um in einem zweiten Schritt den Kontext der Globalisierungsproblematik zu bestimmen. Danach folgen drei weitere Schritte, in denen ich das Material für eine ethische Urteilsbildung aufarbeite. Ich folge bei diesem Versuch der ethischen Urteilsbildung jenem Schema, das in der Sozialethik protestantischer Theologie seit den frühen Auseinandersetzungen um die Kernenergie entwickelt 1 Neue Presse Nr. 253, 29.10.1999 (Hervorhebungen vom Verf.) 2 DIE ZEIT Nr. 44 v. 28.10.1999 3 LE MONDE DIPLOMATIQUE die tageszeitung / WoZ 22.10.1997 55 wurde und uns heute in der Ethik ein Instrumentarium der beurteilenden Analyse zur Verfügung stellt. 4 Perspektiven für die Globalisierungsproblematik der Märkte 1. Versuch einer Klärung: Globalisierung Problemstellung oder Internationalisierung? 2. Die Situation am Ende des 2. Jahrtausends 2.1. Globalismus 2.2. Internationalisierung 2.3. Übergangssituation 2.4. Stabilität 2.5. Finanztransaktionen 2.6. Fusionen 2.7. Die drei Motoren des Neoliberalismus 2.8. Resümee hinsichtlich der neoliberalen Konzeption 3. 4 Versuch einer ethischen Urteilsbildung Politische Handlungsalternativen: Haben wir andere Möglichkeiten? Analyse der Situation Erörterung der Verhaltensalternativen Heinz Eduard Tödt, Kriterien evangelisch-ethischer Urteilsfindung, in: Der Spielraum des Menschen, Gütersloh 1979 56 4. Denkanstöße für die ethische Debatte: Wie wollen wir leben? - Was ist uns wieviel wert? Prüfung der Normen 5. Wir müssen uns entscheiden: Globalisierung der Wirtschaft und Zukunft der Menschheit Urteilsentscheid 1. Versuch einer Begriffsklärung: Globalisierung oder Internationalisierung? Ich will nicht von jener Globalisierung reden, von der wir alle irgendwie und irgendwo betroffen sind, als Individuen, als Hochschule, als Wissenschaftler, als Kirche, sondern ich werde ausgehen von der These Robert B. Reichs 5 , des früheren US-amerikanischen Arbeitsministers, dass das „Ende der nationalen Ökonomie“ gekommen sei, und mich dann mit der Globalisierung der Märkte, d. h. der Globalisierung des Handels und des Warenverkehrs beschäftigen. 6 5 „Wir durchleben derzeit eine Transformation, aus der im kommenden Jahrhundert neue Formen von Politik und Wirtschaft hervorgehen werden. Es wird dann keine nationalen Produkte und Technologien, keine nationalen Wirtschaftsunternehmen, keine nationalen Industrien mehr geben. Es wird keine Volkswirtschaften mehr geben, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir sie kennen. Alles, was dann noch innerhalb der Grenzen eines Landes verbleibt, sind die Menschen, aus denen sich eine Nation zusammensetzt.“ (Robert B. Reich, Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie, Frankfurt 1996, S. 9) 6 Paul A. Samuelson definiert in seiner „Volkswirtschaftslehre“, Übersetzung der 15. Auflage, Wien 1998: „Ein Markt ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten, um Preis und Menge einer Ware oder Dienstleistung zu ermitteln.“ (S. 51) und „Die Märkte agieren als Vermittler, die die Wünsche und Vorlieben der Konsumenten mit den technologischen Möglichkeiten der Unternehmen abstimmen.“ (S. 53) 57 Der von Ulrich Beck 7 stark geprägte Begriff der Globalisierung wird in den Sozialwissenschaften ganz unterschiedlich gebraucht. Nur wenn wir uns über den Gebrauch dieses Begriffs verständigen, kann der schillernde und in der Tagespolitik verschlissene Begriff überhaupt hilfreich sein. Die Chancen der Globalisierung für Wirtschaft, Industrie und letztlich die Politik werden durch Ökonomie und Publizistik überwiegend positiv bewertet und mit nahezu euphorischen Erwartungen belegt. Andererseits scheint gerade im Bereich der Sozialen Arbeit Globalisierung nahezu ein Werk des Teufels, verantwortlich für alle negativen Erscheinungen und Auswirkungen auf Politik, Ökonomie und Ökologie im Allgemeinen, auf Arbeitsmarkt und soziale Schräglagen im Speziellen. Zum Dritten ist umstritten, inwieweit man überhaupt von Globalisierung reden kann, welchen Sinn das macht und inwieweit es eine Politisierung durch diese Begriffsbildung gibt. Diese Punkte müssen wir mitdenken, wenn wir uns der Fragestellung „Globalisierung der Märkte“ nähern, deren Beschreibung dadurch nicht ganz einfach ist. Wir können unter Globalisierung im umfassenden Sinn erst einmal die Herausbildung eines weltweiten Marktes für Kapital, Arbeit und Waren verstehen. In diesem weiten Sinn hat es Globalisierung natürlich schon immer gegeben - sicher nach Beginn der Industrialisierung und einer ersten technischen Revolution Mitte des vergangenen Jahrhunderts - und verführt geradezu zu historischen Differenzierungen und Debatten. Samir Amin, ein ägyptischer Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des Dritte-Welt-Forums in Dakar, arbeitet die Phasen der Globalisierung in der Geschichte sehr schön heraus. 8 Ich möchte mich allerdings nicht in die differenten Diskussionen über die unterschiedlichen Globalisierungsphasen in der Geschichte einmischen, 7 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Frankfurt 1997 8 Vgl. Samir Amin, Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung, hrsg. v. Joachim Wilke, Hamburg 1997, S. 53-98 58 sondern mich auf die Zeit nach 1945 beschränken. Hier wird häufig eine Phase kontrollierter Globalisierung von 1945 bis 1990 benannt, die zwischen 1980 und 1990 in eine neue Phase überging, in der wir uns zur Zeit befinden und in der eine ungebremste Globalisierung durchgesetzt werden soll, um den Überhangskapitalen ohne rentable Anlagemöglichkeiten in Produktionssystemen ein Feld zur Anlage zu geben. 9 Die Phase nach 1945 oder 1950 zeichnete sich vor allem durch ein starkes Wachstum in den meisten Teilen des Globus aus, sowohl in der Aufbauphase der sogenannten „1. Welt“, in der es mit keynesianischer Wirtschaftspolitik und regulierenden Eingriffen in den „freien“ Markt und mit einer Ausgleichspolitik und einer Verständigung zwischen Kapital und Arbeit zu einem ungeahnten Aufschwung westlicher Wirtschaftskraft kam. Aber auch in der „Zweiten Welt“, den Ländern des Comecon unter Führung der UdSSR, markierte der planwirtschaftliche Aufbau des real existierenden Sozialismus eine vor dem Zweiten Weltkrieg nicht vorstellbare Aufbauphase. Die „Dritte Welt“ wurde sowohl aus der ersten als auch aus der zweiten Welt mit imperialistischen Entwicklungsmodellen „unterstützt“, die eine Integration der Länder des Südens, mit welchen Anteilen und Abhängigkeiten auch immer, in das Weltsystem und eine Partizipation am ökonomischen Aufschwung als realistisch erscheinen ließen. Wie Samir Amin herausstellt, versuchten diese drei globalen Gesellschaftsprojekte, in unterschiedlicher Art und Weise, regulativ in den Markt einzugreifen, um ökonomische Effizienz und eine soziale Rahmenordnung zu verbinden. 10 Sicher ist diese Gemeinsamkeit, die über marktregulierende Eingriffe in so unterschiedlichem Ausmaße hergestellt beziehungsweise konstruiert wird, erst einmal eine gewöhnungsbedürftige Brücke, hilft aber, die Dimension dieser Phase der kontrollierten Globalisierung besser zu verstehen. 9 A.a.O., S. 68-83 10 A.a.O., S. 84ff 59 Diese Phase spielte sich trotz aller hegemonialer Ansprüche der beteiligten Blöcke und ihrer Führungsnationen weitgehend in einem nationalen Rahmen ab. Amin interpretiert das als eine gemeinsame Absage an die Idee, dass die Märkte selbstregulierend seien. Und in der Tat hat es nach 1945 eine breite Übereinstimmung in dieser Ablehnung gegeben. Einen Hinweis auf die Übereinstimmung in der Ablehnung des Glaubens an einen sich selbst regulierenden Markt geben die Parteiprogramme der demokratischen Parteien in der jungen BRD. Selbst die CDU nahm eindeutig Partei für eine deutliche Kollektivierung der Geldindustrie, indem sie in ihrem Ahlener Programm (1947) unter anderem die Verstaatlichung der Banken forderte. Ein Grund für die gemeinsame Absage an die Idee der selbstregulierenden Märkte ist wohl die Tatsache, dass in den USA andere Aspekte amerikanischer Hegemonie neben den ökonomischen an Bedeutung gewinnen: „die Kontrolle des weltweiten Währungs- und Finanzsystems, die militärische Überlegenheit, die kulturelle und linguistische Entfaltung des American way of life“. 11 Ich komme, den ersten Punkt abschließend, zu meinem Ausgangspunkt des unscharfen Begriffs der Globalisierung zurück, um die Problembeschreibung wieder zu fokussieren. Man könnte die unscharfe Begrifflichkeit vermeiden, indem man von einer Internationalisierung redet. Was es offensichtlich und beschreibbar gibt, ist eine Internationalisierung zwischen den großen Blöcken - zwischen den USA, Japan und dem pazifischen Raum sowie der Europäischen Union bewegen sich 70 Prozent der Warenströme. Das bedeutet, das Kapital wird innerhalb von diesen drei Blöcken international investiert, aber - und das wäre dann ein Argument für eine andere Begrifflichkeit als die der Globalisierung der Märkte - die große Mehrheit der Länder dieses Globus wird ausgespart. 11 A.a.O., S. 85 60 Die Graphik „Aufteilung der Wirtschaftsaktivität zwischen Nord und Süd“ 12 macht deutlich, dass die Auffassung, es stünde eine „globalisierte Wirtschaft“ zur Verfügung, wie immer wieder in der fachlichen Auseinandersetzung (Lester Thurow u.a.) und in Diskussionen behauptet wird, nicht haltbar ist. 2. Die Situation am Ende des 2. Jahrtausends Den zeitlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext des Themas „Globale Welt - was tun?“, das die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft auf ihrer Jubiläumstagung 1999 bedachte, hat die Gesellschaft bereits 12 aus: BUND/Misereor, Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie GmbH, Basel u.a. 1996, S. 387 61 1997 auf einer Tagung ausgeleuchtet. So kann ich mich darauf beschränken, die mir wichtigsten Entwicklungsstränge zu benennen. 2.1 Globalismus Meines Erachtens stellt sich die Entwicklung noch relativ bescheiden dar: So sind als direkte Folge der wirtschaftlichen Internationalisierung wohl nur einige Prozent der Arbeitsplätze in der BRD von einem Export von Arbeit betroffen, auch die Kapitalabwanderung hält sich in Maßen. Mag sie auch für die Finanzierung gewisser sozialer und gemeinschaftlicher Standards ein Problem sein, wirtschaftlich gesehen gibt es keinen Grund, den Standort „Deutschland“ in Gefahr zu sehen. Was aber wichtiger ist als der empirische Befund dessen, was sich als Internationalisierung beschreiben lässt, ist der Tatbestand, dass die wirtschaftliche Entwicklung die Möglichkeit zur Globalisierung eröffnet. Siemens oder noch eher Daimler/Chrysler/Mitsubishi, die transnational agierenden Konzern-Zusammenschlüsse, sind die Türöffner, die Schlüsselhalter für das, was wir Globalisierung nennen. Ulrich Beck spricht davon, dass der entscheidende Effekt der ist, dass eine Möglichkeit eröffnet ist, die Möglichkeit des Spieles. Alle Unternehmen reden von den Möglichkeiten des globalen Marktes, spekulieren öffentlich über die Möglichkeit des Standortwechsels oder des Kapitaltransfers. Natürlich ist auch das nicht neu. Die Rhetorik der Internationalisierung kennen wir bereits aus dem 19. Jahrhundert, beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Länge der Arbeitszeiten, um die Länge der Maschinenlaufzeiten und die faktische 7-Tage-Woche ohne freien Sonntag. 13 Das also ist der Punkt: Aufgrund der Aktivitäten der global players wie Siemens und Daimler kommt es überhaupt zu der Rhetorik des Globalismus. 13 Vgl. hierzu u.a. F. Heckmann: Arbeitszeit und Sonntagsruhe. Stellungnahmen zur Sonntagsarbeit als Beitrag kirchlicher Sozialkritik im 19. Jahrhundert, Essen 1986 62 Es ist das Verdienst von Ulrich Beck, hier die Unterscheidung von Globalisierung und Globalismus eingeführt zu haben. Der Globalismus ist nicht in erster Linie eine reale Erscheinung des Wirtschaftslebens, sondern Teil der Ideologie des Neoliberalimus. Die nationale Ökonomie kommt allerdings auch schon durch die Rhetorik gewaltig in Turbulenzen, beispielsweise durch das ständige Gerede von der Schwäche des Standortes Deutschland, die sich empirisch so gar nicht belegen lässt. 14 So entwickelt die Rhetorik des Globalismus zugleich aber auch mit der geschwächten Position nationaler Ökonomien gegenüber den internationalen Finanzmärkten ihre Wirkung. 2.2 Internationalisierung Empirisch belegbar dagegen sind in der Situation der ungebremsten Internationalisierung des ausgehenden zweiten Jahrtausends erstens die Verlangsamung der allgemeinen Wachstumsrate (spätestens seit der Rezession von 1974/75) und zweitens die Zunahme von transnationalen Unternehmen mit der Konsequenz der weltweiten Monopolisierung oder Oligopolisierung. Die gegenwärtige Fusionswelle der Finanzkonglomerate ist nur der konsequente Höhepunkt einer Entwicklung, die sich mit der Kartellgesetzgebung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr deckt. Drittens klafft die Schere zwischen dem Finanzkapital und dem Realkapital immer weiter. Während die Akkumulation des Finanzkapitals zunimmt, können die Gewinne keine profitablen Anlagemöglichkeiten im Realkapital finden. Diese empirisch belegbaren Trends 15 haben wachsende Arbeitslosigkeit, Niedriglohn-Beschäftigungen mit schwerwiegenden sozialen Auswirkungen als arbeitsmarktpolitisches Phänomen in reichen Volkswirtschaften und Verelendung in den hochindustrialisierten Ländern, massive Verelendung in den Ländern des Südens und deren Ausgrenzung aus dem globalen Wirtschaftsleben sowie wachsende Umweltprobleme weltweit zur Folge. 14 vgl. Hermannus Pfeiffer: Der Kapitalismus frisst seine Kinder. Der Standort Deutschland, seine Gegner und seine glorreiche Zukunft. Köln 1997, S. 9ff. u. 146ff. 15 Eine umfassendere Darstellung ist zu finden bei Harry Magdoff, Paul Sweezy, Stagnation and Financial Explosion, Monthly Review Press, New York 1987 63 2.3 Übergangssituation Die gegenwärtige Situation kann als Übergang vom Industriekapitalismus zum Finanzkapitalismus beschrieben werden. In der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, die ich eben mit der Kartellgesetzgebung angesprochen habe, gab es während des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg ein enges Korsett durch den Keynesianismus, eine gesicherte internationale Übereinkunft zur Einschränkung der Finanztransaktionen, das Abkommen von Bretton Woods. Diese Phase von 1945 bis etwa 1980 kann man als die Phase der kontrollierten Globalisierung charakterisieren. Ziel der nationalen (im Westen) wie der internationalen Wirtschaftspolitiken war es, Spekulationen der Finanzströme zu wehren, da diese nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mitverantwortlich gemacht wurden für die internationale und nationale Destabilisierung zwischen den beiden Weltkriegen. 16 Erst in den sechziger Jahren wurde dieses Korsett gelockert. Infolge des Vietnamkrieges kam es zu einem erhöhten Kapitalbedarf der USA, der nicht mehr im Lande gedeckt werden konnte und zur US-amerikanischen Nachfrage auf den internationalen Finanzmärkten führte. Verstärkt wurde dieser Effekt in den folgenden Jahren durch das Hereinströmen der Erdölgewinne, das endgültig das Korsett der Beschränkung und Einschränkung der internationalen Finanzströme sprengte. Es kam mit der Öffnung der Nationalstaaten für den internationalen Kapitalmarkt zur Abhängigkeit der westlichen Nationalökonomien und in ihrer Folge mit verheerenden Auswirkungen auch zur Abhängigkeit der Nationalökonomien der Länder des Südens von den Kapital- und Finanzmärkten. Das ist in wenigen Zügen der historische Hintergrund für den Phasenwechsel von der kontrollierten zur ungebremsten Globalisierung, vom Industriekapitalismus zum Finanzkapitalismus. 16 Am 23. Juli 1944 (!) wurden in Bretton Woods/USA die Verträge über die Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds unterzeichnet. 64 Boomende Aktienmärkte und Staatsverschuldung bewirken Geldknappheit und Stagnation. Eine Finanzierung der öffentlichen Verschuldung aus dem national verfügbaren Vermögen scheint nicht mehr möglich. Damit haben die Staaten dieses Finanzsystem und seine Auswirkungen akzeptiert. Die Möglichkeiten nationaler Wirtschaftspolitik sind seitdem stark eingeengt. Heute entscheiden die Devisenmärkte, ob ein Wechselkurs richtig, ein Kreditzins angemessen oder ein Preisindex realistisch ist, früher waren das alles durch die nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken beeinflussbare Größen. Die beschriebene Abhängigkeit der Nationalökonomien ist nicht nur unter der Fragestellung demokratischer Kontrolle von Wirtschaft zu kritisieren der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten wirft auch Fragen auf, die auf den Gegensatz von Partikularinteressen des Kapitals und übergreifenden Interessen eines Volkes zielen. Die Interessen eines Volkes oder einer (Welt-) Region genauso wie die Interessen der Natur oder der Mitwelt oder gar globale Interessen können in dieser Politikgestaltung zu Gunsten von partikularen Interessen nicht angemessen berücksichtigt werden. Doch das ist schon das Thema meines vierten und fünften Schrittes. Zur Erhellung der Situation gebe ich zunächst noch drei weitere Hinweise. 2.4 Stabilität Die Finanzmärkte wollen und brauchen Geldwertstabilität und Preisstabilität. Dem dient vor allem die Geldpolitik der BRD, also des Landes, das durch die wirtschaftliche Instabilität zwischen den beiden Weltkriegen am meisten destabilisiert worden ist. Andere Gesichtspunkte wie Arbeitslosigkeit spielen aus historisch nachvollziehbaren Gründen bei der Politik der Deutschen Bundesbank eine untergeordnete Rolle. Durch diese Vorgabe ist die Geldpolitik in ihren Auswirkungen eingeschränkt. Den Entwicklungen der internationalen Finanzmärkte folgt die Finanz- und Geldpolitik der Bundesbank und der BRD relativ passiv. In den USA gibt es zwei gleich starke Ziele des Federal Reserve Board. Neben der Geldwertstabilität geht es um Sicherung von Arbeitsplätzen und Wachstum. Unter ökologischen Gesichtspunkten ist letzteres sicherlich 65 ebenso zweifelhaft, aber immerhin hat die amerikanische Notenbank eine größere Unabhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten. Sie spielt eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die die Deutsche Bundesbank und - in ihrer Nachfolge - die Europäische Zentralbank nicht spielen können, da sie lediglich auf die Geldwertstabilität hin orientiert sind. 2.5 Finanztransaktionen 1500 Milliarden Dollar (1,5 Trillionen) werden täglich über moderne Informationstechnologien auf den Märkten transferiert, nur etwa 10% davon werden durch realen Waren- oder Dienstleistungsausstausch verursacht. Der Anteil der Gewinne, die durch Finanztransaktionen erzielt werden, wächst gegenüber den Gewinnen aus Realkapital, z. B. aus der Herstellung von Waren. Die Warenproduktion gilt zunehmend als Risikogeschäft. Eine Vermittlung zwischen Sparern und Unternehmen durch Banken gleicht immer mehr einem abstrakten Vorgang. Nicht zufällig wird die ökonomische Kultur, auf der die heutige Finanzwirtschaft aufbaut, selbst von Ökonomen als Spielerkultur oder Casino-Ökonomie bezeichnet. 17 2.6 Fusionen Die Situation der Banken und die Megafusionen der Geldindustrie werden uns in Zukunft sicher noch verstärkt beschäftigen. Sie sind die konsequente Folge der Akkumulation des Finanzkapitals. Die Bankholding Citicorp und die Versicherungsgesellschaft Travellers bilden den größten Allfinanzkonzern der Welt - Unternehmensziel ist, 1 Milliarde Kunden auf allen Kontinenten, d. h. ein Fünftel der Weltbevölkerung zu gewinnen. Es gibt das Beispiel der transnationalen Unternehmung Deutsche Bank/Bankers Trust. 17 Vgl. Pfeiffer, a.a.O., S. 172 f.; Michael R. Krätke: Kapital global, in: Turbo-Kapitalismus, hrsg. v. Elmar Altvater u. a. Hamburg 1997, S. 38-48 66 Es gibt ein drittes Beispiel: Europas größte Megabank ist die UBS aus dem Schweizerischen Bankverein und der Schweizerischen Bankgesellschaft (unter Wegfall von nahezu 25% der Arbeitsplätze, mit einem Finanzvolumen von 1400 Milliarden DM, davon 720 Milliarden von Privatkunden und 600 Milliarden von institutionellen Anlegern). Neben den Megafusionen kommt es - und muss es nach Einschätzung gerade im Sektor der Banken und Versicherungen auch kommen - zu gewaltigen Investitionen der großen Unternehmungen, in der Regel Transnationaler Unternehmen (TNC) im Bereich der Informationstechnologien, die es ermöglichen, durch Rationalisierungseffekte und schnelle globale Transaktionen im Interesse der Aktionäre Renditen zu erzielen, die international als akzeptabel gelten. Die Multinationalisierung und Internationalisierung der großen Unternehmungen lässt sich dahingehend interpretieren, dass das Finanz-Kapital einen Prozess abgeschlossen hat, der aufgrund seiner Dimensionen die Kennzeichnung der Globalisierung zulässt. Gewaltige Gewinne auf den Finanzmärkten stehen privater und öffentlicher Verschuldung gegenüber. 2.7 Die drei Motoren des Neoliberalismus Dieser bislang beschriebene Prozess wird bestimmt durch die drei Motoren des Neoliberalismus: Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung. Unter Liberalisierung lässt sich die Beseitigung von Handelsschranken verstehen. So sind z. B. Zölle, die zum Schutz der nationalen Wirtschaft aufgebaut worden sind, in den letzten drei Jahrzehnten in einem nennenswerten Maße zurückgegangen. Wie kein anderes politisches Instrument hat das GATT-Abkommen (General Agreement on Tarifs and Trade - Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) zur Marktliberalisierung beigetragen. Unterstützung für eine marode Volkswirtschaft gab und gibt es nur um den Preis der Liberalisierung. Das bedeutet: für ein Land, dessen Bevölkerung mehrheitlich unter unvorstellbaren Bedingungen der Armut lebt, kann es nur Unterstützung 67 geben, wenn keine Gruppierung in diesem Land aus nationalen Gründen geschützt wird (Antiprotektionismus). Der Zusammenhang von Unternehmensgewinnen und dem Lebensstandard eines Volkes und einer Nation wird immer weniger eine Rolle spielen. Die Privatisierung ist der zweite Motor der globalen Wirtschaft. Öffentliches Vermögen wird privatisiert, deutlich erkennbar auf der staatlichen, kommunalen und der gewerkschaftlich-genossenschaftlichen Ebene. Private Finanzierung und private Investitionen sind der beste Weg, Fähigkeiten und (Privat-) Initiativen von Menschen zu fördern. Ordoliberale Theoretiker und die Vertreter einer sozialen Marktwirtschaft wie MüllerArmack u. a. haben dagegen immer auch eine Beeinflussung des Marktes zur sozialen Absicherung weiter Bevölkerungsschichten beispielsweise durch staatliche Unternehmungen befürwortet. 18 Als drittes Movens ist die Deregulierung zu nennen. Der Staat darf nur eine untergeordnete Rolle im Wirtschaftsleben spielen, auch dies im Gegensatz zu der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. 2.8 Resumee hinsichtlich der neoliberalen Konzeption Die neoliberale Konzeption lässt sich hinsichtlich ihrer ethischen Aussagen mit wenigen Worten beschreiben: Normen und Standards müssen aus der Wirtschaft selbst kommen, der Markt regelt nicht nur einen bestmöglichen Gewinn, sondern auch moralische und andere Standards, wie beispielsweise ökologische Ansprüche. Sie setzen die richtigen, d. h. die angemessenen Normen auch in diesem Bereich. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte ebenso wie andere wirtschaftliche Fragen z.B. Telekommunikation mit ihren Chancen und Risiken, die Mög18 Vgl. hierzu Daniel Dietzfelbinger, Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil. Alfred MüllerArmacks Lebenswerk, Gütersloh 1998 68 lichkeiten der Computerisierung und der Digitalisierung, aber auch Umweltfragen und die Akzeptanz ökologischer Standards sind in einem hohen Maße verzahnt mit dem Alltagsleben von Menschen. Sie sind unlösbar verbunden mit der Frage von Menschen, wie sie leben wollen. Menschen entscheiden ja immer schon, wie sie leben wollen. Und was ihnen moralische und ökologische Standards wert sind, lässt sich an vielen Einzelbeispielen zeigen, ob es sich um den Wert eines ungebremsten Konsums, um die touristische Selbstverwirklichung von wenigen oder den eines freien und selbstgestalteten Sonntags handelt. Menschen, Gruppen und Klassen einer Gesellschaft haben sich immer schon entschieden, was ihnen wieviel wert ist. Das bleibt festzuhalten, wenn Politiker wie Wähler, Wirtschaftler wie Verbraucher eine nicht beeinflussbare und zu steuernde Entwicklung der Globalisierung beklagen. 3. Politische Handlungsalternativen: Haben wir andere Möglichkeiten? Eine andere Einschätzung und entsprechende Gewichtung der drei Motoren der gegenwärtigen Internationalisierung ergibt eine andere ethische Beurteilung des gegenwärtigen Wirtschaftslebens und führt über ethische Verhaltensalternativen zu denkbaren wirtschaftlichen Alternativen. Ausgangspunkt für die ethische Frage und damit die Suche nach Alternativen ist die oben beschriebene neue Epoche für Territorialstaaten und Nationalstaaten, die mit der Deregulierung von Arbeit, sozialen Standards und ökologischen Normen, mit einer ungeheuren Arbeitsproduktivität 19 und der Ausgrenzung von immer mehr Menschen aus dem Arbeitsprozess begonnen hat. Die momentane wirtschaftspolitische Entwicklung, wie sie sich wohl in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen wird, wird von einer internationalen Gruppierung von Wirtschaftswissenschaftlern und anderen Wissenschaftlern, der Gruppe von Lissabon, in zehn grundlegenden Annahmen beschrieben. 19 Für die Arbeitsproduktivität in den westlichen Ländern gilt: wenige schaffen immer mehr. In Deutschland ist das noch erheblich stärker ausgeprägt als in den USA. 69 „ 1. Die Triadisierung der Weltwirtschaft wird sich ... fortsetzen. 2. Die Weltbevölkerung wird bis 2020 immer mehr aus dem Gleichgewicht geraten ... 3. Die globale Agenda wird ... im Interesse der entwickelten Länder weiterhin auf Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft ausgerichtet sein. 4. Die Spaltung der Welt (integrierte versus ausgegrenzte) wird sich vertiefen. 5. Eine neue technisch-organisatorische Revolution wird ... die Industrie grundlegend verändern. 6. Großunternehmen werden zunehmend in Netzwerke und Netze von Netzwerken eingebunden sein. ... 7. Die Arbeitslosigkeit wird explodieren ... 8. Die Ökologisierung der Industrie wird ... fortgesetzt werden. 9. Städte und Stadtregionen werden die wichtigsten Räume der Neuorganisation der ... Wirtschaft sein. 10. Die Strategien der staatlichen Institutionen werden zwischen reiner Marktwirtschaft und gemäßigten Formen der sozialen Marktwirtschaft mit moderatem Protektionismus schwanken.“ 20 Die wissenschaftlichen Annahmen der Gruppe von Lissabon zielen auf die ethische Frage, wie wir leben wollen und wie diese Erde regiert werden soll. Die zehn Annahmen der zukünftigen Weltentwicklung führen nach Ansicht der Gruppe zu sechs Szenarios für die nächsten zwanzig Jahre unserer Welt. 20 Die Gruppe von Lissabon. Grenzen des Wettbewerbs, München 1997 70 Die Annahmen gehen von einer Intensivierung der Globalisierungsprozesse in Forschung, Technik und Wirtschaft aus, die einer Intensivierung der Handels- und Wirtschaftsintegration zwischen Westeuropa, Nordamerika sowie Japan und Südostasien entsprechen. Diese „Triadisierung“ des Globus spaltet die Erde in eine technologisch hochentwickelte triadische Welt und eine marginalisierte und ausgegrenzte Welt, die den Anschluss an die kommende „technisch - organisatorische Revolution“ nicht halten kann. 21 Weitere globale Spaltungen betreffen die Kluft zwischen multinationalen Unternehmen in globalen Netzwerken und traditionellen, eher lokal und regional tätigen, kleinen und mittleren Unternehmungen sowie die Konzentration in den Städten und Regionen, in denen einerseits eine urbane Gesellschaft ihre Entscheidungszentren findet und andererseits die weltweite Armut kumuliert. Für die Frage nach Globalisierung und Nationalisierung von Wirtschaftsprozessen und Entscheidungen werden sich nach Annahme der Gruppe von Lissabon nationale Strategien der staatlichen Administrationen durchsetzen, die „zwischen einer vollständig marktdominierten Wirtschaft (mit dem ständigen Druck in Richtung Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung) und gemäßigten Formen der sozialen Marktwirtschaft in Verbindung mit gemäßigten protektionistischen Maßnahmen schwanken“ 22 . Besonderes Interesse verdient m. E. die Annahme der Gruppe, dass die Ökologisierung von Industrie, Landwirtschaft und des informellen Sektors eine der Hauptquellen der Veränderungen sein wird. Dem möchte ich im Hinblick auf meine Beurteilung der Globalisierungsproblematik besondere Aufmerksamkeit schenken 23 . Selbst wenn man die grundlegenden Annahmen der Gruppe von Lissabon für die Zukunft so akzeptiert, bleibt es doch wahrscheinlich, dass die Zukunft der Globalisierung nicht bestimmbar ist. Viele verschiedene Szenarios zeigen einen möglichen Weg auf, haben mehr oder weniger Wahrschein- 21 Die Gruppe von Lissabon, S. 108f 22 Die Gruppe von Lissabon, S. 116 23 Vgl. unten Punkt 5 71 lichkeit für sich, aber letztlich bleibt alles Vorhersagbare und Vorhergesagte ungewiss. Um es mit Samir Amin auszudrücken: „Die Zukunft der Globalisierung bleibt eine große Unbekannte“. 24 Dennoch möchte ich in Anlehnung an die Gruppe von Lissabon einige Verhaltensalternativen aufzeigen, die immerhin relativ möglich erscheinen beziehungsweise die schon jetzt in Ansätzen und Anteilen, zum Teil vermischt, sichtbar zu werden beginnen. Den Szenarios liegt eine Matrix zu Grunde, an deren Achsen die zukünftig möglichen 0rganisationsformen der globalen Wirtschaft abgelesen werden können. 25 Die Weltwirtschaft wird sich einerseits zwischen den Polen der Regionalisierung und der Globalisierung positionieren müssen und andererseits zwischen globaler Steuerung durch Marktmechanismen und durch gemischte, kooperative Wirtschaftsformen. 24 Vgl. Samir Amin: Die Zukunft des Weltsystems, Hamburg 1997, S. 90 25 Vgl. Die Gruppe von Lissabon, S. 118 72 Diese mögliche Positionierung und Organisation stellen die Lissaboner in sechs möglichen Szenarien dar: Mögliche Verhaltensalternativen: 1. Apartheidsszenario In diesem Szenario hat die nationale Wettbewerbsfähigkeit zentrale Bedeutung. 2. Überlebensszenario Eliminierung der Marktkonkurrenten ist das Movens von Wirtschaft und Politik. 3. Pax Triadica Aufbau eines triadischen Welthandelssystems, das den internationalen Frieden sichert. 4. Nachhaltige globale Integration Das Verhalten und damit die Politik (Rio - Prozess) orientiert sich an Solidarität, Gemeinwohl, Teilhabe, Dialog, Menschenrechten und Menschenwürde, sowie Dienstleistungen. 5. GATT - Szenario Das Ideal einer neuen Weltwirtschaft, die auf der Basis des völlig freien Austausches von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und menschlicher Arbeitskraft aufgebaut ist. 6. Regionale Integration Verhalten auf der Basis einer kooperativen Integration, regional wie global. 73 Von der Fragestellung und den Kriterien einer guten Ökonomik her scheiden meines Erachtens drei Szenarien weitgehend aus: „Apartheidszenario“ 26 , das „GATT-Szenario“ 27 und das Szenario der „Regionalen Integration“28 . Mich interessiert das „Überlebens-Szenario“, das Szenario der „Pax Triadica“ und eben das Szenario „Nachhaltige globale Integration“. 1. Das Überlebensszenario nimmt die empirischen Hinweise und Fakten einer zersplitterten und gespaltenen Welt auf. Das eigene Überleben scheint nur möglich durch den Sieg über alle anderen, also durch die Eliminierung der Marktkonkurrenten. Dieses Organisationsmuster ist bestimmt durch eine Art des politischen Darwinismus. Der Wettbewerbsimperativ („gewinne oder geh unter“) beherrscht das individuelle und kollektive Verhalten. 26 Vgl. Die Gruppe von Lissabon. Grenzen des Wettbewerbs, München 1997, S. 118 -120. In diesem Szenario geht die Gruppe davon aus, dass wir, d. h. der „entwickelte“ Norden, die Zukunft unter Abkoppelung des Restes der Welt gestalten. Es entsteht eine neue materielle und immaterielle 0rganisation der entwickelten Länder, neue Energiesysteme, eine dematerialisierte Wirtschaft, neue Info- und Multimediainfrastrukturen, neue Forschungs- und Bildungssysteme. Dieses Szenario setzt einen nationalen Konsens zwischen Regierung, Industrie und Arbeitnehmern voraus, einen nationalen Pakt zur Sicherung der nationalen Überlebensfähigkeit. Die nationale Wettbewerbsfähigkeit erhält die zentrale Bedeutung. Die internationale Politik wird durch eine Art „Weltdirektorium“ bestimmt, das die repräsentativen internationalen Organisationen abgelöst hat. Eine Weltordnung der Stärkeren befestigt und verteidigt eine wachsende kulturelle Mauer zwischen Integrierten und Ausgegrenzten. 27 Vgl. a.a.O., S. 125f: Das GATT - Szenario nimmt als Organisationsmuster einer neuen Weltwirtschaft eine Wirtschaftsorganisation auf der Basis des völlig freien Austausches von Gütern, Kapital, Menschen und Dienstleistungen an. 28 Vgl. a.a.O., S. 126f: Die regionale Integration meint ein 0rganisationsmuster, in dem die Prozesse der Weltwirtschaft auf einer zwiefachen integrativen Kooperation beruhen. Eine Integration vollzieht sich auf dem Niveau der Weltregionen, die sich auf unterschiedliche Grade der wirtschaftlichen und politischen Integration aufbauen. Die verschiedenen Handelsblöcke kooperieren und bedienen die internationalen Organisationen, die neu gestaltet werden. Primäres Ziel ist eine regionale Integration, die sich schon jetzt in den organisierten Partikularinteressen von EU, Magreb, Nafta, (lateinamerikanischer) Mercosur, GUS, AFTA (Asian free trade area) abzeichnet. 74 Dieses Szenario ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Instabilität. Diese bedingt eine Zusammenarbeit der Nationalstaaten und der internationalen Organisationen (GATT, IWF, Weltbank), die eine gewisse PufferFunktion zwischen den Staaten wahrnehmen. Die Nationalstaaten ihrerseits haben eigentlich nur noch die eine Aufgabe, „ihren Unternehmen“ Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nach Ansicht der Gruppe von Lissabon besteht eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass das die reale Alternative der nächsten 20 Jahre sein wird. 29 2. Eine deutliche Alternative dazu zeichnet sich in dem Szenario der Pax Triadica ab. Die Stärke dieses Szenarios liegt ebenfalls in dem realistischen Hintergrund, da wichtige Elemente der Pax Triadica schon Wirklichkeit sind, so dass die Entwicklung nach Auffassung der Gruppe von Lissabon durchaus logisch wäre. 30 Die drei am weitesten entwickelten Weltregionen kontrollieren die Zukunft einer heillos zersplitterten Welt (wie wir sie in Afrika, auf dem Balkan und in den Ländern der ehemaligen UdSSR vorfinden). Eine neue Weltordnung entsteht in den nächsten 20 Jahren, die auf dem Konsensus der Triadica beruht, gemeinsam die Leitung der Weltwirtschaft und damit der Weltgesellschaft zu übernehmen: a) Die USA spielen vor allem ihren Part als militärische Hegemonialmacht. b) Japan agiert als Macht der wirtschaftlichen Schlüsselpositionen, c) und Europa ist die Handelsmacht Nr. 1 und wahrscheinlich die zukünftige Weltfinanzmacht. 29 Vgl. hierzu a.a.O., S. 120f 30 Vgl. hierzu a.a.O., S. 121-124 75 Die Triadica wird durch das Prinzip: „Keiner kann ohne den anderen“ zusammengehalten. Elemente der Pax Triadica sieht die Gruppe von Lissabon schon in der Kooperation der G7/G8 und in kooperativen Verbindungen zwischen transnationalen Konzernen in mehreren Wirtschaftsbereichen und Weltzonen. Ein Beispiel ist die „strategische Allianz“ zwischen IBM, Toshiba und Siemens, ein anderes die schon verwirklichte, aber noch strategisch ausbaubare Allianz von Daimler/Crysler und Mitsubishi. In der Konsequenz dieser triadischen Kooperation liegt die Spaltung der Welt in Teilnehmermächte und Ausgegrenzte. Ideologisch zusammen gehalten wird diese Triadica durch den Willen der in den privilegierten Ländern lebenden Menschen. Es gilt die Verteidigung des herrschenden Wertemusters: Materielle Privilegierung, Orientierung am Konsum, Wachstum der Wirtschaft und Wettbewerb. Diese Spaltung der Welt ergibt sich nicht aus politischer Steuerung, aber kann als logische, unabwendbare Entwicklung eintreten, da der Markt eine stabile Ordnung und klare Machtstrukturen braucht. 3. Demgegenüber scheint der Rio-Prozess, der als Beispiel für eine nachhaltige globale Integration gelten kann, nicht eine solche logische, unabwendbare Entwicklung zu nehmen. „Wir können es das Szenario nachhaltiger globaler Integration nennen, in dem die Prinzipien des Gemeinwohls, der Solidarität, der Teilhabe am Wohlstand, der globalen sozialen und ökologischen Rechenschaftspflicht, des Dialogs der Kulturen, der Einhaltung der Menschenrechte und der universellen Toleranz ... Eingang finden. ... Dieses Szenario beruht auf der Erkenntnis, dass die globalen Probleme so überwältigend sind, dass man ihnen nur entgegentreten kann, indem neue globale Regeln und Strategien geschaffen werden. ... 76 Der Imperativ der freien Marktwirtschaft wird durch den Imperativ einer gesellschaftlich und ökologisch rechenschaftspflichtigen kooperativen Wirtschaft abgelöst“. 31 Im Unterschied zu den anderen Szenarien sind die hinter diesem Szenario stehenden Werte sehr viel deutlicher erkennbar, weil sie uns als Werte bewusst sind. Teilhabe am Wohlstand für alle, Gemeinwohl, Solidarität, Menschenrechte, Dialog der Kulturen und Rechenschaftspflichten gegenüber anderen spielen in diesem Szenario eine hervorragende Rolle. Die Mitglieder der Gruppe von Lissabon prognostizieren dieser Verhaltensalternative geringere Verwirklichungschancen in den nächsten 20 Jahren. Als Alternative ist und bleibt sie aber interessant, weil eine ganze Generation von Institutionen globaler Steuerung aus diesem Prozess erwachsen kann. Der RIO- Prozess hat sich zu einer solchen Institution entwickelt, an der die Entwicklung der Weltwirtschaft gemessen werden wird. Und wenn auch die dort verhandelte Agenda 21 ein Dokument mit Schwächen und zur Zeit geringen Verwirklichungschancen ist, so muss auf Grund der positiven globalen Bewertung der dort gemachten Aussagen jedwede politische Gestaltung Rücksicht auf den vorgelegten Plan einer Entwicklung der Weltwirtschaft und die während des Rio-Prozesses zu Grunde gelegten und in diesem Prozess anerkannten Werte nehmen. 4. Denkanstöße für die ethische Debatte: Wie wollen wir leben? - Was ist uns wieviel wert? Nicht nur in den verschiedenen Szenarios 32 der Gruppe von Lissabon, sondern auch in der gesamten Diskussion um die Globalisierung spielt der „Wettbewerb“ eine überragende Rolle. Wettbewerb ist zum wichtigsten Ziel von Politik und Wirtschaft oder besser von Wirtschaft und Politik geworden. Es geht dabei allerdings schon lange nicht mehr um eine nüchterne und vernünftige Zielorientierung, sondern es 31 A.a.O., S. 124 32 Nur in Szenario 1 geht es noch um die nationale Wettbewerbsfähigkeit! 77 ist zu einer Glaubensfrage geworden, inwieweit der Wettbewerb das menschliche Leben nur beeinflusst oder gänzlich umgreift. Aus einem (als notwendig angesehenen) Leitprinzip unter anderen ist heute ein Dogma geworden, das Dogma der Wettbewerbsfähigkeit, das nicht hinterfragt werden darf. Waren es in den siebziger Jahren wenige Theologen und Wirtschaftswissenschaftler, die versuchten, die Rede vom Wettbewerb und vom Markt als eine religiöse zu verstehen 33 , so können heute Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, wie sie in der Gruppe von Lissabon engagiert sind, die Ideologie des Wettbewerbs nur noch religiös interpretieren, indem sie von den Theologien und Priestern des Wettbewerbskultes reden. Insofern ist es nicht zu verwundern, dass der Wert „Wettbewerb“ zu einem der wichtigsten Werte geworden ist. Benannt oder unbenannt spielt er in dem gegenwärtigen Diskurs „Wie wir am Ende des 20. Jahrhunderts auf dieser Erde leben wollen“, die zentrale Rolle, auch wenn es für viele theologische Ethiker gewöhnungsbedürftig ist, vom Wettbewerb als einem Wert zu reden. 34 Der Wettbewerb ist Teil des Diskurses um die Freiheit des Menschen. 35 In der theologischen Ethik wird der biblische Freiheitsbegriff an die Verwirklichung von Gerechtigkeit gebunden. Von dieser Maxime aus ist eine Überhöhung des Wettbewerbes zu Gunsten eines Verständnisses vom Wettbewerb als einer Funktionsweise dieser gegenwärtig allgemein akzeptierten Marktstruktur zurückzunehmen. Diese kritische Sicht gilt im übrigen auch für den zweiten „Wert“, der im Zusammenhang mit der „Globalisierung des Marktes“ wichtig ist: 33 Ich nenne hier nur Dorothee Sölle und Franz J. Hinkelammert. 34 Dass dies zumindest in der Wirtschaftsethik gang und gäbe ist, darauf weist nicht nur der Satz von K. Homann hin, dass Wettbewerb solidarischer ist als Teilen. Hier ist ein wichtiges ethisches Urteil in diesem Diskurs längst gefällt und begründet. Vgl. K. Homann, F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 1992, S. 111 u. ö. 35 Vgl. hierzu: Heinrich Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit. Gütersloh 1993; Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik. Gütersloh 1996 78 Die „international akzeptierten Renditen“, der Gewinn also, der im Wettbewerb zu erzielen ist, ist in die Wertediskussion und Normenprüfung mit einzubeziehen. Bei der Beantwortung der Frage, wie wir leben wollen, darf der ethische Diskurs die Frage nach dem Wert des Geldes nicht mehr ausklammern oder in die Wirtschaftsethik abschieben. 36 Gerade an den Szenarios der Gruppe von Lissabon wird deutlich, wie weit der mögliche und der ethisch gerechtfertigte Gewinn politisches Handeln bestimmt. Dass Gewinnmaximierung sogar zur moralischen Pflicht der Unternehmer stilisiert werden kann, führt wiederum Karl Homann eindrucksvoll vor. 37 Er bestätigt aber damit auch indirekt, dass eine ethische Urteilsbildung nicht darum herumkommt, Größen wie Wettbewerb, Gewinnmaximierung und den Wert des Geldes generell in den Diskurs, wie wir leben und wirtschaften wollen und sollen, in ganz umfassender Weise mit einzubeziehen. Einfacher scheint die Auseinandersetzung mit Werten, wie sie sich aus dem Szenario der nachhaltigen globalen Integration ergeben haben (Teilhabe am Wohlstand für alle, Gemeinwohl, Solidarität, Menschenrechte, Dialog der Kulturen und Rechenschaftspflichten gegenüber anderen) und die ich unter dem übergreifenden Wert der Gerechtigkeit subsumiere. Auf zwei Punkte will ich jedoch noch eingehen, da sie für die ethische Beurteilung, insbesondere für eine ethisch-normative Stellungnahme, wichtig sind. Zum einen scheint es mir unabdingbar im Sinne der Gerechtigkeit - und dies ist sicher eine Vorwegnahme des Urteilsentscheids -, die Menschenrechte im Diskurs der „Globalisierung der Märkte“ stark zu machen. Das betrifft sowohl die individuellen Freiheitsrechte als auch die politischen Mitwirkungsrechte und die wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Grundrechte. Angemerkt sei, dass insbesondere das Menschenrecht auf Arbeit wieder stärker betont werden muss. Nicht zufällig diskutiert in diesem Zusammenhang ein 36 Ich verweise vor allem auf Helmut Kaiser, Geld: Seine ethische Rationalität, in: ZEE, 38. Jg. Gütersloh 1994, S. 115-133; vgl. auch Jacob Needleman, Geld und der Sinn des Lebens. Leipzig 1993, sowie Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt 1996 37 Homann, a.a.O., S. 38f 79 anderer Bericht an den Club of Rome neue Möglichkeiten des Verständnisses von Arbeit. 38 Zum anderen wird unter dem Vorzeichen der Gerechtigkeit auch die Frage nach der Verteilung neu gestellt werden müssen. Bislang fehlen m. E. allerdings noch die gesellschaftlichen Akteure, die die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit wieder in die Debatte bringen. Die Gewerkschaften tun es nicht, die politischen Parteien klammern die Diskussion über eine gerechte Verteilung gesellschaftlichen und individuellen Reichtums aus und die Kirchen scheuen konkrete theologische Aussagen, wie die gemeinsamen Verlautbarungen belegen. Die Frage der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums regional und transregional zu stellen, bleibt zur Zeit in der BRD zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und dem Engagement Einzelner sowie international den NGO´s vorbehalten. 39 Dass die Frage nach der Verteilung neu gestellt wird, liegt im Eigeninteresse des Kapitalismus, weil die Wirtschaft Rahmenbedingungen braucht, die eine gewisse Stabilität gewährleisten. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört auch, dass die wirtschaftlichen Akteure im nationalen wie im transnationalen Kontext Verantwortung für Sozialstaatlichkeit und vor allem Verantwortung für die Demokratie übernehmen müssen. Das liegt im ureigensten wirtschaftlichen Interesse, wenn die These stimmt, dass durch die sich auflösenden Rahmenbedingungen letztlich die Wirtschaft selber ihrer Entfaltungsvoraussetzungen beraubt wird. Doch darauf werde ich noch in meinem letzten Punkt eingehen. 38 Orio Giarini, Patrick M. Liedtke, Wie wir arbeiten werden: der neue Bericht an den Club of Rome, Hamburg 1998 39 Vgl. Friedrich Heckmann, NGO's sind anders? Die Kirche in der globalen Gesellschaft. Fragen an das kirchliche Handeln im Zeitalter der Globalisierung, in: Kirche(n) und Gesellschaft. Ökumenische Sozialethik Bd. 3, hrsg. v. Andreas Fritzsche und Manfred Kwiran, München 2000, S. 196-123 80 Vorher jedoch will ich wenigstens noch auf zwei Werte hinweisen, die im Szenario der nachhaltigen globalen Integration, aber auch im hier nicht besprochenen Szenario der „Regionalen Integration“ eine Rolle spielen. Das Prinzip der Gleichheit und das der Kooperation stehen natürlich in einem deutlichen Widerspruch zu Entwicklungen, wie sie in den Szenarien der Apartheid und/oder des Überlebens, der Pax Triadica oder des GATT angenommen werden. Es ist in diesem Aufsatz nicht möglich, die Normendiskussion in aller Breite zu führen, aber ich will die Werte, die ich angesprochen habe, noch einmal benennen. Folgende Werte haben in der von mir referierten Diskussion eine Rolle gespielt: Wert umfassender Prinzipien Begriff 1. Wettbewerb - Freiheit 2. Gewinnmaximierung Geld Freiheit 3. international akzeptierte Renditen Geld Freiheit - Gerechtigkeit 5. Lebensrecht der Mitwelt - Gerechtigkeit 6. Verteilungsgerechtigkeit - Gerechtigkeit 7. Kooperation - Gleichheit 4. Teilhabe am Wohlstand für alle, Gemeinwohl, Solidarität, Menschenrechte, Dialog der Kulturen, Recht auf die eigene Kultur, Bejahung kultureller Vielfalt 81 8. Lebensgewohnheiten von Menschen und Völkern - Gleichheit Es zeigt sich, dass sich alle im Urteilsbildungsprozess erhobenen Werte auf die drei klassischen Prinzipien Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit zurückführen lassen. Es handelt sich in meinem Wertekatalog um acht Werte, die in der Alltagsmoral und auch bei der Ausprägung des kollektiven und individuellen Ethos eine Rolle spielen, insofern ist es legitim, auch bei der Wertschätzung des wirtschaftlichen Wettbewerbs, der Gewinnmaximierung und der Renditen von gesellschaftlichen und auch individuellen Werten zu sprechen. Diese ersten drei Werte sind die deutlich vorherrschenden in der Diskussion um die Globalisierung. Auf sie stützen sich die gegenwärtigen Marktstrukturen und die Argumentation zu deren Erhalt. Sie orientieren sich an dem Prizip der individuellen Freiheit und begründen sich aus ihr. Die beiden letzten Werte Kooperation und wertgeschätzte Lebensgewohnheiten stützen sich auf die soziale Gleichheit der Menschen, und die übrigen unter 4,5 und 6 aufgeführten Werte beziehen sich auf das Prinzip der Gerechtigkeit als den entscheidenden Maßstab. Im Spannungsfeld dieser drei Prinzipien findet der Diskurs philosophischer und theologischer Ethik um die Legitimität wirtschaftlichen Handelns statt. Dass „Gerechtigkeit“ in der theologischen Ethik und der ökumenischen Urteilsbildung eine zentrale Rolle spielt, brauche ich nicht zu betonen. 40 Gerechtigkeit und Freiheit sind theologisch in einer besonderen Beziehung miteinander verknüpft. Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes qualifiziert menschliche Freiheit. Die Freiheit christlicher Existenz ist nicht verstehbar ohne die Dialektik des neuen Seins in Christus, d. h. die Möglichkeiten befreiter Existenz führen zu einer radikalen Kritik aller Unfreiheit von wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Darüber hinaus ist der biblische Freiheitsbegriff verbunden mit der Gerechtigkeit Gottes. Wenn in der „Begegnung“ mit Jesus Christus als dem Erweis 40 Vgl. hierzu Heinrich Bedford-Strohm: Vorrang für die Armen. Gütersloh 1993 82 der Gerechtigkeit Gottes Befreiung geschieht, so erwachsen aus der eigenen Befreiung „solidarisches Befreiungswissen und Visionen von radikaldemokratischem Menschsein besonders für die Entrechteten und Entmachteten“. 41 Der christliche Freiheitsbegriff mit seiner Bezogenheit auf diejenigen, denen Gerechtigkeit vorenthalten wird, lässt sich nicht mit der neoliberalen Freiheit des Wettbewerbs in Übereinstimmung bringen. Die Freiheit des Neoliberalismus wird durch das von der Gerechtigkeit her bestimmte Prinzip christlicher Freiheit in Frage gestellt. Die alttestamentliche und jesuanische Mammonskritik verschärft in Verbindung mit dem ersten Gebot die Alternative „Geld oder Gott“ über die Schmerzgrenze des modernen Individuums hinaus. Eine Wirtschaftsethik, von diesem Ansatz entworfen, wäre in der Postmoderne nicht diskursfähig. Ein „früher Klassiker der ökonomischen Wissenschaft“, Luthers „Von Kauffshandlung und Wucher“ scheint nur mit theologischen Außenseitern im christlichen Kontext und muslimischen Theologen diskutierbar. 42 Der Sozialethiker Wolfgang Herrmann nimmt Luthers Radikalität auf und deutet den Rahmen der Urteilsbildung an. Ausgehend von der Frage „Wie kann die Erde regiert werden?“ ist die Entwicklung, die sich uns als Internationalisierung der Märkte und der Geldordnung, als Ende des nationalen Wettbewerbsstaates und als eines neuen Verhältnisses von Kapital und Arbeit darstellt, zu diskutieren und zu beurteilen. „Kapital und Geld hinterlassen eine Spur der Verwüstung in der Welt und in den Menschen: ganze Kontinente sind ausgeplündert; wachsende Müllberge, Gift in der Luft, dem Wasser, der Erde; das Heer der Hungernden und Elenden. 41 Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Wer sagt ihr, dass ich bin? Anfrage an die Christologie zum Thema: Globalisierung - Solidarität oder Barbarei, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 1996/97, S. 841 42 Vgl. Helmut Hesse, Über Luthers „Von Kauffshandlung und Wucher“ und Gerhard Müller, Zu Luthers Sozialethik, in: Klassiker der Nationalökonomie, hrsg. v. Horst Claus Recktenwald u.a., Düsseldorf 1987 83 ... Welche Fülle an Lebensmöglichkeiten werden da vernichtet, dienen nur der Abwehr von Ängsten, der Stabilität von Machtverhältnissen, einer kümmerlichen Bewältigung des stets drohenden politischen und ökonomischen Chaos. Das aber regiert insgeheim und lenkt die entscheidenden Antriebe, die zutiefst irrational sein können..“. 43 5. Auf dem Wege zu einem ethischen Urteil: Globalisierung der Wirtschaft und Zukunft der Menschheit Wie die Arbeit der Gruppe von Lissabon zu den „Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit“ gezeigt hat, ist die Entwicklung zur Zeit politisch kaum steuerbar. Insbesondere ist die Tatsache, dass viele Elemente einer zukünftigen Weltordnung schon auf den Weg gebracht sind, die aber niemand im Hinblick auf eine bestimmte Ordnung intendiert hat, ein Hinweis darauf, dass sich eine weitgehend unabwendbare Entwicklung vollziehen wird, beispielsweise in Richtung einer Pax Triadica. Die Annahme, dass in den vergangenen und in den nächsten Jahren Schlüsselentscheidungen gefallen sind und weiter fallen werden, die politisch nicht bewusst gestaltet und erst recht nicht politisch-demokratisch legitimiert sind, bestätigt ein weiteres Mal die wachsende Vorrangstellung der Wirtschaft vor der Politik. Die Souveränität zumindest der nationalstaatlichen Politik scheint vor dem Hintergrund der immer schneller expandierenden Internationalisierung der Märkte und einer Abhängigkeit der Nationalstaaten von den wirtschaftlichen Prozessen und Entwicklungen nicht mehr gegeben, ein Novum in der Wirtschaftsgeschichte. 44 Vor diesem Hintergrund kommt nach dem scheinbaren Wegbrechen möglicher Alternativen zu der gegenwärtigen marktwirtschaftlich - kapitalistischen Wirtschaftsordnung einer breiten nationalen und internationalen 43 Wolfgang Herrmann, Mammon, Schmutz und Sünde. Die Kehrseite des Lebens, Stuttgart 1991, S. 124 44 Vgl. Anm. 5 84 Diskussion immer größeres Gewicht zu, nach welchen Kriterien wir wirtschaften wollen und wie sich diese Wirtschaft entwickeln soll, ob und welche Rahmenbedingungen für diese Wirtschaft zu gelten haben. Vielleicht ist die expandierende Globalisierung, wenigstens aber der globale Kapitalmarkt zur Zeit wirklich nicht politisch steuerbar, aber die Entwicklung ist beeinflussbar. In diesem Zusammenhang kommt dem zivilgesellschaftlichen Diskurs, eben auch innerhalb einer sich gerade erst definierenden Weltzivilgesellschaft große Bedeutung zu. Innerhalb des zivilgesellschaftlichen Diskurses wird diese Frage diskutiert und muss weiter diskutiert werden: Wie kann die Erde regiert werden? Die Gruppe von Lissabon ist durch ihre Vorschläge „Wege zur globalen Steuerung“ an den Club of Rome im Gegensatz zu dem etablierten Weg des Wettbewerbs zu einem wichtigen Forum dieser Weltzivilgesellschaft geworden. Ich kann jetzt nicht diese Vorschläge nachzeichnen, wichtig ist jedoch, dass nach Auffassung der Gruppe von Lissabon nur solche Wege gangbar sind, die Modelle kooperativer Steuerung beinhalten. Mit dem Vorschlag von vier globalen Sozialverträgen haben die Lissaboner auch ethisch verantwortbare Wege der Politik aufgezeigt, an denen niemand ganz leicht vorbei kommt 45 : 45 Die Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs, München 1997, S. 169 85 Deutlich wird damit unter anderem, dass es die Möglichkeit der punktuellen Einflußnahme gibt. Der Rio - Prozess als eine Manifestierung der „nachhaltigen globalen Integration“ zeigt mit seiner Besinnung auf andere Werte als die des Wettbewerbes und der Gewinnmaximierung einen weiteren Weg, den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft zurückzugewinnen. Politik aber setzt einen ethisch-normativen Diskurs in der Gesellschaft voraus, der zumindest in den Jahren der ungebremsten Globalisierung nach dem Wegfall der planwirtschaftlichen Alternative in der zweiten Welt nur noch verhalten geführt wird. 86 Ein Beispiel für dieses Defizit ist die fehlende gesellschaftliche Adaption des allseits gelobten Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. 46 Auch wenn dieses Wort sicherlich nicht die ethischnormative Stellungnahme war, die in der gegenwärtigen Situation für Klärung sorgen konnte, so ist die Entfaltung des ethischen Diskurses in der Frage der Weltgestaltung ohne Frage hilfreich, und die fehlende Adaption weist erst einmal auf die gesellschaftlichen Ausblendungsmechanismen und allgemeine Lethargie hin. Der eingeforderte ethisch-normative Diskurs über die Werte, die uns bei der Welt- und Wirtschaftsgestaltung helfen sollen, wird möglicherweise unterstützt durch eine Entwicklung der Weltwirtschaft selber. Ulrich Beck hat in einem Interview 47 die Möglichkeit einer Entwicklung der „Re-Regulierung“ angesprochen. Nach seiner Meinung besteht zunehmend Bedarf an erneuter Regulierung. Ohne diese Re-Regulierung, das heißt auch, bei einem zunehmenden Ausmaß an Deregulierung, finden die Unternehmen nicht mehr die Bedingungen, unter denen sie ökonomisch vernünftig wirtschaften können. Das ist u. a. mit den Rahmenbedingungen gemeint, über die ich oben (Punkt 4) gesprochen habe und die die Wirtschaft auch weiterhin benötigt. Wirtschaft und die in den internationalen Märkten Arbeitenden brauchen Standards, kulturelle Standards, Umwelt - Standards, Lebensgewohnheiten von Menschen und Völkern. Wirtschaft benötigt Märkte, die sich auf die Gewohnheiten der Menschen aufbauen. Die asiatische Krise hat gezeigt, dass selbst die Wirtschaft nicht unbegrenzt mit Deregulierung, die sie fordert, zurechtkommt. Die sich daraus ergebende Notwendigkeit der Re-Regulierung setzt Staaten voraus, die nach innen und außen handlungsfähig sind, setzt somit den Primat der Politik voraus. 46 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997 47 Ulrich Beck in einem Interview im Deutschlandfunk (Juni 1998) 87 Wenn die These zutrifft, dass der Markt Rahmenbedingungen braucht, das meint in diesem Zusammenhang Re-Regulierung, braucht der Markt verbindliche Standards in Kultur und Umwelt im weitesten Sinne. ReRegulierung verlangt darüber hinaus folgerichtig interkulturelle Abstimmung durch internationale Gremien und das setzt eine politische Abstimmung im engeren Sinne voraus. Hier bekommt das Szenario „Nachhaltige globale Integration“ seine Bedeutung, auch wenn es für die nächsten 20 Jahre als nicht sehr wahrscheinlich gilt, ebenso auch das Szenario der „Regionalen Integration“. 48 Peter Ulrich hat in seiner Wirtschaftsethik deutlich gemacht, dass die politischen Ordnungsaufgaben konstitutiv für eine lebensdienliche Marktwirtschaft sind. Dies trifft sich mit dem hier unter einer anderen Fragestellung Entwickelten und macht “den Primat der Politik vor der Logik auch des globalen Marktes unverzichtbar“. 49 Ulrich folgert zwei mögliche Wege. Der eine Weg wäre die Bejahung des globalen Marktes und damit auch einer globalen politischen Ordnung 50 , die durch ihre Institutionen in der Lage wäre, trotz der divergierenden Interessen der Weltregionen, der transnationalen Unternehmen und der Staaten, den Primat der Politik und damit die angesprochenen Rahmenbedingungen zu sichern. Der andere Weg geht von der Voraussetzung aus, dass zur Zeit eine lebensdienliche globale Politik 51 nicht möglich ist. Das setzt dann nach Ulrich eine Beschränkung der Märkte auf die internationalen und transnationalen Märkte und Räume voraus, „in denen eine ‘ Norminstanz’ zur Legitimation und Durchsetzung einer für alle Marktteilnehmer verbindlichen vitalpolitischen Rahmenordnung besteht“. 52 48 Vgl. Anm. 19 49 Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern 1997, S. 387 50 Es ist nicht unerheblich, dass Ulrich hier auf den Begriff der Vitalpolitik von Alexander Rüstow zurückgreift, der eine Marktlenkung nach ethischen Gesichtspunkten der Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit impliziert. Vgl. a.a.O., S. 337 f 51 Vgl. Anm. 33 52 A.a.O., S. 388, vgl. Anm. 33 88 Ein solcher Raum ist auf der europäischen Ebene denkbar, hier hat ja auch Ulrich Beck seine Antwort auf die Globalisierung angesiedelt 53 , darüber hinaus aber ebenso auf der Ebene der anderen größeren multinationalen Regionen, die im Szenario der “Regionalen Integration“ angesprochen sind. Von den acht oben benannten Werten her ist deutlich, dass die Internationalisierung der Märkte, und das heißt weitgehend noch der Kapitalmärkte, nicht allein durch Wettbewerb und Gewinnmaximierung politisch gestaltet werden kann. Der wettbewerbswirtschaftliche Prozess ist allein nicht in der Lage, der menschlichen Entwicklung adäquat, das heißt den benannten Werten entsprechend zu dienen. Auf der anderen Seite scheint es politisch nicht realistisch, dass in den Zeiträumen, die jetzt politisch zu gestalten sind - zum Beispiel in dem von der Gruppe von Lissabon angenommenen Zeitraum der nächsten 20 Jahre -, globale politische Institutionen und Instanzen in kürzester Frist in die Lage versetzt werden, die angemessenen Rahmenbedingungen für den globalen Kapitalmarkt, die internationale Wirtschaft und die in ihr arbeitenden und auf diesem einen Globus lebenden Menschen zu schaffen und weiter auszugestalten. Es bleibt also Skepsis angebracht, ob sich in dem Tempo, in dem es notwendig wäre, globale Instrumentarien entwickeln lassen, die für die globalen Kapitalmärkte die Rahmenbedingungen setzen und eine Re-Regulierung in Gang setzen. Solche globalen Gremien und deren Instrumentarien müssten dann auch noch demokratisch legitimiert und kooperativer Art sein, wie es der globalen Entwicklung angemessen wäre. Die Entwicklung kooperativer demokratischer globaler Gremien und Institutionen bleibt eine Zukunftsaufgabe. 54 Hier ist sicher die „republikanisch-ethische Unterstützung“ angefragt, die Peter Ulrich für eine lebensdienliche Marktwirtschaft für unverzichtbar hält. Hans Küng und Ulrich Beck versprechen sich diese Unterstützung von der globalen Zivilgesellschaft. Damit sich aber nicht zwangsläufig eine Pax 53 Ulrich Beck: was ist Globalisierung? Frankfurt 1997, S. 259-265 54 Hier wäre im Sinne des dialektischen Ansatzes auch Hans Küngs Weltethos - Projekt in die Diskussion einzubeziehen; vgl. Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997 89 Triadica weiterentwickelt, sind auf der regionalen Ebene und auf der Ebene des Zusammenschlusses der (beispielsweise europäischen) Regionen Rahmenbedingungen zu schaffen und Re-Regulierungen einzuleiten, die einer Wirtschaft Raum geben, die nicht nur den Prinzipien Wettbewerb und Gewinnmaximierung verpflichtet ist, sondern den oben angesprochen Werten folgt, eine lebensdienliche Wirtschaft eben, die nicht zuletzt Adam Smith gemeint hat. Dass die Politik, die eine solche Wirtschaft aufgrund eines breiten ethischen Konsenses will, auch wieder über Protektionismus nachdenken wird, darauf hat Horst Afheldt bereits vor einigen Jahren hingewiesen. Dieses sei ein Mittel „die Unterwerfung der politischen Ziele durch das Mittel Wirtschaft zu beenden“. 55 Afheldt thematisiert seinerseits ausdrücklich die Entscheidung für bestimmte Werte, die geschützt werden müssen. In der Konsequenz ist es wirtschaftlicher Protektionismus, wenn er Gleichheit und Gerechtigkeit stark macht. Gleichheit und Gerechtigkeit müssen „die Wirtschaft leiten“, damit „nicht die Wirtschaft diktiert, wie die Menschen leben und leiden sollen“. 56 Der Primat der Politik vor dem Wirtschaftshandeln, einer Politik, die stärker von den Prinzipien der Gleichheit und der Gerechtigkeit bestimmt ist, wird über neue strukturelle Rahmenbedingungen von Politik und Wirtschaft sowohl auf der Mikroebene als auch auf der Meso- und Makroebene nachdenken müssen. Ich habe darauf hingewiesen, dass die föderale Bundesvorstellung des Johannes Althusius als eine Besinnung auf die alternativen Traditionsbestände der europäischen Kultur eine aktuelle Antwort auf die nachhaltige Wachstums-, Energie-, Umwelt- und die daraus resultierende politische Legitimationskrise in Bezug auf den Sozialstaat sein könnte. 57 Föderale Strukturen, die eine lokale und regionale Wirtschaft stärken, sind sicherlich schneller in der Lage – zumindest in Europa auch leichter demokratisch zu legitimieren –, dem 55 Horst Afheldt, Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder, München 1994, S. 217 56 ebd. 57 Friedrich Heckmann, Solidarität und Subsidiarität, in: Solidarität ist unteilbar, hrsg. v. Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Kevelaer 1997 90 Primat der Politik wieder Geltung zu verschaffen. Nur so lässt sich die Vision einer auf anderen Werten als Wettbewerb und Gewinnmaximierung basierten Wirtschaftspolitik entwickeln, von der Peter Ulrich sagt, dass ihr „Prinzip nicht die bedingungslose globale Marktöffnung wäre, sondern die Differenzierung verschiedener Wirtschaftssektoren, die je nach den für sie vorrangigen vitalpolitischen (kulturellen, sozialen, ökologischen und volkswirtschaftlichen) Gesichtspunkten vorzugsweise auf regionaler, staatlicher oder globaler Ebene <lokalisiert> würden“. 58 So könnten vernetzte lokale, regionale, nationale, multinationale Märkte entstehen, durchaus geschützt und selbständig lebensfähig neben den transnational geordneten globalen Märkten. Eine solche an föderalen Bundesvorstellungen orientierte Rückeroberung der politischen Sphäre und eine daraus resultierende Politik der organisierten Gegenseitigkeit ist eher in der Lage, den sozialen Interessen der Mehrheit der Menschen, aber auch den Überlebensinteressen der Mitwelt zu dienen. Meine Reflexion der Internationalisierung der Finanzmärkte und der Folgen, die weltweit soziale Ungerechtigkeit vertiefen, hat mich die Perspektiven in den Blick nehmen lassen, die stärker den auf Gleichheit und Gerechtigkeit basierten Werten Rechnung tragen. Eine am Prinzip kooperativer Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit orientierte Politik und eine neoliberale wettbewerbs- und gewinnorientierte Wirtschaft stehen gegeneinander, so dass dem ethischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs, der die Öffentlichkeit lokal, regional und global zur Prioritätensetzung bei der Entscheidung, wie wir leben wollen, nötigt, wachsende Bedeutung zukommt. 58 Peter Ulrich, a.a.O., S 389 91 Globalisierung und Kultur Hans-Hermann Tiemann 1. Globalisierung als Problem „Globalisierung“ 1 ist ein Modewort und zugleich vielleicht das wirksamste Konzept der 90-er Jahre 2 . In den 80-er Jahren waren die „Postmoderne“ oder das „nachindustrielle Zeitalter“ im Gespräch. Sie erschienen als ästhetische und theoretische Phänomene und wirkten in ihrer Beliebigkeit eher harmlos. Anders verhält es sich mit der Globalisierung. Von ihr gehen Zwänge und Kräfte aus, die nicht leicht zu bändigen sind. Mit der Gewalt physischer Globalvorgänge vergleicht Renato Ruggiero, Leiter der Welthandelsorganisation (WTO) die neueste weltweite Entwicklung: „Jeder, der denkt, daß die Globalisierung unterbrochen werden könnte, sollte uns sagen, wie er den ökonomischen und technischen Fortschritt einfrieren will. Das wäre, als versuchte man, die Rotation der Erde zu stoppen.“ 3 Was seit Mitte der 80-er und verstärkt in den 90-er Jahren als „Globalisierung“ zum Thema geworden ist, wirkt provozierend. Das Stichwort suggeriert die Verbreitung fortschrittlicher zivilisatorischer Zustandsbedingungen über die ganze Welt. Es signalisiert eine umfassende Horizonterweiterung des Wissens und des Handelns. Es ruft den Eindruck einer optischen Verkleinerung, Integration und Indienstnahme der vertrauten Lebenswelt hervor. Es rückt den persönlichen Lebensraum in eine übergeordnete, quasi kosmische Perspektive. „Globalisierung“ bezeichnet aber nicht so 1 2 3 Vgl. Art. „Globalisierung", in: HWP, Bd. 3, 1974, Sp. 675-677; RGG4, 2000, Sp. 1006-1008. Vgl. Malcolm Waters: Globalization. London u. New York 1995, S. 2. Zit. in: Heinz Dieterich, Einleitung, in: Globalisierung im Cyberspace. Globale Gesellschaft. Märkte, Demokratie und Erziehung, aus dem Spanischen übers., Bad Honnef 1996, S. 6, vgl. S. 145. 93 sehr die Ausdehnung von allgemeinen geistigen und kulturellen Lebensbedingungen über die ganze Erde 4 , sondern vor allem das rapide Wachstum weltumspannender wirtschaftlicher Austauschbeziehungen, sozialkritisch gewendet: die „Durchkapitalisierung der Welt“ 5 . Diese wird generalisierend betrachtet, als sich zunehmend verselbstständigendes Phänomen wahrgenommen und - das ist die Provokation dabei - gleichzeitig als Kultur leitend 6 und destabilisierend angesehen. „Globalisierung“ bezeichnet in erster Linie die weltweite Entgrenzung der Wirtschaft. Die allgemeine Wortbedeutung, nach der Einflüsse und Beziehungen verschiedenster Art, vor allem durch Information und Verkehr, sich zunehmend über die ganze Erdkugel ausbreiten, kommt erst sekundär in Betracht. Der Begriff steht in der Regel für den Zwang, überall unter ein und demselben Agglomerat von Bedingungen ökonomisch zu handeln 7 . Wirtschaftliches Kalkül kann für sich die weltweit jeweils besten Chancen nutzen 8 . Im wörtlichen Sinn „gren- 4 5 6 7 8 So in der allgemeinen Definition bei Malcolm Waters, Globalization, a.a.O., S. 3, nach der Globalisierung die geographischen Beschränkungen sozialer und kultureller Formationen aufhebt. Hermann Lübbe , Globalisierung. Zur Theorie der zivilisatorischen Evolution, in: Reinhold Biskup (Hrsg.), Globalisierung und Wettbewerb, Bern, Stuttgart u. Wien 1996, S. 39-63, S. 46, bestimmt Globalisierung als „Expansion ökonomischer, politischer und kultureller Interaktionen“. Zu Begriff und Phänomen der „kulturellen Globalisierung“ vgl. die Beiträge in: Hermann Weber (Hrsg.): Globalisierung der Zivilisation und der überlieferten Kulturen. Katholischer akadamischer Ausländer-Dienst KAAD, Jahresakademie 28-30. April 1995, Bonn 1995. Elmar Altvater u. Birgit Mahnkopf , Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 1996, S. 17 u. 589; vgl. die „Expansion des Kapitals auf Weltniveau", Heinz Dieterich, Globalisierung, Erziehung und Demokratie in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 51. Technik und Wirtschaft scheinen die Stellung von Leitwerten der kulturellen Entwicklung einzunehmen, auf welche die übrigen Bereiche reagieren. Der Globus ist zu einem „informationstechnisch integrierten System“ (Lübbe , a.a.O., S. 51) geworden. Das hat Wirkungen auf schnellstmögliche ökonomische Vorteilswahlen, wie auch auf die Interaktion in anderen Entscheidungsbereichen. Vgl. Heinz Dieterich , Globalisierung, Erziehung und Demokratie in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 56: „Zum erstenmal in der Geschichte des homo sapiens konnte dieser den 'blauen Planeten' als einen einzigen, integrierten und transnationalen Wirtschaftsstandort begreifen und für sich nützlich machen." "Globale Investoren gehen dorthin, wo die Profitraten höher sind und die Regierungen ein gastfreundliches Geschäftsklima garantieren.“ Verlautbarung der Mobil Oil Corporation, zit. in: Heinz Dieterich, Einleitung in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 6. - „Die Jagd nach der besten Rendite - und nichts anderes ist die Globalisierung - geht weiter.“ 94 zenlose“ Angebote machen Waren und Dienstleistungen auf dem neuesten Stand der Technik überall auf der Welt immer schneller und zu vergleichbaren Preisen erreichbar. Es geht um die Globalisierung der Märkte und damit des Wettbewerbs 9 . Diese Entwicklung erzeugt in starkem Maße die Faszination des Fortschrittlichen, weil sie Bedürfnissen entspricht, die bisher unbefriedigt blieben, und Hoffnungen weckt, die bis vor kurzem unrealistisch oder gar utopisch erschienen. Es fragt sich jedoch, ob die zurzeit aktuelle Globalisierung wirklich für alle Menschen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Vorteile bringt. Der „grenzenlose“ Wettbewerb erzeugt einen Angebots- und Leistungsdruck, dem viele Menschen möglicherweise nicht gewachsen sind. Dadurch entsteht auf neue Weise die Frage nach gerechten wirtschaftlichen Bedingungen für alle. Wettbewerb schafft einerseits nicht ohne weiteres überall gleiche Lebensbedingungen, obwohl er eigentlich eine wenigstens hypothetisch fassbare „Chancengleichheit“ voraussetzen müsste. Erst recht scheint er nicht die so genannte „Verteilungsgerechtigkeit“ zu fördern, d. h. die Gleichheit der materiellen, sozialen und kulturellen Ausstattung, die zur Gleichheit der Ausgangsbedingungen für die Menschen in den verschiedenen Regionen eigentlich hinzu kommen müsste, wenn gerechte Verhältnisse hergestellt werden sollten. Dagegen verbindet sich andererseits mit der Globalisierung jedoch die Utopie weltweiter sozialer Entwicklungsmöglichkeiten, da jener Angebotsdruck Menschen überall auf der Welt die Gelegenheit gibt, sich mit dem für die Käufer „günstigsten“ Angebot gegen „teurere“ Konkurrenten durchzusetzen. Die Globalisierung könnte theoretisch also gerade die ärmsten Regionen wirtschaftlich fördern und ihnen zum Anschluss an die reicheren verhelfen. Ungerechtigkeit kann ein Ende haben, wenn überall der Fortschritt Einzug hält. Von dieser Zielvorstellung her stellt sich die kritische Frage, was die im 9 Schumacher, Oliver: Gehetzte Jäger, in: Wochenzeitung „DIE ZEIT", Nr. 20 vom 10.05.1996, S. 31. Vgl. die zu klassischer Klarheit und Breite gereiften Darstellung bei Michael Porter (Hrsg.): Globaler Wettbewerb. Strategien der neuen Internationalisierung, Wiesbaden 1989 (ersch. als Competition in Global Industries, 1986), darin bes. ders., Der Wettbewerb auf globalen Märkten: Ein Rahmenkonzept, S. 17-68, u. die geschichtliche Darstellung von Alfred D. Chandler jr.: Die Entwicklung des zeitgenössischen globalen Wettbewerbs, S. 467-514. 95 ökonomischen Bereich entfesselte, globale Dynamik für Menschen an verschiedenen Orten auf der Welt bzw. in ihrer Gesellschaft tatsächlich bewirkt und bedeutet. 2. Fragen zur Globalisierung Wer angesichts der globalen Entwicklung den Wunsch nach Gerechtigkeit hegt und das Bedürfnis nach sozialem Fortschritt wahrnimmt, stößt auf das Problem einer unausgewogenen Entwicklung. Dieses verdient eine eigene theoretische und empirische Anstrengung. Aus ihm ergeben sich grundlegende Fragen zur Globalisierung: - Wie ist Gerechtigkeit angesichts der sich weltweit entfaltenden wirtschaftlichen Freizügigkeit in und zwischen den Gesellschaften möglich? - Stellt die momentan zu beobachtende, vor allem wirtschaftliche Globalisierung einen echten Fortschritt dar oder vergrößert sie sinnlos den Luxus der Reichen und das Leiden der wirtschaftlich Schwachen? - Sind unterschiedliche Arten von Globalisierung zu erkennen, d. h. kann sie mehr oder weniger zivilisiert, human und gerecht erfolgen?10 - Sind die Blockaden, welche die Globalisierung durchbricht, wirklich aufhebbar, oder stößt die Ökonomie an neue Grenzen ihres Wachstums? Ferner stellen sich Fragen nach der geschichtlichen Bedeutung des skizzierten Vorgangs: - Tritt die globale Entgrenzung im ökonomischen Bereich erstmalig auf? Ist sie einzigartig? 10 Altvater und Mahnkopf unterscheiden mit Sérgio P. Ruanet die Globalisierung als „wilde Internationalisierung“ und die Universalisierung des „zivilisatorischen Projekts der Aufklärung“ als „dialogische Internationalisierung". Elmar Altvater u. Birgit Mahnkopf: Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 50. 96 - Welche geschichtlichen Vorgänger hat diese ökonomische Globalisierung und welche Konsequenzen zieht sie nach sich? - Hat sie eine Schlüsselfunktion, d. h. kann sie beanspruchen, in der Geschichte als Epochensignatur zu gelten11 ? - Verbirgt sich hinter ihr ein lebendiges, mit Quelle und Ziel menschlichen Wesens verbundenes Interesse oder handelt es sich nur um einen Werbegag oder Etikettenschwindel, einen propagandistischen Spuk mit Weltherrschaftsanspruch, wie es sie auch in anderen Bereichen gegeben hat? - Fordert sie Spekulationen über ein vorläufig letztes Zeitalter von apokalyptischen Dimensionen heraus oder ist sie nur eine Modeerscheinung?12 - Ist sie aufzuhalten, zu verlangsamen oder zu regulieren? - Handelt es sich um eine nur vorübergehend attraktive Erscheinung, die große Nachteile, womöglich gar Gefahren, mit sich bringt? - Ist sie insgesamt ein kultureller und sozialer Fortschritt oder ein Irrweg? 11 Vgl. die Rede von einem „Zeitalter der Globalisierung", in: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.“ Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland u. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Gemeinsame Texte 9, Bonn und Hannover 1997, S. 38, ferner: Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur e. V. (Hrsg.): Globalisierung. Der Schritt in ein neues Zeitalter, Berlin u. a. 1997, u. Heinz Dieterich, Einleitung, in: Noam Chomsky u. Heinz Dieterich: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 5. 12 Vgl.: Elmar Altvater u. Birgit Mahnkopf : Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 47: Globalisierung ist „das Einschwenken auf eine durch die Attraktivität des modernen kapitalistischen Weltsystems vorgezeichnete Bahn. Globalisierung heißt daher auch: Alternativlosigkeit, die ganz affirmativ in der 'neuen Weltordnung' am 'Ende der Geschichte' als solche konstatiert worden ist.“ Vgl. S. 69. 97 Darüber hinaus erhebt sich die nach außen zielende Frage nach dem Verhältnis der ökonomischen Globalisierung zur Entwicklung anderer Kulturbereiche: - Wie sind die ökonomischen Wertgewinne, welche die Globalisierung zu erbringen scheint, mit dem allgemeinen Wertewandel zu verrechnen? - Wie verhält sich ihr Charakter als Universalisierung im globalen Bereich zu anderen Universalisierungstendenzen? - Kann sie als Teilerscheinung der allgemeinen Modernisierung und Rationalisierung gelten? - Was ändert sich für das Beziehungsgefüge kultureller Werte dadurch, dass die Wirtschaft sich geographisch entgrenzt und die Ökonomie sich als Ordnung des Lebens weiter verselbstständigt und ausbreitet? - Welche Chancen und Bedrohungen ergeben sich für die Zivilisationen, welche resultieren daraus für eine mögliche Weltkultur? - Wie schätzen Repräsentanten anderer Bereiche in der Gesellschaft sie ein und wie werden sie reagieren? Das sind Fragen, die das Phänomen der Globalisierung in den Zusammenhang der allgemeinen kulturellen Entwicklung rücken. Sie drängen sich auf, sowohl aus sozialwissenschaftlicher wie aus weltanschaulicher Sicht. Objektiv wird man sie zum Teil erst später einmal beantworten können. Sie sind jedoch auch jetzt schon theoretisch zu klären und ethisch zu bedenken. Es geht um den Status der „Globalisierung“ als eines gesamtkulturellen Phänomens13 . 13 Zur Reichweite unterschiedlicher Bestimmungen des Kulturbegriffs vgl. W. Perpeet, Art. „Kultur, Kulturphilosophie", in: HWP, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 11309-1324, u. Frithjof Rodi, Art. „Kultur, I. Philosophisch", in: TRE, Bd. XX, Berlin u. a. 1990, S. 177-187. 98 3. Zum Aufbau der Erörterung In diesem Aufsatz soll untersucht werden, was Globalisierung gesamtgesellschaftlich und kulturell bedeutet. Es soll nach ihrem Fortschrittscharakter gefragt werden, obwohl ihre Auswirkungen nur erst zu geringen Teilen abschätzbar sind. Nachdem die aktuelle Globalisierung als Problem erfasst (1.) und als fragwürdig bestimmt worden ist (2.), sind sind nach dieser Gliederung (3.) Denkanstöße bezüglich ihrer kulturellen Bedeutung zu formulieren (4.). Dafür werden ein kirchlich-diakonischer, ein theologischer, ein historischer und ein kulturphilosophischer Gesichtspunkt entfaltet (a-d). In der geistigen und normativen Kultur, d. h. in Wissenschaft und Weltanschauung, in Ethik, Religion und Gesellschaft, ist nach Maßstäben zu suchen, die das vorwiegend ökonomische Phänomen der Globalisierung realistisch zu bewerten erlauben. Inhumane Wirkungen sind wahrzunehmen und sozialwissenschaftlich zu erfassen, damit Betroffene wirksam reagieren können. Daraufhin können die anfangs entwickelten, kritischen Fragen in Forderungen nach einem angemessenen Ausgleich übersetzt werden (5.). In Wirtschaft, Ethik und Religion sollte realisiert werden, dass die gesamte Kultur in ein globales, d. h. menschheitliches Stadium eintritt. Aktuelle Ereignisse und Tendenzen sind von der Möglichkeit einer globalen Gesamtkultur her zu beurteilen. 4. Denkanstöße zur Globalisierungsdebatte Die wichtigste Provokation in der aktuellen Debatte ist die Globalisierung selbst mit ihrem scheinbar Noch-nie-Dagewesenen, ihren oft berauschenden neuen Möglichkeiten und ihren zuweilen empörenden Auswirkungen auf die bisher gewohnte wirtschaftliche Handlungskompetenz. Welche Denkanstöße können hier weiter führen? 99 Karikatur zur "Standortschwächung" im Sozialamt, © T. Plaßmann a) Kirchlich-diakonischer Denkanstoß Erstens entsteht das Bedürfnis nach Ausgleich und Sinngebung für diejenigen, die sich durch globale Entwicklungen vorläufig oder vollends einer Benachteiligung ausgesetzt sehen. Wie sollen Einzelne Mut finden angesichts wirtschaftlicher Verlagerungen, die Arbeitsplatz und Existenz kosten können14 und zu schmerzlichen Einschränkungen zwingen, ohne dass jemand dafür verantwortlich zu machen wäre? Es sind unpersönliche „Standortbedingungen“, die Aussichten verändern und Lebenshoffnung durchkreuzen. Bleiben schon Fachleute und Eliten, die „Artisten in der Zirkuskuppel“, ratlos, wie sehr erst der Zuschauer auf der Tribüne im Zirkusrund, der in das artistische Globalgeschehen nicht einzugreifen vermag! Das Christentum kann sich unter den Bedingungen der Globalisierung den Herausforderungen der weltweiten Konkurrenz nicht entziehen und erst recht nicht selbstsicher in der Überlegenheit wiegen, die Religion des kapita- 14 "Verliert jemand seinen Arbeitsplatz, d. h. seine bürgerliche Existenz, so ist das dem Weltmarkt geschuldet.“ Heinz Dieterich, Globalisierung, Erziehung und Demokratie in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 145. 100 listischen Westens zu sein. Die Kirche ist vielmehr in ihrer Verkündigung sowie ihrer seelsorglichen und diakonischen Kompetenz gefragt, die neue Situation für Betroffene verständlich zu machen, sie in befreiender Weise zu deuten und hilfreiche, christliche Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dafür ist die Botschaft des „Evangeliums“ und der ganzen Bibel neu zu untersuchen und aufzuschlüsseln. Die Globalisierung nötigt zu fragen, wie die Welt im christlichen Sinne zu verstehen ist. Ein Anspruch, das Heil des einen Gottes Israels für die ganze Schöpfung zu vermitteln, ist an vielen Stellen der Bibel zu erkennen15 . Das Neue Testament macht differenzierend deutlich, was diese nach der Exils- 15 Vgl. Art. „Welt“ u. „Weltbild“ in RGG3, Bd. 6, 1962, Sp. 1595-1603, 1606-1629, u. LThK, 10. Bd. 2001, 1058-1068, u. 1070f, ferner Art. „Kosmos“ und „Kosmologie", in: HWP, Bd. 4, 1976, Sp. 1167-1176. 1153-1155, LthK, 6. Bd., 1997, Sp. 404f, 398-404; biblisch vgl z. B. (Deutero-)Jesaja 45,22: „Wendet euch zu mir und lasst euch retten, 'alle Enden der Erde', denn ich bin Gott und keiner sonst.“ Biblisch vgl. folgende Gruppen von Belegen (Konkordanz: Bibel von A bis Z, Stuttgart 1969, S. 759-761, Stichwort „Welt“, s. a. „Erde", „Erd-“ u. „Weltkreis“, „All“, „Völker“ u. a.): 1. „Diese“ Welt im Gegensatz zu Gottes Heilswillen Ps 17,14; 73,12; Mt 12,32; 16,26; Lk 16,8; Joh 7,7; 13,1; 14,17.19.27; 15,19; 17,5f.9.11; 18,36; Rö 5,12; 12,2; 1 Ko 1,20; 2,12; 3,19; 7,31; 2 Ko 7,10; Eph 2,2; 1 Ti 6,7.17; Tit 2,2; 1 Joh 2,15-17; 3,1; 1 Joh 4,5.17; Jak 2,5 2. Gottes Gnade, Rettung, Heil, Wort und Licht für die Welt Ps 50,1; Jes 14,7; Sir 18,12(Luther, sonst 13); Mt 5,14; 26,13; Mk 16,15; Joh 1,9.29; 3,16-19; 4,42; 6,33.51; 8,12; 9,5; 10,36; 11,27; 14,31; 17,13-25; 18,20.37; Rö 1,8; 2 Ko 5,19; Phil 2,15; 1 Ti 1,15; 3,16; 1 Joh 3,1 3. die „böse“ Welt Sir 11,30; 37,3; Mt 4,8; 18,7; Joh 14,30; 15,18; 2. Ko 4,4; Gal 1,4; 4,3; Eph 6,12; Kol 2,8; 2 Pt 1,4; 1 Joh 4,3f; Heb 11,38; Jak 1,27; 4,4 4. Gottes Ehre und Herrlichkeit vor der Welt 4 Mo 14,21; Ps 19,5; 48,11; 57,6; 96,1; 98,3; Jes 52,10; Mi 5,3; Hab 2,20 5. die Welt als Gottes Schöpfung Ps 90,2; Wsh 9,9; Joh 1,10; Apg 17,24; Rö 1,20; Eph 1,4; Heb 1,2; 11,3 6. Gottes Gericht über die Welt 1 Mo 18,25; Ps 105,7; Joh 9,39; 12,31; Rö 3,19; 1 Ko 6,2 7. Gottes Macht über die Welt 1 Sm 2,8; Ps 2,8; 46,10; Jes 54,5; Wsh 11,22 8. Gottes Weltüberwindung Jes 45,22; Gal 6,14; 1 Joh 5,4; Offb 11,15 9. die zukünftige Welt Mt 12,32; Lk 20,35; Heb 6,5 10. das Ende der Welt Mt 24,3; 28,20. 101 zeit gebildete und in Christus realisierte, universale Botschaft über Gott und sein Verhältnis zur Welt und zum Menschen besagt: Gottes „Gnade", seine „Rettung", sein „Heil", „Wort“ und „Licht“ stehen „dieser“ Welt als gegensätzliche Realität gegenüber, kommen ihr jedoch zugute. Die im Sinne biblischer Aussagen formulierte Trinitätslehre beschreibt daraufhin, wie sich Gott nach seiner Möglichkeit und Wirklichkeit für die Welt öffnet und seine „Liebe“ offenbart. Die griechische Auffassung vom Kosmos und seinen Elementen16 wird als religiöse Orientierung in der Bibel weitgehend abgewehrt. Die christliche Theologie und Liturgie haben das dreistufige, geozentrische Weltbild jedoch verschiedentlich aufgenommen. b) Theologischer Denkanstoß Zweitens ist, von der kirchlichen Aufgabe ausgehend, theologisch vor Gefahren durch übertriebene Werterwartungen zu warnen. So ist dies unter anderen historischen Bedingungen zum Beispiel im Jahr 1934 durch die Barmer theologische Erklärung geschehen. Darin ist Widerspruch dagegen erhoben worden, dass viele durch den Nationalsozialismus und dessen Machtergreifung eine umstürzend neue Epoche in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anbrechen sahen. Zeiterscheinungen können das kulturelle Bewusstsein stark beeinflussen, sie dürfen es nach Auffassung der Unterzeichner der Erklärung aber nicht totalitär für einzelne, sich selbst vergötzende Wertbildungen in Politik, Wirtschaft, Kunst und Mode oder für eine einzelne Weltanschauung vereinnahmen. Dagegen richtet sich „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ (Barmen, Artikel 1). Keine „einzige und totale Ordnung des menschlichen Lebens“ (Artikel 5) darf alleinige Geltung und damit religiösen Rang beanspruchen. Vielmehr ist theologische Denkanstrengung nötig, damit Gottes Wort Menschen aus den „gottlosen Bindungen dieser Welt“ (Artikel 1) durch Zeugnis und Verkündigung auf heilsame Weise befreien kann (vgl. Artikel 6)17 . 16 Vgl. Galater 4,3 u. Kolosser 2,8 (stocheia tou kosmou) 17 Vgl. Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, hrsg. v. Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth. Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse, NeukirchenVluyn 1983. 102 c) Historischer Denkanstoß Ein Blick in die Kulturgeschichte ergibt einen dritten, geschichtlichen Denkanstoß, der die kirchlich-theologische Perspektive erweitern kann. Dieser führt auf Vorläufer und Parallelen zur heutigen, vorwiegend ökonomischen Globalisierung. Sind Raum greifende Veränderungen in Politik und Gesellschaft von humanwissenschaftlicher Seite kritisch zu prüfen, so fragt es sich, ob dies nicht vor dem Horizont durchaus akzeptabler Fortschritte in der Vergangenheit wirksam geschehen muss. Auch früher schon haben sich neue Wissensstände und Techniken über die ganze bekannte Welt ausgebreitet. Universale Prinzipien haben durch „kopernikanische Revolutionen“ das Weltbild verändert und das Handeln auf neue Grundlagen gestellt. Von der Erfindung der vorratshaltenden Landwirtschaft, der „neolithischen Revolution"18 , über die Material- und Waffentechnik der Bronze- und Eisenzeit, über die höfischen Schul- und Lehrtraditionen der alten Reiche, die politische Kultur des Hellenismus, dessen Macht, Geist und Bildung etwa das Judentum zur Universalisierung seines Gottesbegriffes nötigte und so zu einer Weltreligion werden ließ19 , über die Politik, Sprache und Kultur des römischen Weltreiches, die zur kulturellen Grundlage für das gesamte Abendland wurden, über die Wiedererweckung der humanen Geistestradition der Antike in der Renaissance und die Weltwirkung der Reformation mit ihrer Geltendmachung subjektivierter Religion bis zu den Freiheitstraditionen der Neuzeit haben immer wieder vielbeachtete Wellen der Universalisierung die bekannte Welt durchzogen20 . Erfindungen, Entdeckungen und Eroberungen sowie der internationale Austausch von Waren 18 Man zählt als systemische Wandlungen auf: die Agrarrevolution, die industrielle Revolution und die Informations-Revolution; vgl. Heinz Dietrich , Einleitung, in: Noam Chomsky u. Heinz Dieterich: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 5, vgl. ders., Globalisierung, Erziehung und Demokratie in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 49. Vgl. Schaubild 14.3: „Prometheische Revolutionen in der Geschichte“ in: Elmar Altvater u. Birgit Mahnkopf : Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 518. 19 Vgl. Antonius H. J. Gunneweg, Geschichte Israels bis Bar Kochba, 3. Aufl., Stuttgart u. a. 1979, S. 154. 20 Vgl. die Durchmusterung und Auflistung universalisierender Entwicklungen, Eroberungen und Erfindungen bei Tony Spybey, Globalization and World Society, Cambridge, Ma./USA 1996, S. 15-35 u. 36-52. 103 und Informationen erweiterten das Weltbewusstsein. Mit Hilfe von militärischer Macht, durch Nutzung ökonomischer Einflusssphären, vermittels neuer Arten der Lebensführung und in Gestalt von Ideenbewegungen wurde das gesellschaftliche Leben immer weiter über seine partikularen Ursprünge hinausgehoben. Weltkriege zeitigten schließlich wie zuvor schon der koloniale Imperialismus die furchtbaren Folgen nationaler Weltherrschaftsansprüche. Zu den im Überblick aufgeführten, geschichtlichen Fortschritten sind die entsprechenden gesellschaftstheoretischen Überlegungen anzustellen: Die Generalisierung kultureller Entwicklungsniveaus wird nicht allein durch Ideen bewirkt, sondern tritt meist auf mächtige Weise auch durch äußere, technische und politische Einflüsse ein. Kann etwa eine allgemeine Friedenskultur von innen heraus durch die aus Kriegserfahrung gewachsene Einsicht und Verständigungsbereitschaft erwachsen? Geschichtliche Erfahrung zeigt, dass eine solche viel eher durch die Verheerungspotenziale der modernen Waffentechnik erzwungen wird. Ähnlich verhält es sich mit der Globalisierung wirtschaftlicher Strukturen und Funktionen. Auch sie setzt sich durch als Reaktion auf materielle Prozesse; sie kommt zustande durch die Macht unmittelbar wirksamer „Interessen“ und wird durch „Ideen“ allenfalls transportiert, in ihrer Bedeutung erhellt und benennbar gemacht21 . Die katalysatorische Wirkung des Geistes für die Kultur besteht vornehmlich darin, Konsequenzen aus anderweitigen Entwicklungen zu ziehen, d. h. diese zu verstehen, auf neue Zusammenhänge zu übertragen und so zu generalisieren. Kann die Reformation zum Beispiel ohne die Buchdruckerkunst und das Quellenstudium gedacht werden, wie sie durch Gutenberg und die Sprachgelehrten des Renaissancehumanismus erfunden wurden? Ist das Schiff der Reformation nicht durch die sozialen Entwicklungsschübe eines erstarkenden Bürgertums und der nach Befreiung strebenden Bauern flottgemacht worden und erst durch ein politisches Machtvakuum freigekommen, da ein mit europäischen Angelegenheiten beschäftigter Kaiser zunächst nicht gegen sie durchgreifen konnte? Wenn aus vorwiegend ideellen Gründen ein Ablauf 21 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, 9. Aufl., 1988, S. 252, dazu Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Bd. 1, Frankfurt 1988, stw 1991, S. 120-123. 104 von Ereignissen kritisch beurteilt wird, ist dies, wie das Beispiel der warnenden Barmer theologischen Erklärung zeigt, nicht unbedingt auch geschichtswirksam. Glaubwürdige und idealistische Entscheidungen bleiben Sache des Einzelnen. Massen werden viel stärker durch kollektive Lebenschancen als durch Überzeugungen gesteuert, wie Reinhold Niebuhr in seiner Studie über die moralische Persönlichkeit und die anscheinend unmoralische Gesellschaft22 dargelegt hat. Das Entscheidungspotenzial, das durch Religionen für die Gesellschaft bereitgestellt wird, ist seinem Ursprung nach partikular. Es hat Generalisierung ebenso nötig wie alle anderen Kulturvorgänge. Es kann nur motivierend, begleitend und korrigierend wirksam sein. Es kann aber durchaus das Freiheitsbewusstsein einer Bevölkerungsgruppe beeinflussen und ihre Identität mittragen. Das ist abzulesen an Konflikten zwischen universalen Machtkulturen und religiös bestimmten Völkern wie etwa den Juden unter hellenistischer und den Polen unter sowjetischer Herrschaft oder der Methode gewaltlosen politischen Widerstandes, die seit einigen Jahrzehnten offenbar politischen Wandel auszulösen vermag, etwa im indischen Freiheitskampf, in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, bei der deutschen „Wiedervereinigung“ und beim Ende der „Apartheid“ in Südafrika. Das sind Perspektiven für eine mögliche, religiös begründete Reaktion auch auf die Globalisierung, doch damit ist eine sozialwissenschaftliche Stellungnahme auch für Kirche und Theologie noch nicht erarbeitet. Dafür muss jener Vorgang, der die Welt verändert, systematischer betrachtet werden. d) Kulturphilosophischer Denkanstoß Viertens ergibt sich als kulturtheoretischer Denkanstoß der Gedanke einer innerkulturellen Wechselwirkung. Entwicklungen der Wirtschaft müssen von anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht hilflos und unkritisch hingenommen werden. Diese können differenziert reagieren, Eingriffe und Auswirkungen abwehren oder zu beeinflussen versuchen und dafür untereinander und auf verschiedenen Ebenen Koalitionen erzeugen. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens stehen in einem Wechselverhältnis, in dem jeder Teil mit den anderen im 22 Reinhold Niebuhr, Moral Man And Immoral Society. A Study In Ethics And Politics, 1. Aufl., New York 1932. 105 Ganzen gesellschaftlicher Funktionen verbunden ist und auch bei der Wahrnehmung eigener Aufgaben empfindlich auf veränderte Bedingungen in anderen gesellschaftlichen Sektoren reagiert. Wenn politische Funktionen von der Ökonomie usurpiert werden oder wenn Politiker der Privatwirtschaft gegenüber missionarisch anmutende Erwartungen äußern wie etwa die Hoffnung, transnationale Konzerne könnten in einer Problemregion sozial integrierend wirken23 , dann kann das zu ebenso elementaren Störungen des gesellschaftlichen Gefüges führen wie der Versuch, die allgemeine Weltanschauung durch und durch politisch auszurichten, den seinerzeit der Nationalsozialismus mit der „Gleichschaltung“ aller Institutionen unternahm. Dies ist auch bei aktuellen Wert- und Machtzuwächsen einzelner Bereiche im Interesse des Ganzen warnend immer wieder bewusst zu machen. Universalisierungsschübe auf der Basis technischer oder kultureller Entdeckungen, wie wir sie in dem unmittelbar vorangehenden Abschnitt über kulturelle Fortschritte in der Geschichte behandelt haben, tendieren dazu, über ihren Stammwertbereich hinauszugreifen und ihren Rationalitätsstil auf fremde Sachgebiete zu übertragen. Sie entwickeln dadurch eine quasi charismatische Ausstrahlung24 , die verblüfft und lähmt. Sie sind darin entschlossen abzuwehren und allenfalls kompensatorisch nachzubilden, so dass „Wahlverwandtschaften“ zwischen verschiedenen Werterscheinungen entstehen, sie sind aber keineswegs unbedingt oder direkt als gültig zu übernehmen. Sonst kann es mindestens zu laienhaften Missverständnissen oder gar zu Fehlentscheidungen kommen, wenn z. B. jemand wie seinerzeit Kanzler Helmut Kohl den bereichsfremd gebildeten Ausdruck „Daten-Autobahn“ für das Internet auf das Straßennetz bezieht. 23 Vgl. Heinz Dieterich, Globalisierung, Demokratie und Erziehung in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 65: „'Wir verstehen völlig', sagte [US-Präsident] Clinton vor 1.200 Wirtschaftsführern und Regierungsfunktionären, 'dass der private Sektor das wirkliche Subjekt der hemisphärischen Integration ist.'„Dieterich resümiert, den transnationalen Konzernen mit ihrem universalen Einfluss werde eine fast „evangelische Rolle“ zugeschrieben. 24 So soll das Sendungsbewusstsein für die US-amerikanische Kultur der Geschichtsdarstellung zufolge vom Machtgewinn durch den Sieg über Mexiko 1848 und der Eingliederung Kaliforniens ausgegangen sein. Hier hatte man die Überlegenheit der eigenen Kultur über eine vergleichbare erlebt - und hat sie generalisiert. 106 Verschiedene Wertzustände in einer Kultur üben beträchtlichen Einfluss aufeinander aus. Sie sind ihrem Universalisierungsgrad nach zu vergleichen und zu unterscheiden. Eine weltoffene, dialogische Politik fordert eine ebensolche Kunst, Wissenschaft und Religion. Eine archaische Religion ist mit einem komplexen kulturellen System nicht unbedingt kompatibel, auch wenn sie als Anachronismus noch weiter praktiziert wird25 . Religiöser Fundamentalismus versucht sogar, Politik und Kultur in eigentlich längst überwundenen Schranken zu halten. Die gegenseitige Zusammenstimmung und das Konfliktverhältnis der Wertbereiche sind aus der Struktur einer Gesellschaft näher zu bestimmen. Die Frage, die durch den ökonomischen Globalisierungsprozess theoretisch gestellt wird, ist also diejenige, inwiefern in den Bereichen von Politik und Recht, Wissenschaft und Kunst, Religion und Weltanschauung Universalisierungsschübe aufgeholt werden können, die dadurch herbeigeführt wurden, dass im wirtschaftlichen Bereich der Kommunismus als globale Blockierung der Weltwirtschaft sich selbst aufgelöst hat. Die ökonomische Globalisierung wurde vor allem dadurch zu einem unübersehbaren Phänomen, dass der Weltmarkt sich nach dem Ende des Staatssozialismus durch die nun auch für den früheren Ostblock geltende wirtschaftliche Freizügigkeit von einer auf fünf Milliarden teilnehmende Menschen erweiterte26 . Ein dem Weltmarkt entsprechendes, schnelles und durchgreifendes Wirken vereinheitlichter, öffentlicher Foren steht noch aus, wie an der von Staat zu Staat unterschiedlichen Gesetzeslage, etwa zur Gentechnik, deutlich wird. 25 Vgl. das scheinbare Gegenbeispiel des japanischen Shintoismus: 43 % der Universitätsstudentinnen und -studenten in Japan geben an, dass das transzendental-religiöse Element im Shintoismus, „Kami", nicht existiert. Dennoch gehen 80 % von ihnen bei besonderen Gelegenheiten zu einem Shinto-Schrein; 60 % haben für das Bestehen der Aufnahmeprüfung dort gebetet. Vgl. Kenji Ueda (Tokyo): Der Shintoglaube, 2. Teil: Ein Weg zwischen Mythos und Moderne, in: WCRP-Mitteilungen Nr. 43, hrsg. v. europ. Sekretariat der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden, Grand-Saconnex, Schweiz, März 1996, S. 10-15, S. 10 (Teil 1, Shintoismus in Japan - Seine Geschichte und Situation, in Nr. 42, Dez. 1995, S. 7-16); ferner Nelly Naumann: Shinto und Volksreligion. Japanische Religiosität im historischen Kontext, in: Mirca Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 3/2, Freiburg i.B. u. a. 1991, (S. 304-324) S. 322. 26 Vgl. Heinz Dieterich , Globalisierung, Erziehung und Demokratie in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 56. 107 Prozesse der Universalisierung sind in allen gesellschaftlichen Sphären anzutreffen. Sie stellen das äußere, materialisierte Pendant zu der eher mentalen Generalisierung dar. Sie sind es, die soziales und kulturelles Handeln so spannend machen: Alles Tun und jede Idee kann ungeahnte Folgen haben, auch in anderen Bereichen. Die Kunst spielt mit diesem Übertragungseffekt, die Ethik fordert ihn systematisch, die Religion setzt ihn autoritativ voraus27 . Die verschiedenen Bereiche sozialen Lebens erhalten dadurch ihre Einheitlichkeit als Teile eines kulturellen Systems. Eine prekäre Wahl zwischen verschiedenen Zielen und Handlungsweisen stellt sich vor allem in politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Entscheidungssituationen. Die darin zur Erleichterung eingeführte Gruppierung von Problemen, die Gleichartigkeit des sinnstiftenden, rationalen Umgangs mit ihnen und die im gesellschaftlichen Leben systematisch zur Problemlösung eingesetzten Mittel schaffen viel genutzte Handlungswege, die zu den jeweiligen Zielen oder Werten führen. Aus entscheidungsrelevanten Vergleichen zwischen verschiedenen Lösungswegen für gleichartige Probleme entstehen bewährte Ensembles von pragmatischen Hilfen als sogenannte „Institutionen". Diese fußen, je nach der Epoche, in der sie entstanden sind, auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Kommunikations- und Austauschmitteln. Die so genannte „Informationsgesellschaft“ verfügt über andere Medien als die des industriellen oder gar des vorindustriellen Zeitalters28 . Innovative Verfahren breiten sich heute um ein Vielfaches schneller über die ganze zivilisierte Welt aus als zur Zeit traditionaler Gesellschaften29 . Es werden aber nicht allein technische Erfindungen und zivilisatorische Errungenschaften überall eingeführt, sondern es treten auch insgesamt universalere Kulturzustände ein. Das Niveau verschiedener Standorte wird egalisiert, weil 27 Für die jüdisch-christliche Religion vgl. die „Zehn Gebote", für polytheistische Religionen etwa Schutzgötter und Patrone, welche die organischen Standards gesellschaftlicher Rationalität wahren und Übergriffe von einem ethischen Bereich auf einen fremden, z. B. durch Fluchen, Entheiligen, Töten, Begehren usw. abwehren sollen. 28 Vgl. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1979 (amerik. Originalausg. 1973), S. 114f. 29 Vgl. Helmut Schmidt, Globalisierung. Politische, ökonomische und kulturelle Herausforderungen, Stuttgart 1998, S. 24f u. 47. 108 das verschiedenen kulturellen Sphären gemeinsame Repertoire sich erweitert und Beziehungen zwischen den einzelnen Subjekten sich in einen immer allgemeineren und abstrakteren Rahmen, zum Beispiel der Menschenrechte oder bestimmter Verfassungsformen, entfalten. Was aufgrund besonderer regionaler Voraussetzungen jeweils anders ist, wird zur Variation des allgemeinen Fortschrittsniveaus. Universalisierung tritt so nicht nur an einzelnen Verfahrensweisen, sondern auch an sich als freie Disposition zu einer heute auf der ganzen Welt zunehmend gleichartigen Lebensgestaltung auf. Universalisierung ist dabei über die prinzipielle Bestimmtheit hinaus durchaus auch ein immanentes Moment der Handlungsorientierung und der Rationalität überhaupt. Durch den pragmatischen Sinn der genannten Vergleiche und Übertragungen ergeben sich Nötigungen, in bestimmten Fällen wieder gleichartig zu entscheiden. Diese Nötigungen können je nach geltender Norm entweder 1. gruppenspezifisch, d. h. konventionell vorgegeben, 2. autonom erschließbar, 3. pragmatisch zu kalkulieren oder 4. transzendental unwiderleglich sein. Generelle, das heißt abstrakt-prinzipielle Gültigkeit oder globale Geltung, das heißt empirisch-universale Nötigung, ergibt sich auf solchen Lösungswegen aus vorgegebenen oder vorgestellten Wertorientierungen. Sie sind prinzipiell nicht zu vermeiden, will man bei einer vernünftigen, d. h. verantwortlichen Handlungsweise bleiben. So ist einer Globalisierung als Orientierungsweise des Handelns im Prinzip nichts Vernünftiges entgegenzusetzen. Sie ist vielmehr im Grundbestand der Ratio und im Umgang mit der Wirklichkeit geradezu angelegt. Sie ist notwendig zu erreichen, wenn sich rationales Handeln in der Lebenswelt überhaupt ausbreiten soll. Da aber die Vernunft in ihren Weltbezügen und in sich gegliedert erscheint sowie über die ökonomische Rationalität hinaus ein weiter ausgreifendes Ganzes darstellt, werden die Gradabstufungen der Universalisierung zum Problem. Ein solches Problem liegt mit der ökonomischen Globalisierung vor. Die Frage nach dem erreichten Universalisierungsgrad in den verschiedenen Wertbereichen führt auf unterschiedliche geschichtliche Ausprägungen. Die Religion zum Beispiel erlebte in Renaissance, Reformation und Aufklärung Rationalisierungsschübe, nachdem sich im Spätmittelalter und in den Konfessionskriegen vernunftwidrige Ausprägungen gezeigt hatten. Heute existieren verschiedene Universalisierungszustände nebeneinander. Weltkirchen 109 und -kirchenverbände zum Beispiel bestehen neben Volks- und Gruppenreligionen sowie religiösem Individualismus. Dem religiösen Fundamentalismus ist wegen seines partikularen Ausgangspunktes universalisierende Kraft - zum Glück, möchte man im Interesse des Pluralismus und der Freiheit sagen - von sich aus nicht eigen, wie im Fall des Islamismus an dessen durchaus unterschiedlicher Aufnahme durch islamische Staaten zu erkennen ist30 . Aber auch hier besteht eine ständige Unsicherheit, was die Übernahme globaler Strukturen, zum Beispiel durch Sekten aggressiver, weltablehnender oder ideologisch belasteter, apokalyptischer oder zivilreligiöser Art betrifft. Auch der Beitrag, den überregionale religiöse und interreligiöse Verbände zur Universalisierung vernünftiger politischer Zustände leisten können, zum Beispiel für die Durchsetzung der Menschenrechte, ist noch strittig31 . Die Überlegung, wie sich Institutionen, bedingt durch den Universalisierungsgrad ihrer je eigenen Geltungsansprüche sowie ihrer Verabredungen und Streitigkeiten zueinander auch bereichsüberschreitend verhalten können, stellt vor neue Fragen und Probleme. Es ist ein Denkanstoß, der sich durch die ökonomische Globalisierung auf neue Weise ergibt, der aber in der Geschichte begründet ist. Dieser Denkanstoß setzt kulturphilosophische und gesellschaftstheoretische Annahmen zur globalen Rationalisierung und Universalisierung voraus, wie sie am Schluss des vorangehenden Abschnittes behandelt wurden. Von diesen Annahmen her müsste das logische und empirische Verhältnis der Institutionen untereinander geklärt werden. Sie liegen jedoch nicht in abgeschlossener Theoriegestalt vor. Dennoch ist eine theoretische Klärung der durch die „Globalisierung“ berührten strukturellen Verhältnisse, die in diesem Abschnitt erörtert wurden, zu fordern und zu leisten. Darum wird aus den Überlegungen zur kulturellen Universalisierung, die durch die Globalisierung der Wirtschaft und anderer Bereiche bereits eingeleitet ist, nach den 30 Vgl. Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München u. Zürich 1997, S. 185. 31 Vgl. zum Beispiel Wolfgang Huber, Schnelle Einheit nicht möglich, in: Publik Forum 9/1993, S. 22f, zitiert in: Hans Gressel, Schalom. Auf dem Weg zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Evangelischen Kirche von Westfalen, Sonderausgabe 1994, hrsg. v. Herbert Rösener, Schwerte 1994, S. 36: „Die Religionen sind den Nachweis, daß sie zum Weltfrieden sehr viel Konstruktives beitragen können, bisher weithin schuldig geblieben." 110 Denkanstößen hier noch eine Reihe ethischer und systematischer Folgerungen gezogen. 5. Schlussfolgerungen: Globalisierung lässt zwei Extreme der persönlichen Stellungnahme zu: Man kann eine Utopie der kommenden Zustände entwickeln oder bloß dumpf in sie hineinleben. Beides sind keine ethisch vertretbaren, verantwortlichen Handlungsweisen. Ein dritter Weg ist zu suchen, auf dem Menschen miteinander für Gerechtigkeit streiten und sich lernend33 am Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung beteiligen. In den globalen Komplikationen ist nach Ansätzen ethischer Vernunft zu forschen. Aus den Überlegungen zum Fortschrittscharakter der Globalisierung als eines Universalisierungsprozesses sind auf diese Weise die nachstehenden Erfordernisse abzuleiten. Ohne dass sie erfüllt werden, kann die augenblickliche, vor allem wirtschaftliche Globalisierung nicht als vollständiger kultureller Fortschritt gelten34 . a) Globalisierung der Wirtschaft (1) Menschliches Handeln sollte zunehmend in eine globale Verantwortung einbezogen werden. Rechte und Pflichten dürfen nicht länger ohne ihren weltweiten Wirkungsrahmen wahrgenommen sein35 . Wer sich wirtschafts- und sozialpolitisch auf die Globalisierung beruft, hat oft nur eine starke Immunisierungsstrategie dagegen gewählt, Verantwortung zu übernehmen36 . Dass wir auf dem Globus leben, kann nicht als Begründung dafür dienen, Wünsche und Bedürfnisse anderer zu missachten. 33 Vgl. Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf , Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 169. 34 Für den politischen Bereich stellt Ulrich Beck entsprechende Forderungen auf: Was ist Globalisierung? Frankfurt a. M. 1997, S. 217ff. 35 Vgl. Helmut Schmidt (Hrsg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten. Ein Vorschlag. München 1997; u. ders.: Globalisierung, a.a.O. 36 Vgl. Elmar Altvater u. Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 9: „In den Debatten um die Hebung der Wettbewerbsfähigkeit und den Ab- und Umbau des Wohlfahrtsstaates avancieren die globalen Sachzwänge zum sozialpolitischen Totschlagargument ersten Ranges.“ 111 (2) Es ist der Eindruck zu überwinden, Globalisierung führe ein übermächtiges Gesamtsystem herbei, in dem sich der Einzelne nur herrisch behaupten oder sklavisch unterordnen könne. Globalisierung führt neue Wettbewerbszustände herbei und beruht auf der Partizipation aller. Gerade deswegen ist daran festzuhalten, dass das „System“ für die Menschen gemacht wird und nicht umgekehrt. (3) Globalisierung muss als Gelegenheit dazu begriffen und gestaltet werden, dass alle Menschen sich ihren Interessen gemäß in einem sicheren Rahmen am globalen Prozess des Austauschs von Gütern, Dienstleistungen und Informationen beteiligen können. Individuen dürfen nicht auf ihren ökonomischen „Standort“ fixiert, sondern sie sollten dazu befreit werden, sich in ihrem Lebensumkreis und in allen kulturellen Dimensionen als einem gleichberechtigten, globalen Terrain zu bewegen. (4) Einzelne wie auch breite Bevölkerungsschichten stehen vor der Chance wie der Notwendigkeit, durch interkulturelles Lernen37 an einer kulturellen Diversifizierung auf Weltniveau teilzunehmen. Die bewusst mitvollzogene Integration einheimischer und zugewanderter Bevölkerungskreise ist eine wesentliche Voraussetzung für ein globales Zusammenleben. Diejenige Kultur ist hierfür am besten geeignet, die am meisten aus den anderen in sich aufnimmt und transportiert. (5) Eine partizipatorische Weltkultur erfordert, dass alle an der Entwicklung beteiligt werden. Armut und Bevölkerungsvermehrung auf der einen, Reichtum und Luxus auf der anderen Seite können den Globus zerstören. Gegen die im Ergebnis falsche38 und Neid schürende These vom Arbeitsplatzexport und gegen eine sich in globalen Konfliktzonen ballende Arbeitslosigkeit ist die Entwicklung zu einer postmoder- 37 Vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Ausländer, Aussiedler und Einheimische als Nachbarn. Ermittlung von Konfliktpotentialen und exemplarischen Konfliktlösungen, erarbeitet von der Forschungsgruppe Kommunikation und Sozialanalysen GmbH FOKUS, Düsseldorf 1992, S. 27-46, bes. S. 44 ("Abbau von Fremdenfeindlichkeit durch interkulturelles Lernen"). 38 Durch die Produktion einheimischer Firmen im Ausland werden auch dort in der Regel weniger Arbeitsplätze geschaffen als abgebaut, da zu einem großen Teil bestehende Firmen gekauft und übernommen werden. 112 nen Dienstleistungsgesellschaft auf solarer Grundlage ideenreich und energisch zu verfolgen. (6) Globales Wachstum führt nur zu einem geringen Anteil in den offenen Weltraum und zum überwiegenden Teil an die Grenzen der Globalität. Es kann nicht als „wilde“ Globalisierung ungebremst weitergehen, sondern muss durch eine Welt-Innenarchitektur dialogisch in eine nachhaltige, qualitative Wertentwicklung umgewandelt werden. (7) Die Dynamik der Globalisierung drängt hin auf die Globalität einer Weltgesellschaft mit globalen Institutionen. Es kommt zur Bildung von Institutionen auf Globalebene als einer Welt-Infrastruktur. Diese Entwicklung darf nicht durch Krisen katastrophalen Ausmaßes blockiert werden. Konflikte zwischen den Zivilisationen39 oder gar zwischen den neu entstehenden, kontinentalen Wirtschaftsblöcken sind von vornherein auszuschließen. Sabotage und Terror mit Weltwirkung ist auf demokratischer Grundlage, notfalls mit globalen Polizeimaßnahmen, entschlossen zu begegnen. (8) Menschen sind nur Gäste auf Erden. Der Sinn ihres Lebens liegt nicht in Eroberung und hemmungslosem Verzehr, sondern darin, dem Leben Raum zu geben ("Let it be"). Ein gastfreundliches Verhältnis zu nahen und fernen Nächsten sowie zu anderen Kreaturen und nicht nur ein einladendes „Geschäftsklima“ ist anzustreben. b) Globalisierung der Ethik (1) Eine allgemeine empirisch-normative, globale Menschheitsethik muss allen Einzelinteressen vorgeordnet werden. Die Fähigkeit, wenigstens theoretisch zunächst auf Eigeninteressen zu verzichten, muss allgemein als Voraussetzung eines globalen Selbstverständnisses begriffen werden. Nur so kann die Globalisierung Kultur zerstörender, partikularer Expansionsansprüche in allen Bereichen verhindert werden. Nicht Weltherrschaft, sondern Weltgemeinschaft darf das Ziel sein. 39 Vgl. Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München u. Zürich 1997, S. 159. 113 (2) Menschliches Handeln darf nicht länger als Kampf gegen die Natur verstanden werden; es muss auf ein Zusammenleben in der Schöpfung hinführen. Naturresiduen sind zu vernetzen, damit Arten sich erhalten und ursprüngliche Zustände bewahrt werden können. Das ist auch um des seelischen Gleichgewichts der Menschen willen notwendig. (3) Ein kategorischer, sozialer und ökologischer Imperativ könnte dem globalen wirtschaftlichen Projekt eine globale Gesellschaft als ihr Subjekt zuordnen, die ihm Grenzen setzt. Für den Einzelnen könnte das zum Beispiel heißen: „Fahre Auto, wenn dies auch dann noch möglich ist, sollten alle 6,2 Mrd. Menschen“ ... „ebenfalls das Auto nutzen wollen."40 (4) Ziel der Globalisierung ist nicht das „Superstrat“ einer globalen Einheitskultur, welche die „Substrate“ traditioneller Milieus unterdrückt, sondern die versöhnte Verschiedenheit aller Kulturen. Lokale Erzeugnisse dürfen nicht überall durch erfolgreichere, weltweit verbreitete Produkte verdrängt werden. Partikulare Kulturen und nicht unpersönliche Stilelemente der globalen Technik schaffen echte Lebensräume. „Es ist nie zu spät, sich auf seine Ursprünge zu besinnen."41 (5) Die Frage nach Ziel und Scheitern des globalen Projekts stellt sich als Frage nach Konflikten und Risiken seines Vollzuges. Für die Ethik entsteht die Aufgabe, nicht nur die negative Seite der möglichen, selbst gemachten Zerstörung menschlichen Lebens, geistiger Kultur und globaler Umwelt vor Augen zu führen, sondern auch Friedensperspektiven für Individuum und Gesellschaft zu entwerfen, die visionär und realistisch sind. Die aristotelisch-platonische Frage nach dem für den Menschen Wesentlichen und dem Wesen der Dinge ist voranzutreiben. Was Menschen sind, was sie wirklich brauchen und wie sie leben können, wird sich in globalem Maßstab herausstellen. 40 Vgl. Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf , Grenzen der Globalisierung, a.a.O., S. 538. 41 Vgl. Jean Baudrillard, America, London 1988, S. 41: „It is never too late to revive your origins.“ Zit. in: Roland Robertson, Globalization, Social Theory and Global Culture. London, Thousand Oaks u. Neu Dehli 1992, S. 102. 114 c) Globalisierung der Religion (1) Was Gott für die Menschen im globalen Zeitalter bedeutet, kann in überraschend neuer Weise zutage treten. Als Fundierung aller irdischen Werte ist eine metaphysische Wirklichkeit zu erkennen, die von der Religion vermittelt wird. Der Mensch darf nicht als „merkantile Monade mit elektronischer Identität"42 betrachtet werden. Er muss sich nach einem anderem Urbild und einem anderen Ursprung umsehen. (2) Religiöse Menschen können sich dafür verantwortlich finden, dass die Wirtschaft ihren Kampf um Werte nicht ohne Friedensstifter führt. Sie können eine kosmische, schöpfungsuniversale Sichtweise in die globale Diskussion und in den geistigen Kampf um den Globus die Perspektive der Versöhnung einbringen43 . Die Globalisierung hat eine Fülle von neuen „Nächsten“ geschaffen. (3) Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen können einander besser verstehen, wenn sie ihre Unterschiede als Ausprägungen einheitlicher menschlicher Anlagen auf gemeinsamen Gebieten des Geistes und der Kultur begreifen. Auf religiösem Gebiet nimmt man seit der Aufklärung auf der ethischen Ebene eine allgemeine, humane Religion an, die den einzelnen Religionen vorgelagert ist, ohne dass diese dadurch ihre innere Differenzierung in Glaubensrichtungen und Konfessionen einbüßen. Diese „Religion der Menschheit"44 entwickelt Fragen nach Gott und ei- 42 Heinz Dieterich, Globalisierung, Erziehung und Demokratie in Lateinamerika, in: Globalisierung im Cyberspace, a.a.O., S. 170. 43 "Gegen die Religion des Marktes müssen wir unsere Religion setzen, die andere Werte schafft, die zum sinnvollen und verantwortlichen Handeln aufruft und die die Schwachen berücksichtigt.“ Peter Große, Globalisierung. Bedrohung und Herausforderung für die Menschen? In: Mitteilen. Hermannsburger Missionsblatt, Heft 1, Hermannsburg 1997, S. 10f, S. 11. 44 Vgl. Peter Beyer, Religion and Globalization, London Thousand Oaks and New Dehli 1994, S. 225f: „are we heading toward the development of a broadly cultural 'religion of humanity' as the typical religion of the future?“ - Der Gedanke der „Menschheitsreligion“ ist nach Vorläufern in der Aufklärung und besonders im englischen Deismus vor allem von Auguste Comtes in seinem „Positivistischen Katechismus“ propagiert worden. Nur noch hypothetisch erscheint er aufgrund religionswissenschaftlicher Kenntnis bei Ernst Troeltsch : Die Mission in der modernen Welt, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 115 ne eigene Ethik. Sie bereitet neuerdings rechtliche und politische Lösungen vor, indem sie für die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens ein „Welt-Ethos“ bekannt macht und globale Wege des Lebens und Überlebens aufzeigt. (4) Religionen können die Globalisierung auf menschheitlicher Ebene zu einer globalen Humanität hinlenken. Sie sollen sich beispielhaft um Toleranz bemühen und die Frage nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit offen halten. Sie sollen weltweite Gemeinschaft vorführen und sich durch Gebete der Religionen verbinden, ohne ihre Differenziertheit aufzugeben oder in einen Synkretismus zu verfallen. Interreligiöser Dialog bis hin zu einem „Weltparlament“ der Religionen ist zu fördern. Die Frage, wo für die Siedler im „globalen Dorf“ der Tempel, der Schrein, die Moschee oder die Kirche als Verkörperung des zentralen Wertes einer Gemeinschaft steht, ist für das Ganze bedeutsam. 1922, S. 790, u.: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911, S. 48f. 116 Der Mensch in seiner Welt. Zur wechselseitigen Irritation und Relevanz von Anthropologie und Globalisierungsdiskussion Michael Kranzusch 1. Einleitung Jaques Davis ist Sohn einer jüdischstämmigen Frankokanadierin und eines schwarzen US-Amerikaners, eines Baptisten aus Washington D.C., der seit fast 20 Jahren für die amerikanische Regierung in Europa arbeitet. Geboren ist Jaques in Amsterdam, lebt aber seit dem zweiten seiner mittlerweile 17 Lebensjahre in Berlin. Fließend spricht er Deutsch, Englisch und Französisch; gerade lernt er Spanisch. Nicht zuletzt wohl wegen seiner Familienverhältnisse interessiert er sich für Fragen der Globalisierung, allerdings weniger unter den wirtschaftlichen Gesichtspunkten, unter denen das Thema öffentlich so breit verhandelt wird. Jaques möchte Kulturwissenschaften studieren und ins Kulturmanagement einsteigen, um später vor allem internationale Musikfestivals organisieren zu können. Musikalisch hat er eine Antipathie gegen den McMainstream der Popmusik, der zur Zeit zwischen Rock- und Techno-Einflüssen pendelt und auch international die meisten Diskotheken austauschbar macht. Ansonsten ist Jaques musikalisch nicht sehr festgelegt - er nennt das: tolerant. Auch sonst legt er großen Wert auf Toleranz, zumal er selbst schlechte Erfahrungen gemacht hat, da er aufgrund seiner Hautfarbe nicht als Deutscher durchgeht, vor allem bei den Söhnen deutschstämmiger, oft aber asiatisch aussehender Aussiedler aus Kasachstan, die sich auf dem Schulweg bevorzugt auf Russisch über ihn lustig machen. Seiner Mutter passiert das im Übrigen nie, obwohl sie sich nicht als Deutsche fühlt wie etwa ihr Sohn, sondern aus verschiedenen Gründen ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihrer unfreiwilligen „Wahl117 heimat“ hat. Rechtlich ist kein Familienangehöriger Deutscher, aber das spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Wenn Jaques sich nun an diesem Abend - während seine Eltern mit niederländischen Freunden italienisch essen gehen - an seinen PC aus Taiwan setzt, dann wird er auf der Basis eines amerikanischen Betriebssystems und Hamburger Software via Internet in Echtzeit mit Musikern in Straßburg, London und Amsterdam an einem Stück weiterarbeiten, das sie schon ein paar Tage in Arbeit haben. Wie gewohnt, wird er sich dann als Jaqueline ausgeben, die Ähnlichkeit des Namens als Vorsichtsmaßnahme gegen Versprecher nutzend, das Verwirrspiel aber als Erprobung einer virtuellen Identität, von der seine Mitmusiker allerdings ausgehen, auf die sie anders ansprechen, als er es gewohnt ist, denn bisher kennen sich die drei nicht persönlich - oder sollte man besser sagen: leiblich? Globalisierung ist für Jaques gelegentlich ein Thema, vor allem aber die selbstverständlichste, weil allgegenwärtige Voraussetzung seiner Herkunft, seines Alltags und seiner Zukunftsvorstellungen. Globalisierung ist für ihn keine Zukunftsmusik, sondern - neudeutsch! - fact. Jaques Davis ist keine real existierende Person, sondern eine Konstruktion, die ich vor einigen Jahren vorgenommen habe, um Erfahrungen mit Schülergruppen zu bündeln und Globalisierung zu thematisieren. Mittlerweile sind diverse Veröffentlichungen zu diesem Phänomen erschienen, das als kulturelle Mixtur nur unzureichend beschrieben ist. Als Autoren nenne ich hier nur Jan Nederveen Pieterse 1 und Elisabeth Beck-Gernsheim 2 . Es geht um eine unüberschaubare Variation nahezu sämtlicher Facetten des Menschen, beziehungsweise der Anthropologie, eine Variation, die aus evolutionstheoretischer Perspektive bewährte Selektionsbedingungen über den Haufen wirft oder zumindest in Frage stellt und neue schafft. Globalisierung im Sinne dieser grenzüberschreitenden Variation durchdringt und prägt unseren Alltag in mehr als einer Hinsicht und meist unauffällig oder zumindest unbewusst. Leute wie die Kunstfigur Jaques Davis gibt es in unserer 1 2 Jan Nederveen Pieterse, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Perspektiven der Weltgesellschaft, hrsg. v. Ulrich Beck, Frankfurt a.M. 1998, S. 87-124. Elisabeth Beck-Gernsheim, Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung im Zeitalter der Globalisierung, in: Perspektiven der Weltgesellschaft, a.a.O., S. 125-167. 118 Gesellschaft inzwischen in großer Zahl, wobei ihre globalen Lebensbezüge zu großen Teilen ihnen selbst gar nicht bekannt sind, zu anderen Teilen schon so selbstverständlich geworden sind, dass sie nicht mehr in Kategorien wie „eigen", „heimisch“ oder „fremd“ wahrgenommen werden, und schließlich nur zu geringen Teilen von außen überhaupt bemerkbar sind. Globalisierung bedeutet in dieser Hinsicht die Auflösung von traditionellen Regulativen, Normen und Tabus, von Devianz und Stigmatisierung in ein Feld kombinierbarer Möglichkeiten: Pluralisierung. Von daher spitzt sich die Globalisierungsthematik auf drei Fragen zu: - Was bedeutet Globalisierung in anthropologischer Perspektive? - Inwiefern sind Menschen mit ihren Differenzierungs- und Integrationsfähigkeiten im Prozess der Globalisierung Veränderungen unterworfen? - Und: Inwiefern steuern Menschen mit ihren Differenzierungs- und Integrationsfähigkeiten den Prozess der Globalisierung? 2. Globalisierung in anthropologischer Perspektive Um die Frage nach dem Menschen im Globalisierungsprozess angehen zu können, ist zunächst näher zu bestimmen, was unter „Globalisierung“ verstanden werden soll. Es kann als Gemeinplatz gelten, dass die globalisierte, nämlich auf globale Rezeption hin publizierte Informationsflut nicht mehr zu überschauen oder gar zu verarbeiten ist - ganz zu schweigen von dem Meer global vorhandener, latenter Information. Das gilt mittlerweile - nach einer kurzen Inkubationszeit und einem noch kürzeren Trendhoch des Themas - auch für die Reflexion über das Schlagwort „Globalisierung". Jede Selektion von Aspekten, Beispielen und Positionen zum Thema vermehrt so die deutlichen Stigmata der Relativität, der Unvollständigkeit, der Kontingenz. So trägt ausgerechnet das Bewusstwerden der Universalität beziehungsweise Universalisierung der Globalisierungsthematik mit bei zum Bewusstwerden des fragmentarischen Charakters, mehr noch zur Fragmentierung des Themas. So paradox es klingen mag: Gerade das Ganze lässt sich nur teilweise bewältigen. 119 Unter „Globalisierung“ versteht Ulrich Beck „die Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden." 3 Er führt die nebulöse Bedeutung des Globalisierungsbegriffs u. a. auf die unterschiedliche Bestimmung des Gemeinten und seiner Ursprünge zurück. Zwischen dem 15. Jahrhundert und dem Ende des Ost-West-Konflikts schwanken die Datierungen; zwischen Kapitalismus, Modernisierung und einer offenen Palette von Aspekten 4 wechseln die Themen, für die der Globalisierungsbegriff eingesetzt wird. „Globalisierung meint das erfahrbare Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft und damit im Grunde genommen etwas zugleich Vertrautes und Unbegriffenes...“ - so Beck 5 . Das Neben- und Durcheinander des politiksoziologischen und des mehrdimensionalen, alltagssoziologischen Globalisierungsbegriffs bei Beck bestätigt seine Diagnose der Missverständlichkeit des Begriffs. Zur weiteren Klärung möchte ich eine semantische Unterscheidung einführen, die zwischen Begriff und zu Begreifendem: Die näher zu bestimmenden Leitbegriffe „Globalität“ und „Globalisierung“ setzen den Begriff des Globus, die Kugelgestalt der Erde voraus. Unsere Welt war schon immer global, unabhängig davon, ob sie im Ganzen oder in der Wechselwirkung ihrer Teile als solche erkannt und anerkannt worden ist oder nicht. Das vielleicht populärste Beispiel der Chaostheorie, der sogenannte Schmetterlingseffekt, lässt sich auch auf den sprichwörtlichen Sack Reis ummünzen, der in China umfällt und sehr wohl ungeahnte Konsequenzen in aller Welt haben kann. Dem hat der Prozess, der neuerdings als „Globalisierung“ tituliert wird, nichts hinzuzufügen. Das gilt jedoch nicht notwendig für die Phänomene, die unter den beiden Begriffen subsummiert werden. Globale Tendenzen im Denken und Handeln hatten und haben oft die Gestalt von Geltungsansprüchen und Expansionsbestrebungen. Die Universali- 3 4 5 Ulrich Beck , Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a.M., 5. Auflage 1998, S. 28f. Letzteres vertritt offenbar auch Beck. Ulrich Beck, a.a.O., S. 44. 120 tät von ideellen Geltungsansprüchen aber ist zweifellos älter als die Vorstellung von einer Welt als Kugel. Mit anderen Worten: Im Unterschied zum Begriff der Globalisierung setzt das, was darunter zu subsummieren ist, kein Bewusstsein des Globus voraus; schrankenlose Expansion präjudiziert vielleicht noch nicht einmal ein irgendwie konkretisiertes Weltbewusstsein. Vielmehr lassen sich für schrankenlose Expansion ebensogut psychosoziale Faktoren wie Grenzen- oder Hemmungslosigkeit, Heimatlosigkeit, Unruhe und Getriebensein, Sehnsucht nach dem einen Ganzen, Suche nach Grenzerfahrungen, Machtbeweise, Ausweichverhalten, beispielsweise zur Konfliktvermeidung, und dergleichen mehr ins Feld führen. Für die aktuelle Globalisierungsdebatte sind also die nur scheinbar paradoxen Anfragen berechtigt, ob die Motivation dessen, was wir heute unter „Globalisierung“ verstehen, tatsächlich ein Weltbewusstsein voraussetzt, ob dieses Weltbewusstsein notwendig metaphorisch auf die Kugelgestalt der Erde rekurriert und ob oder inwieweit die genannten psychosozialen Motive durch neue Motive abgelöst, ergänzt oder aber nur maskiert werden. Bemühungen, universale Geltungsansprüche umzusetzen, hat es schon mindestens so lange gegeben, wie es ein Bewusstsein von Welt als Außenwelt des eigenen mehr oder weniger inhaltlich, d. h. kulturell definierten Territoriums gibt. Es hat solche Umsetzungsversuche für universale Geltungsansprüche in der Religion, in der Politik und im Handel gegeben - man denke zum Beispiel an Mission und Ökumene, egal ob mit exklusiven oder mit integrativen Totalitätsansprüchen, man denke an expansive Staatenbünde und Welteroberungskriege, man denke an das Bemühen um Ressourcenerweiterung, größeres Abnehmerpotenzial und Exotik als Beispiele für quantitative und qualitative Expansionsmotive. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Bemühungen aber um Stabilisierung und Ausdehnung der eigenen ideell oder materiell verstandenen Kultur haben immer schon zur Differenz von Geltungsanspruch und faktischer Geltung, Expansionsziel und -resultat geführt, in der Interaktion von Individuen ebenso wie von sozialen Kollektiven. Mit dieser Differenz ist auch im Blick auf konkrete aktuelle Prozesse der Globalisierung zu rechnen, zumal sich die Prozesse der Verbreitung und Vereinheitlichung von Waren und Informationen lokal und subkulturell oder sogar individuell ausdifferenzieren. Dafür steht der Begriff der „Glokalisierung“. 121 All das provoziert natürlich die Frage, ob unter dem Etikett der Globalisierung tatsächlich etwas qualitativ Neues geschieht. Beck bejaht diese Frage entschieden: „Neu ist nicht nur das alltägliche Leben und Handeln über nationalstaatliche Grenzen hinweg, in dichten Netzwerken mit hoher wechselseitiger Abhängigkeit und Verpflichtungen; neu ist die Selbstwahrnehmung dieser Transnationalität (in den Massenmedien, im Konsum, in der Touristik); neu ist die 'Ortlosigkeit' von Gemeinschaft, Arbeit und Kapital; neu sind auch das globale ökologische Gefahrenbewusstsein und die korrespondierenden Handlungsarenen; neu ist die unausgrenzbare Wahrnehmung transkultureller Anderer im eigenen Leben mit all den sich widersprechenden Gewissheiten; neu ist die Zirkulationsebene 'globaler Kulturindustrien'“ 6 usw. Im Unterschied zu Beck würde ich den Akzent eher auf den technischen Fortschritt, vor allem im Bereich der Medien setzen. Es gibt ein entscheidendes Mehr (quantitativ verstanden) und in der Folge das (qualitativ) Neue, Emergente gegenüber den herkömmlichen Erscheinungsformen wie auch immer motivierter Geltungsansprüche und Expansionsbemühungen. Den höchsten Erklärungswert scheint mir der Aspekt der Beschleunigung zu haben, der nicht nur eine zeitliche Dimension hat. Die Beschleunigung verschiedenster Lebensvollzüge und Systemprozesse hat sich im Transportwesen, vor allem aber in der Fusion von Datenverarbeitung und Telekommunikation bis fast zur globalen Gleichzeitigkeit gesteigert. Vor diesem Hintergrund der Zeitraffung nun gewinnt die sozialkommunikative Konstitution von Handlungs- und Wahrnehmungsräumen ein immer stärkeres Übergewicht gegenüber solchen Räumen, die nach wie vor und auch weiterhin durch physische Reichweite und Mobilität konstituiert werden. Oder anders gesagt: Die mediale Anwesenheit von leiblich Abwesenden gewinnt an Bedeutung und in der Folge verschwindet die Differenz zwischen der virtuellen Präsenz und der Präsenz des Virtuellen. 7 Diese virtuelle Verviel- 6 7 Ulrich Beck , a.a.O., S. 31. Deutlich wird das bereits in Film und Internet an der Vermengung von computergenerierten Figuren mit solchen, die durch Schauspieler (re-)präsentiert werden. Mit der Perfektionierung von Techniken der Imitation und Improvisation schwinden die Möglichkeiten der Unterscheidung zunehmend. Wo aber der Wille zur Unterscheidung abhanden kommt, ist 122 fachung der Welt bedeutet für die Globalisierung eine Grenzüberschreitung innerhalb der Grenzen des Globus und ist insbesondere im Hinblick auf die Fragen von gesellschaftlichen und individuellen Risikowahrnehmungen und als Infragestellung anthropologischer Selbstverständlichkeiten interessant. Diese Trias von Beschleunigung, Medialisierung und Virtualisierung hat zugleich Folgen für die menschliche, und zwar individuelle wie kollektive Lebensplanung und -gestaltung, für Selbstwahrnehmung, Beziehungserwartungen, Identität und vieles andere mehr. Mit der Begriffsdiskussion habe ich so weit ausgeholt, weil die Terminologie des Globalen dazu verführt, sich ausschließlich auf die Makroebene politischer Zusammenhänge zu verlegen, in denen der Mensch nur in einem speziellen Rollenspektrum, als organisiertes Kollektiv und in der Regel als Variable auftaucht. Die Alternative, gleich auf systemtheoretische Modellbildung zurückzugreifen, geht in der Abstraktion über das gedankliche und kommunikative Selbstverständnis von Menschen als Menschen hinaus und erfordert die Mühe, diese alltäglichen Selbstverständlichkeiten aus streng gegeneinander abgeschlossenen, selbsterzeugenden und selbsterhaltenden Systemen zu rekonstruieren. So hoch der Erklärungswert der Theorien autopoietischer Systeme, insbesondere im Gefolge derjenigen Luhmanns ist, droht doch dabei die Kommunikabilität verlorenzugehen und mit dem außerordentlich plausiblen Ansatz bei Differenzbildungen die Rekonstruktion von Integrationsleistungen, mit anderen Worten die Plausibilität für ein Denken und Sprechen in symbolischen und komplexen Einheiten oder Ganzheiten wie Mensch und Welt. In beiden Fällen - auf der sozialwissenschaftlichen Makroebene und in der systemtheoretischen Abstraktion - gerät der konkrete Mensch in seiner lebensweltlich geprägten Selbst- und Fremdwahrnehmung als Individuum und als Teil eines sozialen Gefüges von Mit-Menschen leicht zum Appendix nichtmenschlicher Dynamiken. Was für die Anthropologie gilt, lässt sich auch im Blick auf die Globalisierungsdiskussion sagen: Die Erfahrung der Differenz von Alltagswahrnehmung und wissenschaftlicher Theorie der eine solche Unterscheidung schon jetzt ignorierbar, wie insbesondere im Bereich der Computerspiele deutlich wird. 123 Globalisierung bestärkt vorhandene Ohnmachtserfahrungen. Diese entstehen ohnehin alltäglich aufgrund von Unübersichtlichkeit und linearkausalen Vereinfachungen, d. h. Rückführungen von Fremdbestimmung auf globale Zwänge, egal, ob diese nun der Rechtfertigung des eigenen Fatalismus oder der Legitimation unbequemer Entscheidungen vor Anderen dienen. Die Akkumulation solcher Erfahrungen und die Assoziation von Globalisierung mit naiven oder theoretisch reflektierten Systembegriffen führen zur alltäglichen Einschätzung von Globalisierung als Bedrohung. Sie führen ferner zum Gegenüber von gefährlichem, bösem System und gefährdeter, guter Lebenswelt. Vorzuziehen ist m. E. ein Globalisierungsbegriff, der Motive und Formen des Denkens und Handelns und damit anthropologische Ursprünge dessen wiedergibt, was im Geflecht der Globalisierungsdebatten leicht terminologisch überlagert wird. Ferner hat m. E. der Begriff der „Glokalisierung“, wie er ähnlich von Roland Robertson 8 vertreten wird, einen großen heuristischen Wert. „Glokalisierung“ bedeutet demnach „globale Lokalisierung“. 9 Ich möchte den Begriffsgebrauch erweitern auf den Zirkel einer Globalisierung des Lokalen und einer Lokalisierung des Globalen. Was materiell um den Globus transportiert oder kommunikativ multipliziert wird, hat eine Verortung und wird global wirksam nur durch Aktualisierung neuer Verortungen. Anthropologische Verschiedenheiten, unabhängig davon, ob sie der Persönlichkeit, dem sozialen Milieu, der zeitgenössischen Mentalität oder der Kultur zugerechnet werden, gehören zu den Merkmalen des Lokalen, das seinen Gang um die Welt antritt, aber auch zu den Merkmalen lokaler Rezeptionsbedingungen für global Kursierendes. Deutlich ist wohl, dass die Verbindungen, die dabei rings um den Globus soziale Räume entstehen lassen, transliminal sind, sich also nicht an die traditionellen sozial sanktionierten Begrenzungen halten, sondern diese unterwandern, durchdringen, vernetzen oder gar überlagern. Der ungeheure Differenzierungsschub, die Kontingenz- 8 9 Vgl. Roland Robertson, Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Perspektiven der Weltgesellschaft, hrsg. v. Ulrich Beck, Frankfurt a.M. 1998, S. 192-220. Roland Robertson, a.a.O., S. 197. 124 steigerung, die durch die Globalisierung des vielfältigen Lokalen und durch die ebenso vielfältige Lokalisierung des Globalen, erreicht wird, führt gegenüber traditionellen, gewohnten, heimischen Differenzen zu anthropologischen Hybridbildungen oder Melange-Effekten, die in der Übergangsphase immer noch dominierender lokaler Traditionen Irritationen auf beiden Seiten auslösen, Identitätsfragen und -krisen, bisweilen Abwehrreaktionen, aber auch zu verschiedenartigsten Anpassungsleistungen, Assimilations- und Akkomodationsvorgängen10 , die auf neue Balancen zielen. 3. Der Mensch als Objekt von Globalisierung Inwiefern sind Menschen mit ihren Differenzierungs- und Integrationsfähigkeiten im Prozess der Globalisierung Veränderungen unterworfen? Ich konzentriere mich hier im Wesentlichen auf eine biographische Verteilung der Bedingungen differenzierender und integrativer Anpassungsleistungen oder der Lebensweltgestaltung. Im Hinblick auf ökonomische Leistungserwartungen differenziert sich die menschliche Biographie nach den physischen und psychischen, insbesondere kognitiven, zunehmend aber auch emotionalen Ressourcen, die aufgrund physisch-konstitutioneller Entwicklung und erworbenen Kompetenzen erst ab einem bestimmten Alter und eine bestimmte Zeit lang nutzbar erscheinen. Die Fragmentierung von traditionellen Berufsbildern, die andauernde Umgestaltung von Erwartungsprofilen und die Ausweichtendenzen, die ein „Kapitalismus ohne Arbeit und Steuern“11 erforderlich macht, führt zur Verschiebung der Kernkompetenzen, die erworben werden müssen. Der Abschied von der Wissensvermittlung, aus der sich dann alles weitere von selbst ergab, die absehbare Reduk- 10 Aus systemtheoretischer Sicht verändert (differenziert) ein System immer sich selbst und bewirkt in der Umwelt nachvollziehbar bestenfalls die Verstärkung oder Verringerung von Irritationen des Systems. Piagets Begriffe der „Assimilation“ und der „Akkomodation“ bezeichnen in ihrer systemtheoretischen Anwendung demnach das Zuschreiben einer Verringerung von Störungen aus der Umwelt zu einer Differenzbildung im System (Akkomodation) oder zu einem Verzicht darauf (Assimilation). Entweder erfolgt also die Verringerung der Störeinflüsse durch Veränderung des Systems selbst oder durch Veränderung der Umwelt, wobei letztere nur dadurch erschlossen werden kann, dass keine Differenzbildung des Systems selbst als Ursache dafür namhaft gemacht wird bzw. werden kann. 11 Vgl. Ulrich Beck , a.a.O., S. 20. 125 tion auf Kommunikationsfähigkeit in Form von Kenntnissen in Sprachen, Datenverarbeitung und Kommunikationstechnologie, sowie die Trends zur Akzentuierung der Methoden- und Sozialkompetenz bedeuten pädagogisch zugleich eine Entlastung der Curricula und eine Verlagerung des konkreten Wissenserwerbs auf ein lebenslanges Lernen. Dass Lernen in der Regel nicht lebenslang auf gleichem Niveau erfolgen kann, versteht sich nicht nur aus motivationstheoretischen Gründen, sondern auch aufgrund schwindender oder anders beanspruchter persönlicher Ressourcen. Veranschlagt man nun zusätzlich die Faktoren der Beschleunigung von Transport und Kommunikation und der permanent innovativen Medialisierung, dann wird deutlich, dass sich hier unter dem Druck von Vorgängen, die wir im Kontext der Globalisierung aufgedeckt haben, ein tiefgreifender Wandel des Menschenbildes vollzieht. Auf der einen Seite wird die primäre Lernphase in der Kindheit beziehungsweise Jugend verlängert und damit die Differenz von Kindern und Erwachsenen in einem wesentlichen Punkt in Frage gestellt. Auf der anderen Seite bewirkt die Beschleunigung, dass erworbene Kompetenzen immer schneller ausgedient haben, dass die Jüngeren, bisweilen die Kinder oder Jugendlichen, also diejenigen, die den technischen Fortschritt schneller adaptieren können, ökonomische Vorteile gegenüber Älteren erwerben, mehr noch, dass sie in verschiedenen Lebensbereichen über diejenigen Qualitäten verfügen, die bisher Status und Rollen von Erwachsenen ausgezeichnet haben. Die unter technischen und ökonomischen Gesichtspunkten erfolgende Reduktion des Menschen auf ein immer kürzeres und vorgezogenes Leistungsoptimum erfordert Kompensation, d. h. private Sinnstiftungen jenseits von Arbeit und Wissen mit kurzer Halbwertszeit. Der Markt der Möglichkeiten zu solcher Sinnstiftung boomt. Genannt seien etwa die kritikresistenten Paradoxa der öffentlichen „Esoterik“ und die Tourismusbranche, die mit ihren kompensatorischen Glücksverheißungen mittlerweile zu den größten Wirtschaftsbranchen überhaupt gehört - mit steigender Tendenz. Die medial vervielfältigten, global vernetzten und ins Virtuelle gesteigerten Kommunikationsmöglichkeiten lassen die traditionelle Flucht vor äußerem Druck in die soziale Nähe lokal Anwesender als eine Option unter vielen und eine Wiederbelebung von Verwandtschafts- oder Nachbarschaftsbeziehungen von daher kaum als Mehrheitstrend plausibel erscheinen. Die Integrations126 leistungen innerhalb der Weltgesellschaft und ihrer Optionen werden entsprechend immer mehr dem Einzelnen zugemutet und darüber hinaus von zunehmend professionalisierten, ökonomisch motivierten Dienstleistern angeboten. Was in lebensweltlicher Perspektive aufgrund von Unübersichtlichkeit noch in der Ambivalenz von Chance und Risiko, von Herausforderung und Gefahr erscheint, wird bei Auswirkungen auf die Grundlagen von Arbeit und die Beherrschung von Technik als Heteronomie erlebt. Heteronomie aber, solange sie nicht totalitär wird, schließt persönliche Entscheidungen nicht aus, sondern ein. Gerade wo der Mensch als Objekt - z. B. von Globalisierungsprozessen - erscheint, ist er als Subjekt gefordert. Angesichts der unendlichen Pluralisierung von Möglichkeiten und angesichts der Halbwertszeit von Know-how gerät diese Anforderung allerdings absehbar zur Überforderung. Aggressive Reaktionen und Symptombildungen infolge von Stress und Sinnlosigkeit vor dem Hintergrund sozialer Desintegration bzw. fragmentierter sozialer Integration werden zunehmend eine der Herausforderungen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft und nicht rein rechtlich zu lösen sein. Dass neben ökonomisch motivierten Angeboten, die der Logik des wirtschaftlichen Subsystems von Gesellschaft folgen, auch gemeinschaftsorientierte Lösungen eine Rolle spielen, die also multifunktional und eher strukturell integriert sind, ist wahrscheinlich. Die traditionellen Organisationen, deren subtiles Ziel die Herstellung und Bewahrung von Nähe, und deren erklärter Zweck oft nur Mittel zum Zweck ist, sind allerdings zu statisch, nicht differenzierungsfähig genug, um den flüchtigen Kombinationen von Interessen wirklich gerecht werden zu können. Auch an diesem Punkt einer vermeintlichen Lösung des Überforderungsproblems sind wir also auf die Integrationsfähigkeit des Einzelnen verwiesen, der als Subjekt in einer Welt gefordert ist, in der selbst Integrationsleistungen weitere Differenzierung provozieren. In systemtheoretischer Perspektive schließlich wird das reflexive Bewusstsein des Einzelnen durch Veränderungen in seiner Umwelt bestenfalls irritiert. Irritation ist für das Bewusstsein die Chance, sich mit weiteren Differenzierungsleistungen dem anzunähern, was eigentlich vor sich geht. 127 4. Der Mensch als Subjekt von Globalisierung Inwiefern steuern Menschen mit ihrer Differenzierungs- und Integrationsfähigkeit den Prozess der Globalisierung? Oder, um es pathetischer zu formulieren: Ist der Mensch noch Herr seiner Welt oder zumindest seiner selbst? Die systemtheoretische Beschreibung von autopoietischen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik, Religion, Recht etc. als Subsystemen von Gesellschaft, liefert einen plausiblen Hintergrund für das Phänomen, dass konsequente Unterwerfung von Individuen und Organisationen unter eine dieser codierten Gesetzmäßigkeiten Erfolg in Gestalt des entsprechenden generalisierten Kommunikationsmediums verspricht - z. B. Geld im Wirtschaftssystem, Macht in der Politik usw. Darüber hinaus trägt jede Kommunikation, die einem Systemcode zugeordnet werden kann, zur Erhaltung dieses Funktionssystems bei. Damit leistet jeder von uns - mehr oder weniger effizient - seinen Beitrag zur Erhaltung einer kommunikativ hergestellten Weltgesellschaft und ihrer Subsysteme. Ob der eigene Beitrag als Affirmation oder Negation intendiert ist, ist dabei allerdings relativ gleichgültig, solange nicht die Negierung z. B. von Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit massenhaft auftritt oder gar überwiegt, solange auch nicht das generalisierte Kommunikationsmedium, z. B. Geld, durch alternative, nach anderen Gesetzmäßigkeiten verteilte und damit unverrechenbare Austauschmedien substituiert wird. Beides würde in diesem Falle das Wirtschaftssystem in seiner Unterscheidungsfunktion in Frage stellen. Das heißt aber: Von Ausnahmefällen abgesehen, die in der Regel gesellschaftlich negativ sanktioniert werden, ist die Partizipation an der Funktion eines solchen Systems eher unfreiwillig. Handeln oder Kommunikation erfolgt hier gerade nicht aus der Position des Subjekts, was in traditionellen, nicht systemtheoretischen Modellen kaum zu denken ist, allenfalls in Ansätzen mit dem marxistischen Terminus der „Entfremdung“. In Modellen, die der Alltagserfahrung näher stehen, erscheint Globalität oft als Unübersichtlichkeit und Ohnmacht, also als subjektiv empfundene Überforderung der individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsressourcen. Als Lösungen bieten sich an: die Komplexität der Globalisierungsdynamiken auf Stammtischniveau zu reduzieren, um die Selbstwahrnehmung als souveränes Subjekt aufrechterhalten zu können, oder aber: die offen128 sichtliche Begrenzung eigener, individueller Ressourcen durch Projektion des Subjektstatus auf beliebige Kollektive zu überwinden, denen dann hinreichender Überblick und hinreichende Handlungsmacht zugeschrieben wird, um als korporative Subjekte gelten zu können. Beides sind m. E. Illusionen. Dennoch erschließt sich aus der vorhergehenden anthropologischen Betrachtung eine Möglichkeit, den Subjektstatus des Einzelnen aufrechtzuerhalten. Wir hatten festgestellt, dass sich die Ströme der Globalisierung aus lokalen Quellen speisen und in lokale Fahrwasser münden. In den Horizonten des wie auch immer medial konstituierten Lokalen, der Lebenswelt also, lassen sich mit einigem heuristischen Wert anthropologische Modelle anwenden, die den Menschen als Subjekt erscheinen lassen. Der Einzelne wie das Kollektiv leisten selbst einen Beitrag zur lokalen Differenzierung als Aktualisierung des Globalen. Der Horizont individueller und kollektiver Optionen ist begrenzt, aber als prinzipiell zu verlagernder, zu überschreitender, oder aber offener reflektierbar. Die Begrenztheit des Einzelnen auf seinen Möglichkeitshorizont ist nicht grundsätzlich überwindbar, wohl aber die konkrete Begrenzung als temporär, lokal, soziokulturell und persönlichkeitsbedingt identifizierbar und damit als kontingent erfahrbar. Damit behalten Modelle des Menschen als Subjekt ihre Berechtigung, wenngleich sie angesichts von Unübersichtlichkeits- und Ohnmachtserfahrungen dringend systeminterner Rekonstruktionen bedürfen. 5. Zusammenfassung Globalisierung erscheint anthropologisch bereits in universalen Geltungsansprüchen des Denkens und in expansivem Handeln angelegt beziehungsweise in den zahlreichen Motivationen für beides. Infolge der technischen Entwicklung von Verkehrsmitteln und Kommunikationsmedien wird eine enorme Beschleunigung menschlichen Wahrnehmens und Handelns ermöglicht, in der Folge eine Aufwertung medial vermittelter Räume gegenüber den durch leibliche Präsenz bestimmten Räumen, und in alledem eine höhere Frequenz und größere Kontingenz von Variationen und Selektionen erreicht. All das stellt traditionelle Standards in Frage und begünstigt 129 Grenzüberschreitungen und Hybridbildungen in allen Bereichen menschlichen Lebens, deren gedankliche und kommunikative Verarbeitung die Ressourcen von individuellem Bewusstsein und Wissenschaftsprogrammen bisher überfordert. 130 Umbrüche in einer Region. Auswirkungen von internationalen Investitionen im Weserbergland auf die Lebenswelten 1 Barbara Ketelhut Die Differenz zwischen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und aus abhängiger Beschäftigung hat sich in den letzten Jahren zunehmend vergrößert 2 , und es ist damit zu rechnen, dass die derzeitige Massenerwerbslosigkeit in naher Zukunft eines der größten sozialen Probleme in der Bundesrepublik Deutschland bleiben wird. Diese dunkle Prognose gründet sich auf unsere Beobachtung, wonach die ökonomischen Strategien, die zumeist eher undifferenziert mit der Bezeichnung Globalisierung gefasst werden, wie z. B. das Primat der Konkurrenz der Unternehmen am Markt (vgl. Gerhard Schröder und Tony Blair 1999), Vorrang vor den Bedürfnissen und Nöten der noch und nicht mehr Beschäftigten haben. Dennoch sind bisher die konkreten sozialen, ökonomischen und kulturellen Probleme der Beschäftigten und gegebenenfalls ihrer Angehörigen kaum aus subjektwissenschaftlicher Perspektive erforscht worden. 1 2 Die MitarbeiterInnen des Projekts „Auswirkungen von internationalen Investitionen im Weserbergland auf die Lebenswelten", das im April 1999 begann, sind Uwe Brinkmann und Gerhard Köhler vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA), Gertraud Goldbach und Barbara Ketelhut von der Evangelischen Fachhochschule Hannover (EFH), partiell haben Studierende und der wissenschaftliche Mitarbeiter Klaus-Peter Meyer-Bendrat der EFH mitgearbeitet. Die Veröffentlichung des Abschlussberichtes ist für 2002 geplant. So sind z. B. die Reallöhne der abhängig Beschäftigten in Deutschland 1998 (gegenüber dem Vorjahr) im Durchschnitt de facto um 1,75% netto gestiegen, während die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und/oder Vermögen bei durchschnittlich 8% netto liegen. (Vgl. die Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) in: „DIE ZEIT“ vom 22.12.1998, S. 19.) 131 1. Zum Praxisforschungsprojekt Gerade an dieser sozialwissenschaftlichen Leerstelle wollen wir mit unserem Praxisforschungsprojekt, einer Kooperation zwischen dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) Hameln und der Evangelischen Fachhochschule Hannover (EFH), ansetzen. Wir wollen die genannten Auswirkungen auf ehemalige Beschäftigte und die potenziell von Erwerbslosigkeit Betroffenen untersuchen. Wir beschränken uns dabei auf die Region Weserbergland. Denn gerade die ökonomischen Entwicklungen im Bereich des produzierenden Gewerbes im Weserbergland verdeutlichen die Auswirkungen eines zunehmend weniger staatlich regulierten Marktes im Umbruch. Aufgrund immer wieder erneuter internationaler Fusionen werden aus den regional angesiedelten, ehemals relativ autonomen mittleren Familienbetrieben Produktionsstätten, die der Regie häufig wechselnder internationaler Konzernleitungen untergeordnet werden. Damit einher geht eine im bundesrepublikanischen Vergleich erhöhte Erwerbslosigkeit. Wir möchten der ökonomisch orientierten Globalisierungsdebatte ein lebensweltbezogenes Bild sozialer Auswirkungen entgegenstellen. Wir gehen davon aus, Handlungsalternativen für AkteurInnen aus unterschiedlichen Interessensbereichen zu eruieren, z. B. für die VertreterInnen der Kirche, staatlicher sozialer Einrichtungen, für die Betroffenen. In Anlehnung an das Konzept der Glokalisierung (vgl. Zygmunt Bauman 1996) arbeiten wir mit Hilfe qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung Zusammenhänge zwischen Lebenswelten, Veränderungen in regionalen Strukturen und internationalen Investitionen heraus. 3 Sehr allgemein gesehen fragen wir nach den Gestaltungsmöglichkeiten von Globalisierungsprozessen an der Basis der Beschäftigten, aber auch der 3 Im Sommer 2000 haben wir mit Hilfe leitfadengestützter Interviews 22 Befragungen mit Beschäftigten in acht verschiedenen Betrieben des produzierenden Gewerbes im Weserbergland durchgeführt. Wir haben diese Befragungen durch ExpertInneninterviews mit VertreterInnen der Personalleitung der Betriebe, mit ArbeitnehmerInnen- und ArbeitgeberInnenvertretern und KommunalpolitikerInnen ergänzt. 132 Kommunalpolitik, der Gewerkschaften und der Kirchen. Obwohl es für uns auf den ersten Blick so ausgesehen hat, als würde die gesamte Region den steten Entlassungen nichts entgegensetzen, haben erste Ergebnisse unserer Studie gezeigt, dass es nicht nur Proteste, sondern auch engagierte Ansätze innerhalb von Betrieben und in Bezug auf die Region gegeben hat, wobei historisch neue Allianzen entstanden sind, wenn z. B. der Betriebsrat und die Personalleitung eines Unternehmens ein alternatives Arbeitszeitmodell entwickelt und zusammen mit einem Teil der Belegschaft praktiziert haben, um so Arbeitslose einstellen zu können. Trotz quantitativ kleiner Erfolge (im Vergleich zu breiten Entlassungen) hat sich gezeigt, dass die alten Formen der Solidarisierung von Beschäftigten nicht mehr greifen. Im Kontext unserer qualitativen Befragungen suchen wir nach Möglichkeiten, wirksame Formen von Solidarität zu entwickeln. Wir orientieren uns dabei an dem Begriff der organischen Solidarität (vgl. Emile Durkheim 1988; Rainer Zoll 2000). Mit diesem Begriff rückte Emile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Individuen (im Gegensatz zur mechanischen Solidarität 4 ) ebenso in den Vordergrund wie die Einheit einer Gruppe oder Gesellschaft, die sich über Arbeitsteilung herstellt. Letzteres aber setzt zudem voraus, dass diese Gruppe an einer gemeinsamen Aufgabe beteiligt ist, indem die einzelnen Gruppenmitglieder unterschiedliche Tätigkeiten bei der Lösung dieser Aufgabe wahrnehmen. Mit diesem Begriff der organischen Solidarität können wir das aktuelle Problem erfassen, dass sich die Einzelnen in ihren Persönlichkeiten voneinander unterscheiden und abgrenzen, zugleich aber z. B. vor der gemeinsamen Aufgabe stehen, sich als Belegschaft für den Erhalt aller Arbeitsplätze einzusetzen, auch wenn darin eine Person nicht (oder nicht sicher) von Entlassung bedroht ist. Vor diesem Problem standen gewerkschaftliche Auseinandersetzungen historisch immer wieder, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie es sich heute aufgrund fortschreitender Individualisierung darstellt. Entscheidend ist in der Definition der organischen Solidarität der Verweis von Durkheim auf die Arbeitsteilung im Zu4 Für Durkheim (1988) hat Solidarität begrifflich zwei Seiten, eine mechanische, die sich über Ähnlichkeiten herstellt und eine organische, die es den Beteiligten möglich macht, ihre Unterschiede produktiv für die Gemeinschaft zu nutzen. Aus heutiger Perspektive könnte die Arbeiterbewegung, die sich aufgrund einer ähnlich schlechten materiellen Lage ihrer Mitglieder für Lohnerhöhungen eingesetzt hat, als ein Beispiel für eine eher mechanische Solidarität gesehen werden. 133 sammenhang mit der Persönlichkeit. Formen organischer Solidarität setzen voraus, dass sich die einzelnen als GestalterInnen einer Aufgabe sehen, und dass sie dies bewusst tun. 5 Gerade die derzeitigen politischen und ökonomischen Prozesse stehen aber der Entwicklung von neuen Formen organischer Solidarität vehement entgegen. Besonders deutlich zeigt sich dies auf drei Ebenen: 1. Indem die weltweite Ausbreitung kapitalistischer, also monetärer Interessen in den Vordergrund der ökonomischen und/oder politischen Zielformulierung gestellt wird (vgl. z. B. Gerhard Schröder und Tony Blair 1999), bleiben die Lebenswelten von Erwerbstätigen, also abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, weitgehend ausgeblendet oder werden in einem anderen Zusammenhang, z. B. im Bündnis für Arbeit, diskutiert (vgl. Dieter Plehwe und Bernhard Walpen 1999), so dass die Gestaltungsräume breiter Teile der Gesellschaftsmitglieder nicht vorgesehen sind, sondern erst mühsam geschaffen werden müssen. 2. Die europäischen und globalen Zusammenschlüsse von Unternehmen erschweren die Benennung von Akteuren auf Seiten der Unternehmen (vgl. Zygmunt Bauman 1999). 3. Durch ein nationale Grenzen überschreitendes und zudem schnell wechselndes Management ist es Konzernleitungen kaum noch möglich, auf regionale Belange der Beschäftigten einzugehen. 6 Von unseren InterviewpartnerInnen wollen wir nun erfahren, wo und wie sie sich im Kontext der ökonomischen Entwicklungen in ihrer Region verorten. Mit welchen Problemen müssen sie sich in ihrem Alltag auseinander- 5 6 Anders als Rainer Zoll (2000) lesen wir den Vorschlag von Emile Durkheim (1988) nicht überwiegend als moralische Anforderung, sondern als eine an den Erfahrungen der Individuen (insbesondere im Kontext der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung) orientierte Perspektive, die es uns im Kontext unserer Studie ermöglicht, individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen zugleich in Betracht zu ziehen. Wir knüpfen hier an einen mündlichen Bericht eines Betriebsrates aus der Region Weserbergland in einem unserer Seminare im Januar 2000 an der Evangelischen Fachhochschule Hannover an. 134 setzen? Schließlich gehen wir davon aus, dass ihre konkreten Probleme, z. B. der materiellen Sicherung und der individuellen Planung, aber auch ihre Ängste und Wünsche, den öffentlichen Diskursen entgegenstehen. 2. Benennung durch Entnennung: Globalisierung Um die Antworten unserer InterviewpartnerInnen verstehen und im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang verorten zu können, gehen wir kurz auf populäre und wissenschaftliche Vorstellungen von Globalisierung ein. Über den öffentlichen Diskurs (in den Medien) wird immer wieder versucht, ein populäres Einverständnis zu bestimmten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen herzustellen, indem viele soziale Probleme entweder nicht benannt oder in einen Kontext gestellt werden, der direkte Problemlösungen für die Betroffenen behindert. Der Bezeichnung Globalisierung kommt hierbei eine strategische hegemoniale Funktion zu, da sie sich durch stete Präsenz und Wiederholung einer klaren Definition zu entziehen sucht. Zwar existiert keine allgemein verbindliche Definition, aber in kritischen Publikationen, in denen versucht wird, die mit der Globalisierung einhergehenden ökonomischen Entwicklungen in Bezug auf ihre sozialen Auswirkungen hin zu analysieren, lassen sich Gemeinsamkeiten finden. So definiert das Europäische Kairos-Dokument Globalisierung als: „TransNationalisierung des Kapitals, vor allem in den Bereichen Finanzen, Wirtschaft und Kommunikation, mit der Folge weitgehender Unabhängigkeit von nationalstaatlichen demokratischen Rahmenbedingungen und Steuerungen.“ (1998, 50) Für Hans-Jürgen Burchardt (1996) erfasst Globalisierung weltweite „Strukturveränderungen in den achtziger und neunziger Jahren“. Dazu gehören für ihn „die Expansion des Welthandels“, „die relative Bedeutungszunahme transnationaler Unternehmen“, „der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme“ und „das Wachstum des internationalen Finanzwesens“ (ebd., 741). Doch die genannten Veränderungen sind zum Teil qualitativ nicht neu, schließlich gehört es zum Charakteristikum des Kapitalismus, sich auszudehnen und neue Märkte zu erschließen, wo immer sie gefunden werden können (vgl. Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf 1997). Indem dieser Pro135 zess aber einen neuen Namen erhält, kommen traditionelle kritische Analyseergebnisse in den Geschichtsbüchern kaum noch vor. Auch auf diese Weise gelingt es, ein neues Einverständnis mit einem vermeintlich qualitativ neuen Prozess herzustellen, dem es sich je individuell anzupassen gilt. Neu an den Prozessen der internationalen Zusammenschlüsse von Firmen ist allerdings das Tempo, in dem immer wieder Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln verändert werden, und neu in Bezug auf die letzten zehn Jahre sind auch die geographischen Möglichkeiten der Ausdehnung und Verschiebung von Produktionsstätten. Das zeigt sich besonders in einer so traditionell ausgerichteten Region wie dem Weserbergland. 3. Das Weserbergland Mit den Veränderungen der Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln verändern sich auch die arbeitspolitischen Kooperationsformen im Weserbergland: Entscheidungsträger kommen immer mehr aus anderen sozialen und kulturellen Umfeldern und durchbrechen die informellen regionalen Strukturen und Beziehungen zwischen Kommunen, Unternehmen und Beschäftigten. Mit dem Leiter eines ortsansässigen Familienbetriebes sind Kommunalpolitiker und Gewerkschaftler, so versichert uns ein Betriebsrat, leichter ins Gespräch gekommen, konnten an Versprechen erinnern und an Verantwortung gemahnen. In den letzten Jahren ist dies aufgrund von internationalen Fusionen und Übernahmen zunehmend weniger möglich geworden, und zugleich hat sich im Vergleich zu anderen Regionen in den alten Bundesländern im Weserbergland 7 (mit einer Arbeitslosenquote von über 10% in den Jahren 1998 und 1999) eine überproportional hohe Arbeitslosigkeit manifestiert. Während in den letzten Jahren die Beschäftigtenzahlen im produzierenden Gewerbe zurückgehen, lassen sich nur im Dienstleistungsbereich Stellenzuwächse ausmachen. Bemerkenswert ist, dass die Internatio- 7 Die in diesem Kapitel angeführten Daten stammen aus Unterlagen der Bundesanstalt für Arbeit: Arbeitsamt Hameln 1999. 136 nalisierung der Region im produzierenden Gewerbe parallel zum Ausbau der Touristikbranche verläuft. Einige Gruppen sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen: Sowohl die Arbeitslosenquote der jungen Menschen unter 30 ist mit 20 % sehr hoch als auch die der älteren Erwerbstätigen ab 55 mit ca. 25 %. Für die ersteren wird der Einstieg erschwert, für die letzteren ergeben sich wenig Chancen einer Neueinstellung. Fast 14 % der Arbeitslosen sind MigrantInnen, Frauen sind insgesamt zu 12 % von Arbeitslosigkeit betroffen. Besonders auffällig ist der hohe Anteil von Frauen (93,8 % im Jahr 1998) an den Teilzeitarbeitenden. Der Grad der quantitativen Ausgrenzungen bestimmter Gruppen aus dem Erwerbsleben erleuchtet die gesamtgesellschaftlichen Ungleichheiten in Bezug auf Alter, ethnischer Herkunft und Geschlecht. Die Frage nach der Reproduktion von Geschlechterverhältnissen, die Benachteiligung von MigrantInnen, von alten und jungen Erwerbstätigen im neoliberalen globalen Kapitalismus verweisen zudem auf eine Schnittstelle von Arbeits- und Lebenswelt, von Kulturen und Ökonomie. Wie sehen Erwerbsarbeit, Zusammenlebensformen und Arbeitsteilungen im Kontext von Kindererziehung und Haushalt für deutsche Frauen und wie jeweils für Migrantinnen aus? Vor welchen Problemen stehen Frauen, alte und junge Menschen insgesamt, welche Lösungsmöglichkeiten ergreifen sie und welche Auswirkungen hat das auf ihre individuellen Entwicklungs- und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten? Wie könnten Formen von organischer Solidarität zwischen so unterschiedlichen Gruppen Benachteiligter auf dem Arbeitsmarkt aussehen? 4. Dominanzkultur Interdependenzen zwischen Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Freizeit und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe geraten im Prozess der Naturalisierung von Globalisierung ganz nebenbei aus dem Blick. So fragt z. B. kaum jemand nach dem Familienleben von erwerbstätigen Müttern, wenn sie geographisch mobil sein sollen, um ihren Erwerbsarbeitsplatz zu erhalten, und sich zugleich für die bestmöglichen Entwicklungschancen ihrer 137 Kinder einsetzen sollen, denen in der Regel ein spontaner Wechsel an eine Schule in einem anderen Ort nicht dienlich ist. Indem kein expliziter Akteur mehr für die gesellschaftlichen Entwicklungen auszumachen ist, entsteht eine Kultur, in der es wenige Globalisierungsgewinner und viele GlobalisierungsverliererInnen gibt. Die Interdependenzen zwischen Alltag und Wirtschaft drohen auf verschiedenen Ebenen der Diskussion aus dem Blickfeld sozialwissenschaftlicher Analysen zu geraten. 4.1 Alltägliche Lebenswelten Und dies gelingt, obwohl nur die Subjekte selbst Auskunft darüber geben können, wie es ihnen in diesen Verhältnissen ergeht, wie z. B. einerseits die Erwerbsarbeit die Möglichkeiten im Familienleben mitbestimmt und andererseits die Gestaltung des Familienlebens nach außen wirkt. Dazu ist es notwendig, vom konkreten Leben, vom Alltag der Einzelnen auszugehen. Über die alltägliche Lebenswelt bestimmen sich die gesellschaftliche Verortung der Einzelnen und damit die Grenzen und Möglichkeiten ihrer Handlungen. Hans Thiersch (1992) präzisiert sein Konzept der alltäglichen Lebenswelt: Sie muss gesehen werden in der Spannung von Gegebenem und Möglichem, Aktuellem und Potenziellem, Vorhandenem und Aufgegebenem. Immer wieder neu ausgehandelt werden muss das Selbstverständliche im Alltag. „Alltäglichkeit ist geprägt durch die Lebensgeschichte der Menschen, durch ihre Erfahrungen, ihre in ihnen gesicherten Kompetenzen, ihre Erwartungen, Hoffnungen und Traumatisierungen. - Alltäglichkeit ist ebenso bestimmt durch die Vorgaben der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der Pluralisierung und Individualisierung und der ungleichen Verteilung von Lebensressourcen, wie sie unsere Zwei-Drittel/Ein-DrittelGesellschaft charakterisiert.“ (Ebd. 1992, 47) Thiersch macht somit den Vorschlag, genauer zu analysieren, was, wie, zu wessen Lasten selbstverständlich wird, und formuliert einen Eingriffspunkt, an dem diese Selbstverständlichkeit hinterfragt werden kann - den Alltag. 138 4.2 Kultur Doch wie können wir uns den Mechanismen und Widersprüchen in den besonderen Lagen der Beschäftigten in ihrem Arbeitsalltag und in ihrem sozialen Kontext auch außerhalb der Erwerbsarbeit annähern? Und wie können wir die Interdependenzen zwischen diesen beiden Bereichen erfassen? Gesucht ist ein Begriff, der es ermöglicht, die unterschiedlichsten hierarchischen Verhältnisse in ihrer je konkreten Ausprägung zu analysieren. Wir sehen in einem weitreichenden Kulturbegriff eine Möglichkeit, die Entwicklungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu erfassen. Gemäß einer Definition des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist Kultur die Art und Weise, „wie der Mensch lebt und arbeitet.“ (Wolfgang F. Haug 1980, 6) Darin können sowohl die Differenzen verschiedener Ethnien Berücksichtigung finden als auch der Alltag von Menschen insgesamt, ihre Arbeitsweisen ebenso wie ihre Sichtweisen. Wenn es darum geht, diese Kultur zu verändern, dann kann es nach Antonio Gramsci nicht nur darum gehen, „individuell 'neuartige' Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten ... sozusagen zu 'vergesellschaften', sie lebenswichtigen Handlungen als Elemente der Koordinierung und geistigmoralischen Ordnung zugrunde zu legen.“ (1967, 131) Dies wiederum ist nur denkbar als ein „langwieriger Lernprozess“ (Wolfgang F. Haug 1985, 164). Auf der einen Seite ist die kulturelle Ebene „für Vorgänge auf der politischen Bühne vorbereitend, tragend oder blockierend wirksam“, auf der anderen Seite „können bewusste Eingriffe in die kulturelle Ebene nur in politischer Perspektive entwickelt werden.“ (Ebd., 168) Politik und Kultur hängen demnach eng zusammen, bestimmen sich wechselseitig und machen es erforderlich, bei den Interessen der Menschen und bei ihrer aktiven Teilhabe anzusetzen. 4.3 Dominanz Um die Vielfalt von Unterdrückungsformen ebenso erfassen zu können wie die Differenzen der Individuen mit ihren „multiplen Identitäten“, schlägt Birgit Rommelspacher (1995) den Begriff der „Dominanzkultur“ als theoretisches Werkzeug vor. Unsere „ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpreta139 tion sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, (sind) in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst“ (ebd., 22). Schließlich seien alle gesellschaftlichen Bereiche von Dominanzkultur durchzogen. Die Daten des Arbeitsamtsbezirkes Hameln (vgl. 3.) zeigen im Kontext der Erwerbsarbeitslosigkeit wesentliche Züge dieser Dominanzverhältnisse in Bezug auf Geschlecht, Alter und ethnische Herkunft statistisch nachweisbar deutlich. Dominanzkultur stellt sich u. a. über Diskurse her, so können wir in Anlehnung an Birgit Rommelspacher (1995) zusammenfassen. Dazu gehört aber nicht nur das Verschweigen struktureller Merkmale von GlobalisierungsverliererInnen, sondern auch die Einschränkungen ihrer „Artikulationsmöglichkeiten“. Letztere ergeben sich nicht aufgrund von Zwängen oder gar Verboten, sondern aufgrund der Art der sprachlichen Angebote, die aktuellen wirtschaftlichen Prozesse in Worte zu fassen und aufgrund der Weise, welche Zusammenhänge in den Medien betont werden und welche eben nicht. Denn anders als Herrschaft, die auf Repression beruht, basiert Dominanz (nach Birgit Rommelspacher 1995) im Wesentlichen auf Zustimmung und wird über Normalität hergestellt, wozu eben auch das Leugnen von Ungleichheit gehört. 5. Einschätzungen von Betroffenen Somit fragen wir in unserer Studie u. a. danach, was, von wem als normal und/oder selbstverständlich gesehen wird und was nicht. Um gegebenenfalls neue Formen von Solidarstrukturen entwickeln zu können, ist es wichtig, entsprechende Ansatzpunkte in den Vorstellungen der Erwerbstätigen herauszuarbeiten, die sowohl eine produktive Kritik als auch potenziellen Konsens erkennbar werden lassen. Da wir davon ausgehen, dass u. a. über die politischen und medialen Diskurse versucht wird, die derzeitigen von Politik und Wirtschaft favorisierten Strategien der deregulierten und freien Konkurrenz auf dem Weltmarkt durch eine breite, einverständliche Basis zu legitimieren und zu unterstützen, haben wir Beschäftigte, von Arbeitslosigkeit Bedrohte und Arbeitslose einleitend nach ihrem Verständnis von Globalisierung gefragt. Erste Ergebnisse zeigen, dass die diskursive Strategie der Benennung durch Entnennung von nationalen und internationalen Wirt140 schaftsprozessen durch die Bezeichnung Globalisierung, die inzwischen alle kennen, aber nur Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen versuchen näher zu bestimmen, bei den Befragten eine spontane Verwirrung hervorruft. Das verweist darauf, dass es den Einzelnen schwer fällt, globale und lokale Strategien in ihren Zusammenhängen zu sehen. Dies stellt aber u. E. eine Voraussetzung für eine klare Standpunktentwicklung (als Basis für potentielle Solidarisierungsstrategien) dar. 5.1 „Vernichtung von Arbeitsplätzen“ Einige der Befragten betrachten ausschließlich nur eine Seite. So antwortet eine 37jährige Befragte auf die Frage, was sie mit dem Begriff Globalisierung verbindet: „Vernichtung von Arbeitsplätzen.“ Auf die Nachfrage nach Auswirkungen von internationalen Zusammenschlüssen auf ihr eigenes Leben oder ihren Alltag antwortet sie: „Mein Arbeitsplatz, würde ich sagen, ist der Globalisierung zum Opfer gefallen, und ich stehe jetzt erst mal so mehr oder weniger vor dem Nichts. Wie geht es weiter?“ Die Befragte verbindet die Probleme im Kontext von Globalisierung mit ihrer individuellen Arbeitssituation und bewertet sie aufgrund ihres Arbeitsplatzverlustes negativ, wobei sie an dieser Stelle zugunsten der individuellen globale Aspekte außen vor lässt. Eine andere bezieht die Region in ihre Antworten mit ein: „Es sind hier sehr viele Firmen von ausländischen Firmen gekauft worden, und wenn man den Raum Hameln nimmt, dort ist es genauso. Ich denke, das ist sehr gefährlich.“ Auch auf die Frage nach ihren persönlichen Erfahrungen antwortet sie relativ abstrakt: „Ich würde das so bezeichnen, wenn sich mehrere Firmen zusammenschließen, hat das immer auch mit personellen Konsequenzen zu tun. Da ist immer irgendwas im Hinterkopf, wo jemand sagt: 'Ich muss Kosten sparen'. Wir haben das hier im Betrieb ja auch erlebt. ... Es wurde alles ausgegliedert. Wir wurden immer kleiner gemacht, weil es um Personalkosten ging, und das kann durchaus passieren, wenn mehrere Firmen sich zusammenschließen.“ Zum einen wird die Frage nach einem allgemeinen Verständnis von Globalisierung mit einer individuellen Erfahrung beantwortet, wobei die Unternehmensstrategien der Kosteneinsparung 141 nicht hinterfragt, sondern zunächst als gegeben hingenommen werden. Zum andern driften immer wieder die Antworten auf Fragen nach persönlichen Erfahrungen in die Beschreibung allgemein angenommener Probleme, wenn z. B. die Lebenslage von Familien mit Kindern im Allgemeinen angeführt wird. Auch wenn die Befragten keine Kinder (mehr) zu versorgen haben, wird die vermeintliche Situation von anderen antizipiert. Im Anschluss daran stellt sich für uns die Frage, inwiefern es möglich sein kann, unter Berücksichtigung nachfolgender Generationen alternative ökonomische Strategien in die allgemeine Diskussion einzubringen. 8 Die eigene Lage allerdings konkret zu beschreiben und somit in ersten Ansätzen zu analysieren, fällt vielen besonders schwer. Zu groß ist für sie die Unsicherheit beim Blick in die Zukunft, nachdem sie viele Jahre in einer bestimmten Firma gearbeitet haben. Für uns stellt sich hier die Frage, inwiefern die jeweilige Verschiebung vom Allgemeinen auf persönliche Zusammenhänge und umgekehrt von der Frage nach persönlichen Erfahrungen hin zu allgemeinen Problemen dazu beiträgt, dass die Befragten auch negative Folgen internationaler Zusammenschlüsse akzeptieren können. Ängste und Unsicherheiten aus den Aussagen der Einzelnen herauszufiltern, Wege mit ihnen zu finden, die verschiedenen Ebenen auseinander zu halten und so zunächst individuell bearbeitbar zu machen, wäre sowohl eine Aufgabe von Sozialarbeit als auch des KDA. Zugleich müsste vor allem aus gewerkschaftlicher Perspektive mehr über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen in einer Weise informiert werden, die die strukturellen Aspekte hervorhebt, um gegen den Trend zur Individualisierung, wie er spätestens durch das Arbeitsamt praktiziert wird, entgegen zu wirken (vgl. Renate Schumak und Christian Schulz 2001). Gruppenbildungen können zu einem Austausch über Verschiedenheit und Ähnlichkeit sozialer Lagen beitragen als Voraussetzung für gegenseitige Unterstützungen. Andere Interviews mit Erwerbslosen aus der Region zeigen, dass die Herausbildung von gegenseitigem Verständnis, gekoppelt mit Informationen über die Funktionsweisen Institutionen, wie z. B. dem Sozialamt, ein unterstützendes Vorgehen erleichtern kann. 8 Auch in einer breit angelegten Studie in Frankreich verweisen Beschäftigte immer wieder auf die Situation ihrer Kinder (vgl. Pierre Bourdieu u. a. 1997). 142 5.2 „Wobei wir eigentlich dankbar sein müssen“ Internationale Zusammenschlüsse von Firmen in der Region Weserbergland werden von den befragten Erwerbstätigen in Bezug auf die eigene Situation nicht ausschließlich negativ gesehen. Eine positive Konnotation findet sich, wenn die Befragten gerade durch die Übernahme des Unternehmens, in dem sie arbeiten, ihren Arbeitsplatz behalten können. „Wobei wir eigentlich dankbar sein müssen, ... sonst wären wir ja schon nicht mehr auf dem Markt, und ich müsste mir woanders einen Arbeitsplatz suchen.“ Doch selbst Veränderungen in der eigenen Alltagsgestaltung, die sich durch die Übernahme einer ausländischen Firmenleitung ergeben, geraten zunächst aus dem Blick: „Es ist ja eigentlich alles so geblieben, nur der Besitzer hat gewechselt. Die Arbeit ist geblieben, die Beschäftigung ist geblieben.“ Dass sich in der Zeitverfügung aufgrund der neuen Unternehmensleitung doch etwas geändert hat, wird erst auf explizite Nachfrage hin deutlich: „Die Freizeit ist ein bisschen eingeschränkt, würde ich sagen.“ Im Vordergrund steht verständlicherweise der Erhalt des Arbeitsplatzes. Doch wenn Beschäftigte nur noch diesen Erhalt sehen und vorhandene Nachteile gegenüber vorher übersehen, können sie sich auch schwerlich für den Abbau von Nachteilen einsetzen. Zugespitzt können wir festhalten: In Zeiten, in denen es um einen Arbeitsplatz unter allen Umständen geht und für die Einzelnen gehen muss, werden z. B. Arbeitsbedingungen nicht mehr hinterfragt. Damit ergibt sich ein weiteres Arbeitsfeld für gewerkschaftliche, sozialarbeiterische und diakonische Intervention, Missstände in den Arbeitsbedingungen zu eruieren, anzusprechen und mit den Beschäftigten nach Abhilfe zu suchen. Ein fast 60-jähriger Mann macht sich ganz andere Sorgen. Ihm geht es dabei um die eigene Altersrente, obwohl er seinen Arbeitsplatz gerettet weiß. Zugleich verbindet er, trotz Arbeitsplatzerhalt für sich, Globalisierung ganz allgemein mit negativen Auswirkungen, ohne diese zu explizieren. Individuelle Ängste, Problemsichten und Bewertungen von Globalisierung finden sich häufig merkwürdig verrückt in den Aussagen wieder, so dass eine Strategie, die zu einer solidarischen Basis führen kann, besonders sorgfältig die Ebenen der Diskussion abstecken sollte. Ein weiterer Anknüpfungspunkt hierfür könnte die Artikulation von Ungerechtigkeit sein. 143 5.3 „Wir wurden gehandelt wirklich wie Ware“ Immer wieder wird im Kontext von Entlassungen die Ungerechtigkeit gegenüber den Erwerbstätigen thematisiert: „Wir wurden gehandelt wirklich wie Ware, wie Ware. Uns haben sie Stück um Stück weggezogen.“ Weder die Lebenslagen der Erwerbstätigen noch ihre Leistungsfähigkeit - so müssen Entlassene bitter feststellen - spielen eine Rolle bei Übernahmen von Unternehmen. Eine 42-jährige Frau (ehemalige Betriebsrätin), die zur Zeit der Befragung bereits gekündigt ist, beschreibt die Ungerechtigkeit gegenüber den ehemals Beschäftigten des Betriebes. Sie hält die Standortdebatte für eine Problemverschiebung: Sind „wir wirklich so schlecht vom Standort Deutschland? Wenn ich so meine Kollegen auf der Arbeit beobachtet habe jeder hat sein Bestes gegeben - hundertprozentige Arbeit muss auch Hundertprozent bezahlt werden. Da kann man nicht sagen, da machst du halt mehr, da geht jetzt einer weg, so wie es sich bei uns zugetragen hat. Jeder musste mehr arbeiten, und dann kommt es auch zu Fehlern, das ist nun mal so, keiner ist fehlerfrei, in keiner Region.“ Implizit entlarvt die Interviewpartnerin einen Mythos der Leistungsideologie. Sie bemerkt, dass Leistung und Mehrarbeit keine Garantie dafür sind, nicht entlassen zu werden, und stellt zugleich die gesamte Standortdebatte in Frage. Andere hingegen sehen Gefahren für den Standort von Firmen in Deutschland, ein Argument, das auch immer wieder in den Medien diskutiert wird, obwohl sich zeigen lässt, dass zwar die Lohnkosten in Deutschland höher liegen als in anderen Ländern, so dass Unternehmen mit Standortverlegungen ins Ausland drohen. Berücksichtigt man aber die Stückkosten in diesen Vergleichen, so wird oft deutlich, dass eine Verlegung der Produktionsstätte oftmals nicht lohnt (vgl. Gerald Boxberger und Harald Klimenta 1998, 88 ff). Unsere Analysen im Weserbergland zeigen, dass beide Argumentationsstränge nicht falsch und nicht richtig sind. Produktionsstätten werden nicht verlegt, um drohenden Verlusten zu entgehen, sondern um Konzernvorgaben oftmals in einer zweistelligen prozentualen Erhöhung der Gewinne gegenüber dem Vorjahr gerecht zu werden. Nicht nur die Lohnstückkosten spielen eine Rolle beim Standortwechsel, sondern vor allem staatliche Sub- 144 ventionen, wobei es unerheblich ist, von welchem Staat diese kommen. 9 In diesem Verwirrspiele von Diskrepanzen zwischen Handlungen und Diskursen, partiell zutreffenden Begründungen sowie nicht eingehaltenen Versprechen von Unternehmen versuchen die abhängig Beschäftigten einen Weg in der Regel je für sich - zu finden. Globalisierung wird, so vermitteln viele Antworten, zum Glücksspiel für Erwerbstätige. Mühsam versuchen sie in Worte zu fassen, was sie empfinden, was ungerecht und was für sie nicht nachvollziehbar ist. Dabei scheint die Standortdebatte, wie sie vor allem in den Medien geführt wird, durchaus erfolgreich zu sein und liefert über die Möglichkeit, sich mit der Nation zu identifizieren, ein Erklärungsmodell dafür, sich selbst als ohnmächtig gegenüber Unternehmensstrategien zu sehen, ohne überhaupt noch nach Gestaltungsmöglichkeiten zu fragen. 6. Ein erstes Fazit Eine Strategie, die dem hegemonialen Globalisierungsdiskurs, wie er von VertreterInnen aus Wirtschaft, Politik und durch viele Medien reproduziert wird, einen Counterpart, eine Gegenöffentlichkeit entgegensetzen will, kann dies nur unter Einbeziehung der Vorstellungen, Ängste und Hoffnungen der Erwerbstätigen leisten. Wichtige Erklärungsmodelle finden sich in der Identifikation einzelner mit der Nation, was eine Erörterung der damit zusammenhängenden Möglichkeiten und Gefahren notwendig macht. Immer wieder thematisieren die Befragten die Lebenslagen der nachfolgenden Generationen in einer Weise, die es ermöglicht, gesamtgesellschaftliche Zukunftsplanungen einzubeziehen. Am schwierigsten zu bewältigen scheint die Reflexion der je eigenen spezifischen Lebenslage im Kontext von Veränderungen im Erwerbsleben. Gerade diese Haltung verbaut nicht nur den Zugang zur Entwicklung konkreter Zukunftspläne, sondern verhindert im Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der individuell spezifischen auch 9 So ist ein Unternehmen von einem US-amerikanischen aufgekauft worden, und entgegen anders lautenden Versprechen gegenüber den Beschäftigten ist die Produktion nach Polen verlagert worden, wo mit staatlicher Hilfe eine ganz neue Fabrik erbaut worden ist. Während die Beschäftigten im Weserbergland, die fast alle entlassen worden sind (vgl. Betriebsrat AEG Niederspannungstechnik Hameln 2000), noch ihre Situation verarbeiten, ist bereits geplant, Teile der polnischen Fertigung weiter nach China zu verlagern. 145 die Analyse der allgemeinen Lage der Betroffenen im Kontext von Veränderungen am Arbeitsplatz. Die je besonderen Lebenslagen der Erwerbstätigen, deren Verarbeitungsstrategien und die schwer durchschaubare Vernetzung wirtschaftlicher Interessenslagen in Globalisierungsprozessen schaffen neue Situationen der ungerechten Verteilung von Arbeit und Einkommen, die es dringend notwendig machen, neue Formen von Widerstand zu erarbeiten. Deutlich werden bereits einige Herausforderungen an Sozialwissenschaften, Gewerkschaften, Kirche und Sozialarbeit sowie die Notwendigkeit ihrer Kooperation untereinander. Es muss in Zukunft darum gehen, zwischen den verschiedenen und ähnlichen Lebenslagen der Erwerbstätigen in einer Weise zu vermitteln, dass kooperative Strukturen gestaltbar werden. Auf der Basis einer breit empfundenen Ungerechtigkeit müssen Wege und Räume gefunden werden, die die Beteiligten in die Lage versetzen, sich gesellschaftspolitisch eingreifend für ihre Interessen einbringen zu können, um alternative Durchsetzungsstrategien zu entwickeln. Folgen wir Durkheim in seiner Konzeptionierung von organischer Solidarität, besteht eine vordringliche Aufgabe darin, die Subjekte auf allen Ebenen wieder als aktiv gestaltende, an Gesellschaft Partizipierende zu sehen und zugleich darin, gesamtgesellschaftliche Strategien wieder oder endlich einmal an die Lebenslagen der Subjekte zurückzubinden - eine Herausforderung für Gewerkschaften, KDA und Sozialarbeit. Literatur Altvater, Elmar und Birgit Mahnkopf 1997³: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster Arbeitsamt Hameln, 1999: Bundesanstalt für Arbeit. Arbeitsamt Hameln, Information und Controlling. Jahresbericht 1999 Bauman, Zygmunt 1999: Die Fremden des Konsumzeitalters. In: Ders.: Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg, S. 66-83 146 Bauman, Zygmunt 1996: Glokalisierung oder Was für die einen Globalisierung, ist für die anderen Lokalisierung. In: Das Argument 217, S. 653664 Betriebsrat AEG Niederspannungstechnik Hameln (Hrsg.) 2000: Aufgekauft und abserviert. Erfahrungen mit General Electric in Hameln. Hameln Bourdieu, Pierre u. a. 1997: Das Elend der Welt. Konstanz Boxberger, Gerald und Harald Klimenta 1998: Die 10 Globalisierungslügen. Alternativen zur Allmacht des Marktes. München Burchardt, Hans-Jürgen 1996: Die Globalisierungsthese - von der kritischen Analyse zum politischen Opportunismus. In: Das Argument 217, S. 741-755 Durkheim, Emile 1988: Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt/M. Europäisches Kairos-Dokument 1998: Für ein sozial gerechtes, lebensfreundliches und demokratisches Europa. Junge Kirche. Sonderdruck Gramsci, Antonio 1967: Philosophie der Praxis. Hrsg. von Christian Riechers. Frankfurt/M. Haug, Wolfgang F. 1980: Standpunkt und Perspektive materialistischer Kulturtheorie. In: Ders. und Kaspar Maase (Hrsg.): Materialistische Kulturtheorie und Alltagskultur. Berlin, S. 6-27 Haug, Wolfgang F. 1985: Pluraler Marxismus 1. Beiträge zur politischen Kultur. Berlin Plehwe, Dieter und Bernhard Walpen 1999: Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus. Beiträge der Mont Pèlerin Society und marktradikale Think Tanks zur Hegemoniegewinnung und -erhaltung. In: PROKLA 115, S. 203-235 Rommelspacher, Birgit 1995: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 147 Schröder, Gerhard und Tony Blair 1999: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Die Politik darf die Steuerungsfunktion der Märkte nicht behindern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.8.1999, S. 10 (Dokumentation in Auszügen) Schumak, Renate und Christian Schulz 2001: Arbeitslosigkeit - ein psychologisches Thema? In: Forum Kritische Psychologie 43, S. 59-76 Statistisches Bundesamt (Hg.) 1997: Datenreport 7. Zahlen, Fakten über die Bundesrepublik Deutschland 1995/96. Bonn Statistisches Bundesamt (Hg.) 2000: Datenreport 1999. Bonn Thiersch, Hans 1992: Lebensweltorientierte soziale Arbeit. Weinheim Zoll, Rainer 2000: Was ist Solidarität heute? Frankfurt/M. 148 Struktureffekte transnationaler Risikokommunikation: Das Beispiel des BSE-Konflikts * Klaus P. Japp 1. Risikosoziologische Positionen Der BSE-Konflikt bezieht sich zunächst auf den Ausbruch der Rinderseuche selbst und zu einem späteren Zeitpunkt auf die Übertragbarkeit auf den Menschen (neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit - nvCJK). Der mutmaßliche Transport des BSE-Erregers durch Verfütterung von Tiermehl indiziert einen ökologischen Störfall, der weltweite Beachtung findet. Insbesondere wegen der britischen Geheimhaltungs- und später dann Blockadepolitik einerseits und wegen der Ungewissheiten bezüglich der Begrenzung weiterer (Ausbreitungs-)Folgen der Seuche andererseits wird der BSE-Fall für lange Jahre zu einer Art Dauerthema der politischen Öffentlichkeit 1 . Der Zusammenhang der Störfallpolitiken von englischer und deutscher Seite, sowie von der Seite der Europäischen Kommission ist bis heute nur unzureichend sozialwissenschaftlich aufgeklärt 2 . * 1 2 Eine überarbeitete Fassung des Beitrags erscheint unter dem Titel „Struktureffekte öffentlicher Risikokommunikation auf Regulierungsregime. Zur Funktion von Nichtwissen im BSE-Konflikt, in: Engel, Chr., Halfmann, J., Schulte, M. (Hrsg.), Wissen, Nichtwissen, Unsicheres Wissen, Baden-Baden: Nomos 2002 Die Bedingungen für eine Generalisierung von ökologischem Nichtwissen können in der öffentlichen Aufmerksamkeit für kollektive, oft schwer oder gar nicht beherrschbare Bedrohungsszenarien vermutet werden (Weingart 2001). Das Phänomen der 'Globalisierung' in diesem Zusammenhang, also die Dramaturgie weltweiten öffentlichen Interesses, steigert diesen Aspekt ins Unkalkulierbare, wenn man so will, konstituiert ihn aber nicht. Siehe jetzt Dressel 2000. 149 Risikosoziologisch untersuchen wir für den BSE-Fall im Folgenden einige Konzeptualisierungen, die sich auf Risikoregulierung, ökologisches Nichtwissen und öffentliche Beobachtungsverhältnisse dergestalt beziehen, dass eine emergente, regulative Risikodynamik sichtbar wird 3 . Von dieser Dynamik wird angenommen, dass sie sich in der (Einheit der) Differenz von Erfahrung (Kausalität) und Risikobereitschaft (Exploration) ausprägt. Diesem Verhältnis entspricht im Kontext ökologischer Regulierung die Differenzierung von Gefahrenabwehr (Preuß 1989) und Risikovorsorge (Ladeur 1995). Gefahrenabwehr rekurriert auf erfahrungsgestütztes Kausalwissen über schädliche Ereignisse, Risikovorsorge setzt Kausalitäten kontingent und operiert in einem mehr oder minder offenen Horizont schädlicher Entscheidungsfolgen. Gefahrenabwehr unterhält ein quasi ignorantes Verhältnis zu ökologischem Nichtwissen, sie wartet, bis ein Ereignis kausal aufgeklärt werden kann und vermeidet insofern die Risiken ungesicherter Festlegungen. Diese Form der politischen Risikoaversion markiert folgendermaßen für lange Zeit die britische Position im BSE-Konflikt: Solange der BSE-Komplex nicht kausal geklärt ist, sind alle politischen Maßnahmen, die sich gegen die Interessen der britischen Rindfleischindustrie richten, illegitim 4 . Maßnahmen gegen die Ausbreitung von BSE werden nur im Umkreis des Kausalfaktors Tiermehlverfütterung (Fütterungsverbot an Wiederkäuer 1988) und der Beseitigung sog. Risikomaterialien (Verbot 1989) für legitim gehalten, ebenso wie die Tötung und Beseitigung nur der Tiere, die 'nachweislich' erkrankt sind. Risikovorsorge dagegen unterstellt immer den schlechtest möglichen Fall und orientiert sich dementsprechend an kausal nicht gesicherten Möglichkeiten des Schadenseintritts. Darin liegt eine Risikobereitschaft, die ökonomischen, technischen, aber auch ökologischen Folgen von durchgriffsintensiven Präventivmaßnahmen in Kauf zu nehmen, die im BSE-Konflikt durch die kontinentaleuropäische Position markiert 3 4 An dieser Stelle wird von einem emergenten Regime ausgegangen, weil von nationalstaatlicher Seite aus strategisches Verhalten unterstellt werden kann, auf der europäischsupranationalen Ebene aber gerade nicht. Auch die Europäische Kommission hat lange Jahre schlicht die britischen Interessen verfolgt. Gleichwohl lassen sich Aggregateffekte – wie wir noch zeigen werden - auf die europäische Regimeebene zurechnen und deshalb sind sie emergent. Dressel und Wynne (1999) führen diese Haltung auf eine 'empiristische Kultur' in britischer Wissenschaft und Politik zurück. 150 wird 5 : Bevor wir genau wissen, was es mit dem BSE-Komplex auf sich hat, sorgen wir lieber für die Tötung aller (auch nur) verdächtigen Herden und lassen kein britisches Rindfleisch auf die kontinentalen Märkte. Generell ist festzustellen, dass es zum Themenkreis ökologisches Nichtwissen, generalisierte Risikokommunikation und Regulierung nur wenig einschlägige Literatur gibt. Sie reduziert sich im Wesentlichen auf internationale Regulierungsforschung (O'Riordan/Wynne 1993): Dabei geht es um die politische Behandlung als global identifizierter ökologischer Probleme und nicht um die Struktureffekte generalisierter Kommunikation 6 von Nichtwissen. Der Stressfaktor wird an dieser Stelle jedoch nicht in mangelnder Kooperation oder diskrepanten nationalen Regulierungsstilen gesehen, sondern in den Auswirkungen der (im Prinzip globalen) Kopplung von Politik, Massenmedien und öffentlicher Meinung auf störfallbezogene Wissensstrukturen 7 . Zum BSE-Fall gibt es ebenfalls bisher nur wenig sozialwissenschaftliche Literatur (s. aber Tacke (2000) und jetzt Dressel (2000)). In einer Arbeit von Dressel und Wynne (1999) wird allerdings der britische Umgang mit den kognitiven (d. h., den wissenschaftlichen) Unsicherheiten des BSE-Konflikts als verankert in einer 'pragmatischen Kultur' und der kontinentaleuropäische (insb. deutsche) Umgang als verankert in einer 'idealistischen Kultur' aufgefasst und dies dann als 'unproduktiver Konflikt' interpretiert. Genau an dieser Stelle lässt sich vermuten, dass es sich nicht um einen 'unproduktiven Konflikt', sondern um eine nicht-intendierte 'Steigerung' des Verhältnisses von Risikoaversion und Risikobereitschaft (von exploitation und ex5 6 7 Diese Haltung wird von Dressel und Wynne (1999) als 'idealistische Kultur' bezeichnet. 'Generalisiert' ist kein glücklicher Terminus. Aber es soll eben nicht vorschnell auf 'Globalisierung' gesetzt werden, sondern eher auf das, was bei Giddens (1990) als 'disembedding' notiert wird. 'Globalisierung' kommt hinzu. Man könnte allenfalls sagen, dass nationale Regulierungsstile (gewöhnlich werden genannt: Konsens, Konflikt, Autoritarismus, Korporatismus) einen je spezifischen (im Sinne einer nationalstaatlichen 'Kultur') Umgang mit Nichtwissen indizieren. Auf die Ebene der Weltgesellschaft bezogen, müsste konsequenterweise angenommen werden, dass kausale und explorative Präventionsstrategien einen emergenten Effekt bilden und weniger nationalstaatlich verteilte Reaktionen, die dann irgendwelche Aggregateffekte hervorbringen. Diese Perspektive ergibt sich, wenn Differenzen nationalstaatlicher Regulierungsstile zugrunde gelegt werden. 151 ploration: March/Olsen 1995: 184f.), um einen emergenten Struktureffekt handelt. Der Begriff 'Steigerung' zielt auf den emergenten Effekt einer durch kompakte Risikoaversion (auf dem Kontinent) ermöglichten partiellen Risikobereitschaft (in Großbritannien) 8 . Resultat sind durch Gefahrenabwehr ermöglichte, durch Risikovorsorge aber strukturell begrenzte Beobachtungschancen - insbesondere von Übertragungswegen des BSE-Erregers auch auf den Menschen und hier besonders die 'neue Variante' der CreutzfeldJakob-Krankheit betreffend. Ganz im Sinne von Aaron Wildavsky’s 'rule of sacrifice' (1988) werden einige nvCJK-Betroffene hauptsächlich in Großbritannien geopfert, wohingegen das Komplettregime stabil bleibt. Dies kann als emergenter Effekt eines Regulierungsregimes bezeichnet werden, das gerade ohne Transparenz und Konsens operiert, denn das, was schließlich dabei herausgekommen ist, wurde von niemandem so geplant. Das Lernpotential dieser Beobachtungschancen wäre durch bloße Risikovorsorge (Tötung aller Herden, in denen verdächtige Tiere entdeckt wurden oder womöglich überhaupt Tötung aller britischen Rinderherden) verborgen geblieben. Umgekehrt hätte die Position der bloßen Gefahrenabwehr (Beseitigung nur der Tiere, die 'nachweislich' erkrankt sind) wegen des operativ ausgegrenzten Nichtwissens unkontrollierbare Auswirkungen haben können. Dies wird übersehen, wenn man - wie Dressel und Wynne - auf Transparenz (Konsens) zwischen nationalstaatlichen Regulierungsregimes abstellt (vgl. auch Goethals et al. 1998). Transparenz und Konsens hätten entweder komplette Risikovorsorge mit der Folge ausfallender Beobachtungschancen hinsichtlich der Erregerdynamik impliziert oder den (unwahrscheinlichen) Fall kompletter Gefahrenabwehr mit der Folge einer wahrscheinlichen Katastrophe 9 . 8 9 Ohne kontinentales Importverbot hätte die EU den an Fahrlässigkeit (nicht nur) grenzenden britischen Praktiken sicherlich nicht derart duldsam zugesehen. Wie unwahrscheinlich 'Transparenz' unter den gegebenen Bedingungen gewesen wäre, zeigen Dressel und Wynne (1999) selbst: „However there did arise just such a clash, as traditional UK approaches were forced to interact with, and confront, continental European ones. Our argument is that this was a 'blind' clash leading to confusion, transboundary bad-faith and more general mistrust precisely because those cultural features were cultural; that is, because they were not reflected upon and deliberated, but implicit, un-selfconsciously held and embedded in commitments which were animated by human cultural identifications“ (S. 18, Ms.). 152 Darüber hinaus rekurrieren die Autoren auf 'Kulturen', also auf normative Bestände. Bezogen auf die funktionalen Besonderheiten von Nichtwissen liefert Systemvertrauen den geeigneteren Bezugsrahmen. Es verweist auf die Funktion der Massenmedien – und von daher auf die Kommunikation von öffentlichen Meinungen. 'Kulturen' sind demgegenüber ein zu statisches Konzept. Während Kulturen auf tradierte Normen und Werte verweisen, hat man es im Falle eines durch öffentliche Kommunikation erzeugten Systemvertrauens mit Schemata der öffentlichen Meinung zu tun. Für diese ist die Interaktion von Katastrophenschwellen und Nichtwissen (s.u.) relevant, die maßgeblich vom schemaverwendenden Gedächtnis der Politik bestimmt wird und weniger durch wie immer tief sitzende Kulturen. Andernfalls wäre auch schwer zu erklären, wie es – gerade in Großbritannien – zu öffentlichem Systemmisstrauen kommen konnte, also gerade zur Diskontierung von 'un-self-conscious, routinised, habitual taken-for-granted forms of practice' (Dressel/Wynne 1999). Im folgenden sollen einige für das Thema relevante Begriffe abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung orientiert sich an dem Interesse, Argumente zu spezifizieren, die den Zusammenhang zwischen generalisierter Kommunikation von ökologischem Nichtwissen und Strukturveränderungen in Präventionssemantiken und Störfallwissen, wie sie auch im BSE-Fall notiert werden können, aufklären können. Insofern auf Kommunikation rekurriert wird und nicht auf davon unabhängige Realitäten, sind die Zentralbegriffe dieser Argumentation in einem konstruktivistischen Kontext zu suchen. Dies ist durchaus als Theorieentscheidung zu verstehen. Demzufolge muss nach einem Gefahrenbegriff gesucht werden, der auf kommunikative Konstruktion verweist und nicht auf einen 'realistischen' Entdeckungszusammenhang objektiver Gefahren. Dieser würde ja gerade das Moment des Nichtwissens verdecken und damit das öffentliche Moment an Unsicherheit und potentiellem Misstrauen. Weiterhin ist nach einem Begriff von Nichtwissen zu suchen, der in einem analogen Sinne auf operative Resultate von Erkenntnis generierender Kommunikation verweist und nicht etwa schlicht auf übermäßige Komplexität einer externen Realität. Das würde die eigentümliche Qualität unspezifizierbaren (nicht kompensierbaren) Nichtwissens, die vor allem im Zeitmodus, i.e. im nicht kompensierbaren, weil immer gegenwärtigen Operieren von Erkenntnis begründet liegt 153 und sich in zukünftigen, schwer zu spezifizierenden Bedrohungen äußert, verdecken (Japp 1997a). Zudem wird ein Politikbegriff benötigt, der auf den Umgang mit Gefahren und mit Nichtwissen abgestellt ist. Diese Anforderung verweist auf Risiko und nicht auf Rationalität, etwa der Interessenverfolgung, insofern diese das konstitutive Moment an politisch bearbeitetem Nichtwissen und eben dem öffentlich wirksamen Moment an Unsicherheit und potentiellem Misstrauen verdecken würde. Schließlich wird ein Begriff der öffentlichen Meinung benötigt, der nicht auf die Meinungen von Individuen bezogen ist, sondern auf kommunikative Eigenwerte, verstanden als Schemata, in denen öffentlich diskutiert wird. Dabei stellt die öffentliche Meinung ein Medium dar, auf das Politik und Massenmedien schemabildend zugreifen. Der in der Regulierungsforschung gängige Kulturbegriff verweist demgegenüber in zu starkem Maße auf (eher problematische) 'normative Integration' und minderbewertet die Funktion der öffentlichen Meinung als Kopplung von Politik und Massenmedien. Schemata verweisen von sich aus auf die kommunikative Dynamik der öffentlichen Meinung, deren 'Gedächtnis' sie strukturieren, indem sie auch Intransparenz und Dissens einschließen. Für die Entfaltung dieser Anforderungen werden die soziologische Systemtheorie (Luhmann 1992, 1992a-c, 1996, 1997, 2000) und die neoinstitutionalistische Theorie der organisierten Politik in Anspruch genommen (March/Olsen 1989, 1995). Als Gegenfolie zu diesen risikosoziologischen Positionen dienen Konzeptionen aus dem Umkreis der 'reflexiven Modernisierung' (Beck 1986), die auf dem Hintergrund eines realistischen Gefahrenbegriffs (Beck 1986/88) mit einem Politikbegriff arbeiten, der auf 'rationale' Ziele verpflichtet werden kann (Beck 1993, Habermas 1992, Offe 1989), mit einem Begriff von Nichtwissen arbeiten, der gerade kein implizites Resultat kommunikativer Operativität anzeigt (Beck, in: Beck/Giddens/Lash 1996) und auf diesem Hintergrund eine Idee von öffentlicher Meinung verwenden, die auf 'vernünftige Resultate' angelegt ist (Habermas 1979/1992, Offe 1989). Während hier versucht werden soll, operativ signifikante Begriffe von Nichtwissen und Gefahrenkommunikation zu entfalten10 , handelt es sich bei den zitier- 10 So kann von einem 'disembedding' (Giddens 1990) lokaler Gefährdungen soziologisch erst gesprochen werden, wenn lokalisierte technisch-ökologische Gefahren - unter dem selektiven Einfluss der Massenmedien - generell und/oder als generelle Gefahren kommuniziert 154 ten Konzepten eher um normativ inspirierte Theorien einer (zu schaffenden) 'Zivilgesellschaft' (vgl. zusammenfassend: Japp 2000: 78ff.). 2. Wissen und Nichtwissen Zu der Vorstellung, dass Kommunikation über Gefahren als Kommunikation von Nichtwissen aufgefasst werden könnte und man es daraufhin mit (kontingenten) Zurechnungsprozessen zu tun bekommt, gibt es prinzipiell, zwischengelagerte Konzepte also ausgenommen, zwei Theorien, zum einen die von Ulrich Beck vertretene Theorie 'reflexiver Modernisierung' (Beck 1986/1988) und zum andern die von Niklas Luhmann vertretene konstruktivistische Systemtheorie (Luhmann 1997). Beck geht - trotz aller Zugeständnisse an das Moment der 'Konstruktion' - von einem realistischen Gefahrenbegriff aus (Adams 1995: 195), während Luhmann einen konstruktivistischen Gefahrenbegriff ausgearbeitet hat, der von Zurechnungen abhängt11 . Ein realistischer Gefahrenbegriff transformiert technisch-ökologische Risiken durch Verweis auf Schadensentgrenzung (Kernenergie / Gentechnik), Marktexpansion (Asbest / Bhopal) und Aggregationseffekte (Klima / Ressourcenübernutzung) in generalisierte Gefahren (Beck 1986/1988, Beck/Giddens/Lash 1996). Die Folge besteht in einem wissenschaftspolitisch normativen Primat der 'ökologischen Frage' (Beck et al. 1996)12 . Die Theorie 'reflexiver Modernisierung' teilt mit dem mainstream der soziologischen (Risiko-)Theorien (Clarke 1992, Hilgartner 1992, Renn 1992, Wildavsky 1995) die Prämisse, dass die Welt einerseits aus objektivierbaren Sachverhalten bestehe, die letztlich allein der Wissenschaft zugänglich sind, werden. Auch 'abstrakte Expertensysteme' erweisen sich erst als 'disembedding'-Faktoren (Giddens), wenn die öffentliche Meinung sie in dieser Weise fixiert und sie einem Publikum als 'abstraktes System' nahe bringt. Aus diesem begrifflichen Kontext werden im folgenden drei signifikante Dimensionen herausgegriffen: Nichtwissen, Verantwortung und Systemvertrauen sowie öffentliche Kommunikation. 11 Genau gesagt, von der kommunikativen Zurechnung auf Umwelt, während der Gegenbegriff des Risikos seine soziale Potenz aus der Zurechnung von Entscheidungsfolgen auf das System (andere meinen: auf das Subjekt) bezieht (Luhmann 1990a/1991). 12 Die konstruktivistische Gegenposition ist von Luhmann (1986) als 'ökologische Kommunikation' eingeführt worden. 155 andererseits aber sinnhaft (nach-) konstruiert werde. Dieser 'halbierte Konstruktivismus' lebt von der eigentümlichen, aber auch eigentümlich resistenten Annahme, dass 'unabhängig' gegebene Sachverhalte (Gefahren/Risiken) zugleich kontingenten Konstruktionsaktivitäten unterliegen. Man muss dann nur noch herausfinden, welche Konstruktionen die Sachverhalte 'treffen'. „Aber welche gesellschaftliche Beobachtung der ökologischen Probleme ist die 'richtige'? Welche soziale Konstruktion der Probleme soll zwischen der Konstruktion und der Wirklichkeit der Probleme unterscheiden können? Die Antwort ist: die Wissenschaft“ (van den Daele 1996: 422). Diese realistisch zu nennende Konzeption begünstigt auf der Seite des Nichtwissens in vielen Fällen eine normativ fundierte Sicht auf Manipulation vorhandenen Wissens oder Nichtwissenwollen erforschbaren Wissens (Beck in: Beck/Giddens/Lash 1996)13 . Dieser Unterstellung einer quasi konkurrenzfreien Beobachtbarkeit von ökologischen Gefahren und ihren politischen Konsequenzen durch autoritativ geltende Wissenschaft soll nicht einfach die Gegenposition polykontexturaler Beobachtungsverhältnisse entgegengehalten werden14 . Vielmehr soll hervorgehoben werden, dass die scheinbar externe Position der 'halbierten Konstruktion' immer schon interne Operation der ökologischen Kommunikation ist, deren selbstgenerierte Eigenwerte wie Risikoaversion (eher Beck 1986, Jänicke 1986 u. a.) oder Risikobereitschaft (eher Wildavsky 1989, LaPorte 1981 u. a.) sie nur verstärkt, ohne das selbst, aufgrund der Unterstellung einer 'externen' Beobachterposition, noch sehen zu können15 . Auf dieser Grundlage kann dann auch nicht mehr gesehen werden, dass die Zurechnung schädlicher Wirkungen auf sicher erkannte Ursachen oder auf den unsicheren Risiko/Gefahren-Komplex eine auch anders mögliche (kontingente) Entscheidung darstellt und nicht etwa rationalen versus nichtrationalen Umgang mit autoritativ geltendem Wissen anzeigt (s. etwa Fowl- 13 Für den BSE-Konflikt kann man diese Argumentationslage bei Dressel (2000) einsehen. 14 Diese könnte etwa lauten: „Vielmehr ist jede Nachricht mittlerweile eine, die von einer anderen Stelle aus als eine über ein mögliches Risiko thematisiert werden kann (...). Die Vorstellung von der Kompossibilität der Funktionssysteme der Gesellschaft wird unter hohen Druck gesetzt. Die darauf reagierende Semantik ist die einer Sich-selbst-gefährdendenGesellschaft“ (Fuchs 1992: 135, Herv.i.O.). 15 Dazu müsste diese Konzeption über den 'autologischen Schluss' verfügen können. 156 kes/Miller 1987). Dies schließlich hat Auswirkungen auf die Möglichkeiten des verwendeten Begriffs von Nichtwissen. Dieser ist eigentlich nur als immer vorläufig ungelöstes Informationsproblem, als spezifisches Nichtwissen im Kontext von Wissenschaft zu denken und andererseits im politischen Kontext als Manipulation oder Nichtwissenwollen eigentlich vorhandenen Wissens (Beck in: Beck/Giddens/Lash 1996, Dressel 2000). Der Gegenbegriff, unspezifisches Nichtwissen, kann von der Position eines halbierten Konstruktivismus nicht, oder nur in der Form der 'beliebigen Konstruktion', erreicht werden16 . Demgegenüber wird im Folgenden behauptet, dass die wissenschaftliche Spezifikation von Nichtwissen in zunehmendem Maße durch Zurechnung auf Risiko17 , d. h. auf offene Zukunft, entwertet wird und dass dies zugleich den Gegenbegriff zu spezifischem Nichtwissen aufblendet: Spezifisches Nichtwissen verweist als wissenschaftliches Problem auf die Gegenseite sicheren Wissens der Wissenschaft und als Risiko auf die Gegenseite unspezifischen Nichtwissens, auf das, was in der Gesellschaft als mögliche Katastrophe, bzw. als das, was man auf keinen Fall will (Rescher 1983), kommuniziert wird. Längst ist – neben unspezifischem Nichtwissen - auch spezifisches Nichtwissen aus der Nische wissenschaftlicher Problemlösungen heraus und in den Universalkontext riskanter Zeitbindungen eingetreten (Japp 1997a). Im Zuge der Steigerung von Wissen stellt sich Nichtwissen in Form wissensoperativ konstitutiver 'blinder Flecken' überproportional ein. Zum Beispiel reißt das hypothetische Wissen über ökologisch riskante Tiermehlverfütterung noch weit größeres Nichtwissen im Hinblick auf Zeitfolgen der Verbreitung, sachliche Alternativgenesen des Auslösesyndroms und der Verbreitung sowie soziale Betroffenheitsverteilungen. Und dies geht irreduzibel so weiter. In einem radikalen Sinn wird der Horizont möglichen 16 Empirischer Indikator für spezifisches Nichtwissen ist partielle Zurückweisung von Wissensansprüchen (etwa Expertendissens). Im Falle unspezifischen Nichtwissens ist es die komplette Zurückweisung von Wissensansprüchen, etwa in Gestalt eines bedingungslosen Importverbotes versus bedingte Importrestriktionen für britisches Rindfleisch. Diese Indikatoren demonstrieren außerdem spezifisches und unspezifisches Nichtwissen als operative Formen. Es geht nicht um beobachtbare Fakten. 17 Spezifikation erfolgt dann als Entscheidungsproblem. 157 Nichtwissens mit den kognitiven Operationen des Wissenserwerbs mitgezogen. In einem sehr grundsätzlichen Sinne geht es ohne Nichtwissen schon deshalb nicht ab, weil jeder Wissenserwerb unterscheidungsabhängig erfolgt und also das von der Unterscheidung nicht Erfasste ignoriert. Dies kann durch eine spätere Erkenntnisoperation kompensiert werden, für die jedoch dasselbe gilt (Luhmann 1992a). Diese Argumentation führt dazu, dass die Grenze zwischen möglichem Erkenntnisgewinn und Risiko unscharf wird. Denn nicht nur spezifiziertes Nichtwissen in seiner wissenschaftlichen Form, sondern auch für sicher gehaltenes Wissen impliziert nun Risikobelastungen; zumindest dürfte das in der Mehrheit aller Fälle so sein. Man kann das gerade an partiellen Negationen von Wissensansprüchen erkennen, die ja Dissens im Hinblick auf mögliche 'Wahrheitsrisiken' dokumentieren. Und gelegentlich wird die Seite zum gänzlich unspezifischen Nichtwissen hin gewechselt, mit der Folge kompletter Negation von Wissensansprüchen (s. Japp 1997a). So haben im Jahre 1989 nach 7.000 bekannt gewordenen BSE-Fällen und als es noch nahezu kein gesichertes Wissen über den 'BSEErreger' und seine Übertragungswege gab, nacheinander die USA, Kanada, Australien, Neuseeeland und Russland und parallel dazu die Europäische Union Importverbote für britisches Rindfleisch verhängt. Das BSE-Risiko wurde in diesen Staaten allgemein als unkalkulierbar bewertet und somit komplett negiert. Erst durch diesen Operationszusammenhang wird unspezifisches, aber sozial gleichwohl anschlussfähiges Nichtwissen konstituiert. In diesem Zusammenhang kann unterstellt werden, dass spezifiziertes Nichtwissen (Kontingenzlimitation) allenfalls zu Risikoabwägungen führt, während (prinzipiell) unspezifiziertes Nichtwissen (Kontingenzentgrenzung) zu katastrophischen Risikokonstruktionen führt, die kategorische Vermeidungsimperative nach sich ziehen: 'das wollen wir auf gar keinen Fall' (Perrow 1987, Rescher 1983). Man kann auch sagen: Unspezifisches Nichtwissen wird kommunikativ real, wenn erreichbares Wissen komplett zurückgewiesen wird, wenn also nicht ein kalkulierbares Risiko, sondern eine unkalkulierbare Katastrophe befürchtet wird18 . Im Fall der Risikoabwägung ist kausale Gefahrenabwehr wahrscheinlich (britische Reaktion im 18 Klassisch wird dieser Fall durch die Gefahrenbeschreibung sozialer Bewegungen konstituiert (Douglas/Wildavsky 1983, Japp 1993). 158 BSE-Konflikt: bis zu schärferen europäischen Gesetzen werden nur 'nachweislich' BSE-erkrankte Tiere getötet, bzw. aus der Nahrungsmittelkette genommen; principle of prevention); im Fall der Katastrophenperzeption ist explorative Prävention vom Typus Risikovorsorge wahrscheinlich (kontinentaleuropäische Reaktion: alle Herden mit auch nur einem erkrankten Tier werden komplett geschlachtet; precautionary principle). In der Literatur findet sich das Argument, Gefahrenabwehr sei durch Risikovorsorge zu ersetzen (z. B. Ladeur 1995). Die Entwicklung scheint aber eher auf die komplexere Einheit der Differenz (Gefahrenabwehr/Risikovorsorge) selbst – mit sicherlich wechselndem Schwerpunkt – zuzusteuern (Japp 1999/Wolf 1999). Ein Beleg für diese Entwicklung könnte sein, dass sich der manifeste Konflikt zwischen britischer Gefahrenabwehr und kontinentaleuropäischer Risikovorsorge (Differenz) als latentes transnationales Regime dokumentiert (Einheit)19 . Im BSE-Fall scheinen diese Bedingungen zuzutreffen20 : Die Betroffenen (etwa die deutsche Öffentlichkeit) rechnen auf nichtspezifiziertes Nichtwissen zu und koppeln dieses mit Katastrophenrisiken ('dread risk': Perrow). Die Entscheider (etwa die britische Politik) rechnen auf spezifiziertes Nichtwissen zu und verbinden dieses mit pragmatischer Risikoabwägung. Die einen investieren mehr, die andern weniger Vertrauen in die Kapazitäten wissenschaftlicher Unsicherheitsabsorption: 'derselbe Sachverhalt' und verschiedene Beobachter. Dies sind zwei Fälle mit diametral versetzten Arten der Transformation von Nichtwissen in kollektiv bindende Entscheidungen der Politik. Die britische Position operiert auf einer wirtschaftlich fundierten Katastrophenschwelle, die – zumindest anfänglich – die gesundheitlichen Risiken ignoriert und um der wirtschaftlichen Optionen willen sich förmlich vom Fehlen eines relevanten ökologischen Risikos 'selbst überzeugt' (Dressel 2000: 31). Davon will man nichts wissen. Die kontinentale Position operiert auf einer Katastrophenschwelle, die gerade das gesundheitliche Risiko unter allen Umständen zu vermeiden sucht: Davon 19 Die Untersuchung intendierter Kooperations- oder auch: Konfliktverhältnisse als das konstitutive Merkmal transnationaler Regime (Zürn 1998) ist also – vorsichtig gesagt – eine andere Forschungsoption (s.a. Ladeur 1987/1995). 20 Jedenfalls gilt dies für dessen erste Phase vom Ausbrechen der Seuche (1988) bis zum Zusammenbruch der defensiven britischen Position (1996). 159 will man gerade möglichst viel wissen. Die eine Position tendiert zur Gefahrenabwehr (principle of prevention), die andere zur Risikovorsorge (precautionary principle). Dabei geht es um die operative Konstruktion von kompletten Negationen entweder ökonomischer oder ökologischer Ansprüche, die dann Manipulation oder Nichtwissenwollen eigentlich vorhandenen Wissens nach sich ziehen mögen, aber diese beiden Formen für die Hervorbringung von Nichtwissen gerade nicht zwingend voraussetzen. Der Umgang mit unspezifischem Nichtwissen wird durch Katastrophenschwellen reguliert, die bestimmen, was man unter keinen Umständen (wissen) will und wogegen man sich dann mit welchen Mitteln wendet (hochselektive Schlachtprogramme einerseits, komplette Importverbote andererseits). Daraus folgt, dass auch die Differenz zwischen Erkenntnis- und Risikoperspektive keine objektiven Sachverhalte repräsentiert, sondern operatives Resultat divergierender Beobachtungen ist. Diese scheinen im Gesamtkontext der europäischen BSE-Politik tatsächlich die Optionen der kausalen und der explorativen Prävention gleichzeitig und unabhängig voneinander zu realisieren, so dass mit emergenten Effekten zu rechnen ist21 . Wie aber kommt es überhaupt zu 'sicheren' Beobachteroptionen? Die Differenz von Wissen und Nichtwissen inspiriert zur Frage nach der Umsetzung von Nichtwissen in kollektiv bindende Entscheidungen der Politik einerseits (4.) und zu der nach der Möglichkeit von handlungssicherndem Vertrauen im Medium der öffentlichen Meinung andererseits (5.). Denn ohne dieses Vertrauen kommt es nicht zu kollektiv bindenden Entscheidungen der Politik. Deren Eigenrisiko wäre zu groß (Luhmann 1996a). 21 Natürlich hängen diese Effekte mit der Verfolgung konkreter wirtschaftlicher Interessen zusammen. Wenn man das europäische Störfallregime als Ganzes betrachtet, ist es dann aber eine Aggregation aus unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen oder ein Regime sui generis? Easton (1965: 193) definiert ein Regime folgendermaßen: „The regime as sets of constraints on political interaction (...) may be broken down into three components: values (goals and principles), norms, and structure of authority." 160 3. Politisches Vertrauen und Verantwortungsübernahme Man kann vermuten, dass die Strukturen generalisierter Risikokommunikation gewissermaßen eine Enttrivialisierungsfunktion wahrnehmen, insofern sie die Chancen kausaler und/oder personaler Simplifikation durch verallgemeinerte (eventuell: globalisierte) Dauerbeobachtung abmindern. Die Generalisierung der Kommunikation von ökologischem Nichtwissen vermindert die Chancen, Systemvertrauen durch lokal verständliche (der 'Erfahrung' entsprechende) Vereinfachungen aufrecht erhalten zu können. An den 'Störfällen' Bhopal, Tschernobyl und Challenger zeigt z. B. Ulrich Beck, wie Trivialisierungen durch globale Beobachtung (gestützt auf die Massenmedien) aufgegeben werden mussten (1988: 135f.). Andererseits zeigt Clarke (1992), wie die 'rhetoric of human error' durch ebenfalls globale Wirtschaftsinteressen an den in großem Umfang durchgeführten Öltransporten eine enttrivialisierende Politisierung von oil spills behindert. Immerhin scheint der 'welt-öffentliche' Beobachtungsdruck aber die Ausdehnung der gesetzlichen Haftungsrahmen für solche 'Unfälle' begünstigt zu haben (Japp 1997, v.d. Daele 1996). An diese Beobachtungen kann die Unterscheidung zwischen konventionellem ('human error') und postkonventionellem Störfallwissen ('system error') angehängt werden. Es zeichnet sich ab, dass in diesem Zusammenhang eine Umstellung in der Präventionssemantik und im institutionalisierten Störfallwissen (Ladeur 1995, Morone/Woodhouse 1986, Wildavsky 1989) wahrscheinlich wird, die von Einheit (erfahrungsgestützte oder sozial 'anschlussfähig' konstruierte Kausalität) auf Differenz (Kausalität und Kontingenz, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge) abhebt22 . Paradigmatisch steht dafür die organisationsspezifische Anpassungsdifferenz von Ausbeutung bereits bekannten Wissens und Entdecken neuen Wissens (March 1994, March/Olsen 1995)23 . Darüber 22 "Diese Herangehensweise könnte den durch die Abschwächung der Bedeutung des Kausalitätsmodells eingetretenen Orientierungsverlust möglicherweise durch die Einstellung auf neue, nicht mehr hierarchisch konstruierte, auf Dauer angelegte abstrakt-generelle, sondern heterarchische stochastisch-relationale Formen der flexiblen Ordnungsbildung durch Prozeduralisierung ablösen“ (Ladeur 1995: 233). Einfacher formuliert: Störfallregime werden komplexer, sie unterliegen einer nicht-linearen Dynamik. Empirisch reservieren wir für die Vollentwicklung dieser Einstellung eine 'zweite Phase' des BSE-Regimes (s. u.). 23 Im Original heißt es exploitation und exploration. 161 hinaus scheint eine derartige Umstellung gerade nicht einfacher Reflex auf zunehmende Komplexität von technisch-ökologischen Zusammenhängen zu sein, sondern mit der zunehmenden Bedeutung von (technisch-ökologischem) Nichtwissen zusammenzuhängen (Weick 1990). Dieses wiederum mag lokal generiert werden, aber Struktureffekte im Kontext von technischökologischen Wissensbeständen gewinnt es erst durch generalisierte - massenmedial ermöglichte - Kommunikation von Nichtwissen: Erst dieser Vorgang (des disembedding: Giddens 1990) sorgt für die nötige, delokalisierte Aufmerksamkeit, nicht die technisch-ökologische Ereigniskomplexität an sich (so aber Beck 1986, 1988). Komplexitätsschübe unterliegen immer wieder lokalen Trivialisierungen, die kurz- bis mittelfristig Handlungssicherheit gewährleisten (March 1994, March/Olsen 1989, 1995)24 . Erst lokal nicht begrenzbarer (polykontexturaler) Beobachtungsdruck im Kontext einer lokal nicht eingrenzbaren öffentlichen Meinung kann Trivialisierungen sprengen und stellt so viel Unsicherheit her, dass weder auf Konsens noch auf Wissen (also auch nicht auf 'Kultur') gebaut werden kann, sondern nur auf Änderbarkeit in der Zukunft (Luhmann 1995, 1996a)25 . Im BSE-Konflikt der ersten Phase scheint die britische Politik diesen wissenschaftlichen und politischen, durch generalisierte, wenn nicht globale Kommunikation der Massenmedien ausgeübten Beobachtungsdruck ignoriert zu haben und musste schließlich entsprechende Verluste vor allem an politischem Systemvertrauen hinnehmen. Diese Bedingungen legen den Schluss nahe, dass öffentliche Beobachtung gleichsam den Erwartungsdruck auf politische Verantwortungsübernahme erhöht und dass die letztere eine besondere Rolle bei der Konstruktion von Vertrauen spielt. Das symbolische Kapital von Verantwortungsübernahme (für Sicherheit, ohne dass man es genau wissen könnte) ermöglicht Vertrauen als Lösung für das Problem immer problematischer, gleichwohl aber nötiger Stoppregeln 24 Also Anwendungsfälle für konventionelles Störfallwissen. 25 "Was immer kommuniziert wird, lässt sich in anderen Kommunikationszusammenhängen anders kommunizieren, und es ist eben die sich mehr und mehr einregulierende Zugänglichkeit zu verschiedenen Kommunikationszusammenhängen (Inklusion), die den möglichen Vergleich von Beobachtungsmöglichkeiten und damit den möglichen Aufweis ihrer Kontingenz bereitstellt“ (Fuchs 1992: 19). Dass die weltweit operierenden Massenmedien an diesem 'disembedding' wesentlichen Anteil haben, bedarf wohl kaum der Erwähnung. 162 (Sicherheitserwartungen) der Informationssuche. Wenn es symbolischer Kommunikation gelingt, Beobachter von der Identität von Sicherheit (dass keine Fehler zu erwarten sind: Japp 1992), etwa von den in den 'Stand der Veterinärwissenschaft' eingebauten Sicherheitserwartungen, zu überzeugen, wenn also ein Referenzpunkt für Unsicherheitsabsorption durch Verantwortungsübernahme gegeben ist, ist auch Vertrauen wahrscheinlich26 . Allerdings ist dieses Vertrauen nicht bedingungslos. Der Ausfall substantiierter Erfahrung und ihrer immer labilen Kompensation durch Verantwortungszurechnungen macht Vertrauen anfällig für Risikokommunikation. So hat es während des BSE-Konflikts unterschiedliche, konfligierende Bewertungen des 'Standes der Veterinärwissenschaft' gegeben (und gibt es nach wie vor). Deshalb das (Zusatz-)Erfordernis von vertrauenkontrollierenden Suchprozessen nach Möglichkeiten weiterer Absicherung27 . Systemvertrauen wird von der Kommunikation einer Differenz abhängig, im Kern der Differenz zwischen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, und erreicht seinen vollständigen Ausdruck in der Einheit dieser Differenz, in der die Konditionen für ein transnationales Regime gesehen werden können. Nationale Regime verkörpern nur die je eine Seite28 . 4. Systemvertrauen Die Zentralvariable Systemvertrauen spielt in der Soziologie eine eher bescheidene Rolle. In den meisten Fällen geht es um institutionelles Vertrauen, also um Vertrauen zu oder in Institutionen. Dies trifft nicht genau den hier 26 Gerade im 'Stand von Technik und Wissenschaft' ist ja politische, wissenschaftliche und rechtliche Verantwortungsübernahme impliziert. Sonst könnte dieser 'Stand' keine Wirksamkeit etwa bei Haftungskonflikten oder Kauf- und Nutzungsentscheidungen entfalten. In quasi rückwärtiger Lesart: Generalisiertes Vertrauen in die Sicherheit der Produktion ermöglicht Entlastung von (etwa präventiven) Rationalitätszumutungen (Brunsson 1985, 1989, Japp 1997). Dies wiederum generiert Beschleunigungseffekte der technischen Produktion und dies erhöht prinzipiell die Wahrscheinlichkeit von Abweichungen vom Normalbetrieb (Störfälle) mit der ebenso wahrscheinlichen Folge der Lokalisierung von Vertrauen und folglich begrenzten Operationsmöglichkeiten (zum Beispiel im Fall von BSE). 27 Im Prinzip: öffentlich deklarierte Forschung. 28 Wenn dies zutrifft, dann sind transnationale Regime, die auf Kooperation (i.e. Transparenz und Konsens) beruhen (Zürn 1998) bereits sehr viel weiter entwickelte Systeme; deshalb ihre Unwahrscheinlichkeit! 163 gemeinten Sachverhalt, insofern von Vertrauen als Thema der öffentlichen Kommunikation ausgegangen wird. Wie es zu Systemvertrauen in kommunikativen Beziehungen zwischen Systemen (Massenmedien und Öffentlichkeit / politische Regulierungsregimes) kommen kann, an dem Individuen sich dann orientieren können, ist eine ganz andere Frage als die nach Vertrauensverhältnissen zwischen Individuen oder Gruppen und Institutionen (zur Dominanz der letzteren Position s. etwa Barber 1983). Hier setzen dann üblicherweise Messungen ein, die etwa die Variation des Rindfleischkonsums im fraglichen Zeitraum wiedergeben (minus 30 % des gesamten Fleischkonsums in der BRD z. B.). Aber weiß man dann mehr über öffentliches Systemvertrauen oder über aggregierte Individualpräferenzen? Die Frage, die hier im Mittelpunkt steht, bezieht sich vielmehr auf die konventionelle Vorstellung, dass Vertrauensverhältnisse eine bestimmte Wertorientierung der betroffenen Institution dokumentieren. Zum Beispiel definiert Kaufmann (1989/1992) institutionelles Vertrauen durch die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für riskantes Entscheiden. Dies ist sicherlich eine wichtige Variable, aber allein oder alles entscheidend kann sie nicht sein, denn Institutionen, vor allem Organisationen, scheuen gerade die Übernahme von Verantwortung, weil diese natürlich ein mehr oder minder großes Risiko im Hinblick auf die Handlungsfolgen, d. h. Nichtwissen, enthalten kann. Vertrauen muss also möglich sein unter Einbezug gerade von Verantwortungsaversion. Man könnte geradezu sagen, dass jedenfalls Systemvertrauen immer die ganze Differenz einschließt (Verantwortungsbereitschaft und Verantwortungsaversion), insofern es sich eben auf das System bezieht und nicht etwa auf einzelne Verantwortung suchende Personen (personales Vertrauen)29 . Aber die Differenz muss eine Differenz gegenüber bloß verantwortungslosem Handeln ausmachen: Es geht entschieden um Verantwortung. Was demzufolge vorliegt, ist die Asymmetrisierung der Differenz von Verantwortung und Verantwortungsaversion zugunsten der Seite der Verantwortung, also ein re-entry, in der Sprache von Spencer-Brown (1979) ein Wiedereintritt der Differenz in die Differenz. Darüber hinaus finden sich in dieser Beschreibung die bereits definierten Elemente von Systemvertrauen als Differenz wieder, in der Differenz von Verantwortung als 29 Wer würde schon glauben, dass ein soziales System sich an einem einzigen Wert orientiert? 164 Gefahrenabwehr und Verantwortungsaversion als Suche nach Alternativen, die man im einzelnen noch nicht verantworten will. Vertrauen als Handlungsgrundlage bei strukturellem Informationsdefizit ist riskant30 . Vertrauen ist deshalb immer sicher (vertraut) und unsicher (unvertraut), es führt diese Differenz mit sich bei Asymmetrie zugunsten der sicheren Seite. Das heißt, Vertrauen ist Wiedereintritt der Differenz von sicher/unsicher auf der sicheren Seite. Die Vermutung ist deshalb, dass Wiedereintritte dieser Art, vor allem im Hinblick auf Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, etwas mit Systemvertrauen zu tun haben (Japp 2000). Die Forschung definiert Vertrauen allerdings durch fairness (Wynne 1987), durch constancy (LaPorte/Metlay 1996 et al.), durch Konsistenz (Bentele/Seeling 1996) oder durch Verantwortung (Kaufmann 1992). Alle diese Definitionen solcher Wertorientierungen erfassen nicht das Risiko des Vertrauens. Sie optieren einseitig für die sichere Seite31 . Diese Bemerkung verweist noch einmal darauf, dass zumindest Systemvertrauen sich auf die ganze (jeweils gemeinte) Differenz bezieht – unter Präferenz für die die sichere, die vertraute Seite. 'Es' braucht dann einen Wiedereintritt. Die genannten Konzepte verfehlen das Moment des Unfairen, des Inkonstanten, des Inkonsistenten, des Verantwortungsaversen. Vertrauen kommt nur unter Mitnahme dieser 'Schattenseiten' zustande, aber eben immer auch durch Virtualisierung dieser Schattenseiten. Ohne diese wäre Vertrauen nur Hoffnung oder Glaube – jedenfalls keine riskante Vorleistung, die der Absicherung durch offene Suchhorizonte bedarf. Wenn in diesem Zusammenhang jene Unterscheidung von Ausbeutung und Entdecken im genannten Sinne zentral gestellt wird (March/Olsen 1995), kann Systemvertrauen als derjenige Fall interpretiert werden, der durch den Wiedereintritt von Entdecken und Ausbeutung zugunsten von Ausbeutung (Redundanz) gegeben ist. Der Wiedereintritt auf der Seite des Entdeckens würde auf Misstrauen ver- 30 "Wir können das Problem des Vertrauens nunmehr bestimmter fassen als Problem der riskanten Vorleistung“ (Luhmann 1973: 23). 31 Dagegen muss gesehen werden: „Vertrauen ist letztlich immer unbegründbar: es kommt durch Überziehen der vorhandenen Information zustande; es ist (...) eine Mischung aus Wissen und Nichtwissen“ (Luhmann 1973: 26). 165 weisen, da die Suche nach Alternativen bevorzugt würde. Ohne Wiedereintritt käme es nur zu personalem, nicht zu Systemvertrauen. Soweit es um Risiken geht, besteht das Resultat von Wiedereintrittsoperationen demnach in einer Konstruktion, die auf der Balance zwischen Ausbeutung als Risikoaversion und Entdecken als Risikobereitschaft beruht. Darin liegt die Bedingung für die Zurechnung von Vertrauen (und implizit: von Rationalität) auf riskante Entscheidungen (Japp 2000, Luhmann 1993). Und vielleicht enthält diese Beschreibung die Antwort auf Perrows Frage, weshalb so viele mögliche Katastrophen in so wenige vergleichsweise geringfügige Störfälle münden. Die gilt auch, jedenfalls bis jetzt, für den BSE-Fall. Die am exemplarischen Fall des BSE-Konflikts zu beantwortenden Fragen können wie folgt zusammengefasst werden: Trifft es zu, dass politische Präventionsorientierungen unter der Bedingung des Drucks ökologischen Nichtwissens seitens einer durch Massenmedien gestützten öffentlichen Meinung sowie ebenfalls öffentlichkeitswirksam als riskant erlebten Systemvertrauens von der Einheit erfahrungsgestützter oder sozial 'anschlussfähig' konstruierter Kausalität auf die Differenz von Kausalität und Kontingenz umgestellt werden (Steuerung und Kontrolle)? Dokumentiert sich dies in der (Gleichzeitigkeit der) Differenz von politischer Verantwortungsübernahme und Vertrauen kontrollierenden Suchprozessen (Alternativenreflexion, Folgenkontrolle: explorative Prävention)? Ist es nicht mehr allein Effektsicherheit der Gefahrenabwehr (kausale containments), sondern auch Risikovorsorge, die (selbst wieder kontingente) Prioritäten im Kontext dynamischer Präventionsoptionen in offenen Suchhorizonten setzt, die in dem Maße wichtig werden, wie die einschlägige Kommunikation sich dem Zugriff einer selbst unbegrenzten Öffentlichkeit nicht entziehen kann32 ? 32 Gefahrenabwehr allein reicht nicht mehr aus. Vorsorge (i. S. von Suchprozessen) tritt hinzu. „Nicht nur die Bestimmung der Reichweite der Vorsorge im Verhältnis zur Gefahrenabwehr erzeugt neue Rechtsprobleme, auch die Ausdifferenzierung der Vorsorge zwingt auf der Grundlage von notwendigerweise unvollständig bleibendem Teilwissen bei gleichzeitig quantitativ zunehmender Vielfalt von Vorsorgeoptionen zur Vornahme von Risikovergleichen und zur Schwerpunktsetzung“ (Ladeur 1995: 213). Und insbesondere in diesem Zusammenhang scheint 'Verantwortlichkeit' ihre redundanz- i. e. vertrauenssichernde Funktion zu realisieren: „Principles of accountability tied to rules of appropriate 166 Entscheidend ist bei alledem die Frage, ob diese Tendenzen sich als emergente Störfallregime im Kontext generalisierter, immer häufiger globaler Beobachtungsverhältnisse zusammenfassen lassen. Tragende Annahme ist dabei, dass es nicht um kausal-präventive Gefahrenabwehr (Jänicke 1986/1992) oder um kontingenzbewusste Risikovorsorge (Ladeur 1995, Preuß 1989) geht, sondern um die (Einheit der) Differenz dieser Optionen. Diesbezüglich lässt sich entsprechender Forschungsbedarf konstatieren (Japp 1999), der sich letztlich auf die sozialen Formen des Zulassens von Kontingenz, Unsicherheit in normativer, Nichtwissen in kognitiver Hinsicht, bezieht. Die Vermutung geht dahin, dass diese Formen auf wiedereintrittsfähige Unterscheidungen, wie die von Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, angewiesen sein werden. Darin kann dann 'Kontrolle' von Nichtwissen trotz Intransparenz durch begrenzt risikobereites Beobachten gesehen werden – im vorliegenden Falle von infizierten Rinderherden und den gesundheitlichen Folgen für die Menschen. Die Kontrollfrage dieser Überlegungen müsste lauten: Welche Lernchancen hätte das europäische Regulierungsregime verspielt, wenn es allein auf selektionsarme Risikovorsorge (instantane Schlachtung aller nur verdächtigen Herden) gesetzt hätte? Und welche Risiken wäre es eingegangen, wenn es allein auf selektionsscharfe Gefahrenabwehr (Schlachtung aller erwiesenermaßen infizierten Tiere) gesetzt hätte? Man könnte auch sagen: Transparenz und Konsens reduzieren entweder zu viele Beobachtungsoptionen oder erzeugen intolerable Risiken. Insoweit das BSE-Regime intransparent und im Konflikt operiert hat, ist es zugleich mit – demgegenüber – geringeren sozialen Kosten ausgekommen (s. Japp 2001). 5. Öffentliche Kommunikation Empirische Referenz für politisch relevantes Nichtwissen sind kommunikative Schemata im Medium öffentlicher Kommunikation. Dies hängt damit zusammen, dass die politische Kommunikation nur im Medium der öffent- behavior inhibit experimentation that might explore alternative possible rules“ (March/Olsen 1995: 207). 167 lichen Meinung herausfinden kann, welche Risiken eingegangen werden können, ohne das Vertrauen des Publikums zu verlieren. Eine erste Vermutung in diesem Kontext ist die, dass komplexe technischökologische Störfälle Komplementärfunktionen generieren, die elementar risikoaverse Verantwortungsübernahme und risikopragmatische Beobachteroptionen (Alternativenreflexion / Suchprozesse) so aufeinander einspielen, dass Stoppregeln der Informationssuche und Vertrauen trotz fehlenden oder uneindeutigen Erfahrungswissens möglich erscheinen33 . Grob formuliert, wird der Rekurs auf Erfahrung und Kausalität überlagert durch die Differenz von strikter Risikoaversion (generalisiertes Importverbot) und dadurch erst möglichen kontingenten Suchprozessen (etwa nach Infektionsund Übertragungswegen bei britischen Rindern), die gleichzeitig ablaufen. In Worten der politischen Soziologie entspricht dem die Differenz von zentraler politischer Verantwortungsübernahme (für komplett negatorische Risikovorsorge) und dezentraler Vertrauenskontrolle (durch risikopragmatische, partial negatorische Beobachtungsoptionen). Kompakt formuliert, geht es hier um die Möglichkeit kollektiven Lernens trotz Nichtwissens und trotz heterogen verteilter Reaktionen auf dieses Nichtwissen. Eine zweite Vermutung zielt auf regulative Emergenzeffekte. Von diesen kann vermutet werden, dass sie durch strukturelle Kopplungen insbesondere der Politik mit den Massenmedien im Medium der öffentlichen Meinung gestützt werden. Unter Störfallregimen soll genau diese Art der strukturellen Kopplung verstanden werden. Dass die deutsche Politik ökologisch argumentierte und die englische Politik ökonomische Gesichtspunkte vorzuziehen schien, kann zwar auch je für sich (konventionell) als Interessenverfolgung verstanden werden. Aber darüber hinaus ist die Möglichkeit gegeben, vor allem die eher wirtschaftlich motivierte, riskante Interessenverfolgung im Nachhinein (Weick 1995) als vertretbar und anschlussfähig im Medium 33 Die umgekehrte Konstellation spielt sich ein, wenn ein Störfall wie BSE aufgrund fehlender Verantwortungskonzentration die Kopplung von Stoppregeln und Vertrauen zugunsten von vagabundierenden Risikooptionen unterminiert und ein Störfall wie BSE ausgelöst wird: „Es fehlte eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten, und es gab keine klare Zuweisung der Verantwortung für die zur Kennzeichnung von Fleisch- und Knochenmehl erforderlichen Vorschriften“ (Berichtsentwurf des 'Nichtständigen Untersuchungsausschusses für BSE' des Europäischen Parlaments vom 19.12.96: 21, Abschn. 12). 168 der öffentlichen Meinung zu identifizieren, weil es die Gegenposition der präventiven Risikovorsorge gibt und diese die riskante Alternative jedenfalls auf dem Kontinent – im Kontext öffentlicher Kommunikation - aushaltbar macht. Diese Erwägung deutet noch einmal an, dass es wohl nicht um einen 'unproduktiven Konflikt' geht, sondern um einen emergenten Struktureffekt, dem nur verteilte (konfligierende) Strategieoptionen entsprechen können, die in der vergangenen Gegenwart des Regimes (dessen erster Phase) im Konflikt sich befinden müssen. Darin – und nicht in differenten Regulierungskulturen – liegt dann der konzeptionelle Zugriff auf (wissenschaftlich und politisch) in unterschiedlichem Maße begrenztes Nichtwissen (im vorliegenden Fall: spezifisch oder unspezifisch) und dessen je verschiedene, vertrauengestützte 'Übernahme' in kollektiv bindendes Entscheiden. Eine weitere Vermutung besteht darin, dass die Wissensdimensionierung des Risikomanagements paradoxerweise wesentlich im Kontext von technischökologischem Nichtwissen (Risikowissen) zu finden ist34 . Es wird davon ausgegangen, dass eine zunehmend wichtige politische Funktion darin besteht, dass nach einem nicht-trivialen Störfall die strategische, nämlich vertrauenskonstitutive Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen öffentlichkeitswirksam verändert wird, also etwa Unsicherheitsabsorption durch politische Verantwortungsübernahme generiert wird, so dass die 'Primärorganisationen' ihre Operationen nicht einstellen müssen (Kernenergie nutzende Unternehmen in der ganzen Welt, Pflanzenschutzmittelproduktion in Bhopal/Indien und anderswo, Rinderzucht in Europa). Von politischem Systemvertrauen in die technisch-kognitive Beherrschung technologischökologischer 'Kausalitäten' seitens einer 'öffentlichen Meinung' wird angenommen, dass es unter Bedingungen generaliserter oder gar globaler Handlungsketten besonders wichtig, aber auch besonders anfällig wird35 . Die Politik ist dabei dem Stress genereller, prinzipiell globaler, nicht beherrschbarer Beobachtungskommunikation ausgesetzt. 34 Darunter soll ein Wissenstyp verstanden werden, der über Risiken informiert und zugleich riskant ist, weil er nicht zuverlässig sein kann, modernes Expertenwissen eben (grundsätzlich hierzu Weinberg 1972). 35 "Während Vertrauen den Zeithorizont eines Systems ausweiten kann, zieht Vertrauensverlust ihn zusammen, und damit schrumpft die Komplexität und das Befriedigungspotential des Systems“ (Luhmann 1973: 63). 169 Interessant ist der Zusammenhang von Massenmedien, politischer Öffentlichkeit und Systemvertrauen und weniger der Zusammenhang von nationalstaatlichen 'Kulturen' und darin 'begründetem' Systemvertrauen. Denn selbst, wenn es diese Kulturen geben sollte, müssen sie doch irgendwie öffentlich kommuniziert werden, um politisch wirksam werden zu können. Und dann werden sie der kommunikativen Dynamik der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Brian Wynne (1999) bedauert jedenfalls die Heterogenität dieser Kulturen und rechnet ihr die Kalamitäten des BSE-Konflikts zu – ohne zu sehen, dass Heterogenität (Intransparenz) offenbar Vorteile gegenüber Homogenität hat – und wenn es nur die Evolutionsfähigkeit der Europapolitik in dieser Frage ist. Die Erzeugung von kollektiver Handlungsfähigkeit trotz - in einem paradoxen Sinne: durch - Nichtwissen erfolgt jedenfalls durch kommunikationsabhängige, aus einer wiedereintrittsfähigen Unterscheidung resultierenden Formen der Verantwortungsübernahme und des Systemvertrauens (Gefahrenabwehr / Risikovorsorge) und nicht durch normative Integration ('Kultur'). Dabei spielt öffentlich inszenierte Verantwortungsübernahme sicher nur eine vordergründig sichtbare Rolle, ebenso wichtig ist die 'Kehrseite' der öffentlich wirksamen Schuldzuweisungen, d. h. des Anmahnens von Verantwortung auf der 'anderen Seite' – zusammengefasst: Die Risikooptionen der einen oder der anderen Seite implizieren immer auch die ganze Differenz dieser Optionen und wahrscheinlich ist es deren öffentliche Präsenz, die Systemvertrauen trotz Nichtwissen ermöglicht, wenn nicht generiert. Alles andere wäre nicht Systemvertrauen, sondern Vertrauen in 'verantwortungsbewusste' öffentliche Personen. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass die öffentliche Meinung durch die Massenmedien repräsentiert wird und nur anhand von Kommunikation zu identifizieren ist. Öffentliche Meinung ist das, was aus öffentlicher Kommunikation entsteht und für die Weiterverarbeitung in der öffentlichen Kommunikation offeriert wird (vgl. Luhmann 2000: 274f). Öffentliche Meinung wird in der Politik nicht als Garant für „Vernünftigkeit“ (so aber Habermas 1979: 280) oder Richtigkeit relevant, sondern bietet dem politischen System lediglich ein Medium der Beobachtung zweiter Ordnung, d. h. der Selbstreflexion. Die Funktion der öffentlichen Meinung liegt somit nicht in der Herstellung bestimmter 'richtiger' Meinungen, sondern in der Etablierung von Schemata, in denen man diskutiert, was schließlich für die Funktion kollektiv bindenden Entscheidens akzeptiert werden 170 kann. Diese Schemata sind die Formen, die in der öffentlichen Meinung erzeugt werden und selbst wieder zu beobachten sind (vgl. Luhmann 2000: ebda., Gamson/Modigliani 1989). Sie konstituieren das Gedächtnis der öffentlichen Meinung - insofern treten sie an die Stelle von 'Kultur' - und sind insofern spezifisch relevant für Expansion und Kontraktion der Differenz von Vertrauen und Misstrauen. Es interessieren deshalb Schemata der öffentlichen Meinung, die konstitutiv sind für die öffentliche Kommunikation von Vertrauen und gerade nicht individuelle Meinungen. Es stellt sich dann die Frage, wie in der öffentlichen Meinung Vertrauen oder Misstrauen entstehen kann und wie dies mit der Produktion und Reproduktion von Schemata zusammenhängt. Das Verhältnis zwischen Vertrauen und Verantwortung ist zirkulär. Einerseits ist für die Übernahme von Verantwortung das Vertrauen Dritter, für die Verantwortung übernommen wird, erforderlich. Vertrauen kann als 'generalisierter Konsens' (i. S. v. Luhmann 1970) verstanden werden, insofern institutionalisierte Erwartungserwartungen Ungewissheit reduzieren können. Andererseits ermöglicht Verantwortungsübernahme auch erst das erforderliche Vertrauen, durch die Symbolisierung von Sicherheit und damit die Etablierung von schematisierten Stopp-Regeln der Informationssuche (vgl. Ladeur 1995: 148). Das Vertrauen in Institutionen setzt die gelingende Zurechnung von Verantwortung voraus; diese kann ihrerseits das Vertrauen in Institutionen steigern. Von 'gelingender Zurechnung' soll aber nur dann gesprochen werden, wenn die Verantwortungsübernahme die 'andere Seite' mitreflektiert, also z. B. Gefahrenabwehr dokumentiert und deren Beobachtung (i.e. die Unterscheidung von der Risikovorsorge) mit ermöglicht. Erst diese Komplikation wird zu Systemvertrauen führen. Und diese Komplikation wird durch Schemata gestützt, denn sie kann nicht irgendwie durch Kommunikation verarbeitet werden. Der Zusammenhang zwischen Vertrauen und Verantwortung wird im übrigen durch empirische Untersuchungen bestätigt. Wynne (1987: 373) sieht einen Grund für das entstandene Mißtrauen im „Love Canal"-Fall in der mangelnden Verantwortungsübernahme der beteiligten Organisationen. Hier wurde die Verantwortung zwischen den verschiedenen Organisationen hin und her geschoben, was zu eskalierendem Misstrauen führte (s. a. Clarke 1989). Zudem weisen auch Kepplinger/Hartung (1995: 86) in ihrer Studie 171 zum Hoechst-Störfall auf das Fehlen klarer Zuständigkeiten und damit von Verantwortungsübernahme hin, welches zu einem schwindenden Vertrauen in die Firmenleitung führte. Etwas zugespitzt kann man diese Prozesse auch als organisiertes Prozessieren von Nichtwissen beschreiben, das an Eigenwerte öffentlich kommunizierter Meinungen (in Gestalt von Schemata) gebunden ist. Im vorliegenden Kontext interessieren solche Eigenwerte, insoweit sie die Kommunikation von öffentlichem Vertrauen auf dem 'Grund' von Nichtwissen reflektieren. Dazu gehört Operation (Verantwortungsübernahme) und Beobachtung (d. h. Unterscheidung der Verantwortungsübernahme), sowie die Operation des Wiedereintritts einer für Systemvertrauen konstitutiven Differenz, die auf die basale Opposition von Risikoaversion und Risikobereitschaft zurückverweisen muss. Die Vermutung scheint nicht weit hergeholt, dass der frühe BSE-Konflikt diese Bedingungen empirisch dokumentiert36 . 6. Zusammenfassung Der Beitrag geht davon aus, dass sich mit der öffentlichen Aufmerksamkeit für Gefahrenkommunikation zugleich die Kommunikation von ökologischem Nichtwissen intensiviert und generalisiert. Daran schließen Fragen an, wie Nichtwissen in kollektiv bindendes Entscheiden der Politik transformiert wird und wie es überhaupt trotz Nichtwissen zu kollektiver Handlungsfähigkeit kommt. Wie entsteht die nötige Entschlossenheit (commitment), wenn Ungewissheit die nötige Motivation zum Entscheiden untergräbt? Am empirischen Fall der Risiko- und Gefahrenkommunikation über die BSE-Krankheit bei Rindern und ihren Folgen für den Menschen (nvCJK- 36 Ab 1996 beginnt eine 'zweite Phase' des Konflikts, die durch generalisierte Unsicherheit, Abbau des Zentralkonflikts und Steigerung von institutioneller Transparenz gekennzeichnet ist. Umbau hängt u.E. ganz eng mit der öffentlichen Kommunikation von Unsicherheit zusammen. Erst die Etablierung eines entsprechenden Kommunikationsschemas begünstigt Bereitschaften, Konflikte zu reduzieren und strategische Verständigungen zu tolerieren (Japp 2001). 172 Krankheit) interessiert die Frage, ob der BSE-Konflikt sich im Sinne einer organisierten Verarbeitung von Nichtwissen analysieren lässt. Unter Bedingungen technisch-ökologischen Nichtwissens können unüberschaubar komplexe Handlungsketten nur aufrecht erhalten werden, wenn Systemvertrauen den notorischen Mangel an Wissen und Information auf der Seite von Publikumsrollen kompensiert. Systemvertrauen sichert – über personales Vertrauen hinaus – die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme trotz verbreitetem Nichtwissen und damit die Grundlagen für strukturelle Handlungsfähigkeit auf der Seite von Leistungsrollen. Dies gilt insbesondere im Falle von technisch-ökologischen Großunfällen (zum Beispiel BSE), die eine Sonderlast an Ungewissheit hervorbringen. Im Gegensatz zu verbreiteten Ansätzen, die Vertrauen als Effekt von Gewissheit begreifen, wird davon ausgegangen, dass dies im Normalfall gar nicht möglich ist, sondern Vertrauen über 'Gewissheitsäquivalente' erzeugt werden muss, um seine Funktion der Sicherung von Handlungsfähigkeit trotz Nichtwissen erfüllen zu können. Diese Gewissheitsäquivalente werden in den Schemata der öffentlichen Meinung gesehen, die Erinnern und Vergessen katastrophaler Ereignisse regulieren. Als hypothetische Prämisse wird vorgehalten, dass jener Generalisierungseffekt von Gefahrenkommunikation eine Umstellung der gesellschaftlichen Störfallorientierung von kausaler Gefahrenabwehr auf finale Risikovorsorge oder von Steuerung auf Steuerung und Kontrolle – also von Einheit auf Differenz – zur Folge hat. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass diese Umstellung der institutionalisierten Störfallregulierung nicht primär Reflex auf eine wachsende Komplexität technisch-ökologischer Zusammenhänge ist (so aber z. B. Beck und Giddens), sondern mit der zunehmenden Bedeutung kaum begrenzbarer öffentlicher Kommunikation und Beobachtung von technisch-ökologischer Risikoregulierung im Kontext von ökologischem Nichtwissen zusammenhängt. Unter Bedingungen unkontrollierten Umschlagens von determinierten Abläufen (Schlachtviehaufzucht) in Entscheidungslagen (Folgen massenhafter Erkrankung für Tiere und Menschen) reicht Steuerung (kausale Gefahrenabwehr) zur Absicherung öffentlichen Vertrauens immer weniger aus, sie muss zunehmend durch Kontrolle (Selbstbeobachtung, Risikovorsorge) 173 abgesichert werden, und dies im Modus eines emergenten Gesamteffektes, für den wesentlich der unbegrenzte Beobachtungsdruck einer (im Prinzip globalen) öffentlichen Meinung sorgt (Luhmann 1990). Man könnte von einer Art 'List der Vernunft' sprechen. Dem entspricht auch die These, dass für den Umgang mit Nichtwissen eher Intransparenz und Dissens als Transparenz und Konsens fruchtbar sein könnten. 174 Literatur Adams, J., 1995: Risk. London: UCL Press. Barber, B., 1983: The Logic and Limits of Trust. New Brunswick, N.J.: Rutgers. Beck, U., 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main (= Ffm.): Suhrkamp. 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Entwicklungspolitik ist ein verhältnismäßig junges Produkt der Industrieländer, gespeist aus zwei sehr unterschiedlichen Motiven: Während die einen weltweit den Ausgleich zwischen Arm und Reich suchen, haben die anderen die Stabilität und Erschließung der Weltmärkte im Sinn. Beide Ziele sind nicht gleichbedeutend mit guten oder schlechten Folgen für die Länder, denen Hilfe zuteil wird. Es ist nur wichtig, sie zu benennen. Die Folgen für die Bewohner sind es letztlich, nach denen die Qualität von entwicklungspolitischer Arbeit gewogen werden muss. Für uns, die wir das Handwerk der Ethik betreiben oder zumindest im Blick haben, muss dabei der besondere Schwerpunkt bei den Globalisierungsverlierern liegen, wenn wir für die Entwicklungspolitik unter den Vorzeichen einer schneller werdenden Informations- und Datenwelt etwas lernen wollen. Bisher gab es hauptsächlich zwei wesentliche Lehren, die Entwicklungspolitiker ziehen konnten: 1. Die größten Entwicklungsschritte haben Nationen gemacht, wenn sie von den Zuwendungen und Abflüssen der Industrieländer abgeschnitten waren (Beispiel: Der Ausbau der Infrastruktur Brasiliens während des 1. Weltkrieges). 181 2. Bisher hat jede Entwicklung in Richtung auf Industrialisierung superreiche Eliten geschaffen und in der darunter etablierten Mittelschicht ein den Industrieländern vergleichbares Bildungs-„Bürgertum“. Die Mehrheit der Bevölkerung, die zur Basisversorgung beitragen könnte, profitiert davon nur in Ausnahmefällen und wird in der Regel marginalisiert. Aufgrund der ersten Lehre zogen sich einige aus Entwicklungsprojekten zurück, um stattdessen in Deutschland Bewusstseinsarbeit zu betreiben. Sie schlossen sich den Forderungen von Intellektuellen aus den Entwicklungsländern nach einem Moratorium an und versuchten, die Bedingungen in den Industrienationen so zu gestalten, dass bei einem freien Handel die Entwicklungsländer sich selbst entwickeln konnten. Diesen Strang will ich nicht weiter verfolgen, da er in der Entwicklungspolitik eine Ausnahmeerscheinung geblieben ist. Für die Schlussfolgerungen will ich diese Position trotzdem benannt haben, da Ethik nicht nach Mehrheiten fragen muss. Die zweite Lehre führte zu vielschichtigen Antwortversuchen: Bis vor einiger Zeit waren entwicklungspolitische Konzepte wie zum Beispiel das der so genannten „grünen Revolution“ vorherrschend: Der Versuch, etwa in der Steppe Äthiopiens Mais einzuführen und die Felder aus Tiefbrunnen zu bewässern, führte zur Verödung des Bodens. Statt solcher großflächig angelegter Programme gingen die großen Organisationen dazu über, immer regionalere Projekte auszuloben und zu fördern. Brot für die Welt, Dienst in Übersee (DÜ), aber auch die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GtZ) waren seit Mitte der 70er Jahre bemüht, ihre Projekte direkt an Regionen zu binden und in Zusammenarbeit mit den Fachleuten vor Ort aufzuziehen. Aber auch hier überlebten nur wenige Projekte den Abzug der Entwicklungshelfer oder nur für kurze Dauer. Trotzdem haben diese Projekte mehr Einfluss auf die jeweilige Umgebung als die großen Programme. Im Folgenden werden Beispiele aus Tanzania angeführt, da ich dieses zentralafrikanische Land des öfteren selbst bereist habe und da ich in ständigem Austausch mit Menschen aus Tanzania stehe. Während sich nach der „grünen Revolution“ eine erkleckliche Anzahl an zu Schrott gewirtschafteten Erntemaschinen im Lande fanden, gibt es nach mehreren Projekten, die in Zusammenhang mit dem staatlichen „small-industries“-Programm geführt 182 wurden, eine nicht mehr zu übersehende Anzahl an Bautischlereien. Diese arbeiten selbstständig, bilden wiederum Tischler aus und sind unabhängig von staatlicher oder entwicklungspolitischer Förderung Wirtschaftssubjekte in den Regionen geworden. Der Erfolg der genannten Maßnahmen basierte auf der Nachfrage, den technischen und landwirtschaftlichen Möglichkeiten vor Ort sowie einem Rückzug der Unterstützung, sobald etwas in eigener Regie stattfinden konnte. Projekte, die länger als ein Jahr lang kein Feld finden, auf dem sie selbstständig tätig sind, werden aus der Förderung genommen (Träger im Nord Distrikt: Belgien). Diese Projekte sind programmatisch sehr begrenzt. Sie sind offen für Entwicklungsschübe, die sich in einer Region bereits von sich aus entwickeln. Grundsätzliche Irrtümer werden nicht lange untersucht, sondern ausgegrenzt. Wichtiger als die direkten Auswirkungen sind noch die indirekten: In diesen regional angebundenen Projekten können Dinge entwickelt werden, die gar nicht im Programm enthalten waren. Beispiel: Durch ein „small-industry“-Projekt angeregt, fing ein Gehbehinderter an, aus Fahrradschrott Rollstühle zu fertigen, die auch in der Steppe zu bewegen waren. Auch in größerem Rahmen kommt es zu eigenständigen Entwicklungen. Ein Beispiel für einen überregionalen Impuls ist die Konstruktion einer Mühle, die den Bedingungen eines Betriebes in Tanzania besser gerecht wird als die herkömmlichen, industriell entwickelten Mühlen. Dabei ist der Prozess der Weg: Die bisher zur Verfügung stehenden Mühlen sind Fabrikate, deren Ersatzteile importiert werden müssen. Sie sind für den Betrieb in technisch angepasster Umgebung entwickelt und gebaut. Viele Teile gehen im Einsatz in Tanzania schneller kaputt. Mühlen und die sie antreibenden Dieselmotoren stehen also immer nur kurzfristig zur Verfügung und werden dementsprechend immer schubweise unter Hochlast betrieben. Dies führt zu schnellerer Materialerschöpfung und wiederum zu Stillstand. Wer hier über unangepasstes Benutzen der Maschine lamentiert, vergisst, das erst mit dem Aufbringen von Mais die Arbeit beim Mahlen so schwer wurde und die erfahrbare Entlastung in einem Kontext mit dieser Feldfrucht gesehen werden muss. 183 Tanzanische Müller wiesen bei Gesprächen mit der GtZ auf das Problem hin. Mit Unterstützung der katholischen Hilfsorganisation „Misereor“ wurde es genau lokalisiert. Der Mühlenbauer Schnitzer verbesserte daraufhin die Konstruktion und entwickelte ein neues Modell. In Zusammenarbeit mit einheimischen Müllern wurden in Einzelschritten die Turbinen für Wasserkraft auf die Verhältnisse in Tanzania hin optimiert. Sodann wurden die Hammerschlagmühlen vereinfacht und auf Produkte umgestellt, die in Tanzania wiederzuerlangen sind. Immer wieder waren Gespräche über einzelne Konstruktionselemente und ihre Tauglichkeit im täglichen Einsatz notwendig. Durch die ständige Einbeziehung tanzanischer Müller und Mühlenbauer in den Konstruktionsprozess stand am Ende der gut dreijährigen Entwicklungsarbeit nicht nur ein taugliches Produkt, sondern auch eine Reihe von Fachleuten, die mit der Bau- und Funktionsweise der Maschine vertraut sind. In einem „Mill Forum“ entstand ein Prüfsiegel, regelmäßig wurden Erfahrungen ausgetauscht und Vertriebsmöglichkeiten im Land erkundet. Dieses Beispiel zeigt, dass mehrere Komponenten zusammenkommen müssen, damit die Chance für einen erfolgreichen Entwicklungsprozess genutzt werden kann: 1. Eine genaue Problemanalyse mit den Nutznießern, Produzenten und Anwendern, 2. eine sorgfältige, auf die materiellen und menschlichen Ressourcen abgestimmte Planung, 3. eine Entwicklung in ständigem Kontakt mit den Abnehmern sowie 4. eine stabile soziale Verankerung. Bei allen Planungs- und Entwicklungsschritten kann es als positiv erfahren werden, dass Menschen von verschiedenen Kontinenten im Prozess der Globalisierung einander näher rücken. Globalisierung an sich ist aber noch kein Garant für glückende Planungsprozesse. Es kann auch zu kontraproduktiven Wirkungen kommen. In den Pare-Bergen im Norden Tanzanias zum Beispiel müssen die Handeltreibenden große Wege zurücklegen, um zu bedeutenden Märkten zu kommen. Wenn sie aufgrund eines globalisierten Großhandels und Transportwesens nicht mehr reisen müssten, würde ein ganzes Netz des Austauschs von Informationen zerstört, das nur mit großem Aufwand an Technologie wieder hereinzuholen wäre. 184 Genauso wie Technologie jeweils auf komplexere Systembildungen reagiert, muss dies auch bei sozialen Systemen geschehen. Eine öffentliche Debatte um Kleiderspenden aus reichen Geberländern und die Vernichtung bzw. den Erhalt von Arbeitsplätzen in den Empfängerländern ist entstanden. Es schält sich heraus, dass es Regionen gibt, in denen die Altkleidermärkte nicht die Not der Menschen lindern, sondern die einheimische Textilmanufaktur oder sogar -industrie verdrängen. Dabei scheint die verarbeitende Industrie stärker betroffen zu sein als die Tuch erzeugende. Aber schon hier stoßen unterschiedliche Recherchen auf entgegengesetzte Beobachtungen. In denjenigen Ländern und Regionen, in denen die Textilverarbeitung auf eine lange Tradition zurückgeht, wäre es angepasster, bei den Verarbeitern einzukaufen. In den Industrieländern gesammelte Textilien werden jedoch weiterhin gebraucht: in Katastrophengebieten sowie in solchen Gebieten, in denen der Transport von Rohstoffen mehr Ressourcen verschlingt, als im Produkt zu realisieren sind. Auch hierbei wäre es sehr wohl möglich, die gesammelte Information durch ein Netzwerk besser zugänglich machen, als dies bisher geschehen ist. Zu einer den Produzenten und Nutzern angemessenen Planung kann weder der Gesamtkomplex „Globalisierung“ noch sonst irgend ein Zaubermittel etwas beitragen. Es sollte aber erreicht werden, in die Wirtschaftsziele, die ja schon seit Mitte der siebziger Jahre um die Globalziele „Ökologie“ und „soziale Gerechtigkeit“ erweitert wurden, einen Wert wie „Würde“ einzutragen. Eine solche Leitvorstellung wäre nicht mit wirtschaftlichem Erfolg, Machbarkeit und der Verfügung über bestimmte Mittel gleichzusetzen, sondern müsste sich im Feld der Beherrschbarkeit der eigenen Lebenswelt definieren. Würde gewänne ein Einzelner oder eine Gruppe von Personen dann, wenn die Lebensumstände sie nicht zu bestimmten Handlungsweisen, sei es Flucht oder Angriff, Verzweiflung oder Ergebung in ihr Schicksal zwingen. Menschen müssten die Bedingungen ihrer Existenz frei verändern und ihre Entwicklung selbst steuern können. Einer solchen Wertvorstellung gemäß könnten Nomaden, die in einer zerbrechlichen Ökologie wie der Steppe leben, genauso Teil einer globalisierten Welt sein wie ein Öko-Bauer, ein Arbeitsloser und ein Manager in einem weltweit agierenden Konzern. Meine Erfahrungen, sowohl als Pastor in einer Hochhaussiedlung der Großstadt Hamburg als auch als entwicklungspolitisch Engagierter, zeigen: Es 185 gibt Ansätze in Theorie und Praxis, diese Wertvorstellungen einzubringen und umzusetzen. Aber sie bedürfen der gemeinsamen Anstrengung, auch seitens der Kirchen. 186 Gegenmacht oder Mitgestaltung? Stiftungen und NGOs als Architekten des Wandels Fritz Erich Anhelm Es ist keine leichte Aufgabe, etwas Erhellendes zu „Lösungsperspektiven der Globalisierung“ zu sagen, wie es der Untertitel der Veranstaltung fordert. Viele derer, die über Globalisierung reden, halten die Sache weniger für ein Problem. Sie sind eher der Meinung, das sei die Lösung. Mindestens erscheint ihnen das, was auf den internationalen Finanzmärkten, bei der Internationalisierung der Warenproduktion und auf den Warenmärkten, in der modernen Kommunikations-, Bio- und sonstigen Technologieentwicklung an Trends erkennbar ist, als unausweichlich. Die einzig angemessene Form, darauf zu reagieren, ist für sie die der Anpassung. Kritische, vor allem fundamental-kritische Stimmen kommen aus intellektuellen Nischen oder von denen, die möglicherweise durch die geforderten Anpassungsvorgänge etwas zu verlieren haben. Das allerdings reicht von Privilegien bis zur nackten Existenz. Verarmungsprozesse treffen viele Millionen. Politisch bürgert sich für die geforderten Anpassungsvorgänge das Wort „Modernisierung“ ein. Diese Terminologie ist strategisch gewählt. Wer wollte sich schon als „Gegenmacht“ zur Modernisierung stilisieren? Es ist allerdings kaum die Politik, die in der Sache den Ton angibt. Im Gegenteil. Fast alle sind sich einig, dass sie eher schlecht als recht der Entwicklung hinterher hastet. Die Dynamik wird von den Global Players, den Akteuren auf den Finanzmärkten, in den transnationalen Unternehmen und durch die Wissens- und Technologieproduzenten gesetzt. Sie verlangen nach Flexibilisierung politisch geschaffener Strukturen und nach Dezentralisierung, d. h. Privatisierung der wirtschaftlich bedeutsamen Bereiche, in denen Nationalstaaten bisher Gestaltungsmacht beanspruchten. 187 Ein anderer Bereich der Globalisierung – neben der vorpreschenden Wirtschaft und der nachlaufenden Politik – kommt in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion nur schwer in den Blick. Das mag damit zusammenhängen, dass er in diesem Umfang und Ausmaß ein völlig neues Element in der internationalen Landschaft ist. In neutraler Terminologie wird er der „Dritte Sektor“ oder der „Non-for-Profit-Sektor“ genannt. Diejenigen, die damit strategische Qualität verbinden und eine neue politische Rolle, sprechen von der „globalen Zivilgesellschaft“. Was das ist und wie sich das – in Form von Gegenmacht oder Mitgestaltung – zu Wirtschaft und Politik verhält, soll dieser Beitrag untersuchen. 1. Global Players im Non-for-Profit-Sektor Im Wesentlichen handelt es sich bei diesem neuen – sich seit etwa 20 Jahren entwickelnden – Phänomenen um international operierende Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und Stiftungen sowie deren zunehmende Vernetzung über die Grenzen des Nationalstaates hinweg. Ihre jeweilige Finanzierung erfolgt sowohl aus öffentlichen Mitteln (am eindeutigsten bei Parteienstiftungen), aus der Privatwirtschaft (z. B. bei Stiftungen, die mit großen Unternehmen verbunden sind, etwa Bertelsmann oder Bosch) und durch Spenden, bzw. Mitgliedsbeiträge (etwa Greenpeace). In vielen Fällen liegt auch ein Mix dieser Finanzierungsmöglichkeiten vor. Gerade die Kooperationen zwischen Stiftungen und NGOs nehmen rapide zu. Bekannte Beispiele geben nur ein schmales Bild dessen, was sich hier wirklich entwickelt. In den USA existieren etwa 40.000 private Stiftungen mit einer Jahresausschüttung von rund 40 Milliarden DM. Außerhalb dieses Stiftungsbereichs gibt es an die 500.000 Non-for-Profit- (gemeinnützige) Organisationen. In Großbritannien werden 8000 gemeinnützige Stiftungen mit einer Ausschüttung von 6 Milliarden DM gezählt. In Lateinamerika schätzt man die Zahl privater gemeinnütziger Einrichtungen auf 1 Million bei 210 privaten Förderstiftungen. All dies ist keineswegs nur international orientiert. Vieles davon operiert auf der lokalen Ebene. Aber die internationale Vernetzung ist nicht zu übersehen. 188 Ich möchte das am Beispiel einer privaten Stiftung – zugegebenermaßen an einer der größten, aber keineswegs untypischen – erläutern. Es handelt sich um die Soros Foundation. Die Daten stammen aus ihrem Jahresbericht 1997. Im besagten Jahr hat sie 428 Mill. US-$ ausgeschüttet. 236 Mill. gingen an über 30 nationale Unterstiftungen, die meisten davon in osteuropäischen Ländern, aber auch in Haiti, Guatemala und Südafrika. Weil es der größte Brocken ist, möchte ich davon das Open Society Institute in Russland herausgreifen. Es erhielt allein 61 Mill. US-$. Wofür wurden sie verwendet? Die größten Posten sind Medien– und Kommunikationssysteme (13,4 Mill.), Kinder- und Jugendprogramme und Erziehung (9 Mill.), Kunst und Kultur (4,4 Mill.), Wissenschaft und Gesundheitswesen (3,2 Mill.) und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation (2 Mill.). Das sind im Wesentlichen auch die Hauptaktivitätsfelder in den anderen osteuropäischen Staaten, wo immer die Soros Foundation aktiv wird. In ihren Netzwerkprogrammen und Internationalen Initiativen (115 Mill.) werden weltweit auch Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Sie arbeiten im Bereich von Gesundheitsdiensten, versorgen Flüchtlinge und setzen sich für den Minderheitenschutz ein. Auch eine Kampagne gegen Landminen wurde von Soros mitfinanziert. Ferner werden in Burma und in anderen Ländern Gruppen unterstützt, die gegen diktatorische Regimes tätig sind. Soros vertritt das Konzept der Offenen Gesellschaft, wie wir es aus dem Gedankengut und der politischen Philosophie Karl Poppers kennen. Deutlich kommt dies zum Ausdruck in der 1997 in Budapest und Warschau gegründeten Central European University, an der inzwischen über tausend Studenten aus 35 Ländern z. B. Wirtschaft, Politik, Soziologie, Ökologie und Internationale Beziehungen studieren. Insgesamt haben wir es also mit einem grandiosen globalen Netzwerk zu tun, das alle Ländergrenzen sprengt. Es ist eines von vielen. 600 Millionen DM pro Jahr können die Parteienstiftungen in Deutschland ausgeben. Das meiste davon fließt in internationale Aktivitäten. Nehmen wir die eher kleinere Heinrich-Böll-Stiftung: Sie verfügt über ca. 60 Mill. DM pro Jahr. Sie arbeitet mit 150 Projektpartnern (NGOs) in 50 Ländern zusammen. Die wesentlichen Programme beziehen sich auf Frauenrechte, Minoritäten, die Agenda 21, die Klimapolitik, die Artenvielfalt und die Menschenrechte. 189 Die Entwicklungsdienste der beiden großen Kirchen in Deutschland – man könnte fast sagen: als eher schon traditionelle NGOs – haben zusammen pro Jahr gerade annähernd so viel Geld zur Verfügung wie die Parteienstiftungen. Ein Drittel dieses Entwicklungsdienstgeldes stammt aus staatlichen, ein Drittel aus kirchlichen und ein Drittel aus Spendengeldern. Solche Einzelbeispiele ließen sich vermehren. Sie dürfen – so eindrucksvoll sie auch sind – allerdings nicht über die wirklichen Größenordnungen hinwegtäuschen. Die UNESCO schätzte für 1996, dass der Geldfluss zwischen Ländern, die Mittel für Entwicklung bereitstellen, und Ländern, die sie erhalten, zu 66 % aus der Privatwirtschaft unter Marktbedingungen (also als Darlehen) kommen. Die staatliche Entwicklungshilfe macht 28 % aus. Nur 6 % fließen über Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen. Dieser eher schmale Anteil steigt jedoch kontinuierlich. 2. Auf dem Weg zu einer globalen Bürgergesellschaft? Wichtig ist nun, was sich im Bereich der Zusammenarbeit von Stiftungen und Nicht-Regierungsorganisationen tut. Auch das möchte ich an einem Beispiel erläutern. Es trägt den Namen „CIVICUS – World Alliance for Citizens Participation". Es ist das gegenwärtig größte globale Netz von Stiftungen und NGOs mit 407 Mitglieds-Organisationen (132 USA und Kanada, 50 in Lateinamerika in 22 Ländern, 56 im asiatisch-pazifischen Raum in 19 Ländern, 47 in 16 Ländern Afrikas, 26 in 7 Ländern der arabischen Region, 49 aus Ost- und 47 aus Westeuropa). Die Bundesrepublik ist bisher nur mit 2 Mitgliedern beteiligt (die Stiftung MITARBEIT und der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft). Sieht man etwas genauer hin, eröffnet sich ein buntes Feld von Organisationen. Das reicht von FEMNET, dem Netzwerk afrikanischer Frauenvereinigungen über die Organisation von Sozialarbeitern in Kuwait und die Koalition für wirtschaftliche Gerechtigkeit in Südkorea bis zur Toyota-Stiftung in Japan oder der Charles Mott-Stiftung in den USA. Auch Soros taucht hier wieder auf. 190 Das Neue an CIVICUS ist eben jener Zusammenschluss von NGOs und Stiftungen in einem Netz – und dies weltweit. Die meisten der Stiftungen kommen dabei aus dem Norden, die meisten der NGOs aus dem Süden. Was sind die Ziele, auf die sie sich verständigt haben? Die Zusammenarbeit – so heißt es in der Selbstbeschreibung von CIVICUS – soll weltweit zur Stärkung der Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern und zum Aufbau ziviler Gesellschaften beitragen. Als Vision wird eine globale Gemeinschaft beschrieben, die aus informierten - ich erinnere an den starken Schwerpunkt der Soros Foundation im Bereich moderner Kommunikationstechnologien -, kreativen und verantwortungsbewussten Bürger/innen besteht. Sie sollen sensibel dafür sein, die Herausforderungen an die Menschheit und die Menschlichkeit zu bearbeiten. Solche selbstorganisierten Bürgeraktivitäten werden als charakteristisches Merkmal eines lebendigen politischen, ökonomischen und kulturellen Lebens aller Gesellschaften gewertet. Sie sind durch Pluralität gekennzeichnet und sollen zum öffentlichen Wohl (common good) aller beitragen. Eine gesunde Gesellschaft (healthy community) beruht – nach CIVICUS – auf einer Balance dreier Faktoren: freien Bürgervereinigungen, Wirtschaft und Regierungen. Ziel von CIVICUS ist es, die Grundlage, das Wachstum und den Schutz eben dieser freien Bürgervereinigungen weltweit zu befördern, besonders da, wo eine partizipatorische Demokratie, die Freiheit der Vereinigung und der Beitrag der Bürger/innen zum öffentlichen Wohl bedroht sind. Normative Vorgaben sind also die Menschen- und die Bürgerrechte und die zivile, d. h. gewaltfreie Konfliktbearbeitung. Was hier geschieht, ist nichts weniger als der Versuch, Basiselemente einer globalen Zivilgesellschaft zu beschreiben und in vielen tausend Projekten umzusetzen. 3. Geld, Macht und Kommunikation Entsteht da „Gegenmacht“ gegen die ökonomistisch geprägte globale Dynamik der Finanz- und Warenmärkte und die ihr folgende Politik nationaler Regierungen? Die Antwort hängt vom Standort des Betrachters oder Betroffenen ab, von seinem idealtypischen Gesellschafts- und Weltbild, von seinen Leidenserfahrungen und Verlustängsten oder seinen Erwartungen. Meine Antwort ist: Ja und Nein. 191 Ja, weil wir es mit drei Dynamiken zu tun haben, die im Globalisierungsprozess aufeinander wirken. Die Wirtschaft folgt der Dynamik des Geldes (Sie mögen auch sagen, des Profits). Die Politik folgt der Dynamik der Macht (der zwischen Nationalstaaten wie der zwischen Weltregionen). Die entstehende globale Zivilgesellschaft folgt der Dynamik der Kommunikation. Diese Dynamik ist plural, nicht einlinig wie die anderen beiden, sondern mehrdimensional. Gegenüber dem finanziellen Vorteil und gegenüber dem Machtvorteil hat sie den Vorteil alternativer Orientierungen. Sie ist nicht konkurrenzfrei. Aber die Konkurrenzen, die hier in Selbstorganisationsprozessen ausgelöst werden, müssen keine geld- oder machtbezogenen sein. Natürlich findet Kommunikation auch in der Wirtschaft und der Politik statt, dort aber der jeweiligen leitenden Dynamik untergeordnet. Im dritten, dem Non-for-ProfitSektor von NGOs und Stiftungen, in dem auch Machtverhältnisse nicht die erste Rolle spielen, können sich neue Normen freier herausbilden und von da aus Wirkung auf Wirtschaft und Politik entfalten. Beispiele dafür sind die großen UN-Konferenzen der 90er Jahre von Rio de Janeiro bis Peking. Konzepte zur Klimakonvention, Agenda 21, Entschuldung, Bevölkerungsentwicklung, sozialen Gerechtigkeit, zu Bürgerrechten und zum Menschenrechtsschutz hätten – so sehr ihre politische Umsetzung und ihre Beachtung im wirtschaftlichen Handeln noch aussteht – schon im Ansatz ohne den massiven Einsatz tausender NGOs nicht einmal formuliert werden können. Nein, weil die Idee und die Praxis einer globalen Zivilgesellschaft durch und durch liberalen Gesellschaftsmodellen folgen. Hier steht in der Tat der Ansatz von Poppers „Offener Gesellschaft“ Pate. Das heißt auch, dass in diesem Ansatz der Wirtschaftsliberalismus geradezu Voraussetzung des politischen Liberalismus ist. Eine fundamentale Gegenposition zu freier ökonomischer Entfaltung ist hier überhaupt nicht vorstellbar. Die privatwirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit ist Bedingung auch der Entfaltung der Zivilgesellschaft, also der bürgerlichen Freiheiten. In diesem Konzept setzt nicht die Zivilgesellschaft die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln. Das ist vielmehr Sache der Politik. Und genau hier sind wir im Dilemma. Eben weil Politik sich darauf beschränkt, Anpassungsleistungen an die wirtschaftliche Dynamik zu erbringen und wegen ihrer nationalen Anbindung die internationalen 192 Wirtschaftsaktivitäten kaum noch einfangen kann, ist sie der Aufgabe, einen solchen Rahmen zu schaffen, immer weniger gewachsen. Wer es noch nicht weiß, spürt es längst. So richten sich viele Erwartungen auf eine globale Zivilgesellschaft, denen diese, schon von ihrer Struktur her, nicht gewachsen sein kann. NGOs und Stiftungen können allenfalls artikulieren und einfordern, was die Politik versäumt. Das geschieht in immer stärkerem Maße. Aber es ersetzt nicht die internationale Verständigung offizieller Politik auf die Setzung und Durchsetzung des Rahmens, innerhalb dessen die wirtschaftlichen Global Players an soziale und ökologische Verpflichtungen gebunden werden müssen. Genau hier zeigen sich die blinden Flecken einer rein ökonomistischen Sichtweise der Welt. 4. Mitgestaltung als Interaktion Vor diesem Hintergrund muss nun auch die Frage nach der „Mitgestaltung“ beantwortet werden. Mitgestaltung setzt voraus, dass es tragfähige Interaktionen zwischen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft gibt. Genau dies ist besonders auf der internationalen Ebene noch kaum ausgebildet. An den großen UN-Konferenzen war die Wirtschaft wenig beteiligt. So musste sie auch keine Verpflichtungen eingehen. Diese zu erreichen, blieb den nationalen Regierungen – mit mäßigem Erfolg – überlassen. Ein anderes interessantes Beispiel ist der Versuch der Durchsetzung des MAI (Multilateres Investitionsabkommen) durch Politik und Wirtschaft ohne Einbeziehen der NGOs. Er scheiterte an ihrem Widerstand mit Hilfe öffentlicher Kampagnen. Die Sache zeigt, dass die künftigen Checks and Balances eben genau zwischen diesen drei Akteursebenen (Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft) ausgetragen werden. Wer dies in seiner realen Entwicklung realistisch einschätzen will, muss dabei die unterschiedlichen Rollen in Rechnung stellen, die ich beschrieben habe. Das führt mich auf Stiftungen und NGOs und ihr Verhältnis zueinander zurück. Bei den Stiftungen, die operativ arbeiten, also ihre eigenen Programme kreieren und zum Teil auch selbst umsetzen, werden NGOs, falls sie mit ihnen zusammenarbeiten, oft zu reinen Auftragnehmern. Sie führen 193 aus, was die Stiftung vorgibt (z. B. Bertelsmann-Stiftung). Bei sog. Grantmakers-Stiftungen, die ihre finanziellen Zuwendungen ohne inhaltliche Auflagen bereitstellen, werden die NGOs schnell zu Konkurrenten auf einem Förderungsmarkt (wie bei den meisten amerikanischen Stiftungen). Daneben gibt es das Partnerschaftsmodell, d. h. das Modell längerfristiger Kooperation auf der Basis einer grundsätzlichen Vereinbarung (z. B. kirchliche Entwicklungsdienste). Da es im globalen Kontext fast ausschließlich Stiftungen im Norden sind, die NGOs im Süden oder Osten fördern, besteht bei den beiden ersten Modellen immer die Gefahr einseitiger Einflussnahme. Natürlich können auch NGOs Zuwendungen ablehnen, aber nur, wenn ichnen der Markt der Stiftungen Alternativen bietet. Es wird also darauf ankommen, den Markt der Zuwendungsgeber so zu regeln, dass überhaupt alternative Zugänge zu Zuwendungen eröffnet werden. Schließlich wird es ebenso darauf ankommen, dass über Partnerschaftsmodelle möglichst wenig Exklusivität produziert wird. Beides ist notwendig, um die Pluralität der globalen zivilgesellschaftlichen Landschaft aufrechtzuerhalten. Sie allein ist die Garantie gegen globale Fundamentalismen, mögen diese ökonomisch, politisch oder auch religiös motiviert sein. 5. Die Rolle des glaubensbegründeten Teils der globalen Zivilgesellschaft Konrad Raiser, der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, hat sich 1997 in seinem Bericht an den Zentralausschuss (abgedruckt in: Evangelische Kommentare 2/98) in grundsätzlicher Weise mit dem Phänomen der Globalisierung auseinandergesetzt. Globalisierung als ein von einer neoliberalen Wirtschaftstheorie motiviertes ideologisches und politisches Projekt unterscheidet er dabei von einer historischen Dynamik, die sich in den Ambivalenzen der globalen Interdependenz ausdrückt. Ersterem müssten sich christliche Kirchen von ihrem Auftrag her und aus geschichtlicher Erfahrung widersetzen. Der zunehmenden Interdependenz unserer Welt jedoch könnten sie sich nicht entziehen. Ich möchte dieser Unterscheidung folgen wie auch der Perspektive, dass es für die christlichen Kirchen weniger darauf ankommt, sich als „Gegenmacht“ zu etablieren, sondern vielmehr 194 eine erfahrbare und wahrnehmbare „Gegenkultur“ zur Globalisierungsideologie herauszubilden. Die entstehende globale Zivilgesellschaft in all ihrer Pluralität von Inhalten, Werten und Organisationsformen ist eine Art Schmelztiegel, in dem sich diese Gegenkultur entwickeln kann. Zu ihr gehören auch die religiösen Traditionen und Gemeinschaften auf dieser Welt, soweit sie für sich die Menschen- und Bürgerrechte und die Verpflichtung auf zivile, gewaltfreie Konfliktbearbeitung gelten lassen. Fundamentalismus als Gegenkultur führt zur Gewalt. Aus den religiösen Traditionen sind eine Vielzahl von NGOs auf globaler, regionaler und lokaler Ebene hervorgegangen, manche älteren, manche jüngeren Datums. Sie können als der glaubensbegründete Teil einer globalen Zivilgesellschaft angesehen werden. Das reicht von der Weltkonferenz der Religionen über die internationalen Organisationen und Zusammenschlüsse einzelner Religionsgemeinschaften bis zu Werken, Diensten, Gruppen und Initiativen, die in der Entwicklungs-, Umwelt- und Friedensarbeit und im sozialen Feld viele Tausende zählen. Hier gibt es bereits eine ausgeprägte Gegenkultur des interreligiösen Dialogs und der Ökumene. Es kommt darauf an, sie offenzuhalten für das Gespräch mit jenen Partnern (wie z. B. Stiftungen und NGOs), die den säkularen Teil dieser globalen Zivilgesellschaft ausmachen und oft – wenn auch vielleicht aus anderer Motivation heraus – sich an den gleichen Themen und Problemen engagieren. Literatur Building Open Societies, Soros Foundations Network. 1997 Report. Open Society Institute. New York 1998. Fritz Erich Anhelm (Hrsg.): Stiftungen und NGOs als Architekten des Wandels. Wertekonflikte und Kooperationen über Ländergrenzen hinweg. Loccumer Protokolle, 69, Loccum 1998. Citizens. Strengthening Global Civil Society. World Alliance for Citizens Participation. CIVICUS, Washington, DC, 1994. 195 Hinduistische und buddhistische Bewertung wirtschaftlicher Tätigkeit und ihrer Folgen Lourens Minnema 1. Problemstellung: Zum Kulturbegriff Wie stehen Hinduismus und Buddhismus zur Globalisierung der Wirtschaft? Im Rahmen der ethischen Globalisierungsdebatte thematisiere ich gerade diese beiden Religionen, weil sie hier am schwersten einzuordnen sind. Beide stehen in dem Ruf, weltverneinend zu sein. Seit Max Webers Soziologie gilt deren so genannte „Weltflucht“ überdies als Argument zur Erklärung der unterschiedlichen kulturhistorischen Entwicklungen in Europa und Asien. Der Asien-Europa-Gegensatz hatte als Voraussetzung zwei Kulturkreise, die so unterschiedlich sind, dass eine Entwicklung, die aus dem einen Kulturkreis hervortritt, im anderen ein Fremdkörper ist und bleiben muss. Ist und bleiben muss, das heißt: die jeweilige Kultur wurde nicht nur als eigenständig rezipiert, sondern auch als statisch und homogen „Kultur“ als Inbegriff stabilisierender Werte und Integrationsnormen, die auf die Gesellschaft und auf das Individuum einwirken. Religion als Kulturträger par excellence wird dann die Funktion der Stabilisierung oder Reintegration der Gesellschaft bzw. des jeweiligen Individuums beigemessen. Heutzutage sprengen der Buddhismus Japans und der Konfuzianismus Südostasiens die herkömmlichen Vorstellungen vom Gegensatz zwischen dem „Osten“ und dem „Westen“. Anscheinend können asiatische Kulturen westliche Kulturprodukte und Produktionsverfahren übernehmen und einbauen. Dieses Phänomen zwingt uns, den postmodernen Kulturbegriff der abendländischen Kulturanthropologen auch auf den interkulturellen Vergleich anzuwenden. Ich unterscheide drei Phasen in der Entwicklung dieses anthropologischen Kulturbegriffs: 197 a) Kultur als empirisch-transzendentale Größe: Gesellschaft und Individuum sind Träger der Kultur. Die Macht des kulturellen Musters ist dominant und das kulturelle Muster wird als vorgegeben erfahren. Zwei Beispiele dieser Kulturauffassung, die in den Beiträgen dieses Bandes eine wichtige Rolle spielen, sind die Soziologie Talcott Parsons' und die Religionsphilosophie Ernst Troeltschs. Bei Parsons vertritt Kultur die gemeinsame Quelle der Normen und Werte, die von der Gesellschaft und vom Individuum als verbindlich anerkannt werden bzw. die auf sie einwirken. Gesellschaft und Persönlichkeit sind institutionelle Verkörperungen bzw. motivationale Verankerungen von kulturellen Mustern. Diese Anerkennungsleistung oder Stabilisierungsfunktion wird vermittelt von der Religion als legitimierendem, sinngebendem und kompensierendem Kulturträger. Bei Troeltsch vertritt die Kultur die Werte des jeweiligen Kulturkreises, wobei jeder Kulturkreis als homogene Einheit nicht nur seine eigenen Werte hat, sondern überdies seinen Zentralwert. Die Suche nach einem „Kernsymbol“ (core symbol) bzw. nach den Elementargedanken einer Kultur hat auch innerhalb der symbolischen Anthropologie noch lange angedauert 1 . b) Kultur als Konfliktquelle und als Raum für Innovation und Initiative: Die Macht des kulturellen Musters ist umstritten und kulturelle Muster sind teilweise unerträglich bzw. potenziell subversiv. Kultur wird jetzt erfassbar als Kultur und Gegenkultur bzw. in Subkulturen. Illustrativ für den Übergang von dem ersten zum zweiten Kulturbegriff ist m. E. die Entstehung der Wissenssoziologie, für die „Kultur“ eine kumulativ aufgebaute Größe darstellt, deren intellektuelle Elite das erneuernde und konfliktlösende Potenzial verwaltet, während die störende Differenzierung letztendlich nicht der Kultur zugemessen wird, sondern vielmehr der pluralistischen Gesellschaft als Quelle aller Konflikte 2 . 1 2 Vgl. James W. Fernandez, Persuasions and Performances. The Play of Tropes in Culture, Bloomington: Indiana University Press, 1986, S. 197f. Vgl. J. Scharfschwerdt, Arnold Hauser (1892-1978), in: A. Silbermann (Hrsg.), Klassiker der Kunstsoziologie, München 1979, S. 204. 198 c) Kultur als Freiraum für Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten: Die Macht kultureller Muster ist verhandelbar und kulturelle Muster sind übertragbar und umsetzbar. Wenn nun „Kultur“ nicht nur „homogenes, kohärentes Symbolsystem“ heißen kann, sondern auch „konfliktpotenzielle Subkultur oder Gegenkultur“, und sogar „konflikt- und lösungserzeugende Mischung von Kulturen“, dann wird auf analytischer Ebene erfassbar, dass der Wirtschaftserfolg Ostasiens keine Ausnahme ist, die die Regel bestätigt, sondern neugestaltete Aktualisierung des jeweiligen Kultur- und Religionspotenzials unter interkulturellen Globalisierungsbedingungen. Auch Religionen sind als Kulturträger nicht nur vorgegeben und stabilisierend, sondern heterogen und potentiell subversiv, überdies teilweise verhandelbar und übertragbar geworden und als solche auch einsetzbar in einer ethischen Globalisierungsdebatte. Aus dieser Perspektive betrachtet lautet meine Fragestellung: Wie stehen der Hinduismus und der Buddhismus als Religionen historisch und potenziell zur Wirtschaft? 2. Hinduistische Moral in Gesellschaft und Wirtschaft Vor dem Hinduismus gab es im alten Indien die vedische Religion. Diese sah die soziale Ordnung eingebettet in eine kosmische Ordnung. Die kosmische Ordnung (rta oder dharma) war die ideale Ordnung, der natürliche Lauf der Dinge 3 . Die Gesellschaft konnte dieser natürlichen Ordnung zwar nie gerecht werden, musste aber trotzdem ständig versuchen, sich rituell dem Lauf des Kosmos anzugleichen. Dann entstand, etwa im 6. Jahrhundert, eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit der Gesellschaft als solcher. Das Phänomen des wandernden Asketentums trat hervor, d. h. zahlreicher einzelner Asketen, die aus der Gesellschaft „ausgestiegen“ waren und eine individuelle Befreiung von allen irdischen Bindungen suchten. Der Hinduismus entstand 3 Paul Horsch, Vom Schöpfungsmythos zum Weltgesetz, in: Asiatische Studien 21 (1967), S. 31-61. 199 nach Biardeau 4 daraus, dass man nicht mehr nur das alte Ideal der sozialen Ordnung, sondern zugleich das neue Ideal eines „Ausstiegs“ aus der Gesellschaft bzw. der individuellen Befreiung anstrebte. Der Hinduismus behält also zwei gegensätzliche Ideale bei, hält sie für unaufgebbar und ist gleichermaßen sensibel für beide. Das bleibende Spannungsfeld zwischen diesen Polen macht den Hinduismus aus. Im Bereich der Moralität hat diese Polarität zu einer - positiv bewerteten - Doppelmoral geführt. Aus der Gesellschaft als sozialer Ordnung ist eine ambivalente Größe geworden, deren Pflichten man einerseits unbedingt erfüllen muss, weil sie dem natürlichen Lauf der Dinge folgen, die man andererseits aber unbedingt aufgeben muss, weil sie die erstrebte individuelle Befreiung verhindern. Weltflucht ist nur eine Seite des traditionellen Hinduismus. Schwerpunkt oder Ausgangspunkt in diesem Spannungsfeld bleibt die andere Seite, die soziale Ordnung der Familie und der Berufsgruppe, zu der man kraft Geburt gehört. Innerhalb der sozialen Ordnung hat das Kastensystem dazu geführt, dass eine funktionale - keine ideologische! - Trennung von „Kirche“ und „Staat“ entstand 5 . Die soziale Religion konzentrierte sich auf das Ritual, der Staat beschäftigte sich vor allem mit Macht, Staatssicherheit, dem Schutz der Agrarproduktion und des Handels sowie den Steuereinnahmen. Wirtschaft wurde nicht als eigenständiges Phänomen wahrgenommen. Das klassische Handbuch Arthasastra von Kautilya entspricht der deutschen Kameralwissenschaft des 17. Jahrhunderts. Es ist das Zeugnis einer Verwaltungswissenschaft für die Steuerpolitik des Fürsten 6 . Materieller Wohlstand (artha) wird im Hinduismus als äußerst wichtig, wenn auch zugleich als äußerst nebensächlich angesehen. Die hinduistische Anthropologie lehrt, dass jeder Mensch im Leben vier Ziele hat: erstens Befreiung (moksha) als das höchste, aber außergesellschaftliche Ziel; zweitens 4 5 6 M. Biardeau, L'hindouisme: Anthropologie d'une civilisation, Paris: Flammarion, 1981. [Hinduism: The Anthropology of a Civilization, Oxford/New York/Delhi: Oxford University Press, 1989.] L.W. Pye, Asian Power and Politics: The Cultural Dimensions of Authority, Cambridge,Mass./London: Harvard University Press, 1985, S. 133-157, insbesondere S. 136-140. Ajit K. Dasgupta, A History of Indian Economic Thought, London/New York: Routledge 1993, S. 28f. 200 Ordnung (dharma) als höchster Wert im sozio-kosmischen Bereich der phänomenalen Welt; drittens materiellen Wohlstand und dessen Erwerb (artha); viertens Sinnesfreuden, Sinnengenuss (kama). Auch für die Werte in ihrem Verhältnis zueinander gilt nicht nur eine Hierarchie; es besteht vielmehr auch ein Nebeneinander relativ autonomer Teilbereiche. Ordnung (dharma) als umfassendes ethisches Prinzip hält alles zusammen, funktioniert aber nicht als eine normative Sphäre, die man den Bereichen der Macht, der Politik, der Wirtschaft und des Sinnengenusses gegenüberstellt und auferlegt, um die Befriedigung der Bedürfnisse normativ einzuschränken 7 . Zum Leben gehört gleichzeitig eine Mehrzahl von Werten und Pflichten, die man nicht gegeneinander ausspielen kann. Der eine Wert begrenzt den anderen von außen, bleibt jedoch auch „außen vor“. In Sachen der Ethik und der menschlichen Zielsetzungen zeigt sich hier m. E. der Geist des Polytheismus. Im Unterschied zum Monotheismus setzt der Polytheismus die lokale Welt voraus als Schwerpunkt und Ausgangspunkt aller Seinsbereiche. Jede lokale Welt hat ihre eigene und ursprüngliche Berechtigung, ihre eigene Gottheit, ihre eigenen Bedürfnisse, Sitten und Werte. Erst die große Gesamtwelt bezieht andere Dimensionen mit ein, aber diese beseitigen die lokalen Weltdimensionen nicht. Im Monotheismus bezieht sich jede Welt auf einen einzigen universalen göttlichen Willen, dem alle Menschen, alle Weltdimensionen und alle Teilbereiche der Gesellschaft und der Person gleichermaßen untergeordnet sind. Hier hebt die Religion die Gleichberechtigungsansprüche anderer Teilbereiche auf, greift in sie ein und korrigiert sie. Das ist im Polytheismus undenkbar: Wirtschaft, Politik, Religion haben ihre je eigene Berechtigung. Die Vermittlungs- und Integrationsfunktion der Religion ist wirksam, sie wirkt sich in direktem Sinne jedoch nur innerhalb des religiösen Teilbereiches aus, ohne in andere Teilbereiche einzudringen. Ein Beispiel aus einem anderen asiatischen Kulturkreis: Als ein chinesischer Bekannter mir Hongkong zeigte, besuchten wir an einem Sonntag zuerst (s)einen christlichevangelikalen Gottesdienst im 20. Stock eines Hochhauses. Anschließend gingen wir einkaufen. Als ich nachfragte, was er denn von dieser Umschaltung hielt, bekam ich als Antwort: „Du stellst merkwürdige Vergleiche an!“ Diese Antwort war als Vorwurf gemeint: man soll Religion und Wirtschaft nicht miteinander in Zusammenhang bringen, sie sind ja nicht vergleichbar! 7 M. Biardeau, L'hindouisme, S. 51f. [Hinduism, S. 43.] 201 Der religiöse Wert begrenzt den ökonomischen Wert vielleicht von außen, bleibt aber auch „draußen“. Nun hat Max Weber gerade in Bezug auf die moderne (oder postmoderne) abendländische Gesellschaft von einem „Polytheismus der Werte“ gesprochen 8 . Der Unterschied zwischen dem traditionellen Polytheismus Indiens und dem Polytheismus des postmodernen Westens ist jedoch m. E. genauso groß wie die Übereinstimmung. Im traditionellen Polytheismus der Werte ist die lokale Welt ausschlaggebend, und man richtet sein Verhalten nach deren Muster; im postmodernen Polytheismus der Werte ist die individuelle Wahl ausschlaggebend und richtet man sich nach dem eigenen Willen und Geschmack. Der traditionelle Hinduismus zeigt den polytheistischen Geist der „Beiordnung“ (juxtaposition), wo sozial-politischer Macht bzw. wirtschaftlichem Reichtum (artha) in Form ehrwürdigen Prestiges und Ansehens ihre eigene Berechtigung beigemessen wird. Er zeigt diesen Geist ebenfalls dort, wo das Leben des einzelnen Menschen in vier Lebensphasen unterteilt wird und die Phase des „Hausvaters“ im Zeichen materiellen Wohlstandes steht. In beiden Fällen hat der Erwerb von Reichtum seine eigene religiös-ethische Berechtigung. Es ist eben eine natürliche Pflicht, dem Wohlstand nachzustreben. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es innerhalb des Hinduismus die Reformbewegungen des sogenannten „Neu-Hinduismus“. Auch Mahatma Gandhi ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Der Neu-Hinduismus gründet nicht in der sozialen Ordnung (erster Pol), sondern in der individuellen Freiheit des Asketentums und der bhakti-Religiosität, der persönlichen Hingabe an Gott (zweiter Pol). Soziologisch betrachtet 9 , hat er seine Grundlage im Individuum, religiös betrachtet, im außer-gesellschaftlichen, kosmischen Bereich von Brahman und Shiva/Vishnu10 . Die Werte dieses Bereiches sind nicht 8 Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“ (1919), in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1982, S. 582-613, insbesondere S. 603-605. 9 L. Dumont, „World Renunciation in Indian Religions", in: Contributions to Indian Sociology 4 (1960), S. 33-62. 10 Corstiaan J.G. van der Burg, Traditional Hindu Values and Human Rights: Two Worlds Apart?, in: Abdullah A. An-Na'im, Jerald D. Gort, Henry Jansen, Hendrik M. Vroom 202 sozial-gesellschaftlich, sondern individuell und kosmisch-universal, werden jedoch für anwendbar auf den gesellschaftlichen Bereich erklärt. So wird unter Berufung auf die religiöse Einheit der Seele aller Menschen (Seele = atman) mit Brahman bzw. Gleichheit vor Gott (Shiva/Vishnu) die politische Gleichheit und Einheit aller Menschen verkündet, wie z. B. von Gandhi im Falle der Unberührbaren. Die je eigene Pflicht wird im Neu-Hinduismus nicht mehr als eine mit der Angehörigkeit zur jeweiligen Berufsgruppe gegebene Aufgabe interpretiert, sondern zu einer persönlichen Anlage individualisiert und psychologisiert, zu der man sich einen passenden Beruf sucht (S. Radhakrishnan )11 . Auch die Ethik und Ökonomie Gandhis sind unverkennbar individualistisch12 . Erstens hat er eine Abneigung gegen staatliche Einmischung. Zweitens sagt er zu den sozialen Pflichten z. B., das Leben sei ein Bündel aufeinander stoßender Pflichten, wobei man ständig vor der Wahl zwischen der einen und der anderen Pflicht stehe13 . Nicht die Gewohnheiten, Sitten und Erwartungen, sondern die freie Wahl und das rationale Abwägen der Konsequenzen sind bei ihm ausschlaggebend. Andererseits gibt es seiner Meinung nach eine Hierarchie von Pflichten: je näher zur eigenen Familie und Ortschaft, um so wichtiger sind sie14 . Mit der Globalisierung der Wirtschaft in der Gestalt der Industrialisierung hatte Gandhi bekanntlich große Schwierigkeiten, weil die lokale Welt der Dorfbewohner Schwerpunkt und Ausgangspunkt seiner ethischen Wirtschaftsanschauung blieb. Gandhi vertritt m. E. eine Mischung von traditionellem und postmodernem Polytheismus der Werte. Im Allgemeinen ist Gandhi übrigens mehr ein Pragmatiker als ein Idealist gewesen, der auch das Kastensystem nicht um jeden Preis abschaffen wollte. Die Eliteschicht der Reichen soll ihren Reich- 11 12 13 14 (eds.), Human Rights and Religious Values: An Uneasy Relationship? Amsterdam: Rodopi / Grand Rapids: Eerdmans, 1995, S. 109-119; Austin B. Creel, „The re-examination of dharma in Hindu ethics", in: Philosophy East and West 25 (April 1975 /2), S. 161-173. G.-D. Sontheimer, „Die Ethik des Hinduismus", in: C.H. Ratschow (Hrsg.), Ethik der Religionen: Ein Handbuch, Stuttgart: Kohlhammer, 1980, S. 393f. A.K. Dasgupta, op. cit., S. 136f. M. Gandhi, Collected Works 28, S. 343 (zitiert bei A.K. Dasgupta, op. cit., S. 137). A.K. Dasgupta, op. cit., S. 142 (swadeshi: home-grown). 203 tum nicht aufgeben, sondern für die Gemeinschaft anwenden und sich verantwortungsvoll als Verwalterin benehmen15 . 3. Buddhistische Moral in Gesellschaft und Wirtschaft Wir hatten begonnen mit dem ambivalenten Verhältnis des Hinduismus zur Gesellschaft. Das buddhistische Verhältnis zur Gesellschaft ist dessen Spiegelbild. Der Hinduismus hatte als Schwerpunkt und Ausgangspunkt den Pol der sozialen Ordnung, der Buddhismus hat als Schwerpunkt und Ausgangspunkt den Pol der inneren und individuellen Befreiung. Buddha jedoch - im Gegensatz zu den Asketen der Upanishaden - kehrt zur Gesellschaft zurück, fängt an zu predigen und stiftet Klöster sowie eine eigene Laienbewegung. Nach Obeyesekere ist die Schaffung einer buddhistischen Laienbewegung die ausschlaggebende soziologische Bedingung gewesen für die Entwicklung einer eigenen sozialen Ethik. Nur im Zusammenhang mit einer Laiengemeinde kann die systematische Ethisierung in einer Religion auftreten, so lautet seine These16 . Die Erleuchtungserfahrung des Buddha ist an und für sich jenseits von Gut und Böse, wird jedoch als endgültige Befreiung aus dem Leiden aller lebenden Wesen empfunden. Diese endgültige Befreiung ist allerdings nur dem mönchischen Leben der Meditation, d. h. des Nicht-mehrHandelns, zugänglich. Der Buddhismus hält deswegen nur ein Ideal, das Dieal des mönchischen oder spirituellen Lebens, für unaufgebbar. Alle Lebensformen werden an der Nähe zu diesem Ideal gemessen. Das führt nicht zu einer Doppelmoral wie im Hinduismus, sondern zu einer relativen Moral. Der eigentliche Schwerpunkt dieser Moral liegt außerhalb ihrer.17 . Als Vorbereitung auf die mental reinigende Meditation ist die Moral unentbehrlicher Bestandteil der spirituellen, inneren Haltung und eine Sache der Selbstbeherrschung. Als mental gereinigte Frucht der inneren Weisheit ist die Moral umgekehrt eine Sache der Ausstrahlung von Mitleid. In beiden Fällen 15 A.K. Dasgupta, op. cit., S. 151-154. 16 G. Obeyesekere, Exemplarische Prophetie oder ethisch geleitete Askese? Überlegungen zur frühbuddhistischen Reform, in: W. Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus: Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984, 259. 17 Winston L. King, In the Hope of Nibbana: Theravada Buddhist Ethics, La Salle, Ill.: Open Court, 1964; Peter Gerlitz, „Die Ethik des Buddha", in: C.H. Ratschow (Hrsg.), op. cit., S. 227-348. 204 ist die Moral jedoch immer eine innere Haltung und kein eigentliches Verhalten. Dieser geschilderte Schwerpunkt in der religiösen Innenwelt bringt für das Verhältnis zur sozialen Welt eine Verschiebung mit sich. Hatte der Buddha asketisch begonnen als ein Aussteiger aus der Gesellschaft, so durchschaut er bei seiner Rückkehr, dass das Problem der Gesellschaft nicht sozialer oder physischer18 Natur ist, sondern spiritueller Art. Es ist eine Frage des inneren Verhaftetseins und der Unwissenheit. Das Leid der sozialen Welt wird jetzt innerweltlich verstanden als das Leiden an der sozialen und physischen Welt. Die Außen(welt)-Innen(welt)-Spannung hat sich transformiert in eine Innen(welt)-Innen(welt)-Spannung. Nicht Reichtum oder Armut, sondern das positive oder negative Verhaftetsein an Reichtum bzw. Armut ist dann entscheidend. Für Laien allerdings ist Reichtum, wenn ehrlich erworben, empfehlenswerter als Armut19 . Man soll nicht ein Übermaß an Reichtum erstreben, sondern nur genug verdienen, um einen Teil davon investieren und einen anderen Teil wegschenken zu können. Die gemäßigte Haltung des buddhistischen „mittleren Weges“ gilt auch im wirtschaftlichen Bereich. So konnte, als die südasiatischen „Theravada-Länder“ politische Unabhängigkeit gewannen und ihre Nationalideologien eine buddhistische Prägung erhielten20 , dies in Burma mit der ideologischen Entwicklung einer „economy of sufficiency“ einhergehen21 . Die Armut und die politische Ohnmacht eines Großteils der buddhistischen Bevölkerung in diesen Ländern einerseits und die internationale Ideologie des Sozialismus (bzw. Kommunismus / Marxismus) und der Menschenrechts-Doktrin andererseits hat zu vielen Initiativen 18 "Physischer Natur“ soll heißen: gesundheitlicher und zeitlicher Art, bestimmt durch Vergänglichkeit, Krankheit und Tod; siehe Richard F. Gombrich, Theravada Buddhism. A social history from ancient Benares to modern Colombo, London/New York: Routledge, 1988, S. 58f. 19 R.F. Gombrich, op. cit., S. 78; Sunanda Putuwar, „The Buddhist Outlook on Poverty and Human Rights", in: Henry O. Thompson (ed.), The Wisdom of Faith: Essays in Honor of Dr. Sebastian A. Matczak, Lanham/London/New York: University Press of America, 1989, S. 91-99. 20 H. Dumoulin (Hrsg.), Buddhismus der Gegenwart, Freiburg i.Br.: Herder, 1970. 21 W.L. King, op. cit., S. 241-246. 205 sogenannter „engagierter Buddhisten“ geführt, die damit eine sozial gerechte Gesellschaft verwirklichen wollen22 . Zur frühbuddhistischen Laienbewegung gehörten verhältnismäßig viele Fürsten und reiche Kaufleute, die den Buddha gerne als Gast einluden und als Berater hatten. Aus den Texten ist überdies zu entnehmen, dass von einem religiösen Konkurrenzkampf zwischen einer eher buddhistischen Stadtkultur und einer eher hinduistischen Dorfkultur die Rede war23 . Vermutlich hatte der Frühbuddhismus seine ökonomische Grundlage in „betriebswirtschaftlichen“ Kreisen, während der brahmanistische Hinduismus seine ökonomische Grundlage in „volkswirtschaftlichen“ Kreisen besaß. Der Buddhismus hatte bei Unternehmern und insbesondere bei Kaufleuten eigentlich immer besonderen Erfolg24 . Achtsamkeit, Sorgfalt, Ausdauer und gewissenhafte Planung benötigen Geschäftsleute genauso wie Mönche, um erfolgreich zu sein25 . Aber für niemanden, gleich ob Kaufmann oder Mönch, dürfe Eigeninteresse das letzte Ziel sein26 . Alte Leute, Waisen und Gefangene müssen betreut werden. Handel mit Waffen, lebenden Wesen, Fleisch, Wein und Gift ist natürlich verboten. Die enge Verknüpfung von Buddhismus und Betriebswirtschaft hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Sie erklärt teilweise wohl auch, dass der Buddhismus in Indien verschwunden ist und sich stattdessen über die asiatischen Handelsrouten erfolgreich verbreitet hat. Der japanische Buddhismus ist hierfür ein schönes Beispiel. Japan ist an sich kein buddhistisches, sondern ein polytheistisches Land, das jedem Teilbereich des Lebens und der Gesellschaft seine je eigene Berechtigung beimisst. Für das Wirtschaftswachstum ist der Shintoismus (Hauptaugenmerk: Fruchtbarkeit) zuständig, für den Tod ist der Buddhismus angemessener (zentrale Motive: Ruhe, Vergänglichkeit). Dieser Buddhismus ist auf die Besorgung des Totenrituals ausgerichtet. Eine globale Wirtschaftsethik ist noch kein buddhisti- 22 Wege zu einer gerechten Gesellschaft. Beiträge engagierter Buddhisten zu einer internationalen Debatte (Weltmission heute Nr. 23), Hamburg: Evangelisches Missionswerk in Deutschland, 1996. 23 R.F. Gombrich, op. cit., S. 49-58, 61. 24 A.K. Dasgupta, op. cit., S. 14-19. 25 R.F. Gombrich, op. cit., S. 78. 26 A.K. Dasgupta, op. cit., S. 21-27. 206 sches Thema oder beginnt erst heutzutage, es zu werden27 , m. E. nicht der drohenden Arbeitslosigkeit, sondern der Umweltzerstörung wegen: Bäume sterben, Arbeitslose nicht. Für Japan im Allgemeinen gilt übrigens, dass die Bäume nur im eigenen Land heilig sind und dass deswegen nur im Ausland tropisches Hartholz geschlagen werden kann, weil das Ausland nicht zur lokalen japanischen Welt d. h. nicht zum japanischen religiös-ethischen Horizont gehört28 . Um an der Globalisierung der Wirtschaft teilnehmen zu können, brauchen die Japaner nicht einen abendländischen Fortschrittsgedanken29 , sondern messen ihren Erfolg an ihrem Rang in der sozialen Hierarchie, und zwar an ihrem Rang unter den reichsten Industrieländern der Welt. 4. Denkanstöße zur interreligiösen Bewertung von Globalisierungsfolgen: Menschenwürde und Respekt Hält man es für nötig, dass die Globalisierung der Wirtschaft mit einer Globalisierung der Wirtschaftsethik einhergeht, dann muss deren philosophische Begründung so umfassend oder tiefgreifend wie möglich gefasst sein, ohne jedoch zur abstrakten Leerformel zu geraten. Die Ausformulierung eines gemeinsamen Nenners in der Form einer anthropologischen Konstante ist auf analytischer Ebene wichtig, kaum aber auf kommunikativer Ebene. In analytischer Hinsicht kann sie Annäherungsmöglichkeiten und -schwierigkeiten ans Licht bringen30 ; in kommunikativer Hinsicht erweist sie sich meistens zu sehr dem jeweiligen philosophischen Kulturkreis verhaftet, um 27 Sallie B. King, „A Buddhist Perspective on Global Ethic and Human Rights", in: Journal of Dharma: an international quarterly of world religions 20 (1995), S. 122-136. 28 Takie Sugiyama Lebra, Japanese Patterns of Behavior, Honolulu: University of Hawaii Press, (1976) 19865, S. 110-136. 29 Der Fortschrittsgedanke ist den Japanern völlig fremd: auch Veränderungen führt man nur durch zum Überleben (nach Robert J. Ballon, Sophia University Tokio, in einem Interview mit der Zeitung NRC Handelsblad vom 15.01.1994). 30 Zum philosophisch-anthropologischen Ansatz: A. Kleinfeld in diesem Band; L. Minnema, „A Common Ground for Comparing Mystical Thought. Nishitani and Rahner from an Anthropological Perspective", in: Japanese Religions 17 (Jan. 1992, Nr.1), S. 50-74. 207 im interkulturellen und interreligiösen Dialog nicht sofort Verständigungsprobleme hervorzurufen. Allerdings müsste das Menschsein als Thema im Mittelpunkt stehen. Das Konzept der „Menschenwürde“ erscheint mir hierfür am besten geeignet. Die „Menschenrechts“-Doktrin halte ich hier für weniger angemessen, weil sie fast ausschließlich abendländische Vorstellungen von der Menschenwürde innerhalb der modernen Gesellschaft zur Anwendung bringt. In jeder traditionellen Gesellschaft kann man sich etwas darunter vorstellen, wenn von der „Würde des Menschen“ die Rede ist, aber nicht jede Gesellschaft könnte eine Übersetzung in die moderne Menschenrechts-Doktrin nachvollziehen. Dennoch ist die Übertragungsleistung hin zur Menschenrechts-Doktrin unverzichtbar, weil der Prozess der Globalisierung ständig neue Übersetzungsleistungen erforderlich macht, die dem globalen Kontext gewachsen sind. Das Schicksal aller Beteiligten hängt davon ab, ob diese gelingen. Übersetzen heißt, dass man den eigenen Verstehenshorizont erweitert, weil andere Lebenswelten wahrgenommen werden müssen, auch in moralischer Hinsicht. Übersetzen heißt auch, dass man kompromissbereit ist und nicht nur ständig die eigene Sprache gebrauchen will. Als Motiv dafür kommt in Frage, dass einem die Macht zur Ausbreitung der eigenen Sprache, die Lust an bloßer Wiederholung oder der Glaube an den Sinn eines solchen Bemühens fehlt. Im interkulturellen und interreligiösen ethischen Dialog wäre es m. E. ein erster Schritt, wenn die Vorstellung der Menschenwürde nicht länger automatisch mit der Idee der Person verknüpft wird. Der Personbegriff bleibt zu sehr dem Substanzhaften verhaftet, um für einen Buddhisten über eine theoretisch mögliche Verwendung hinaus einleuchtend sein zu können. Statt dessen möchte ich die Tugend des Respekts als Zugang zur Idee der Menschenwürde nennen. Respekt ist als ethische Idee nicht nur überall auffindbar, sondern auch als Verhalten im praktischen Umgang vorhanden. Es ist sehr wichtig, dass Menschen einander ihre Geschichten erzählen, in denen Respekt eine Rolle spielt. So kann ein Dialog beginnen, der nicht auf philosophische Konsequenz, sondern auf soziale Kompetenz abzielt. Daran könnte und müsste man anknüpfen, auch um die negativen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung erfassen und kompensieren zu können. 208 Aus soziologischer Sicht würde Peter L. Berger 31 darauf hinweisen, dass der Begriff „Menschenwürde“ selbst schon die moderne Übersetzung eines ganz anderen Begriffes ist, der ebenfalls mit Respekt zu tun hat, und zwar des Begriffes „Ehre“. Der Unterschied zwischen Ehre und Würde besteht darin, dass es in einer Lebenswelt, die noch an die traditionelle Vorstellung von „Ehre“ gebunden ist, keine Identität gibt außerhalb der institutionellen Rollen, während in der modernen Lebenswelt Identität prinzipiell unabhängig ist von institutionellen Rollen. Das bedeutet in unserem Zusammenhang: ein traditioneller Hindu versteht sich als respektvoll und „würdig", indem er die ihm vorgegebenen Rollen und Pflichten auf sich nimmt, während ein modernes Individuum seine Identität findet, indem es sich seiner institutionellen Rollen entledigt und in totaler Unabhängigkeit seine eigene Authentizität behauptet. Als Übersetzung des Begriffes „Ehre“ erweist sich der Begriff „Menschenwürde“ als dem abendländischen Individualismus verhaftet. Respekt bedeutet in dem ersten Beispiel etwas ganz anderes als in dem zweiten Beispiel: das ist zu beachten. Der Neu-Hinduismus Mahatma Gandhis bietet vielleicht eine alternative Deutung. Seine Vision der Selbstverwaltung Indiens (svaraj) beinhaltete nicht nur Freiheit vom Kolonialismus, sondern auch Autarkie und Selbstrespekt der lokalen Dorfbewohner32 . Dabei geht es nicht um Respekt, der abhängig ist vom Ansehen einer Person bei anderen, sondern es handelt sich um den Selbstrespekt einer ganzen Schicht von Individuen. Diesen Selbstrespekt erlangt man, indem man selbst dafür arbeitet. In der Sprache der Menschenrechts-Doktrin hieße das „ein Recht auf Arbeit haben“. Als Hindu hat man jedoch von Natur aus nur Pflichten. Rechte werden von diesen hergeleitet, indem man seine Pflichten erfüllt und sich so die „Rechte“, d. h. Ermächtigungen (adhikara) erwirbt33 . 31 Peter L. Berger, „On the Obsolescence of the Concept of Honor”, in: Stanley Hauerwas, Alasdair MacIntyre (eds.), Revisions. Changing Perspectives in Moral Philosophy, Notre Dame/London, 1983, S. 172-181. 32 A.K. Dasgupta, op. cit., 132. 33 R.C. Pandeya, „Human Rights: an Indian Perspective”, in: Paul Ricoeur (introd.), Philosophical Foundations of Human Rights, Paris: UNESCO, 1986, S. 267-277; John B. Carman, „Duties and Rights in Hindu Society", in: Leroy S. Rouner (ed.), Human Rights and the 209 Der Buddhismus hat große Schwierigkeiten, sich einen Zugang zu den Vorstellungen des Selbstrespekts, der Ehre und der Person zu eröffnen. Respekt ist jedoch durchaus auch eine buddhistische Tugend, nicht in Bezug auf das Individuum oder die Gruppe schlechthin, sondern in Bezug auf das Leben an sich. Das Leben ist wert, gelebt zu werden. Nicht ein göttliches Gebot, sondern das Leben selbst fordert Ehrfurcht, um aufblühen zu können. Aus diesem Grund will auch das menschliche Leben geschützt und respektiert sein (ahimsa: Nicht-Verletzung). Die Tugend des Respekts löst allerdings ebenfalls nicht alle ethischen Probleme des Lebens, weil auch sie nicht ohne Interpretation bzw. Anwendung im jeweiligen Kontext möglich ist34 . Für einen Brahmanen heißt Respekt nun einmal Respekt vor dem reinen Leben, und das schließt den Umgang mit unreinen Menschen und Situationen aus. Da gibt es kaum eine Übersetzungsmöglichkeit, sondern nur die Frage der Macht: die Verfassung Indiens (Art. 17) verbietet einfach die Anwendung des Kriteriums der Unreinheit, bzw. der Unberührbarkeit35 . 5. Zusammenfassende Thesen 1. Träger der Kultur als einer empirisch-transzendentalen Größe sind Gesellschaft und Individuum. Die Macht des kulturellen Musters ist dominant; dieses wird als vorgegeben erfahren. World's Religions, Notre Dame,Ind.: University of Notre Dame Press, 1988, S. 113-128; Purushottama Bilimoria, „Rights and Duties: The (Modern) Indian Dilemma", in: Ninian Smart, Shivesh Thakur (eds.), Ethical and Political Dilemmas of Modern India, New York: St. Martin's Press/Basingstoke: MacMillan, 1993, S. 30-59. 34 Vgl. ebenfalls Sandra A. Wawrytko, „Confucius and Kant: The ethics of respect", in: Philosophy East and West 32 (1982 Nr. 3), S. 237-257. 35 G.-D. Sontheimer, op. cit., 394f. Vgl. A. Pushparajan, „Harijans and the Prospects of their Human Rights", in: Journal of Dharma. An international quarterly of world religions 8 (1983), S. 391-405; Satish Kumar, „Human Rights and Economic Development: The Indian Traditions", in: Human Rights Quarterly 3 (1981 Nr.1), S. 47-55. 210 2. Kultur wirkt einerseits als Konfliktquelle und andererseits als Raum für Innovation und Initiative. Die Macht kultureller Muster ist umstritten. Sie wirken teils oppressiv und teils subversiv. 3. Die Macht kultureller Muster steht zur Disposition. Kultur bietet auch Freiräume, Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten; diese sind übertragbar und können vielfältig genutzt werden. 4. Auch Religionen sind als Kulturträger nicht nur vorgegeben und stabilisierend, sondern heterogen und potenziell subversiv, überdies teilweise verhandelbar und übertragbar geworden und als solche auch einsetzbar in einer ethischen Globalisierungsdebatte. 5. Der traditionelle Hinduismus besitzt eine Doppelmoral und eine Pflichtenethik. Ihm gelten wirtschaftliche Tätigkeit und Reichtum zugleich als äußerst wichtig und berechtigt sowie als äußerst nebensächlich. Mit der Globalisierung der Wirtschaft hat er keine Schwierigkeiten. 6. Der Neu-Hinduismus Gandhis erklärt Wirtschaftswachstum für äußerst wichtig und berechtigt, wenn die gesamte Gesellschaft dazu Zugang hat und dem Selbstwertgefühl aller Individuen damit gedient ist. Mit der Globalisierung der Wirtschaft hat er große Schwierigkeiten, weil die lokale Welt übergangen wird, anstatt Schwerpunkt zu sein. 7. Der Buddhismus hat eine relative Moral und für seine Laien eine relativ weltbejahende Sozialethik. Der Buddhismus besitzt keine Pflichten-, sondern eine Tugend-Ethik. 8. Für Laien ist wirtschaftlicher Erfolg erstrebenswert, wenn er ehrlich erworben und aufgebbar ist. Mobiler Welthandel, Betriebswirtschaft und Buddhismus sind historisch eng verknüpft. In der Globalisierung der Wirtschaft erkennt der Buddhismus erst dann und dort Probleme, wenn sie sich lebensvernichtend auswirkt, d. h. im ökologischen Bereich. 211 9. Um an der Globalisierung der Wirtschaft teilnehmen zu können, braucht man keinen christlichen oder säkularisierten Fortschrittsgedanken. 10. Im interkulturellen und interreligiösen ethischen Dialog ist die Übersetzungsaufgabe bereits erfüllt, wenn die Vorstellung der Menschenwürde nicht länger „automatisch“ mit der Idee der Person verknüpft wird. Der Persongedanke bleibt zu sehr dem Substanzhaften verhaftet, um für einen Buddhisten je einleuchtend sein zu können (verwendbar schon, aber nicht einleuchtend!). Statt dessen ist darum auf die Tugend des Respekts gegenüber dem Leben als Zugang zur Idee der Menschenwürde aufmerksam zu machen. 212 Resümee der Tagung Wilhelm Fahlbusch Ich kann kein Resümee in Form einer Rezension der Referate liefern. Alles, was hier vorgetragen worden ist, hatte sein eigenes Profil und eigene Qualität, kam aus einem spezifischen Zusammenhang der Beschäftigung mit dem Tagungsthema, der wiederum ganz persönlich geprägt ist. Kurzum, eine Rezension ist nicht möglich. Ich kann der Tagung am besten gerecht werden, wenn ich darstelle, wie sie auf mich selbst gewirkt hat, was sie an neuen Fragen, aber vor allem auch an neuen Erkenntnissen gebracht hat, was ich besser als vorher verstanden habe, wo sie meine Vorstellungen korrigiert und mir Hoffnung und Mut gemacht hat. Ich gehe dabei davon aus, dass meine eigene Situation keine außergewöhnliche ist, sondern der Lage der meisten Tagungsteilnehmer entspricht. 1. Frage: Was ist da mit der Globalisierung wirklich über uns gekommen? Was bringt unsere Meinungen und Voreinstellungen immer wieder deutlich aus dem Takt? Welche Ursachen der Globalisierung gibt es? Wie müssen wir mit ihnen umgehen? Ich bin durch die Soziale Marktwirtschaft, bzw. den Rheinischen Kapitalismus insofern geprägt, als ich mich selbst dafür eingesetzt habe. Tarifpartnerschaft, Tarifpolitik, Mitbestimmung und die sozialen Sicherungssysteme im Generationenvertrag sind für mich unaufgebbare soziale Errungenschaften. Muss ich davon Abstand nehmen? Was geschieht, was verändert sich, wenn wir sie modifizieren, reformieren oder aufgeben? 2. Frage: Was mich bedrückt, ist die offenbare Bedeutungslosigkeit der Theologie, der Philosophie, ja der Ethik in diesem Problemfeld. Die Dominanz der Ökonomie in ihrem weit verbreiteten Absolutheitsanspruch wirkt erdrückend und deprimierend. Es scheint sich hier um zwei Welten zu handeln. Ist eine Verbindung noch möglich, und auf welchem Wege? 213 3. Frage: Gibt es Bundesgenossenschaften bei der sozialethischen Analyse und bei sozialpolitischen Handlungsstrategien? 4. Frage: Wie kommt es zu Kooperationen und politischen Handlungsgemeinschaften? Zu 1.: Ich habe gelernt, dass Globalisierung die Fortsetzung der Internationalisierung der Weltwirtschaft unter den Bedingungen einer revolutionären Kommunikationstechnologie (z. B. Internet) ist. Die von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest dargestellte internationale Mobilmachung des Kapitals findet heute eine unwahrscheinliche Steigerung. Es wird nicht nur international exportiert, sondern auch produziert. Vor allem die Selbstschöpfung des Kapitals an den Börsen ist ein neues Phänomen in der Geschichte von Kapital und Arbeit. Es handelt sich also um qualitative Sprünge, die unsere Weltbilder und Vorstellungen revolutionieren. Ich selbst bin der Sozialen Marktwirtschaft eng verbunden. Ich habe mit für Tarifhoheit, Tarifpartnerschaft, Mitbestimmung und soziale Versicherungssysteme auf der Basis der Solidarität und des Generationenvertrages gekämpft. Die Globalisierung stellt diese Werte aus vielen Gründen in Frage. War der Rheinische Kapitalismus nur möglich in einer weltpolitischen Nische unter den Bedingungen des Kalten Krieges? Diesen Fragen müssen wir uns so intensiv wie möglich stellen. Es steht die Tradition christlicher Ethik, ihre Legitimation und ihre ökonomische Tauglichkeit und Wirksamkeit zur Diskussion. Die Kirchen können dieser Diskussion nicht ausweichen. Ihr Ergebnis wird unausweichlich auch zu Urteilen über die Kirchen insgesamt führen. Die humanisierende und rettende Kraft der Verkündigung muss sich hier exemplarisch erweisen. Versagt die Kirche hier, so bleibt nur die Nische einer esoterischen Erlösungslehre mit Trostfunktion in einer Welt, der nicht mehr zu helfen ist. Das aber wäre auch die Bankrotterklärung der Theologie der Neuzeit. Zu 2.: Das Gefühl der Bedeutungslosigkeit von Theologie und Ethik ist der realen Situation nicht angemessen. Ich habe gelernt, dass es in unserer Gesellschaft bedeutende ethische Kräfte gibt, die politisch agieren, wie zum Beispiel die NGOs oder andere Gruppen, die gegen die Dominanz und Verabsolutierung des Marktes und der Vermarktung der menschlichen Existenz kämpfen. Wichtig ist die Information, dass diese Potenziale auch in der Wirtschaft selbst zu finden sind. Die völlige Ökonomisierung der Welt und 214 des Alltags kann nicht im Interesse nachdenkender Wirtschaftsleute sein. Eine gerechte Verteilung von Arbeit und Gütern in der Welt ist ein entscheidender ökonomischer Faktor. Die ethische Analyse des Wirtschaftsgeschehens und deren politische Konsequenzen gehören wesensmäßig zur modernen Wirtschaftswelt. Das Problem liegt darin, dass diese Erkenntnisse nur von den Akteuren durchgesetzt werden können, die durch den Markt selbst stark genug geworden sind, die Wirtschaft zu bestimmen. Veränderung kann nur von den Gewinnern kommen. Es geht also um die Prägung der Ethik der Starken. Kirche und Theologie können an diese Potenziale und Prozesse anknüpfen. Sie müssen nicht allein gegen den Rest der Welt kämpfen. Das Schema „Kirche“ auf der einen Seite und „Welt“ auf der anderen stimmt sowieso nicht. In den gesellschaftlichen Potenzialen bewegen sich viele Kräfte des Glaubens in säkularisierter Form. Die Anderen sind in der Regel nicht Fremde, sondern haben Teil an der sozialen und politischen Kultur des Glaubens. Sie sind oftmals ja auch Mitglieder der Kirche. Zu 3. und 4.: Die Aufgabe der Kirche - und der Theologie - muss es sein, sich kritisch und solidarisch in die nötigen Diskussionsprozesse einzubringen. Die Kirche wird dabei auch als Institution über die Betroffenheit ihrer Laien-Mitglieder lernen und Kompetenz gewinnen. Aus diesem Lernprozess heraus muss sie entscheiden, ob sie und wann sie sich spezifisch kirchlich, d. h. in der Regel theologisch und seelsorgerlich, bzw. politisch-ethisch äußert. Wichtig ist es dabei, immer wieder auf biblische und theologische Grundentscheidungen in der Tradition der Kirchen und des Christentums hinzuweisen. In der Problematik der Globalisierung bedeutet das, daran zu erinnern, dass Kapital und Arbeit, heute vor allem aber das Kapital, für den Menschen da sind und nicht umgekehrt, dass die Verabsolutierung des Marktes und der Marktprozesse mit der gesellschaftlichen Tradition des christlichen Glaubens nicht zu vereinbaren ist und den status confessionis berührt. Dies gilt auch für die Errungenschaften der Sozialkultur und der Kultur der Arbeitswelt. Entscheidungen, die die Entwicklung der menschlichen Alltagswelt und der geistigen und kulturellen Fähigkeiten der Menschen entscheidend und epochal gefördert haben, die als Folge und Erbschaft der christlichen Verkündigung identifizierbar oder mit ihr vereinbar sind, sollten verteidigt und offensiv weiterentwickelt werden. Dies gilt auf jeden Fall für das Tarifwesen, für die solidarischen Versicherungssysteme und für die Mitbestimmungsrechte. Dies alles ist ohne ökumenische Aspek215 te und Kooperation nicht mehr möglich. Die Globalisierung fordert die Ökumene heraus. 216 Anhang 1. Spiritualität und Ökonomie. Ein Schlüsselproblem der Gegenwart Mainzer Erklärung der deutschen Sektion der „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden“ (WCRP) 1996 1 Die Weltkonferenz der Religionen für den Frieden / BRD hat sich auf ihrer Jahresversammlung 1996 mit den Problemen des Miteinander-Lebens und des Überlebens auf dem gefährdeten Globus befaßt, um nach Möglichkeiten der interreligiösen Kooperation zu suchen. Wir danken allen, die sich in Wirtschaft und Politik, in Wissenschaft und Kunst, in Erziehung und Publizistik sowie in religiösen Gruppen und Gemeinschaften gegen die drohende Entwicklung stemmen, initiativ werden und die sich, sei es aus religiösen Motiven oder aus Gründen weitsichtiger Vernunft, mit selbstzerstörerischen Trends nicht abfinden. Es gibt ermutigende Beispiele, das Soziale neu zu beleben, zum Frieden anzustiften und mit der Erde pfleglich umzugehen. Wir bitten, durchzuhalten, denn nichts ist so revolutionär wie das gelungene Beispiel. Zu einem weit gespannten Netz miteinander verknüpft, können die gesellschaftsgestaltenden Impulse ökologischer Inseln durchaus zur Geltung kommen. Ein gemeinsamer Beitrag der Religionen zur Lösung der Gegenwartsprobleme ist dringend notwendig, denn es wäre eine Selbstüberschätzung, wenn 1 Aus: WCRP-Informationen, Nr. 45, Stuttgart 1996, S. 14-16. Die Erklärung ist auch abgedruckt in: Franz Brendle, Klaus Lefringhausen (Hrsg.): Ökonomie und Spiritualität. Verantwortliches Wirtschaften im Spiegel der Religionen, Hamburg 1997, S. 153-156 (Rez. H.H.Tiemann, in: Lutherische Monathefte 7/98, S. 46). 217 sich eine Religion ohne Kooperation mit Nachbarreligionen für globale Themen wie Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung stark machen wollte. Wir kommen aus unterschiedlichen Traditionen. Zu lange haben wir voneinander nur die jeweiligen Defizite wahrgenommen, anstatt uns gegenseitig bei dem Besten, was wir haben, zu behaften. - Doch nun hören wir neu, was eine der buddhistischen Grundtugenden, nämlich die Achtsamkeit, für den Umgang des Menschen mit der Mitwelt bedeuten kann. - Wir hören angesichts des globalen Problemstaus neu, was Muslime meinen, wenn sie vom Khalifat des Menschen sprechen, der als Stellvertreter Gottes die Erde zu verwalten hat. - Es hat ferner inhaltliches Gewicht, wenn Hindus dem raffenden Leben das Bild vom Leben als Opfer entgegenhalten. - Der jüdische Impuls, der den Menschen als verantwortlichen Haushalter versteht, könnte helfen, den Zwang zu selbstzerstörerischem Selbstbezug aufzubrechen. - Christen sehen sich durch die in Jesus Christus erfahrene Liebe Gottes in die Verantwortung für Mitmenschen und alle Geschöpfe gestellt. - Bahais folgen dem Bild von einer Menschheitsfamilie. So weisen unterschiedliche religiöse Traditionen in die gleiche Richtung. In der gemeinsamen Denkrichtung liegt auch das, was ursprünglich den Sinn der oikonomia ausmachte. Sie war die Lehre vom rechten Haushalten und meinte niemals nur die sparsame Verwendung von Rohstoffen und die materielle Versorgung, sondern stets auch das Wohlergehen aller Haushaltsmitglieder. Unsere heutige Welt ist zu einem globalen Dorf zusammengeschrumpft, so daß der Verantwortungshorizont rechten Haushaltens nicht nur den Nahbereich des Lebens umfaßt, sondern über die eigene Nation, die eigene ethnische Gruppe, die eigene Kultur und die eigene Glaubensfamilie 218 hinausweist. So ist die oikonomia nicht nur eine Lehre von Marktmechanismen und Organisationstechniken, sondern auch ein Beziehungsbegriff. Das Wohlergehen aller Haushaltsmitglieder setzt aber voraus, - dass der Haushalt nicht egoistisch ausgenutzt wird, - dass alle Mitglieder aktive Partizipation erhalten, - dass das Wohl kommender Generationen bedacht wird und - dass die Lebensgrundlage von niemandem gefährdet wird. Das alles hat mit Nächstenliebe, mit achtsamem Mitgefühl, mit Gehorsam und mit Spiritualität zu tun. Wir wissen, daß die Welt unser gemeinsames Haus ist, das wir uns nicht erarbeitet haben, sondern das uns geschenkt ist. Auch ohne religiöse Begründung kann weitsichtige und aufgeklärte Vernunft in eine ähnliche Richtung weisen, wenn diese Vernunft sich nicht vorschnell der Logik und den Ansprüchen von Sachzwängen unterwirft, sondern gegen sie andenkt. Jedenfalls ist der Dialog der Religionen mit denen, die sich nur von ökonomischer Vernunft leiten lassen, durchaus möglich, sinnvoll und notwendig. Wir haben weder die Kompetenz noch das Mandat, konkrete Lösungen vorzuschlagen. Doch wir können das Problem hinter den Problemen benennen, Denkschneisen schlagen und Richtungsimpulse versuchen. Wir müssen den Finger auf die stets offene Wunde legen, nämlich die anthropologischen Fehlannahmen, die es in Wirtschaft, Politik, Ideologien immer wieder gibt. Sie schleichen sich auch als Verhaltensmuster ein, etwa wenn Sinnkrisen mit Konsumschüben beantwortet werden. Von unserem anthropologischen Vorverständnis her fragen wir, ob sich der Egoismus wirklich stets in Gemeinwohl verwandelt, denn dann wäre jemand um so gemeinwohlfähiger, je egoistischer er handelt. Wir fragen auch besorgt nach den Folgen der Globalisierung, wenn diese dazu führt, daß der Mensch als ethisches Subjekt abtritt und den wachsenden Sachzwängen das Feld räumt. Zweifel ruft auch die These hervor, daß der Konsument stets aufgeklärt genug sei, um seine wahren Interessen zu erkennen. 219 Als Religionen halten wir daran fest, daß der Mensch seine eigene Würde hat, die nicht davon abhängig ist, ob er funktioniert, effizient produziert, viel konsumiert und ob der Markt die Leistungen überhaupt honoriert. Der Markt hat zwar eine wichtige Funktion. Doch eine marktzentrierte Gesellschaft wird allzu leicht blind für Menschen ohne Kaufkraft. Die Technik hat der Menschheit sehr geholfen, doch es gibt eine bedenkliche Technikeuphorie, die den Roboter für einen preiswerten Ersatz für den Menschen hält. Jedenfalls gehören die dadurch entstehenden anthropologischen Schäden mit in die Technik-Folgenabschätzung. Zudem ist geschichtlich noch keineswegs bestätigt, daß sich die Menschen mit Hilfe der Technik in einer aufsteigenden und linearen Bewegung nach vorn befinden. Es gibt bereits deutliche Indizien dafür, daß es sich rächt, von der Vorrangigkeit der Ökonomie vor der Ökologie auszugehen und damit die Ökologie, also die Grundlage des Lebens, der Herrschaft der Nützlichkeit zu unterwerfen. Wir selbst können viele der Gegenwartsfragen, hinter denen sich jeweils sehr komplizierte Sachverhalte verbergen, nicht befriedigend beantworten. Doch es gehört zur Spiritualität, auch solche Fragen zuzulassen, die nicht oder noch nicht zu beantworten sind. Spiritualität ist ein Antrieb aus geistigen Motiven – oft zusätzlich oder auch korrigierend zu interessen- oder milieugebundenem Denken. Sie hilft im betrieblichen Alltag das Gewöhnliche ungewöhnlich zu tun. Spiritualität bedeutet, auf die Klopfzeichen des Humanum zu hören und sie nicht zu überdröhnen. Spiritualität ist kein Besitz, sondern ein Suchvorgang. Sie ist ein Aufmerken auf den Sinn aller Dinge. Sie ist ein Denken in der Kategorie des gelingenden Lebens und das Wissen von der eigenen Verwobenheit in das große Netz, das Mensch und Mitwelt verbindet und am Leben hält. Doch wir spüren, daß Spiritualität in der Wirtschaft zu den besonders knappen Gütern gehört und daß dieser Mangel Krisen schafft, zumindest aber verschärft. So bleibt Spiritualität in der Wirtschaft eine Vision, doch die Religionen in Deutschland bleiben ihr auch künftig verpflichtet. Wir laden dazu ein, mit uns die neue Achtsamkeit, die neue Nachdenklichkeit und die offene Sympathie zu leben. 220 2. Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten Dokumente zum Schwerpunktthema der 6. Tagung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 4. bis 9. November 2001 in Amberg 2 2.1 Grundinformation des Vorbereitungsausschusses Dass die Synode der Evangelischen Kirche sich nach der Wirtschaftsdenkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991 und nach dem Gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen von 1997 erneut mit einer Äußerung zu Fragen der Wirtschaft zu Wort meldet, hat gute Gründe. Manche Probleme sind seitdem angegangen worden. Anderes blieb unbearbeitet. Neue Herausforderungen, insbesondere im globalen Horizont, sind hinzugekommen und bedürfen der weiteren kritischen Begleitung, auch durch die Kirchen: Die nicht zuletzt technisch bedingten Veränderungsprozesse in der Wirtschaft haben sich weiter beschleunigt und bei vielen Menschen das Gefühl der Verunsicherung verstärkt. Die Euphorie über wirtschaftliche Erfolge in der »New Economy« hat einer Ernüchterung über die Risiken einer am schnellen Gewinn orientierten Wirtschaftsweise Platz gemacht. Die zunehmende Anarchie auf den internationalen Finanzmärkten hat zu einer Situation geführt, in der die Bewertung von Aktien und Devisen häufig mehr von psychologischen Faktoren abhängt als von wirtschaftlichen Fakten. Angesichts zunehmender Abkoppelung wirtschaftlicher Entwicklungen von Prozessen, die am Ziel der sozialen Gerechtigkeit orientiert sind, wird der Ruf nach klareren politischen Rahmenbedingungen globalisierten Wirtschaftens lauter. 2 epd-Dokumentation 49/2001, S. 25ff. bzw. 42ff. 221 Die Hoffnungen auf die ökologischen Chancen einer global orientierten Politik sind angesichts von Rückschlägen, insbesondere in der Klimapolitik, einer gewissen Ernüchterung gewichen. 1. Der Impuls des Wirtschafts- und Sozialworts von 1997 Die Kirchen diagnostizierten 1997 ein Klima zunehmender Entsolidarisierung und sahen darin „eine große Herausforderung“: „Denn Solidarität und Gerechtigkeit gehören zum Herzstück jeder biblischen und christlichen Ethik“ (2). Dankbar stellen wir fest: das Gemeinsame Wort hat wichtige Impulse für die politische und gesellschaftliche Debatte gegeben, Nachdenklichkeit erzeugt und an verschiedenen Orten zu »Runden Tischen sozialer Verantwortung« geführt, die sich insbesondere mit Wegen zum Abbau der Arbeitslosigkeit beschäftigt haben. Gleichzeitig sehen wir mit Sorge, wie Solidarität und Gerechtigkeit auch heute verletzt werden. Neben dem Blick auf die Situation in unserem eigenen Land gilt unsere Aufmerksamkeit dabei besonders dem Horizont der einen Welt, in der sich die Spaltung zwischen Arm und Reich zu verfestigen oder sogar zu vertiefen droht. Grundorientierung Wir bekräftigen für den Kontext der globalen Wirtschaft die Grundorientierung, die das Gemeinsame Wort der Kirchen gegeben hat: „In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt“ (107). 222 Menschenrechtlicher Bezugsrahmen Das Gemeinsame Wort hat den weltweiten Horizont dieser Grundorientierung dadurch unterstrichen, dass es ihr einen menschenrechtlichen Bezugsrahmen gegeben hat. Neben den individuellen Freiheitsrechten und den politischen Mitwirkungsrechten hat es ausdrücklich von den wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Grundrechten gesprochen, „die den Anspruch auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft begründen und Chancen menschlicher Entfaltung sichern: Recht auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben, Recht auf Arbeit und auf faire Arbeitsbedingungen, Recht auf Eigentum, Recht auf soziale Sicherung und Gesundheitsversorgung, auf Wohnung, Erholung und Freizeit“ (132). Aus der ethischen Standortbestimmung des Gemeinsamen Wortes, die sich auf biblisch-theologische Gründe wie auf menschenrechtliche Vernunftargumente stützt, verdienen vier Dimensionen besonders hervorgehoben zu werden: Option für die Armen Die Option für die Armen: Sie spielt keineswegs Arme gegen Reiche aus. Sie rückt die Zuwendung zu den Reichen aber in die Perspektive der Armen. Sie verkennt nicht den wirtschaftlichen Sinn begrenzter Einkommensungleichheiten. Sie beurteilt solche Ungleichheiten aber danach, ob sie auch den Schwächsten die größtmöglichen Vorteile bringen. Beteiligungsgerechtigkeit Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit: Gerechtigkeit erschöpft sich nicht darin, den Armen eine würdige materielle Existenz zu gewährleisten. Gegenüber jedem Wohlfahrtspaternalismus drängt sie darauf, alle Glieder der Gesellschaft an den wirtschaftlichen und sozialen Prozessen teilhaben zu 223 lassen. Dazu gehört auch, dass die auf Hilfe Angewiesenen, wo immer möglich, dazu in die Lage versetzt werden, wieder für sich selbst zu sorgen. Nachhaltigkeit ♦ Solidarität bezieht sich nicht nur auf die jetzt lebenden Generationen. Sie schließt die Verantwortung für die kommenden Generationen und die Solidarität mit der außermenschlichen Natur ein. Wir bekräftigen daher, was das Gemeinsame Wort zur zentralen Bedeutung der »Nachhaltigkeit« festgestellt hat: „Die besondere Stellung des Menschen begründet kein Recht zu einem willkürlichen und ausbeuterischen Umgang mit der nicht-menschlichen Schöpfung. Vielmehr nimmt sie den Menschen in die Pflicht, als Sachwalter Gottes für die geschöpfliche Welt einzustehen, ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend, haushälterisch und bewahrend mit ihr umzugehen“ (123). Diese Orientierungsgrundlage bleibt für uns im nationalen wie im internationalen Kontext verbindlich. Für alle Ebenen des politischen Handelns gilt deswegen nach wie vor: „Mit einer ökologischen Nachbesserung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan. Notwendig ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologischen Marktwirtschaft insgesamt“ (148). 2. Zwischenbilanz Die folgende Zwischenbilanz der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung seit Erscheinen des Gemeinsamen Wortes blickt zunächst auf den Kontext unseres eigenen Landes, der damals im Zentrum stand. Von da aus soll der Blick nun auf den internationalen Kontext ausgeweitet werden. 224 ♦ Gerechtigkeit erschöpft sich nicht darin, den Armen eine würdige materielle Existenz zu gewährleisten. Diese Zwischenbilanz eignet sich nicht zur parteipolitischen Ausschlachtung. Vielmehr markiert sie Probleme und Aufgaben, für die keine Patentlösungen zur Verfügung stehen und deren Bearbeitung deswegen umso mehr des Zusammenwirkens aller demokratischen Kräfte bedarf. Erkennbare Anstrengungen in dieser Richtung sind die beste Antwort auf die verbreitete Politikverdrossenheit. Schere zwischen Armut und Reichtum Im Hinblick auf die Verteilung der Vermögen in Deutschland stellte das Gemeinsame Wort fest: „Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig die Umverteilung des Mangels, weil der Überfluss auf der anderen Seite geschont wird. Es geht deshalb nicht allein um eine breitere Vermögensbildung und Verteilung. Aus sozialethischer Sicht gibt es auch solidarische Pflichten von Vermögenden und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ (220). Seit dieser Diagnose hat sich die Situation kaum verändert. Nicht zuletzt durch die Turbulenzen in der New Economy haben sich die Unterschiede in der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands noch verschärft: der Aktienboom hat Gewinner und Verlierer. Den Gewinnern stehen die gegenüber, die durch Unternehmenssanierungen und -zusammenschlüsse arbeitslos geworden und in die Armut abgerutscht sind oder aus anderen Gründen von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt sind. Die Synode der EKD begrüßt, dass die Bundesregierung in diesem Jahr erstmals den von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden seit langem geforderten Armuts- und Reichtumsbericht (GW 219) vorgelegt hat. Die dabei deutlich gewordene Schere in den Einkommen zwischen Arm und Reich kann niemanden gleichgültig lassen. Die Zahl der armen Haushalte ist von 1973 bis 1998 von 6,5 Prozent auf fast elf Prozent gestiegen. Ein Viertel der west225 deutschen Haushaltseinkommen lag 1998 im Bereich des »prekären Wohlstands« also kurz vor dem Abrutschen in Armut. Gleichzeitig bleiben die Vermögensunterschiede gewaltig und nehmen durch die Vermögenserträge weiter zu. So betrug die Vermögenszunahme des reichsten Fünftels der Westdeutschen 1998 insgesamt 157 Milliarden DM. Demgegenüber lag die Vermögensbildung bei den übrigen 80 Prozent der westdeutschen Haushalte nur bei zusammen 70 Milliarden Mark. In Ostdeutschland fällt die Verteilung noch ungleicher aus. Unerträglich hohe Arbeitslosigkeit Das hohe Niveau der Arbeitslosigkeit gehörte zu den zentralen Themen des Gemeinsamen Wortes. Angesichts einer Zahl von bis zu 4,5 Millionen gemeldeten Erwerbslosen stellte das Wort 1997 fest: (19) Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist ein gefährlicher Sprengstoff: im Leben der betroffenen Menschen und Familien, für die besonders belasteten Regionen, vor allem weite Teile Ostdeutschlands, für den sozialen Frieden. Ohne Überwindung der Massenarbeitslosigkeit gibt es auch keine zuverlässige Konsolidierung des Sozialstaats. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit führt zu Einnahmeausfällen bei der Sozialversicherung und verursacht hohe Kosten vor allem im Rahmen der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Insofern ist nicht der Sozialstaat zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit. Heute kann dankbar festgestellt werden, dass die Zahl der Arbeitslosen gesunken ist. Besonders zur Behebung der Jugendarbeitslosigkeit sind in den letzten Jahren Schwerpunkte gesetzt worden, die ausdrücklich zu begrüßen sind. Von Entwarnung auf dem Arbeitsmarkt zu sprechen, wäre indessen völlig verfehlt. Noch immer ist das Niveau der Arbeitslosigkeit unerträglich hoch. Diese Lage muss umso mehr Anlass zur andauernden Sorge geben, als es sich in den letzten Jahren um eine Situation florierender Konjunktur handelte, in der überdurchschnittlich viele neue Arbeitsplätze entstanden. Auch die Abkoppelung der neuen Bundesländer vom Aufwärtstrend in der Beschäftigung ist nicht hinnehmbar. 226 Situation der Familien Das Gemeinsame Wort formulierte 1997: „Mehrere Kinder zu haben ist heute zu einem Armutsrisiko geworden. Schwerer noch als die finanziellen Einschränkungen wiegen jedoch für junge Familien andere Benachteiligungen: Sie suchen für Kinder geeigneten Wohnraum und erleben, sofern sie ihn überhaupt bezahlen können, dass ihnen Kinderlose vorgezogen werden. Mehrkinderfamilien sind hier sogar extrem benachteiligt. Sie erfahren Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, da sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht weniger flexibel sind. Auch der fortlaufende Verlust an gemeinsamer Zeit (etwa durch Schichtarbeit oder Sonntagsarbeit) trifft die Familien“ (71). Trotz der Verbesserungen beim Familienlastenausgleich und beim Kindergeld, die inzwischen erfolgt sind, hat sich an dieser Diagnose nichts Wesentliches geändert. Dass die am meisten von Armut betroffene Gruppe in der Bevölkerung die Kinder im Vorschulalter sind, diejenige Gruppe also, die am wenigsten eigene Schuld an ihrer Situation trifft, bleibt ein Skandal. Der in den letzten Jahren noch beschleunigte Prozess der Flexibilisierung der Arbeitszeit hat nicht zu einer mehr selbstbestimmten Familienorganisation geführt. Da die Zeitsouveränität in der Regel bei den Unternehmen liegt, haben sich die Belastungen für die Familien sogar noch verschärft. Gleichstellung von Frauen und Männern Auch die Aufgabe, die das Gemeinsame Wort im Hinblick auf die Gleichstellung der Frauen formuliert hat, hat nichts von ihrer Bedeutung verloren: „Wesentlich für die Gleichstellung ist, dass in Zukunft die Frauen einen gerechten Anteil an der Erwerbsarbeit erhalten und die Männer einen gerechten Anteil an der Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit übernehmen. Dieses Ziel wird nur schrittweise zu erreichen sein. Um so notwendiger ist es, die Haus-, Erziehungsund Pflegearbeit und den ehrenamtlichen Dienst gesellschaftlich aufzuwerten und Benachteiligungen, z.B. bei den sozialen Sicherungssystemen, im Maße des finanziell Machbaren abzubauen“ (153). 227 ♦ Dass die am meisten von Armut betroffene Gruppe in der Bevölkerung die Kinder im Vorschulalter sind, diejenige Gruppe also, die am wenigsten eigene Schuld an ihrer Situation trifft, bleibt ein Skandal. Wie die Kirchen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme zur Rentenreform (2000) ausgeführt haben, ist diese Zielvorgabe insbesondere im Hinblick auf die Alterssicherung weit davon entfernt, verwirklicht zu werden. Das Gemeinsame Wort hat zu Recht die Unternehmen als wesentlichen Ort in den Blick genommen, an dem sich die Familienfreundlichkeit unserer Gesellschaft zeigt. Wir bekräftigen die Aufgabe, die den Unternehmen darin auf den Weg gegeben wurde: „Die Arbeitswelt und die Betriebe müssen sich ... stärker auf die Bedürfnisse der Familien einstellen; Familienfragen dürfen auch in Zeiten einer angespannten Konjunktur und Arbeitsmarktlage kein Randthema bleiben, sondern müssen Bestandteil jeder Unternehmenspolitik sein. So sind z.B. mehr qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze notwendig, die für Männer und Frauen gleichermaßen zugänglich sind und nicht nur Anreize für weniger Qualifizierte bieten. Vorstellungen, die vor allem Männern die Erwerbsanforderungen und Frauen die Familienanforderungen zuweisen, werden weder dem gewandelten Rollenverständnis von Mann und Frau in der Gesellschaft noch den gleichberechtigten Beziehungsformen in den Partnerschaften gerecht“ (193). Seitdem diese Worte formuliert wurden, ist das Gesetz über Teilzeitarbeit verabschiedet worden und am 1.1. 2001 in Kraft getreten, das einen grundsätzlichen Anspruch auf Teilzeitarbeit gesetzlich verankert. Gerade angesichts der darin vorgesehenen, am Konsens orientierten Regeln zur Umsetzung dieses Anspruches sind die Unternehmen zu ermutigen, dieses Gesetz als Chance anstatt als Bedrohung zu begreifen. Auch wird es darauf ankommen, dass die Unternehmen die im Sommer 2001 eingegangene Selbstverpflichtung zur Förderung der Chancengleichheit in der Privatwirtschaft tatsächlich einlösen. 228 Nachhaltigkeit Zur näheren inhaltlichen Definition des Begriffs der Nachhaltigkeit hat die Kammer der EKD für Entwicklung und Umwelt in ihrer jüngst erschienenen Studie „Ernährungssicherung und Nachhaltige Entwicklung“ (2000) einen wichtigen Beitrag geleistet. Die folgenden ethisch-normativen Aspekte sieht sie als zentral: „Die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit bezeichnet die Notwendigkeit der weltweiten Beachtung von Rückkoppelungen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen an die natürlichen Lebensgrundlagen, die erhalten werden sollen. Ressourcenschonung und Prävention sind zukunftsbezogene Teilaspekte von Nachhaltigkeit und bezeichnen die Sorge für menschenwürdige Lebensbedingungen für zukünftige Generationen. Soziale Gerechtigkeit und Partizipation als Gegenwartsaspekte von Nachhaltigkeit schließen die Sicherung der Grundversorgung für alle Menschen und die Teilhabe aller an den Gütern der Erde in der Gegenwart mit ein. Die politische beziehungsweise entwicklungspolitische Dimension von Nachhaltigkeit meint ein Entwicklungskonzept für alle Staaten und Länder, insbesondere auch zugunsten von Entwicklungsländern, das dem internationalen und interkulturellen Zusammenleben, der Gerechtigkeit und dem Frieden dient“ (S. 11). Ein solches Verständnis von Nachhaltigkeit kann nicht Wirkung entfalten, ohne zum integralen Bestandteil der Wirtschaftsordnung zu werden. Schon die Wirtschaftsdenkschrift der EKD von 1991 betonte: „Die Marktmechanismen sind aus sich heraus nicht in der Lage, ökologische Gefahren zu vermeiden. Zusammen mit anderen haben sich darum die Kirchen dafür eingesetzt, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft um die ökologische Komponente zu erweitern“. Als Konsequenz fordert die Denkschrift: „Umweltschonendes Produzieren und Konsumieren muss über den Preis zum Bestandteil des Marktgeschehens gemacht werden“ (189). 229 Ökologische Steuerreform Das Gemeinsame Wort plädierte im gleichen Sinne und im Einklang mit der ökumenisch-sozialethischen Urteilsbildung für eine ökologische Steuerreform zur ökologischen Anpassung des Preissystems: „Weiterhin ist es erforderlich, die wirtschaftliche Strukturanpassung des Steuersystems für ökologische Ziele zu nutzen, wie dies in der Steuerdebatte in den Gremien der Europäischen Union gegenwärtig gefordert wird“ (227). Unabhängig von der Diskussion um die richtige Umsetzung einer ökologischen Steuerreform ist heute zu bekräftigen, dass auf Steuerungsmittel zur ökologischen Umorientierung der Wirtschaft nicht verzichtet werden kann. Steuerliche Anreize müssen durch aktive Infrastrukturmaßnahmen ergänzt werden, insbesondere im Blick auf eine umweltverträglichere Mobilität. Durch den Schock, den BSE und die Maul- und Klauenseuche ausgelöst haben, besteht gegenwärtig die große Chance, endlich Schritte zur ökologischen Umorientierung der Landwirtschaft einzuleiten, die dem Nachhaltigkeitskriterium gerecht werden. Wir rufen heute die Aufgaben in Erinnerung, die das Gemeinsame Wort genannt hat: Die ökologische Umsteuerung „schließt insbesondere ökologisches Verantwortungsbewusstsein bei der Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln, dem Erhalt der natürlichen Bodenfruchtbarkeit, einer artgerechten Tierhaltung, der Sicherung des Artenreichturns, der Pflege des Waldes, der Reinhaltung des Wassers und der Bewahrung der vielfältigen Kulturlandschaft ein“ (229). AGENDA 21 Seit der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes hat sich die Idee der Nachhaltigkeit vor allem im Zusammenhang mit dem AGENDA-21Prozess weiter verbreitet. Dieses vom Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 angestoßene Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert versucht, die Idee der Nachhaltigkeit in den konkreten politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen vor Ort wirksam werden zu lassen. Die Kirchen haben sich darauf verständigt, seine Umsetzung auf lokaler, regionaler, nationaler und interna- 230 tionaler Ebene anzuregen und zu fördern. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen. ♦ Unabhängig von der Diskussion um die richtige Umsetzung einer ökologischen Steuerreform ist heute zu bekräftigen, dass auf Steuerungsmittel zur ökologischen Umorientierung der Wirtschaft nicht verzichtet werden kann. Klimaschutz Kaum ein Thema zeigt so deutlich die Notwendigkeit globaler wirtschaftlicher Verantwortung wie das Ringen um verbindliche Maßnahmen zum Klimaschutz. Die Zuteilung der Schadstoffquoten ist zudem ein klares Beispiel dafür, dass das Bemühen um Nachhaltigkeit der Wirtschaft eng verbunden ist mit der Frage weltweiter Gerechtigkeit. Nur wenn die Hauptverschmutzer in den Industrieländern ihren Anteil an der Verschmutzung deutlich reduzieren und den Ländern des Südens den für ihre wirtschaftliche Entwicklung nötigen erhöhten Anteil zubilligen, kann die weltweite ökologische Umorientierung sozial gerecht gestaltet werden. Internationale Gerechtigkeit Der Schwerpunkt der Überlegungen des Gemeinsamen Wortes lag auf den Herausforderungen in unserem eigenen Land. Wenn die Synode der EKD sich jetzt noch einmal in besonderer Weise mit der Wirtschaft im globalen Kontext beschäftigt, dann knüpft sie dennoch an die Grundorientierung an, die schon das Gemeinsame Wort gegeben hat. Es plädierte in seiner kritischen Würdigung des Globalisierungsprozesses weder für eine Verteufelung noch für eine Glorifizierung desselben. Vielmehr betonte es die Gestaltbarkeil dieses Prozesses im Lichte der ethischen Grundüberzeugungen. Diese Standortbestimmung verdient es, heute in Erinnerung gerufen zu werden: 231 „Globalisierung ereignet sich ... nicht wie eine Naturgewalt, sondern muss im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestaltet werden. Sie kann zahlreichen wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern neue Chancen geben. Die Chancen bestehen freilich nur so lange, wie die reichen Länder bereit sind, ihre Märkte offenzuhalten und weiter zu öffnen. Das verlangt den Menschen in Deutschland Umstellungen ab und ist für manche Wirtschaftszweige mit Einbußen verbunden. Die Kirchen treten in dieser Situation dafür ein, auch eine solche Entwicklung zu bejahen und zu fördern. Man kann nicht zuerst nach Chancen wirtschaftlicher Entwicklung für die ärmeren Länder rufen, aber dann zurückzucken, wenn es einen selbst etwas kostet...“ (33). Internationale Finanzmärkte Gegenüber der Warenproduktion und dem Handel mit den produzierten Waren, von dem hier die Rede ist, haben in den letzten Jahren die internationalen Kapitalbewegungen weiter an Bedeutung gewonnen und bestimmen zunehmend über Stabilität oder Instabilität der weltweiten Märkte. Deswegen muss heute bekräftigt werden, was das Gemeinsame Wort als Aufgabe für die Gestaltung der internationalen Finanzmärkte beschrieben hat: „Wie sich in jüngster Zeit mehrfach gezeigt hat, können von den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten nicht nur stabilisierende, sondern auch destabilisierende Wirkungen auf nationale Volkswirtschaften ausgehen. Die hohen und ständig steigenden Summen, die fortlaufend auf den internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Entwicklung weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets sozialpflichtig, auch das international mobile Kapital.“ (162). Internationaler Ordnungsrahmen Noch immer dient das Bekenntnis zum freien Welthandel vorrangig den Interessen der wirtschaftlich starken Länder. Die Entwicklungschancen der armen Länder werden weiterhin durch den Protektionismus der Reichen behindert. Die EKD-Synode bekräftigt deswegen die Notwendigkeit eines 232 funktionsfähigen und am Gebot der sozialen Gerechtigkeit orientierten internationalen Ordnungsrahmens, wie ihn schon das Gemeinsame Wort ins Auge fasste: „Angesichts der ungehinderten Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen auf Weltebene und der daraus resultierenden Beschränkung des politischen Handlungsspielraums einzelner Staaten wird eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für wirtschaftliches und soziales Handeln dringlich. Erste Ansätze dazu gibt es in der Tätigkeit der Vereinten Nationen, der Weltbank, des Weltwährungsfonds und vor allem der Welthandelsorganisation (WTO). Sie müssen ausgebaut werden, vor allem durch Regeln für einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb und durch soziale Mindeststandards. Diese Regeln und Standards durchzusetzen wird nur möglich sein, wenn die weltweit tätigen staatsähnlichen Institutionen mit ordnungspolitischer Kompetenz ausgestattet werden“ (163). Neue Herausforderungen An diese Vorgaben des Gemeinsamen Wortes ist anzuknüpfen, wenn wir uns im Folgenden mit den Herausforderungen beschäftigen, die in den letzten Jahren als Konsequenz der weltweiten wirtschaftlichen Veränderungen entweder neu erwachsen sind oder sich verschärft haben. Dabei müssen auch die neuen Entwicklungen mitbedacht werden, die sich aus dem europäischen Einigungsprozess, insbesondere im Hinblick auf die gemeinsame Währung und die Erweiterung der EU nach Osten hin, in den letzten Jahren ergeben haben. Die Themen Armut und Reichtum, Arbeitslosigkeit, Gleichstellung von Frauen und Männern, Situation der Familien und das Kriterium der Nachhaltigkeit, die wir im Lichte des Gemeinsamen Wortes in Erinnerung gerufen haben, bleiben als Herausforderungen im Kontext unseres eigenen Landes von zentraler Bedeutung. Sie sind aber gleichzeitig eng verbunden mit der immer dringlicheren Aufgabe, die globale Wirtschaft verantwortlich zu gestalten. Dieser Aufgabe, die im Gemeinsamen Wort nur ansatzweise ins Auge gefasst war, wollen wir uns im Folgenden ausführlicher zuwenden. Dabei sind wir uns darüber im klaren, dass durch mehr Gerechtigkeit auf 233 globaler Ebene unser Anteil am Weltsozialprodukt kleiner wird. Dadurch werden die Herausforderungen im eigenen Land steigen. 3. Ethische Herausforderungen in einer globalisierten Wirtschaft Aus ethischen Überlegungen, wie wir sie in Erinnerung an das Wirtschaftsund Sozialwort formuliert haben, können keine direkten Handlungsanweisungen für eine verantwortliche Gestaltung globalen Wirtschaftens abgeleitet werden. Umgekehrt gilt aber auch: individuelle Entscheidungen im Raum der Wirtschaft und ihre strukturellen Rahmenbedingungen stehen nicht im wertfreien Raum. Sie sind immer mitbeeinflusst von verinnerlichten Normen und angestrebten Zielen, die gerade dann besonders wirkmächtig sind, wenn sie der expliziten Reflexion entzogen bleiben. Ein ausdrückliches Bedenken der ethischen Dimensionen des Wirtschaftens ist insofern auch ein Beitrag zu mehr Sachgemäßheit in der Diskussion um die richtigen Lösungswege. ♦ Noch immer dient das Bekenntnis zum freien Welthandel vorrangig den Interessen der wirtschaftlich starken Länder. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ergeben sich inhaltlich benennbare ethische Leitlinien. Dass sie nicht selbstverständlich sind, zeigt sich schon an dem Anstoß, den sie erregen. Auch wenn um die konkreten Konsequenzen dieser Leitlinien gestritten werden muss, so grenzen sie doch den Bereich zu verantwortender Handlungsalternativen ein. So kann etwa Gewinnorientierung im Lichte dieser Leitlinien nicht mehr Zweck an sich sein, sondern nur Mittel zu einer Wirtschaft, die Wohlstand für alle ermöglicht. Technischer Fortschritt kann nicht um jeden Preis erstrebt werden, sondern muss sich am Ziel der Nachhaltigkeit orientieren. Dass die eingesetzten Mittel immer wieder im Lichte der angestrebten Ziele geprüft werden, ist die notwendige Konsequenz der Überzeugung, dass Globalisierung kein Naturereignis ist, sondern der Gestaltung bedarf. Aus der Aufnahme des Gedankens der Gerechtigkeit als Teilhabe und der damit verbundenen Option für die Armen sowie aus dem Kriterium der Nachhaltigkeit, in denen wir eingangs den Kern der ethischen Grundlegung 234 des Wirtschafts- und Sozialworts gesehen haben, ergeben sich für uns sechs Leitlinien für die verantwortliche Gestaltung der Globalisierung: Die Welt als ein Wirtschaftsraum muss immer als Teildimension der Welt als eines Lebensraums gesehen werden. Wirtschaftliche Globalisierung darf deswegen nie zur totalen Perspektive werden, soll sie nicht den Charakter eines Götzen annehmen. Für die langfristige Verbesserung der Situation der armen Länder reicht eine materielle Unterstützung nicht aus. Ihre Teilhabe am weltweiten Wohlstand kann langfristig nur durch Chancengerechtigkeit im Zugang zum Weltmarkt erreicht werden. Globalisierung der Wirtschaft muss Hand in Hand gehen mit einer weltweiten Stärkung der sozialen und politischen Menschenrechte. Globalisierung wird sich daran messen lassen müssen, ob sie die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens stärkt oder schwächt. Globalisierung als verantwortlich zu gestaltender Prozess kann nicht allein oder vorrangig in den Konzernzentralen gesteuert werden. Sie verlangt die Teilhabe aller Betroffenen und muss daher im Raum einer weltweiten Zivilgesellschaft kontinuierlich auf ihre Menschendienlichkeit befragt werden. Auf der Basis dieser ethischen Leitlinien gilt es, auf die durch die Globalisierung gestellten Herausforderungen zu antworten. Die Vorschläge, die wir im Folgenden dazu machen, verstehen sich nicht als christlich-ethische Blaupause für das Handeln. Sie müssen der Diskussion ausgesetzt werden und sich darin bewähren. Sie wollen aber ausdrücklich dazu ermutigen, in den Sachdiskussionen immer auch die ethischen Dimensionen mit zu bedenken und in die Lösungsvorschläge einfließen zu lassen. 235 4. Globalisierung Ein komplexes Bündel aus gleichzeitigen, teilweise widersprüchlichen Veränderungen Darf eine Lehrerin, die an einer deutschen Schule arbeitet, aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen? Insbesondere Menschen, die Kinder haben, sind verunsichert, wenn sie diese Frage beantworten sollen. Das Beispiel verdeutlicht, dass erstens die Welt ständig weiter zusammenwächst, zweitens dieses Zusammenwachsen Folgeerscheinungen hat, die alle Menschen in ihrem Alltag betreffen, und dass drittens von Menschen Entscheidungen in neuartigen, für sie ungewohnten Situationen verlangt werden. ♦ Die Welt als ein Wirtschaftsraum muss immer als Teildimension der Welt als eines Lebensraums gesehen werden. Wirtschaftliche Globalisierung darf deswegen nie zur totalen Perspektive werden, soll sie nicht den Charakter eines Götzen annehmen. Im alltäglichen Leben müssen wir uns auf immer schnellere Veränderungen einstellen. Wenn man ein Computerprogramm gerade richtig beherrscht, ist es schon wieder veraltet und mit ihm der ganze Computer. Lebenslange Bindungen werden immer weniger selbstverständlich eingegangen. Das trifft sowohl für partnerschaftliche Bindungen zu als auch für Engagement in Parteien und Verbänden. Auch die Kirchen werden von diesem Phänomen keineswegs verschont. Gewissheiten lösen sich auf Ideologische Gewissheiten lösen sich auf, vertraute gesellschaftliche Strukturen geraten unter Druck sich legitimieren zu müssen. Neue Herausforderungen, etwa in der Biotechnologie, erfordern gründliche Diskussionen, für die keine Zeit zu sein scheint. Diese Verwandlung von einer vermeintlich überschaubaren Welt in eine ungekannte Vielfalt verursacht bei vielen Menschen Unsicherheit oder gar Angst. Die Sehnsucht nach Entschleunigung wird immer deutlicher artikuliert. 236 Die Finanznot der öffentlichen Haushalte macht Einsparungen bei den Ausgaben notwendig. Damit nehmen auch die Verteilungskämpfe zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu. Das trägt mit dazu bei, dass dringend notwendige Veränderungen, etwa im Bereich der Bildung unterbleiben. Der Reformstau hat u.a. zur Folge, dass das Interesse an der Politik abnimmt und das Misstrauen ihr gegenüber wächst. Die »Sachzwänge« scheinen die Politik zu dominieren. Viele Menschen machen »die Globalisierung« für diese als unangenehm oder unausweichlich empfundenen Veränderungen verantwortlich, wobei unter diesem Begriff sehr unterschiedliche Phänomene zusammengefasst werden: von der schnellen, Grenzen überschreitenden Kommunikation bis hin zur wirtschaftlichen Öffnung und Liberalisierung. Dabei wird oft übersehen, dass es sich keineswegs um naturwüchsige Prozesse handelt, sondern zum Teil um eine gewollte politische Entscheidung. Als Anfang der 70-er Jahre zum Beispiel das Bretton Woods-System der festen Wechselkurse zerbrach, welches seit dem Zweiten Weltkrieg das Fundament für die internationale Wirtschaft gewesen war, einigten sich die OECD-Staaten auf eine fortschreitende Liberalisierung der internationalen Wirtschaft. Politische und kulturelle Auswirkungen Was als internationale Wirtschaftspolitik begann, hatte schnell tiefgreifende politische, soziale und kulturelle Auswirkungen. Durch die Liberalisierung des Handels, der Investitionen und der Kapitalmärkte sind internationale bzw. transnationale Beziehungsgeflechte und Interdependenzen von bisher ungekanntem Ausmaß entstanden. So haben die „kleinen Tiger“ Asiens es geschafft, sich aus eigenem Antrieb in den Weltmarkt zu integrieren und beispiellose Wachstumsraten zu erzielen. Andererseits wurden bei der schweren Finanzkrise in Ostasien 1997 auch Russland und Brasilien mit in den Strudel gerissen. Wegen der derzeitigen Konjunkturabkühlung in den USA haben beispielsweise die Maquiladora-Betriebe im Norden Mexikos in den ersten vier Monaten dieses Jahres rund 100.000 Beschäftigte entlassen. 237 Die politische Architektur der alten Welt mit der Dominanz der Nationalstaaten ist nicht geeignet, den für eine global liberalisierte Wirtschaft notwendigen Ordnungsrahmen zu bilden. Durch die Transnationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen schwindet die nationalstaatliche Souveränität. Probleme wie Umweltverschmutzung, Geldwäsche und Menschenhandel mit Frauen, Kindern und Flüchtlingen sind nicht auf nationaler Ebene zu lösen. International verbindliche Abkommen sind nötig sowie die Schaffung von zusätzlichen Institutionen bzw. die Stärkung der bestehenden. Wichtige Schritte hin zu einer „Weltinnenpolitik“ oder auch global governance waren die Schaffung der Welthandelsorganisation (WTO) und des internationalen Strafgerichtshofs. Neue politische Architektur Um einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern, ist der Aufbau einer neuen „apolitischen Architektur“ der Welt vorrangige Aufgabe der Politik. Insbesondere der entfesselte Kapitalmarkt stellt ein Risiko dar, wie die Ostasienkrise gezeigt hat. Er muss in Schranken verwiesen werden, die Markteffizienz ermöglichen, aber das Risiko von regionalen oder weltweiten Finanzkrisen verringern. Dabei müssen nicht nur neue Kooperations- und Regelungsmuster gefunden werden, sondern auch neue Wege für deren demokratische Legitimation. Das gleiche gilt für die Organisationen der Zivilgesellschaft. Unter anderem wegen ihrer effizienten Nutzung der neuen Kommunikationstechnologien haben sie auch auf internationaler Ebene an Einfluss gewinnen können. Auch wenn sie häufig als Sprachrohr von Armen oder Ausgeschlossenen auftreten, verfügen sie meist nicht über ein repräsentatives Mandat. Folgen für das alltägliche Leben Auf der persönlichen Ebene müssen viele Menschen damit zurechtkommen, dass das Koordinatensystem, in dem sie ihr Leben entwickeln, sich grundlegend geändert hat und weiterhin ändert. Und dies, ohne dass sie diese Veränderungen gewünscht haben bzw. daran beteiligt waren. Die Vorstellung 238 eines lebenslangen Arbeitsplatzes gehört der Vergangenheit an. Dies bedeutet auch: mehr Mobilität. Durch Migration sowie zunehmende Kommunikation und Information weicht eine weitgehend einheitliche kulturelle Identität einem plurikulturellen Zusammenleben, zumindest in den größeren Städten. Das verschärft die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit unverändert hoch ist. ♦ International verbindliche Abkommen sind nötig sowie die Schaffung von zusätzlichen Institutionen bzw. die Stärkung der bestehenden. In anderen Teilen der Welt kommt es oft zu ganz anderen Erfahrungen: In der Dritten Welt erleben Menschen zum einen die Freiheit des Handels, indem sie z.B. Äpfel aus den USA in ihren Supermärkten kaufen können, aber zum anderen eine restriktive Migrationspolitik, bei der an hochqualifizierte Experten Einladungen versandt werden, während man ungelernte Arbeiter zurück schickt. Mit der Globalisierung wird nicht nur die freie Marktwirtschaft in den letzten Winkel der Erde transportiert, dazu kommen die Verbreitung westlicher Wertvorstellungen und Leitbilder wie Menschenrechte und Demokratie, aber auch Konsummuster und Freizeitverhalten. Werte wie Selbstverwirklichung und materieller Wohlstand dominieren gegenüber traditionellen Sozialformen und religiösen Symbolwelten. Möglichkeiten für Unternehmen Für Unternehmer bietet die sich globalisierende Welt ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten, da sich die Machtbalance zwischen Politik und Wirtschaft zu ihren Gunsten verschoben hat. Doch ist dies nicht nur ein Eldorado für die Wirtschaft: Unter dem Zugzwang, sich in einer völlig neu organisierten internationalen Weltwirtschaft gut zu positionieren, ohne dass es dafür klare Rezepte gibt, entstehen auch hohe Belastungen. Beispiele dafür, wie dieser Druck zu überhasteten Fehlentscheidungen führt, sind gescheiterte Unternehmensfusionen, die nur eine sehr kurze Lebensdauer hatten und vor allem zu Gewinneinbußen führten. 239 Historisch-sozialer Kontext der Globalisierung Schließlich muss noch auf den historisch-sozialen Kontext eingegangen werden, in dem sich die Globalisierung ereignet. Die hier zu nennenden Faktoren stehen zwar nicht ursächlich mit der Globalisierung in Verbindung, verstärken aber deren Konsequenzen. Sie werden oft als Bestandteil von einund derselben Sache wahrgenommen. Unter den historischen, zeitgleichen Umwälzungen ist zunächst die Implosion des Ostblocks zu nennen, die Freiheit und offenere Grenzen, aber auch Not und neue Probleme gebracht hat. Innerstaatliche Kriege nehmen zu Mit der Abnahme von zwischenstaatlichen Kriegen hat die Zahl von innerstaatlichen Kriegen in zumeist armen Ländern zugenommen. Häufig werden interne Kriege von Machthabern konfliktverschärfend zu Religions- oder Kulturkriegen deklariert, auch wenn die eigentlichen Ursachen eher in den Bereichen Zugang zu Macht und Ressourcen zu suchen sind. Auf diese Kriege, bei denen oft nicht mehr klar zu identifizierende Kombattanten, sondern Banden mit unvorstellbarer Grausamkeit gegeneinander oder auch gegen die Zivilbevölkerung vorgehen, hat die internationale Gemeinschaft noch keine überzeugende Antwort gefunden. Auch hier stehen grundlegende Strukturmerkmale der Internationen Beziehungen wie die nationale Souveränität zur Diskussion. Das über Jahrzehnte erfolgreiche traditionelle Peacekeeping der UN ist überfordert. Zusätzlich müssen die UN auch in die Lage versetzt werden, nach Beendigung von Konflikten Wiederaufbau und Neubeginn langfristig und großzügig zu unterstützen. 5. Konsequenzen der Globalisierung Gewinner und Verlierer Die fortschreitende ökonomische Globalisierung hat zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen geführt, auch weil die politische Globalisierung hinter240 herhinkt. Viele Menschen konnten von den Veränderungen profitieren, für viele andere haben sich die Lebensbedingungen jedoch verschlechtert. Zuwachs im internationalen Handel Die Fortschritte in der Handelsliberalisierung haben, bei gleichzeitigem Absinken der Transport- und Kommunikationskosten, zu einem Zuwachs im internationalen Handel geführt. Die weltweiten Exporte von Gütern und Dienstleistungen haben sich zwischen den siebziger Jahren und 1997 real fast verdreifacht. Es sind globale Märkte für Dienstleistungen im Banken-, Versicherungs- und Transportwesen entstanden. Überall auf der Welt können die Menschen nun in einen Sony-Fernseher schauen, joggen mit Nike-Turnschuhen, und preiswerte chilenische Weine gibt es in fast jedem Supermarkt. Doch Entwicklungsländer kritisieren, dass in Bereichen, in denen sie über komparative Kostenvorteile verfügen, die Industrieländer den Handel nur unzureichend liberalisiert haben. Hier ist vor allem der Agrarmarkt zu nennen. Innerhalb der OECD-Länder wird die Landwirtschaft vom Staat mit Beträgen subventioniert, die zusammen das Bruttosozialprodukt ganz Afrikas übersteigen. Durch die Liberalisierung der Investitionen haben ausländische Direktinvestitionen stark zugenommen. Die Deregulierung des Kartellrechts führte zu einer Flut von Fusionen und Übernahmen. Von den über 800 Mrd. US-$, die 1999 an ausländischen Direktinvestitionen getätigt wurden (1997: 400 Mrd.), flossen 636 Mrd. US-$ in Industrieländer. Die Gelder, die in Entwicklungsländern investiert wurden, konzentrierten sich im wesentlichen auf 20 Länder. Am weitesten fortgeschritten ist die Liberalisierung der internationalen Finanzmärkte. Was zunächst dazu gedacht war, internationalen Handel und ausländische Direktinvestitionen zu erleichtern bzw. zu ermöglichen, hat sich weitgehend verselbständigt. Heute werden an jedem Börsentag über 1,5 Billionen US-$ rund um den Globus geschickt. Dies entspricht einem Jahresumsatz von 300 Billionen US-$. Rechnet man die realwirtschaftlichen 241 Finanzflüsse, also Handel und Investitionen, dagegen, kommen sie gerade mal auf 2,5 Prozent dieser gigantischen Summe. Fallende Rohstoffpreise Während einige Entwicklungsländer Investitionen anziehen konnten, fuhr der Zug der Globalisierung an anderen Ländern komplett vorbei. Dies gilt insbesondere für Länder in Afrika südlich der Sahara. Obwohl viele dieser Länder durch Rohstoffexporte seit langem in den Weltmarkt integriert sind, bekamen sie nur die weiter fallenden Rohstoffpreise zu spüren und einheimische, nicht konkurrenzfähige Produzenten mussten den Importen weichen. In Ländern, die von der Globalisierung mehr profitieren konnten, konzentrierte sich der Fortschritt oft auf bestimmte Gebiete der Länder. So haben die Investitionen, die nach dem Abschluss des Freihandelsabkommens NAFTA im Norden Mexikos getätigt wurden, die Lebensbedingungen im südlichen Chiapas nicht verbessert. Und trotz des starken Industriemotors Sao Paulo im Süden Brasiliens gleicht der Lebensstandard der Menschen, die im Nordosten des selben Landes in ländlichen Regionen leben, dem der Landgemeinden in Honduras. Es sind also zum einen ganze Länder von der Globalisierung abgekoppelt, zum anderen gelingt es begrenzten Regionen, sich einzuklinken, ohne das es dadurch zu landesweitem Wohlstand kommt. Von allgemeinen Wohlstandszuwächsen könnte man am ehesten in den ostasiatischen Schwellenländern sprechen, auch wenn von der Finanzkrise Ende 1997 viele Errungenschaften wieder fortgespült wurden. Arbeitslosigkeit wird nicht verringert Trotz des stetigen Wachstums der Weltwirtschaft konnte die Arbeitslosigkeit nicht verringert werden. Dies gilt auch für die OECD-Staaten: Bei einem durchschnittlichen Wachstum von 2-3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den letzen 20 Jahren lag die Arbeitslosigkeit in den OECD-Staaten im gleichen Zeitraum nahezu konstant bei 7 Prozent. Auch wenn immer 242 wieder gesagt wird, dass die Globalisierung zu einer sinkenden Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften in den Industrieländern führt, weil arbeitsintensive Produktionen ausgelagert werden, so muss dem entgegengehalten werden, dass es im Dienstleistungsbereich steigenden Bedarf an Arbeitskräften gibt. Diese vor allem von Frauen ausgeübten Tätigkeiten sind allerdings zu einem großen Teil im Niedriglohnbereich angesiedelt. Armut nimmt zu Die Einkommenskonzentration und damit auch die Armut hat sich weiter verschärft. Dies gilt sowohl für die Situation innerhalb der Länder als auch für den internationalen Vergleich. Laut UNDP verfügte das Fünftel der Weltbevölkerung in den reichen Ländern 1960 noch über ein 30 Mal so hohes Einkommen wie das des ärmsten Fünftels, während 1997 die Relation 1997 bereits 74:1 betrug. Ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt in Armut, zwei Drittel davon sind Frauen. Durch die restriktive Migrationspolitik hat die illegale Migration zugenommen. Für viele Familien in Entwicklungsländern sind die Überweisungen von Familienangehörigen, die beispielsweise in den USA leben, zu einer entscheidenden Einkommensquelle geworden, die auch lokale Krisen in den Entwicklungsländern abpuffern kann. Der Anstieg der Waren- und Verkehrsströme führt zu steigenden Umweltbelastungen. Da die niedrigen Transportkosten nur die Energiepreise beachten, Umweltkosten aber externalisieren, werden kurzfristige Wohlstandsgewinne auf Kosten von langfristigen Umweltschäden erkauft. Nutznießer der Globalisierung ist auch die internationale Kriminalität. Durch die unzureichenden Kontrollmechanismen entstehen neue Möglichkeiten für Drogen- und Menschenhandel, Geldwäsche und illegale Waffengeschäfte. ♦ Es sind also zum einen ganze Länder von der Globalisierung abgekoppelt, zum anderen gelingt es begrenzten Regionen, sich einzuklinken, ohne dass es dadurch zu landesweitem Wohlstand kommt. 243 Annäherung verschiedener Kulturen Über die Bewertung der Annäherung der Kulturen sind sich die Menschen uneins. Einerseits werden die Einflüsse anderer Lebensformen als Bereicherung wahrgenommen, andererseits besteht die Angst vor kultureller Überfremdung. Ob das Internet für Eskimos oder Indigenas schädlich ist, sollten sie selbst entscheiden - doch dazu müssen sie es kennen lernen. Die Revolution in der Kommunikationstechnologie hat eine neue Form des Analphabetismus geschaffen, weil viele Menschen weder Zugang zum Computer noch zum Internet haben. Chancengleichheit besteht auf dem globalisierten Markt nur für die, die bestimmten Mindestanforderungen entsprechen. Die Frage nach Gewinnern und Verlierern lässt sich also nicht immer ganz leicht beantworten. Fest steht, dass hochqualifizierte Arbeitskräfte, wenn sie genügend mobil sind, zu den Gewinnern gehören: Sie können sich ihren Arbeitsplatz aussuchen. Ebenso konnten einige Transnationale Unternehmen enorme Gewinnsteigerungen erzielen. Durch die Internationalisierung ihrer Produktion konnten sie die Produktionskosten senken, und durch die Liberalisierung des Handels gleichzeitig neue Absatzmärkte erschließen. Dadurch sind nicht nur Betriebe im Süden unter Druck geraten. Auch auf gestandene Unternehmen im Norden, die einen etwas ungünstigeren Start in die Globalisierung erlebten, hat sich der Konkurrenzdruck erhöht. Soziale Sicherung neu gestalten In Deutschland sind Befürchtungen weit verbreitet, dass sich auf Grund der Globalisierung das hohe Niveau sozialer Sicherung nicht halten lässt. Zweifellos stellt die Globalisierung den Sozialstaat vor neue Herausforderungen, sie führt aber nicht automatisch zu Einschränkungen. Wie eine Gesellschaft mit Armut und Arbeitslosigkeit, mit Behinderung und Benachteiligung, mit Gewinnern und Verlierern umgeht, wird auch in Zukunft in nationalem Rahmen entschieden werden. Die Veränderungen in der Arbeitswelt; die sich weiter wandelnden und ausdifferenzierenden Lebensentwürfe; die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturen: sie machen es notwendig, 244 die vorhandenen Instrumente zu überprüfen und, wo nötig, neu zu gestalten. 6. Globalisierung gestalten Während in den vergangenen Jahren noch viele wie das Kaninchen vor der Schlange standen und ängstlich die Frage zu beantworten suchten, ob Globalisierung nun gut oder schlecht sei, hat sich die Debatte inzwischen ein Stück entspannt. Es besteht ein weitreichender Konsens darüber, dass freie Märkte ein Mittel sein können, wenn auch nicht sein müssen, um Armut weltweit zu verringern. Weiter besteht Konsens darüber, dass die freien Märkte einen effektiveren politischen Rahmen brauchen, um als Mittel der Armutsbekämpfung wirksam zu werden. Globalisierung wird also nicht mehr als Schicksal verstanden, dessen Fakten von vornherein feststehen, sondern als ein offener Prozess, dessen Ergebnisse davon abhängen, wie man ihn gestaltet. Und so kommt es darauf an, aktiv auf diese Gestaltung Einfluss zu nehmen, damit auch die bisher vom Globalisierungsprozess Ausgeschlossenen daran teilhaben können. ♦ Zweifellos stellt die Globalisierung den Sozialstaat vor neue Herausforderungen, sie führt aber nicht automatisch zu Einschränkungen. In armen Ländern investieren Für die Entwicklungspolitik scheint sich dadurch ein neuer Konsens herauszubilden: Es gilt, auch die ärmsten Länder sowohl für die Bewohner als auch für Investitionen attraktiv zu machen. Innerhalb der Entwicklungsländer müssen deshalb die nötigen Voraussetzungen wie politische Stabilität, Rechtssicherheit, Bildung und eine effektive Infrastruktur geschaffen werden. Die Korruption muss wirksam und mit aller Konsequenz bekämpft werden, entwicklungsfeindliche Strukturen müssen aufgelöst werden. Damit sich die Entwicklungsländer diesen Zielen annähern können, ist ein konditionierter Schuldenerlass unerlässlich. Gleichzeitig müssen Wirtschaftsun245 ternehmen mit Informationen versorgt werden, die es ihnen erleichtern, sich für Investitionen in Entwicklungsländern zu entscheiden. ♦ Globalisierung wird also nicht mehr als Schicksal verstanden, dessen Fakten von vornherein feststehen, sondern als ein offener Prozess, dessen Ergebnisse davon abhängen, wie man ihn gestaltet. Ferner müssen Unternehmen noch mehr als bisher die Möglichkeit bekommen, sich gegen die Risiken der Investitionen abzusichern. Damit durch diese Investitionen tragfähige Entwicklungsprozesse angestoßen werden, müssen Mindeststandards im Sozial-, Umwelt- und Arbeitsrechtsbereich vereinbart werden. Denn wenn die Investitionen zu neuen Formen der Sklavenarbeit und zu langfristigen Umweltschäden führen, ist dies kein geeignetes Fundament für einen nachhaltigen Entwicklungsprozess. Gleichzeitig dürfen die Messlatten für diese Mindeststandards nicht zu hoch gelegt werden. Wer es gut mit den Menschen dort meint und deshalb Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards nach hiesigem Recht fordert, zerstört den gewichtigen komparativen Kostenvorteil der Länder des Südens, den niedrigeren Faktorpreis der Arbeit. In Würde leben Wirtschaft, Markt, Wachstum und Globalisierung sind kein Selbstzweck. Sie müssen sich daran messen lassen, inwiefern allen Menschen eine menschenwürdige Existenz ermöglicht und gesichert wird. Messlatten dafür sind eine inklusivere Globalisierung, die zu einer breiteren Streuung der ausländischen Direktinvestitionen und zu einer abnehmenden Einkommenskonzentration führt. Diejenigen, die diese Ziele fordern, müssen sich daran messen lassen, inwiefern sie es schaffen, derart auf die Globalisierung einzuwirken, dass die erreichte Freiheit der Märkte auch zu mehr Wohlstand für alle führt. Die Chance der Globalisierung liegt dabei nicht so sehr in den einzelnen Forderungen bzw. Vorschlägen. Hier präsentiert sich zum Teil Altbekanntes in einem neuen Argumentations-Gewande. Die Chance liegt darin, dass es ein Projekt gibt, für das sich Unternehmer wie Politiker und 246 Vertreter der Zivilgesellschaft gleichermaßen begeistern könnten, eine Basis für Kooperation statt Konfrontation. Erwartungen an die Politik Regierungen wurden überrumpelt Auch die Regierungen der Nationalstaaten wurden durch die Ereignisse überrumpelt. Bei dem schrittweisen Souveränitätsverlust gegenüber einer sich globalisierenden Wirtschaft blieb ihnen zunächst nur Handlungsspielraum zum Reagieren, nicht jedoch zum Agieren. Dennoch sind die Regierungen der Schlüssel zur Schaffung einer adäquaten politischen Architektur zur Einbettung der freien Märkte. Dies gilt sowohl für bi- oder multilaterale Abkommen wie für die Übertragung von nationalstaatlicher Souveränität auf suprastaatliche Institutionen. Und in anderen Politikbereichen sind nationalstaatliche Regelungen durchaus in der Lage, die Entwicklung der Globalisierung zu beeinflussen. Zur Zeit können nur sie Verstöße gegen Arbeits- und Menschenrechte ahnden. In anderen Bereichen, insbesondere der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik ist ein koordiniertes Vorgehen im Rahmen von regionalen Zusammenschlüssen wirkungsvoller. ♦ Die Chance der Globalisierung liegt darin, dass es ein Projekt gibt, für das sich Unternehmer wie Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft gleichermaßen begeistern könnten, eine Basis für Kooperation statt Konfrontation. Die Regierungen der Industrieländer sollten bei der Gestaltung eines globalen Ordnungsrahmens nicht nur selber kreative Ideen entwickeln, sondern auch ermöglichen, dass von anderen Vorschläge erarbeitet werden, damit ein Dialog geführt werden kann. Der Erfolg bei dieser Jahrhundertaufgabe wird auch davon abhängen, wie offen und partizipativ sie gestaltet wird. Neben Forschungsinstituten und zivilgesellschaftlichen Institutionen aus den eigenen Ländern müssen auch die entsprechenden Einrichtungen der Entwicklungsländer sowie deren Regierungen Diskussionspartner werden. Konkrete Ziele sind, die WTO fairer zu gestalten, eine Weltumweltbehörde zu grün247 den, die nicht nur Rede-, sondern auch Sanktionsrecht hat. Auch gilt es den Internationalen Strafgerichtshof zu stärken. Wechselkurse stabilisieren Die Regierungen der Industrieländer müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um mehr Stabilität in die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu bringen. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass von den Finanzmärkten ökonomisch nicht begründete Störimpulse auf die Entwicklung in vielen Ländern ausgehen. Besonders dringlich ist die Stabilisierung der Wechselkurse. Dafür gibt es seit Jahrzehnten brauchbare Vorschläge. Leider fehlt es am entschlossenen Willen der USA sowie der Länder der Währungsunion und Japans, gemeinsame Zielvorstellungen für die Wechselkurse zu entwickeln und durchzusetzen. ♦ Die Regierungen der Industrieländer müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um mehr Stabilität in die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu bringen. Turbulenzen der großen Währungen wirken sich in der Regel mit einem Verstärkungsfaktor auf die Währungen der Schwellen- und Entwicklungsländer aus. Hier kommt es immer wieder zu spekulativen Attacken, die nur teilweise auf das Fehlverhalten dieser Länder zurückgeführt werden können. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass es Patentrezepte zur Stabilisierung der Währungen von Schwellen- und Entwicklungsländern nicht gibt. Weder die völlige Kursfreigabe noch die Bindung an eine der großen Währungen müssen erfolgreich sein. Internationale Organisationen sollten bei ihren Empfehlungen diese Erfahrungen berücksichtigen. Mittelfristig empfiehlt sich ein Ausbau der währungspolitischen Zusammenarbeit in der Region, verbunden mit einer Orientierung an einer oder mehreren der großen Währungen. 248 Kohärenz als Maßstab der Politik Die Regierungen müssen in allen Entscheidungen ihrer globalen Verantwortung gerecht werden. Kohärenz wird immer mehr zum Maßstab ihrer Politik werden: Kohärenz zwischen Reden und Handeln, und Kohärenz zwischen den Politikfeldern. Es kann nicht sein, dass auf der einen Seite die Einhaltung der Menschenrechte eingefordert wird, und auf der anderen Seite, wenn auch auf verdeckten Wegen, Waffen an Angola geliefert werden. Dies gilt für die Regierungen der Industrieländer gleichermaßen wie für die der Entwicklungsländer und der Transformationsländer Osteuropas. Beschränkungen für den Waffenhandel dürfen nicht durch ökonomische Interessen aufgeweicht werden. ♦ Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass es Patentrezepte zur Stabilisierung der Währungen von Schwellen- und Entwicklungsländern nicht gibt. Migrationspolitik überdenken Die Industrieländer werden ferner ihre Migrationspolitik überdenken müssen. Die derzeitige Praxis, bei der etwa Computerspezialisten oder Fußballspieler freundlich aufgenommen werden, während man sich gegen andere Arbeitssuchende abschottet, ist langfristig nicht durchzuhalten und muss durch eine Einwanderungspolitik ersetzt werden, die den Menschen im Norden und im Süden gerecht wird. Wenn jeweils die kompetentesten Frauen und Männer aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer abwandern, wird dies in der armen Welt zu einer langfristigen Entwicklungsbremse. Und in einer wirklich globalisierten Welt wird es sich nicht mehr rechtfertigen lassen, dass die einen durch »die Gnade ihrer Geburt« Privilegien haben, die andere aufgrund von restriktiver Einwanderungspolitik nie erhalten werden. 249 Gute Regierungsführung ermöglichen Globale Verantwortung heißt auch, sich ernsthaft um die Verbesserung der Lebensbedingungen der derzeitigen Verlierer der Globalisierung zu kümmern. Sie müssen gestärkt und unterstützt werden, damit sie ihre Entwicklung in die eigenen Hände nehmen können. Umfassende politische Anstrengungen sind nötig, damit ausländische Direktinvestitionen in unterentwickelte Regionen fließen werden. Den Regierungen in den Entwicklungsländern muss weiterhin kompetente Beratung zur Verfügung gestellt werden, es muss aber auch Druck auf sie ausgeübt werden, damit Korruption wirklich bekämpft wird und vorhandene Handlungsspielräume genutzt werden, um gute Regierungsführung zu ermöglichen. Das deutsche Instrument der Hermesbürgschaften ist eine wirksame Hilfestellung, um derartige Kapitaltransfers zu ermöglichen, indem das Risiko für die Investoren, insbesondere aus dem Mittelstand, abgeschwächt wird. Wichtig ist dabei, klare entwicklungspolitische Richtlinien zu beachten. Zusätzlich müssen stärker als bisher lokale Industrien in den Entwicklungsländern beratend unterstützt werden, um deren Weltmarktfähigkeit zu erhöhen. Die reichen Staaten können im Rahmen von Public Private Partnership Unternehmen zu entwicklungsfördernden Initiativen motivieren und sie darin unterstützen. Doch selbst wenn es gelingt, die Ärmsten an den Wohlstandsgewinnen der freien Märkte teilhaben zu lassen, so wird dies noch Jahre dauern. Die Menschen in Äthiopien und Afghanistan hungern jedoch heute. Globale Verantwortung heißt deshalb auch weiterhin, existentielle Not zu lindern, ohne dass diese Hilfe Abhängigkeiten schafft, die sich langfristig als entwicklungshemmend auswirken. Mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten Regierungen müssen auch stärker mit der Zivilgesellschaft der Entwicklungsländer zusammenarbeiten. Regierungen armer Länder vertreten häufig, unabhängig davon, ob sie demokratisch gewählt wurden oder nicht, nur die Interessen einer kleinen, reichen Minderheit. Laufen die Kontakte nur zwi250 schen Regierungen, werden diese nichtrepräsentativen Regierungen zusätzlich legitimiert. Wo bilateralen diplomatischen Beziehungen die Hände gebunden sind, kann durch die Unterstützung multilateraler Initiativen wie dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) eine stärkere Annäherung an die Zivilgesellschaft möglich werden. Verantwortung der Europäischen Union Zu den treibenden Kräften weltwirtschaftlicher Liberalisierung gehört die Europäische Union. Um die Lasten und Vorteile der Globalisierung gerechter verteilen zu können, bedürfen Regionen wie die EU eines geeigneten Ordnungsrahmens und einer institutionellen Identität. Hier fehlen u.a. noch: eine bessere Koordination der europäischen Geldpolitik und der nationalen Finanz- und Tarifpolitik; eine einheitliche europäische ökologische Steuerreform; die Einführung von Euro- bzw. Konzernbetriebsräten; die Einführung arbeitsrechtlicher, sozialer und ökologischer Mindeststandards in Europa; die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments und die Herstellung einer europäischen politischen Öffentlichkeit; die Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft gegenüber den bürokratischen Funktionseliten in Brüssel und die Schaffung einer europäischen Verfassung. ♦ Regierungen müssen auch stärker mit der Zivilgesellschaft der Entwicklungsländer zusammenarbeiten. Zentrales Merkmal der Beziehungen der EU mit den Entwicklungsländern muss Kohärenz sein. Um die Bemühungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten um Krisenprävention und Konfliktschlichtung zu unterstützen, dürfen keine Waffen in Krisengebiete geliefert werden. Wenn einerseits die Eingliederung der Entwicklungsländer in den Weltmarkt betrieben wird, darf dies nicht andererseits durch Protektionismus in Europa, etwa im Agrarsektor, konterkariert werden. 251 Marktöffnungen dürfen nicht gemäss dem Recht des Stärkeren durchgeführt werden. Die Industrieländer müssen ihre Märkte auch dort öffnen, wo sie verwundbar sind. Alles andere bedeutet Wohlstandsgewinne auf Kosten der Armen und verhindert, dass die komparativen Kostenvorteile ihre für alle am internationalen Handel Beteiligten positiven Wirkungen entfalten können. Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die EU-Osterweiterung. Sie ist Teil des Globalisierungsprozesses, wird aber wegen der räumlichen Nähe insbesondere in den Mitteleuropa benachbarten Regionen der EU als besondere Bedrohung wahrgenommen. Politisch und ökonomisch gibt es zur Osterweiterung keine Alternative. Sie liegt im Interesse aller Beteiligten. Die notwendigen Anpassungsprozesse - sowohl in den bisherigen EU-Staaten wie auch in den Beitrittsländern - müssen von der Europäischen Union umsichtig gesteuert und gefördert werden. Erwartungen an die Wirtschaft Verantwortung der Unternehmer In der Unternehmensführung gibt es unmittelbar kein soziales Ziel. „The business of business is business“, wie es der UN-Generalsekretär Kofi Annan jüngst vor schweizerischen Unternehmern sagte. Das heißt aber nicht, dass Unternehmen nicht auch Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen. Dafür lassen sich auch wirtschaftliche Argumente anführen: Es ist langfristig nicht in ihrem unternehmerischen Interesse, wenn durch kurzfristiges und kurzsichtiges Handeln potentielle Absatzmärkte zerstört und Produktionsstandorte nachhaltig geschädigt werden. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Unternehmen an Diskussionen über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen beteiligt, wenn auch nicht immer freiwillig. Da gleichzeitig die Einsicht gewachsen ist, dass man ein Land nicht ohne und nicht gegen die Wirtschaft entwickeln kann, lösen sich alte Feindbilder auf und werden neue Entwicklungspartnerschaften möglich. 252 ♦ Das Zustandekommen von weltweit gültigen Standards im Umweltund Sozialbereich sowie die Einhaltung der Menschenrechte darf nicht nur der Politik überlassen werden, die der Globalisierung hinterherhinkt. Bei dem Machtungleichgewicht zwischen Wirtschaft und Politik dürfen sich Transnationale Konzerne, die in den letzten Jahren stark an Macht gewonnen haben, im Bezug auf ihre soziale Verantwortung nicht hinter fehlenden politischen Regelungen verstecken. Das Zustandekommen von weltweit gültigen Standards im Umwelt- und Sozialbereich sowie die Einhaltung der Menschenrechte darf nicht nur der Politik überlassen werden, die der Globalisierung hinterherhinkt. Hier ist Eigeninitiative der Wirtschaft gefordert. Mögliche Instrumente sind Verhaltenskodices, die sich Unternehmen selbst auferlegen oder Selbstverpflichtungen von Branchen- oder Wirtschaftsverbänden, denen Unternehmen beitreten können. An Vorschlägen mangelt es nicht: Brauchbare Grundlagen bieten die Erklärung der Menschenrechte, Konventionen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Agenda 21. Und, auch wenn dies ungewohnt ist: Die Wirtschaft sollte die Politik bei ihren Bemühungen unterstützen, überfällige Regelungen im internationalen Bereich zu verabschieden. Globaler Pakt Eine wichtige Initiative ist der von Kofi Annan initiierte Globale Pakt (Global Compact) zwischen Wirtschaft, UN und Organisationen der Zivilgesellschaft. Dass sich die vereinten Nationen, über Jahrzehnte Anwalt der Entwicklungsländer, plötzlich mit den heutigen »Zöllnern«, den Transnationalen Unternehmen, an den Tisch setzte, hat auch Kritiker auf den Plan gerufen. Doch inzwischen ist es weitreichender Konsens, dass Beschäftigung und gute Arbeitsbedingungen eher durch Kooperation mit der Wirtschaft zu erreichen sind als durch Konfrontation. Der Globale Pakt ist ausdrücklich als Lernprojekt angelegt. Die beigetretenen Unternehmen verpflichten sich, bestimmte international vereinbarte Grundsätze zu beachten und jedes Jahr auf ihrer Homepage mindestens ein 253 konkretes Projekt vorzustellen, das zu einer Verbesserung der Produktionsbedingungen führt. Aus Sicht der Wirtschaft können die UN für das Funktionieren der internationalen Märkte eine Schlüsselfunktion übernehmen, indem sie zu politischer Stabilität beitragen, bei der Lösung von multilateralen Problemen vermitteln und bei der Korruptions- und Kriminalitätsbekämpfung in Entwicklungsländern helfen. ♦ Die Unternehmen müssen deshalb noch sehr viel mehr als bisher dazu beitragen, dass ausländische Direktinvestitionen für Entwicklungsländer einen Schritt hin zu langfristig tragfähiger Entwicklung bedeuten. Dass eine Vielzahl von Unternehmen sich explizit zu ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bekennen, ist erfreulich. Doch nicht immer folgen den schönen Worten auch die notwendigen Taten. Und: Sie haben bisher nicht wesentlich dazu beigetragen, dass ausbeuterische Kinderarbeit abgenommen hat oder die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Frauen, die in den Freihandelszonen in Vietnam oder Zentralamerika arbeiten, verbessert wurden. Die Unternehmen müssen deshalb noch sehr viel mehr als bisher dazu beitragen, dass ausländische Direktinvestitionen für Entwicklungsländer einen Schritt hin zu langfristig tragfähiger Entwicklung bedeuten. Auch wenn dies kurzfristig höhere Kosten verursacht, so ist es mittelund langfristig im Interesse der Investoren. Die Rolle der Kirchen Auch die Kirchen sind von den Veränderungen der Globalisierung keinesfalls verschont geblieben. Daraus erwachsen für sie Konsequenzen auf zwei Ebenen: Zum einen müssen die Beziehungen zu anderen Institutionen intensiviert bzw. reformiert werden, zum anderen bietet die Globalisierungsdebatte für die Kirchen eine Gelegenheit, selbst in den Spiegel zu schauen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. 254 Verhältnis zur Wirtschaft klarstellen Neben der Verkündigung des Wortes Gottes muss es weiterhin vorrangige Aufgabe der Kirchen sein, sich an die Seite der Schwachen und Ausgegrenzten zu stellen und diese zu unterstützen. Daran hat sich auch durch die Globalisierung nichts geändert. Es muss jedoch noch definiert werden, wie sich die Kirchen zu dem oben beschriebenen neuen Kooperationsansätzen staatlicher Entwicklungspolitik verhalten sollen, der in ausländischen Direktinvestitionen nicht mehr die Ursache der Armut, sondern ein Mittel zu deren Überwindung sieht. Auch die Kirchen müssen klarstellen, ob sie die Transnationalen Konzerne bzw. Weltwährungsfonds und Weltbank als Widersacher oder als Partner betrachten. Die Entscheidung, wie sich die Kirchen gegenüber der Wirtschaft positionieren, wird auch Konsequenzen für ihr Verhältnis zur Politik haben. Auf politische Prozesse einwirken Durch die Globalisierung haben sich die Einflussmöglichkeiten der Zivilgesellschaft auf politische Entscheidungen verändert. Wegen des strukturellen Demokratiedefizits in den Entscheidungsprozessen der internationalen Politik kommt der Zivilgesellschaft eine wichtige Kontrollfunktion zu. Durch die neuen Kommunikationstechnologien werden ferner weltweite Vernetzungen und die Verbreitung von Informationen sehr viel einfacher. So wie andere Organisationen der Zivilgesellschaft sind auch die Kirchen aufgefordert, im Rahmen ihrer Verantwortung auf die politischen Prozesse einzuwirken. Um auf die Politik einer sich globalisierenden Welt Einfluss zu nehmen, müssen adäquate Instrumente entwickelt und die neuen Handlungsspielräume aktiv genutzt werden. Dazu bedarf es jedoch hoher Kompetenz und guten Augenmaßes. Kirchliche Arbeit muss daher politischer werden, was nicht parteipolitischer meint. Das gemeinsame Sozialwort der Kirchen war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Kirchen müssen ihre Autorität, über die sie in vielen 255 Gesellschaften nach wie vor verfügen, in die Waagschale werfen, um im Dienste der Armen Einfluss auf politische Entscheidungen hier und in anderen Teilen der Welt zu nehmen. Dazu sind freilich zeitaufwendige interne Diskussionsprozesse nötig, in denen kompetente, treffsichere Positionen erarbeitet werden. Die Kirchen müssen sich mehr als bisher Gehör verschaffen bei Themen wie Einkommenskonzentration, Menschenrechte und Migration. Sie müssen den zur Zeit vorherrschenden Ökonomismus noch stärker hinterfragen und kreative Alternativen anbieten. In Konflikten schlichten Die Kirchen verfügen ferner über ein zur Zeit nicht ausgeschöpftes Potential, um in Konflikten schlichtend wirken. Konflikte meint dabei nicht nur bewaffnete Auseinandersetzungen, sondern auch Streitigkeiten und Differenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen bzw. Milieus, soziale Konflikte und Interessengegensätze. In der beschriebenen neuen Unübersichtlichkeit der Welt wird diese Funktion der Kirchen zunehmend an Bedeutung gewinnen, wobei sie, falls es zu einem zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirchen selbst kommt, vermehrt mit anderen gemeinsam agieren müssen. Kirche in multireligiösen Gesellschaften Mit der Zuwanderung sind Menschen anderen Glaubens in unser Land gekommen, Kontakte mit anderen Religionen werden immer alltäglicher. Die interreligiösen Beziehungen werden deshalb an Bedeutung gewinnen. Zu einer globalisierten Welt, die auf der freiheitlichen Entscheidungsfindung der Individuen basiert, gehört es auch, dass alle Religionen an allen Orten ihren Glauben leben und über ihre Grundüberzeugungen informieren können müssen. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft öfter Fragen beantwortet werden müssen wie die, ob eine Lehrerin an deutschen Schulen ein Kopftuch tragen darf. Die Kirchen müssen auf solche Fragen einheitliche Antworten parat haben, und die Antworten werden ihre Position im Globalisierungsprozess deutlich machen. 256 2.2 Kundgebung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat auf ihrer Tagung über die Probleme der zunehmend globalisierten Wirtschaft diskutiert. Dass sie nach der Wirtschaftsdenkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991 und nach dem Gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen von 1997 sich erneut mit einer Äußerung zu Fragen der Wirtschaft zu Worte meldet, hat Gründe: Die beiden Gesichter der Globalisierung treten immer deutlicher hervor: Sie produziert Ungerechtigkeit und Ängste, sie bringt aber auch Vorteile, birgt Chancen und weckt Hoffnungen. Auf der einen Seite nehmen wir wahr: - Die nicht zuletzt technisch bedingten Veränderungsprozesse in der Wirtschaft haben sich weiter beschleunigt und bei vielen Menschen das Gefühl der Verunsicherung verstärkt. - Die Euphorie über wirtschaftliche Erfolge der „New Economy“ hat einer Ernüchterung über die Risiken einer am schnellen Gewinn orientierten Wirtschaftsweise Platz gemacht. - Die zunehmende Anarchie auf den internationalen Finanzmärkten hat zu einer Situation geführt, in der die Bewertung von Aktien und Devisen häufig mehr von psychologischen Faktoren abhängt als von wirtschaftlichen Fakten. - Angesichts der zunehmenden Abkoppelung wirtschaftlicher Entwicklungen von Prozessen, die am Ziel der sozialen Gerechtigkeit orientiert sind, wird der Ruf nach klareren politischen Rahmenbedingungen globalisierten Wirtschaftens lauter. - Die Hoffnungen auf die ökologischen Chancen einer global orientierten Politik sind angesichts von Rückschlägen, insbesondere in der Klimapolitik, einer Ernüchterung gewichen. Auf der anderen Seite nehmen wir wahr: 257 - Mit der Globalisierung wächst auch die Chance für ein neues Weltverständnis und ein globales Verantwortungsbewusstsein. - Auch wenn die Verteilung krasse Ungerechtigkeiten aufweist, können mehr Güter und Dienstleistungen zu günstigen Preisen bereitgestellt werden. - Grundsätzlich ermöglicht der Abbau von Handelsbeschränkungen auch ärmeren Ländern die Teilhabe am Markt. - Globalisierung kann neues Verständnis zwischen Kulturen schaffen. - Viele ökologische Probleme können nur im weltweiten Horizont bearbeitet werden. In christlicher Freiheit leben Wir bekennen in unserem Glauben: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen“ (Ps. 24,1). Unsere Sicht einer verantwortlichen Gestaltung der Globalisierung gründet in der von Gott geschenkten Freiheit und dem Versuch, daraus für die Gestaltung der Welt Konsequenzen zu ziehen. In der christlichen Tradition heißt Freiheit nicht Maximierung des eigenen Nutzens, sondern Einsatz dafür, dass das von Gott zugesagte „Leben in Fülle“ für alle erfahrbar wird. Darum vollzieht sich Freiheit in Solidarität mit anderen und in Verantwortung für das Gemeinwohl. Wir halten fest: Der Skandal weltweiter wirtschaftlicher Ungerechtigkeit ist die zentrale Herausforderung an die Gestaltung der globalen Entwicklung. Maßstab für die Beurteilung der Globalisierung muss deshalb die Frage sein, ob der dadurch ermöglichte wirtschaftliche Wohlstand auch den schwächsten Gliedern der Weltgemeinschaft zugute kommt. 258 In ökumenischer Verantwortung handeln Wir leben als Kirchen in einer weltweiten Gemeinschaft und spüren deshalb in besonderer Weise die Herausforderungen, die durch die Veränderungen in der Einen Welt entstehen. Wir sind verbunden mit Kirchen auf allen Kontinenten, gerade auch mit Kirchen in den Ländern, die wegen ihrer Armut und Instabilität heute wirtschaftlich und politisch als „uninteressant“ gelten. Wir begegnen in unseren Partnerschaften denen, die nicht zu den Nutznießern der Globalisierung gehören. „Wir dürfen uns nicht abfinden mit einer zunehmenden Polarisierung zwischen dynamischen Wachstumszentren und Regionen von Armut und Unterentwicklung.“ (Synode der EKD, Braunschweig 2000) Wir stehen durch Aktionen wie „Brot für die Welt“ und kirchliche Entwicklungsdienste in einer langen Tradition der Entwicklungszusammenarbeit, die sich unter dem Leitgedanken „Den Armen Gerechtigkeit“ an den Bedürfnissen der am meisten Benachteiligten orientiert. Wir beobachten und fördern alternative Formen von Produktion und Handel, die auf lokaler und regionaler Ebene organisiert werden. Aus dem Entwicklungsengagement ergeben sich wichtige Maßstäbe für die Beurteilung der Globalisierungsprozesse. Im ökumenischen Gespräch über Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ist für uns die „vorrangige Option für die Armen“ zu einem „Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns“ geworden. „Alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft [muss darum] an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt.“ (Wirtschafts- und Sozialwort 1997, S. 107) 259 Zusammenarbeit und Dialog suchen Es gilt, den Benachteiligten zu ihrem Recht zu verhelfen. In diesem Bemühen steht die Kirche nicht allein. Wir sind dankbar für alles, was Menschen verschiedenster Herkunft dafür tun: In den Schwesterkirchen, nichtkirchlichen Organisationen, privaten Hilfsinitiativen, Regierungen, Unternehmen und Gewerkschaften. Wir bieten unsere Bereitschaft an, mit all denen zu kooperieren, die sich solcher Arbeit widmen. Insbesondere erachten wir den Dialog der Kirche mit den für die Wirtschaft Verantwortlichen für notwendig. Dahinter steht die Überzeugung, dass Marktprozesse nicht von selbst das Nötige und Wünschenswerte herbei führen, sondern dass es dazu der verantwortlichen Gestaltung bedarf. Die Kirchen haben vermehrt oder neu zu lernen, sich in die komplexen Probleme der Ökonomie hineinzudenken und die Aufgaben der hier zuerst Verantwortlichen mitzubedenken. In diesem Dialog haben die Kirchen an die konkreten Ziele zu erinnern, die bei der Gestaltung des menschlich Machbaren anzustreben sind: um der Menschlichkeit aller Menschen willen, um des Lebens alles Lebendigen willen. Strukturwandel sozial gestalten Globales Wirtschaften erfordert Strukturwandel. Dieser kann nur akzeptiert werden, wenn die Verlierer nicht allein gelassen werden. Aufgabe der nationalen Politik ist es deshalb insbesondere, die Rahmenbedingungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu verbessern und die soziale Sicherheit von Arbeitslosen und im Niedriglohnbereich Beschäftigten zu gewährleisten. Globales Wirtschaften erfordert also nicht weniger, sondern mehr, wenn auch möglicherweise andere Formen sozialer Sicherheit. Wir treten damit der häufig geäußerten Meinung entgegen, im Zeitalter der Globalisierung könne man sich den Sozialstaat nicht mehr leisten. 260 Bildungsverantwortung wahrnehmen Ein wesentliches Element der Globalisierung der Wirtschaft ist die Verbindung von Marktwirtschaft und neuen Medien. Durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien werden weltweit alle Lebens- und Arbeitsbereiche grundlegend dynamisiert. Die Anforderungen an Wissen und Qualifikation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wachsen ständig. Schule und Ausbildung sollen die Menschen auf die veränderten Aufgaben vorbereiten. Allerdings darf man die Gefahr nicht übersehen, dass Schule und Ausbildung allein für ökonomische Ziele instrumentalisiert werden. Bildung in christlicher Verantwortung nimmt dagegen den ganzen Menschen in den Blick. Unserer Menschenbild verpflichtet dazu, jeden Menschen mit seinen Stärken und Schwächen anzunehmen und zu fördern und ihn nicht auf seine Verwertbarkeit im Arbeitsprozess zu reduzieren. Diesen Anspruch auf eine ganzheitliche Bildung erheben Christen weltweit, unabhängig davon, ob er kirchliche oder staatliche Bildungseinrichtungen betrifft. Offene und durchlässige Zugänge zu Schulen und Ausbildungsstätten sind die Voraussetzung für eine Teilhabe aller Menschen an diesem Bildungsgeschehen. Den Beitrag der nationalen Wirtschaftspolitik einfordern Gerade im Prozess der Globalisierung kommt der nationalen Wirtschaftspolitik eine besondere Verantwortung zu. Sie darf sich nicht hinter der Anonymität internationaler Entwicklungen verstecken. Es ist nicht richtig, dass es für die nationale Wirtschaftspolitik keinen Spielraum mehr gibt, wie immer wieder unter Hinweis auf die Globalisierung behauptet wird. Die nationale Wirtschaftspolitik darf deshalb keine Reduzierung eigener Standards mit dem Hinweis auf niedrigere Standards in anderen Ländern zulassen. So wichtig eine internationale Koordinierung von Sozial- und Umwelt-Standards ist, muss klar sein, dass es sich dabei nur um Mindeststandards handeln kann. 261 „Reiche“ Länder, zu denen auch unseres gehört, sind der Nachhaltigkeit besonders verpflichtet. Diese Länder können und müssen einen überproportionalen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der einen Welt leisten, da sie deren Ressourcen auch überproportional in Anspruch nehmen. Sozial- und Umweltstandards dürfen aber nicht als Instrumente des Protektionismus missbraucht werden, denn damit werden schwächere Länder wichtiger Wettbewerbsvorteile beraubt. Es ist Aufgabe nationaler Politik, internationale Regeln und Standards durchzusetzen und Verstöße gegen sie zu ahnden. Wo dies nicht geschieht, ist internationale Politik gefordert. Globalisierung führt nicht nur zu einer Entgrenzung der Wirtschaft, sondern auch zu einer Zunahme weltweiter Wanderungen. Das hat Folgen für die Zuwanderungspolitik der Industrieländer. Sie dürfen sich gegen Armutsmigration nicht abschotten. Holen sie andererseits gut ausgebildete Arbeitnehmer ins Land, verlieren die schwächeren Länder die Kräfte, auf die sie für ihre Entwicklung angewiesen sind. Für die Öffnung Europas eintreten Zu einer zusammenwachsenden Weltwirtschaft gehört die gegenseitige Öffnung der Märkte. Wir müssen Verantwortung für die Entwicklung der einen Welt wahrnehmen, indem wir unsere Märkte auch dort öffnen, wo dies Nachteile bringt. Dies gilt insbesondere für die Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaft, die an vielen Stellen protektionistische Züge trägt. Für den Entwicklungsprozess der schwachen Länder ist die Landwirtschaft besonders wichtig. Notwendig ist deswegen eine verantwortlichere Form der europäischen Agrarpolitik, damit sie einen Beitrag zur globalen Gerechtigkeit und zur nachhaltigen Entwicklung leisten kann, die im Einklang mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Kriterien steht. Hauptaufgabe einer nachhaltigen Agrarpolitik im Norden und Süden ist weltweite Ernährungssicherung. Vor allem sind künftig Strukturhilfen und Subventionen in Europa und weltweit auf nachhaltige Produktionsweisen auszurichten. Notwendiger Abbau von Handelshemmnissen darf nicht dazu führen, dass loka262 le Märkte zerstört werden, kleinen und mittleren Betrieben die Existenzgrundlage entzogen wird. Dieser Anforderung wird die heutige europäische Agrarpolitik nicht gerecht. Sie hat durch eine verfehlte, im Wesentlichen quantitativ orientierte Subventionspolitik zu Überproduktionen geführt, die den Entwicklungsländern in mehrfacher Hinsicht Probleme bereiten: Sie führen zu einer Abschottung Europas und stören durch heruntersubventionierte Preise Märkte, auf die gerade schwache Länder angewiesen sind. Dies alles liegt auch nicht im Interesse unserer Landwirte. Eine Reform wird ihnen und der Qualität der deutschen Agrarproduktion zugute kommen. Dabei müssen die Herausforderungen der EU-Erweiterung im Blick bleiben. Auch im industriellen und Dienstleistungssektor gibt es Handelsbeschränkungen unterschiedlicher Intensität, direkte und indirekte, offene und versteckte. Europa darf sich nicht abschotten. Es ist gerade die Verantwortung der deutschen Politik, für ein offenes Europa einzutreten. Besondere Bedeutung kommt den Regionen als Lebens- und Wirtschaftsraum zu. Gerade im Prozess des Zusammenwachsens in der Einen Welt, können viele Probleme nur vor Ort gelöst werden. Am Beispiel Europas wird dies deutlich. Hierbei können Kirchen als Initiatoren und Mediatoren eine wichtige Rolle spielen. Dringlich ist die EU-Erweiterung nach Osten. Sie ist eine notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Entwicklungsprozess der aufholenden Beitrittsländer. Internationale Institutionen stärken Verbesserungsbedürftig ist auch die über Europa hinausgehende internationale Zusammenarbeit. Die Verantwortung der nationalen Politik endet nicht an den Grenzen des Nationalstaates. Die bestehenden internationalen Institutionen sind in ihrem Gewicht zu stärken. Sie sind auf die Unterstützung der nationalen Politik dringend angewiesen. Dazu müssen auch die schon jetzt existierenden Formen der informellen Zusammenarbeit aus263 gebaut und so weit wie möglich institutionell abgesichert werden. Ebenso sind weitere internationale Konventionen abzuschließen und umzusetzen, um verantwortbare weltweite Standards, auch im Bereich der Sozialpolitik, zu erreichen. Die internationalen Institutionen sollten diese so gestalten, dass sie dann auch ratifiziert werden. Die nationalen Regierungen und Parlamente sollten diese dann aber auch ratifizieren und durchsetzen. Der Ausbau der internationalen Koordination ist dringlich. In diese sind Vertreter der Entwicklungs- und Schwellenländer einzubeziehen, aber auch Gewerkschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen im Süden wie im Norden. Das Schicksal ganzer Volkswirtschaften darf nicht der Willkür der Finanzmärkte ausgesetzt werden. Zur Verhinderung von Wechselkursturbulenzen gibt es keine Patentrezepte. Die viel diskutierte Tobinsteuer hilft nicht gegen sehr große Schwankungen, außerdem kann sie nur wirken, wenn sie weltweit eingeführt wird, was nicht zu erwarten ist. Viel wichtiger ist, dass die großen Industriestaaten entschlossen kooperieren, den Finanzmärkten Führung geben und für Währungsverhältnisse sorgen, welche die wirtschaftliche Entwicklung in allen Ländern fördern. Zu lange hat man geglaubt, dass man ohne eine derartige Politik auskäme. Dies hat sich, wie viele Beispiele insbesondere aus dem vergangenen Jahrzehnt zeigen, als ein Irrtum erwiesen, unter dem vor allem die Schwachen zu leiden haben. Die Entschuldung der ärmsten Länder steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Der Schuldendienst armer Länder ist existenzbedrohend für ihre bedürftige Bevölkerung. Notwendig ist aber auch der Ausbau der Bankenregulierung im Norden wie im Süden, um Unternehmenszusammenbrüche wegen zu kurzfristiger Finanzierung zu verhindern. Insbesondere eine Reform der Eigenkapitalregelungen ist dringlich. Der Ausbau der regionalen währungspolitischen Zusammenarbeit könnte gerade die Position der schwachen Länder stützen. Das Nebeneinander verschiedener währungspolitischer Regimes gehört zu den jüngsten Krisenursachen in Südamerika. 264 Die Träger der Wirtschaft an ihre Verantwortung erinnern Unternehmen und Gewerkschaften sind im Prozess des globalen Wirtschaftens gleichermaßen gefordert. Sie müssen gemeinsam damit umgehen, dass Produktionsstätten in andere Regionen verlagert werden, und einen solchen Prozess sozialverträglich gestalten. Große transnationale Unternehmen haben die Möglichkeit, auf ihrem Gebiet Standards zu setzen, die sich an den Kriterien einer nachhaltigen Wirtschaft orientieren. Es gibt Beispiele, in denen dies sehr erfolgreich getan wurde. Auch Wirtschaftsverbände können auf nationaler oder internationaler Ebene Selbstverpflichtungen eingehen, welche die Standards verändern. Die Wirtschaft kann zudem die Politik auf Bereiche hinweisen, in denen Selbstverpflichtungen einzelner Unternehmen oder Verbände nicht ausreichen. Eine wichtige Rolle kann die Wirtschaft in dem von UN-Generalsekretär Kofi Annan initiierten globalen Pakt (Global Compact) spielen, in dem Wirtschaft (Unternehmen und Gewerkschaften), UNO und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten sollen. In Europa ist die soziale Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility-CSR), wie sie in dem neuen Grünbuch der EU enthalten ist, aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Wirtschaft und Politik müssen gemeinsam dazu beitragen, dass die Ressourcen geschont, die Umwelt geschützt und gute Arbeitsbedingungen gefördert werden. In diesem Sinne sollte die Politik für die Unternehmen, die in Entwicklungsländern investieren, entsprechende Anreize schaffen, um Entwicklungsimpulse zu geben. Das wirtschaftspolitische Engagement der Kirchen verstärken Den Kirchen stellen sich durch die Entwicklung zu der einen Welt besondere Aufgaben. Ihre Verantwortung für die Schwachen gilt auf nationaler wie internationaler Ebene. National müssen die Kirchen für diejenigen eintreten, die durch das globale Wirtschaften ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie müssen sich auch weiterhin 265 bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit engagieren und für die konkrete Verbesserung der Situation der Erwerbslosen einsetzen. Auch das Handwerk verdient ihre besondere Aufmerksamkeit. Die Kirchen müssen so viel wie möglich für den Ausgleich zwischen den östlichen und westlichen Ländern der Bundesrepublik tun. International sollten die Kirchen sich an einem Umdenkprozess beteiligen, der in ausländischen Direktinvestitionen, angemessene Rahmenbedingungen vorausgesetzt, nicht mehr die Ursache der Armut, sondern ein Mittel zu deren Überwindung sieht. Die Kirchen müssen klarstellen, dass sie die transnationalen Konzerne, den Weltwährungsfonds und die Weltbank nicht als Widersacher, sondern als Partner betrachten, die durchaus des kritischen Dialogs bedürfen. Wo Unternehmen soziale und ökologische Mindeststandards unterschreiten, sollten die Kirchen die Bildung einer Gegenöffentlichkeit unterstützen, die diese Unternehmen an ihre Verantwortung erinnert. Wenn Einzelne oder Initiativen aufgrund ihres Engagements verfolgt werden, müssen die Kirchen für sie eintreten. Die Kirchen müssen ihre Autorität, über die sie in vielen Gesellschaften nach wie vor verfügen, in die Waagschale werfen, um im Sinne der vorrangigen Option für die Armen Einfluss auf politische Entscheidungen hier und in anderen Teilen der Welt zu nehmen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben bedarf es verantwortungsbereiter Menschen. Die Kirchen sollen ihnen mit der christlichen Botschaft Orientierung und Stütze geben. Globales Wirtschaften bietet Risiken und Chancen. Wir wollen, dass die Chancen wahrgenommen und die Risiken tragbar gehalten werden. Das bedeutet für uns: Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten. Amberg, den 9. November 2001 Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 266 Beschluss zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten Die Synode bittet den Rat, - die Gliedkirchen und kirchlichen Hilfswerke auf die Notwendigkeit aufmerksam zu machen, sich um ein weiteres und vertieftes Verständnis der im Pakt von 1966 formulierten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (WSK) zu bemühen. Nur ganz wenige Staaten, darunter die USA, haben diesen Pakt bisher nicht ratifiziert. Er setzt national und international verbindliche Rechtsstandards; - die damit befassten Werke und Institutionen zu bestärken, weiterhin Untersuchungen über die Auswirkungen, die die deutsche Politik im Rahmen der Globalisierung für die Verwirklichung der WSK-Rechte hat, zu erstellen und zu veröffentlichen, und sich damit für die Umsetzung dieser Rechte einzusetzen; - auf die Bundesregierung einzuwirken, dass die im Amsterdamer Vertrag (in Kraft getreten am 1. Mai 1999) vereinbarte Berichterstattung über die Auswirkung der europäischen Politik bezüglich des Ziels der Armutsbekämpfung endlich vollzogen wird; - die Hilfswerke der EKD darum zu bitten, nicht nachzulassen, ihre Partner im Süden bei der Durchsetzung ihrer WSK-Rechte zu unterstützen; - die Rolle des ÖRK und der konfessionellen Weltbünde darin zu bestärken, dass sie die Diskussion über die WSK-Rechte und die Bemühungen um deren Umsetzung vorantreiben können; - dafür Sorge zu tragen, dass die entwicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit so unterstützt wird, dass in der deutschen Öffentlichkeit ein größeres Verständnis für die Bedeutung der WSK-Rechte im Zusammenhang der Globalisierung entsteht. Tagung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland/ Amberg, den 8. 11.2001 Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 267 Literatur zur „Globalisierung“ (Zusammenstellung: Dr. Hans-Hermann Tiemann) Ahmed, Akbar S., u. 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Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt a. M. 1998 277 Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft ist eine freie Vereinigung innerhalb der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Als Gesprächs- und Studienforum dient sie Interessierten dazu, gemeinsame Fragen im Spannungsfeld von Wirtschaft und Ethik, Gesellschaft und Kirche zu erörtern. Ziele Die Studiengesellschaft greift soziale Fragen auf, die gegenwärtige Herausforderungen für die evangelische Kirche darstellen. Sie diskutiert und fördert ethisch und theologisch reflektierte Lösungsansätze. Die Arbeit der Studiengesellschaft zielt auf einen gemeinschaftlichen Klärungsprozess der Teilnehmenden im Kontakt mit dem KDA, kirchlichen und sozialen Initiativen sowie Institutionen. Durch regelmäßige Erkundungen und Betriebsbesuche verschaffen sich die Teilnehmenden einen Praxisbezug im Kontext der Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Die gewonnenen Einsichtung und Perspektiven sollen der Kirche und der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft informiert über ihre Arbeit durch Publikationen (Tagungsberichte, Dokumentationen usw.). Sie gibt die wissenschaftliche Buchreihe „Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln“ heraus. 278 Geschichte 1 Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft wurde im Jahre 1929 von dem ersten Sozialpfarrer der hannoverschen Landeskirche, Pastor Dr. J. G. Cordes, gegründet. Sie hat seitdem kontinuierlich getagt und gearbeitet. Ihre Ausstellung anlässlich des 60jährigen Jubiläums zum „Evangelisch-sozialen Handeln im Industriezeitalter, Hannover 1834-1989“ erhielt den HerbertWehner-Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung. Mitglieder und Arbeitsvorhaben Zur Studiengesellschaft gehören als Mitglieder Personen aus verschiedenen kirchlichen, wirtschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und anderen Berufen, die an den Arbeitsvorhaben und Tagungen teilnehmen und eigenverantwortlich mitwirken. Die Studiengesellschaft veranstaltet in der Regel jährlich zwei Tagungen, wobei eine der beiden Zusammenkünfte mit einer Betriebsbesichtigung verbunden ist. Zu den jeweiligen Tagungen wird öffentlich eingeladen. 1 Vgl. Cord Cordes, Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft in der hannoverschen Landeskirche, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte, 83. Band 1985, S. 201-213, u. Martin Cordes, Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und ihr Leiter Johann Gottlieb Cordes „im Schatten“ der Jahre 1933 bis 1945, in: JGNKG 97/1999, S. 133-189. 279 Autorinnen, Autoren und Herausgeber Fritz Erich Anhelm, Dr. rer. pol., geb. 1944; Studium der Politischen Wissenschaften, Germanistik und Pädagogik, Promotion im Fach Politologie; 1975 bis '79 Bundestutor für Gesellschaftspolitische Jugendbildung; von 1979 bis '94 Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, von 1985 bis '94 auch der Ökumenischen Vereinigung der Akademien und Laienzentren in Europa; seit 1994 Direktor der Evangelischen Akademie Loccum Martin Cordes, Dr. theol., geb. 1942; Professor an der Ev. Fachhochschule Hannover (Fachbereich Religionspädagogik und Diakonie); Forschungs bereiche: evangelisches soziales Handeln im 19. und 20. Jhdt.; Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt nach 1945; 1. Sprecher der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers; Vorsitzender der Aktion Arbeitslosenabgabe e. V. Wilhelm Fahlbusch, Professor i. R., geb. 1929; seit 1962 Sozialpfarrer, seit 1963 Landessozialpfarrer in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Professor für Theologie/Sozialethik an der Ev. Fachhochschule Hannover, seit 1995 im Ruhestand Friedrich Heckmann, Dr. theol., geb. 1953; Studium der Theologie und Philosophie in Münster, Zürich und Erlangen; 1982-86 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Sozialethik der Universität Erlangen; 1986-94 Hochschulseelsorger in Braunschweig; seit 1995 Professor für Sozialethik am Fachbereich Sozialwesen der Ev. Fachhochschule Hannover Uwe Heinrich, geb. 1956; Studium der Ev. Theologie in Bethel und Hamburg, Auslandsstipendium in Tanzania 1984/85, Zusatzausbildungen in kirchlicher Medienarbeit und Popularmusik; Mitarbeit in der entwicklungspolitischen Bildungsstätte Haus am Schüberg, Hoisbüttel, sowie im Arbeitskreis „Multinationale Konzerne und III. Welt", Pastor am Osdorfer Born, Hamburg 280 Klaus Peter Japp, Dr. phil., geb. 1947; Soziologiestudium in Frankfurt / Main; Habilitation in Bielefeld; Forschungsaufenthalte in Berkeley und Harvard; Professor für Soziologie, Universität Bielefeld; Fachgebiet: Soziologie ökologischer Risiken Barbara Ketelhut, Dr. phil., geb. 1956; Professorin im Fachbereich Sozialwesen an der Ev. Fachhochschule Hannover; Fachgebiete: Armut und Erwerbslosigkeit, Frauenforschung, empirische Methoden Annette Kleinfeld, Dr. phil., geb. 1963; Studium der Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften in Karlsruhe und München; promoviert in München mit einer Arbeit über ethisch orientierte Unternehmens- und Personalführung; Gründungsmitglied des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik; Vorstandsmitglied im European Business Ethics Network (EBEN); Mitarbeit im Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover (199598); seit 1998 Leiterin des Bereichs “Corporate Ethics und Wertemanagement” bei einer Hamburger Unternehmensberatung Michael Kranzusch, geb. 1961; Studium der Ev. Theologie, Erziehungswissenschaften, Soziologie und Philosophie; Rundfunkausbildung; Schulpastor an den Berufsbildenden Schulen in Lüneburg, Schwerpunkt Wirtschaft und Verwaltung Otto Lange, geb. 1937; Landessozialpfarrer in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers mit Auftrag beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, seit 2001 im Ruhestand Ingrid Lukatis, Dr. rer. pol., geb. 1943; Diplom-Sozialwirtin, Professorin, Leiterin des Pastoralsoziologischen Instituts in der Ev. Fachhochschule Hannover. Arbeitsfelder: Aus- und Fortbildung von PastorInnen und anderen kirchlichen MitarbeiterInnen, Gemeindeberatung, Organisationsentwicklung in der Kirche, empirische Forschung im Bereich der Kirchen- und Religionssoziologie Lourens Minnema, Dr. phil., geb. 1960; Studium der Theologie, Religionssoziologie u. -philosophie in Kampen, NL, und Birmingham, GB, 1978-85; Promotion im Bereich Vergleichende Religionswissenschaft 1990 in Kampen; Forschungsaufenthalt in Kyoto, Japan; Lehrtätigkeit in Butare, Ruan281 da, 1992-94, Dozent für Vergleichende Religionswissenschaft an der Freien Universität in Amsterdam Hans-Jürgen Pabst, geb. 1958; Studium der Ev. Theologie, Berufschulpastor, Beauftragter im Ev. Schulpfarramt in der Stadt Hannover für Fragen der Wirtschaftsethik, Sprecher der Regionalgruppe Hannover des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik, Agenda 21-Beauftragter im Stadtkirchenverband Hannover, 2. Sprecher der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft Hans-Hermann Tiemann, Dr. theol., geb. 1957; Studium Ev. Theologie in Hamburg, Tübingen, Göttingen und Atlanta (USA), klass. Philologie (Latein) in Bielefeld; Mitarbeit im Lutherregister, Tübingen (1983-88); Promotion in Tübingen (1989); Pastor in Wissingen bei Osnabrück Jan Tillmann, geb. 1938, Dr. phil.; Professor für Pädagogik an der Ev. Fachhochschule Hannnover; Ausbilder für pädagogisches Rollenspiel 282