Mensch und Molekül - Universität Zürich
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magazin Die Zeitschrift der Universität Zürich Nummer 2, 20. Jahrgang, Mai 2011 Mensch und Molekül Die Humanphysiologie verbindet Medizin und Biologie ab Seite 24 Wie die Alten sungen Was passiert im Hirn von Zebrafinken, wenn sie zwitschern lernen? Seite 12 Kulturkampf In Russland wird der zeitgenössischen Kunst der Prozess gemacht Seite 20 Antibabypille & LSD Roger Alberto über die Kulturleistungen der Chemie Seite 52 Geben Sie Plaque keine Chance! Waterpik – gesündere Zähne ein Leben lang! Mit der hydrodynamischen High-Tech Schallzahnbürste Waterpik Sensonic Professional SR 1000E und der Munddusche (Water Flosser) von Waterpik wird der gefährliche Plaque-Biofilm wirksam entfernt. 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Das Dossier dieses Heftes zeigt exemplarisch, wie humanphysiologische Forschung an der UZH funktioniert. Und es werden junge Forschende porträtiert, die an der Grenze zwischen Naturwissenschaften und Medizin arbeiten. Im Interview diskutieren der ZIHP-Vorsitzende Max Gassmann und der Direktor des Collegium Helveticum Gerd Folkers über integrative und interdisziplinäre Forschung am Menschen. Weiter in diesem Heft: 2011 ist das Jahr der Chemie. Das Fach nimmt dies zum Anlass, um auf sich aufmerksam zu machen. Im Interview erklärt Roger Alberto, Professor für Anorganische Chemie an der UZH, dass die Chemie unser Leben viel stärker beeinflusst, als es auf den ersten Blick erscheint: «Wir haben Medikamente entwickelt, Kommunikationstechnologien, Textilien, Farben. All das wäre ohne die Chemie undenkbar.» Für die Zukunft sieht Alberto ein grosses Potenzial bei der Erzeugung und Speicherung von Energie (S. 52). Die Deutschschweizer und die Westschweizer trennt nicht nur die Sprache. Sie haben oft auch andere Werte. Das zeigt sich etwa bei der Haltung gegenüber der Arbeit. So sind die Romands länger arbeitslos. Unter anderem auch, weil sie sich weniger selbst um eine Stelle bemühen als ihre Compatriotes ennet der Saane, wie die Forschung des Ökonomen Josef Zweimüller belegt (S. 18). Wir wünschen eine inspirierende Lektüre, Ihre unimagazin-Redaktion. Thomas Gull, Felix Würsten 24 Woraus wir gemacht sind – Der Fotograf Michel van Grondel hat Manifestationen chemischer Elemente fotografiert, aus denen der menschliche Körper besteht. 26 Schweiss ohne Preis Höhentraining hat nicht die Wirkung, die ihm bisher zugeschrieben wurde. Von Thomas Gull 30 Labor & Kraftraum Junge Forschende zwischen Naturwissenschaften und Medizin. Von Felix Würsten 35 Das gute Cholesterin High Density Lipoproteine könnten vor Diabetes und Arteriosklerose schützen. Von Felix Würsten 38 Innovative Symbiose Gerd Folkers und Max Gassmann über integrative und interdisziplinäre Forschung. 42 Aus dem Gleichgewicht Hirnleistungsstörungen wie ADHS sind die Folge fehlender Balance im Gehirn. Von Katja Rauch 45 Stillen macht gesund Die Muttermilch beeinflusst, welche Bakterien sich im Darm ansiedeln. Von Theo von Däniken Titelbild: Der Mensch besteht zu 0.006 % aus Eisen. Es macht unser Blut rot und ist für Säugetiere lebensnotwendig. Eisen hat unsere Kultur geprägt wie kein anderes Element. Bild: Michel van Grondel magazin 2/11 3 Inserat Unimagazin 19.8.2010 Sie haben es in Ihrer Karriere weit gebracht − die UFL bringt Sie weiter! Studieren an der UFL in Liechtenstein •berufsbeglitende Ausbildung •statla hci und teni tiarn lano tenakre scbA üsse lh •hocqualifizierte Lehrkäfte •persönliche Atmosphäre Medizinisch-Wissenschaftliche Fakultät •Doktoratsstudium. r D scient. med. und MD-Ph (Medizinische Wissenschaft) Seite 1 Studentenrabatt SchülerInnen, StudentInnen und Lehrbeauftragte essen gegen Vorweisung ihrer Legi 20% günstiger Wir sind sieben Tage in der Woche für Sie da: Ristorante FRASCATI Zürich, Bellerivestrasse 2, Tel. 043 / 443 06 06 Rechtswissenschaftliche Fakultät •Doktoratsstudium. r D iur. 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Luz er n Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme über unsere Website unter der Rubrik Stellen/Karriere oder per Mail auf [email protected]. Karl Steiner AG Hagenholzstrasse 60 CH-8050 Zürich T +41 44 305 22 11 www.steiner.ch Basel Ber n S t. Gallen Lausanne Genf Essay Christoph Riedweg über Pythagoras und seine heutigen Adepten Die Welt als Zahl Wer kennt ihn nicht, Pythagoras von Samos? Wie Orpheus, Platon und Aristoteles gehört er zu den Figuren aus der Antike, die zum festen Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden sind, von denen mehr oder weniger alle eine zumindest vage Vorstellung haben. Wer den klingenden Namen hört, denkt zuallererst an a2+ b2 = c2, den bekannten und für die Mathematik tatsächlich grundlegenden Satz, demzufolge «im rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse den Quadraten der beiden Seiten gleich ist» (Diog. Laert. 8,12). Doch in der Musik ist Pythagoras genauso zuhause: Er soll als erster die Zahlenhaftigkeit der Grundkonsonanzen Oktave, Quinte, Quarte erkannt und diese wichtige Einsicht auf den Kosmos übertragen haben. Eine faszinierende Vorstellung: die Welt als wohlgeordnetes Ganzes (dies meint das grichische Wort kosmos), welches nach dem gleichen Bauprinzip wie die musikalischen Konsonanzen strukturiert ist und deshalb eine herrliche Harmonie erklingen lässt. Kein Wunder hat die pythagoreische Idee der Sphärenharmonie über die Jahrhunderte hinweg die Phantasie angeregt, über Mittelalter, Renaissance und frühe Neuzeit bis heute. Mit «harter» Wissenschaft wie dem Satz des Pythagoras hat das vielleicht bereits nicht mehr so viel zu tun – auch wenn wir nicht vergessen sollten, dass beispielsweise ein Johannes Kepler, Begründer der klassischen Naturwissenschaft, aus echt pythagoreischer Begeisterung heraus sein 3. Gesetz über die Planetenbewegungen entdeckt hat: Er wollte nichts anderes als der Harmonie der göttlichen Schöpfung auf die Spur kommen. Von Kepler lässt sich über Leibniz eine Linie zum so genannten «harmonikalen Pythagoreismus» ziehen, der vor allem durch den 1933 in die Schweiz emigrierten Humperdinck- und Schönbergschüler Hans Kayser entwickelt wurde und dem auch der 2007 verstorbene Zürcher Architekt André Studer zuzurechnen ist, der seine Bauten unter Zuhilfenahme des Monochords entwarf. Endgültig in die Ecke der Esoterik scheinen Pythagoras andere packende Ideen zu rücken wie die Annahme, dass alles Lebendige verwandt ist 48 magazin 2/11 und die menschliche Seele auch in tierische Lebewesen eingehen kann. Vegetarismus ist die natürliche Konsequenz daraus, und noch heute beruft sich die vegetarische Bewegung daher gerne auch auf Pythagoras als ihren Ahnherrn. * Wer aber war er denn eigentlich, dieser Pythagoras von Samos, von dem eine so nachhaltige Faszination ausgeht? Was können wir aus moderner Sicht tatsächlich über ihn und seine Lehren wissen? Ein Klassischer Philologe wählt zur Beantwortung dieser Fragen den Weg über die Texte und beginnt mit der – heute durch elektronische Textcorpora erleichterten – Sammlung und Auswertung der griechischen und lateinischen Originale. Nur, die literarische Überlieferung hat ihre Tücken. So fliessen die Quellen umso reich- In der Schule des Pythagoras war die «Zahl» Prinzip und Urstoff aller Dinge. licher, je weiter wir uns von Pythagoras’ Lebenszeit (ca. 570 bis in die 80er-Jahre des 5. Jh. v. Chr.) entfernen, und zu den meisten Punkten finden sich ganz widersprüchliche Äusserungen. Erschwerend kommt hinzu, dass Pythagoras im Laufe der Zeit zunehmend legendenhaft verklärt und von verschiedensten Seiten, darunter auch Platon, vereinnahmt wurde. Um in dieser verwirrenden Situation den Durchblick nicht zu verlieren, ist es unabdingbar, das geistes- und kulturgeschichtliche Umfeld konsequent mitzuberücksichtigen. Dazu gehört, dass Pythagoras in eine Zeit geboren wurde, in der sich in der Nachbarstadt Milet mit der Ausbildung der ionischen Naturphilosophie intellektuell äusserst Aufregendes tat. Kulturell und zivilisatorisch blühend war auch die unteritalische Stadt Kroton, in die Pythagoras um 530 v. Chr. umsiedelte – angeblich um der Tyrannis des berühmten Polykrates zu entfliehen: Wir hören von äusserst erfolgreichen krotoniatischen Ärzten, und kaum eine Stadt stellte in jener Zeit mehr Olympioniken als eben Kroton. Dieser kulturgeschichtliche Kontext einer wohlhabenden, weit fortgeschrittenen Gesellschaft weckt Zweifel an dem in der Forschung bis heute verbreiteten Bild, welches in Pythagoras fast ausschliesslich so etwas wie einen Guru oder Schamanen, einen archaisch-vorwissenschaftlichen Weisen und Reinigungspriester sehen will. All dies war Pythagoras ohne Zweifel auch. So hat er in Kroton nach seiner Ankunft bald Anhänger und Anhängerinnen um sich geschart und eine einflussreiche politisch-religiöse Lebensgemeinschaft gegründet, in der die Lebensführung jedes Einzelnen durch Speise- und Verhaltensvorschriften, wie wir sie sonst hauptsächlich aus Mysterienkulten kennen, bis in Details minutiös geregelt war. Eine Gemeinschaft auch, zu der nicht alle ohne weiteres zugelassen wurden: Die Aufnahme war mit bestimmten Tests und Auswahlverfahren verbunden. Die pythagoreische Vereinigung, an der sich in der Neuzeit die Freimaurer orientiert haben, weist in dieser Hinsicht die Züge einer Sekte (im religionssoziologisch neutralen Sinn) auf. Dennoch wäre es einseitig, Pythagoras grundsätzlich alles «Wissenschaftliche» abzusprechen. Sein Denken, soweit es sich aus der fragmentarischen Überlieferung noch erschliessen lässt, zeigt vielmehr bei sorgfältiger Textanalyse auch die typischen Züge der progressiven zeitgenössischen Naturphilosophie. Wie die Milesier Anaximander und Anaximenes und andere Vorsokratiker scheint auch ihn ein unbändiges Wissenwollen (gr. historíe) und das neugierige Fragen nach den «Ur-Anfängen», den Prinzipien (gr. arché, lat. principium) aller Dinge umgetrieben zu haben. Aber anstelle von «Luft», «Wasser und Erde», des «Feuers» oder des (stofflich gefassten) «Unbegrenzten» (ápeiron), trat in der Schule des Pythagoras die «Zahl» als Prinzip beziehungsweise als (noch immer materiell verstandener) Urstoff: Aus Zahl sind alle Dinge dieser Welt (auch der Himmel) geworden, und aus Zahl werden sie weiterhin bestehen – so die bis heute faszinierende Idee. «Alles aber gleichet der Zahl», wie es in einem berühmten Halbvers heisst. Dabei blieb die naturphilosophische Erklärung – und das ist uns bereits wieder fremder – bei den Pythagoreern aufs Engste mit mystifizie- renden Tendenzen verbunden. So wurden Zahlen teilweise mit Gottheiten gleichgesetzt und religiös verehrt (etwa 7 = Athena, da die Sieben so etwas wie eine «parthenogenetische» Primzahl ist, aus der sich keine der ersten zehn Zahlen generieren lässt). Aufgrund struktureller Analogien wies man den Zahlen bestimmte Eigenschaften und geheimnisvoll wirkende Kräfte zu. Eine besondere Stellung nahm die «Vierheit» (gr. tetraktyvs) ein, das heisst. die Reihe der ersten vier Zahlen. Addiert man 1-2-3-4, so ergibt sich die als «vollkommen» betrachtete Zahl 10, und als Zählsteine (psêphoi) angeordnet bilden sie das «vollkommene» gleichseitige Dreieck. Zusätzlich enthält diese «Vierheit» auch die Proportionen der musikalischen Grundkonsonanzen in sich (2 : 1, 3 : 2, 4 : 3). In einem alten pythagoreischen Spruch wird sie daher mit der Harmonie der Sirenen gleichgesetzt – das heisst mit der Sphärenharmonie, sind doch auch bei Platon die Sirenen, die den einzelnen Gestirnen beigegeben sind, für die kosmische Harmonie verantwortlich. * Es ist gewiss diese überraschende Verbindung von Naturlehre und mythisch-religiöser Welterklärung, welche schon bei den Zeitgenossen des Pythagoras Irritationen ausgelöst hat: «Aufgeklärte» Denker wie Xenophanes und Heraklit haben sich lustig über seine Ansichten gemacht und ihn generell als üblen Scharlatan verunglimpft. Ganz anders seine Anhänger: Diese schrieben ihrem Meister nach dem Zeugnis des Aristoteles einen übermenschlichen Status zu und verwiesen zur Bestätigung auf verschiedene Wundertaten, darunter die Vorhersage von Erdbeben, die Kommunikation mit Tieren und sein Vermögen, kranke Freunde zu heilen. Die Reaktion der Umgebung auf Pythagoras war also äusserst gegensätzlich. Damit erweist er sich als typischen Charismatiker im Sinne des modernen Religionssoziologen Max Weber. Für Charismatiker ist es allgemein charakteristisch, dass sie bei Aussenstehenden in der Regel auf mehr oder weniger schroffe Ablehnung stossen: «Gegenüber einem Führer, dessen Charisma wir nicht anerkennen, sind wir nicht gleichgültig, sondern neigen dazu, eine feindselige oder verächtliche Einstellung anzunehmen: Er ist für uns ein Betrüger oder ein Spinner» (Boudon/Bourri- caud) – genauso hat Heraklit über Pythagoras geurteilt. Die Anhänger des Pythagoras dagegen betonten seine besondere Nähe zum «griechischsten» aller Götter, zu Apollon, und sahen in ihrem Meister fast schon dessen Reinkarnation. Charismatiker erscheinen ihren Anhängern nach Weber stets als «übernatürlich», «übermenschlich» oder wenigstens «ausseralltäglich», und ihre charismatische Lehre vermag das Dasein der Gefolgsleute «in verschiedenste Richtungen sinnhaft auszuleuchten» (Lipp), wofür es im Pythagoreismus ebenfalls zahlreiche Beispiele gibt. * Pythagoras ist wohl auch aus moderner Sicht zunächst ein eher befremdliches Phänomen: Das eigenwillige Zusammengehen von rationaler und irrationaler Deutung entspricht kaum unserem Lebensgefühl, unserer Selbsteinschätzung. Und doch, um kühn einen Bogen in die moderne Lebenswirklichkeit zu schlagen: Stellt sich die Situation heute tatsächlich so viel anders dar? Um ein Als Politberater würde Pythagoras vermutlich auch heute reüssieren. Beispiel zu geben: In Politik und Ökonomie müssen die Führungseliten regelmässig Entscheidungen ausserordentlicher Tragweite unter Bedingungen der Unsicherheit treffen. Sie nehmen dabei nicht selten Zuflucht zu Beratungsfirmen, die mit Handlungsanweisungen und Lösungsmodellen arbeiten, welche alles andere als ausschliesslich rational fundiert sind, sondern oft – und gezwungenermassen – emotionale, wenn nicht esoterische Elemente einschliessen. Damit soll nicht der florierende Bereich des Consultings verunglimpft werden, deren Vertreter übrigens von aussen betrachtet einer pythagoreischen Bruderschaft zuweilen nicht ganz unähnlich scheinen (man denke nur an das McKinsey-Netzwerk in der Schweizer Wirtschaft um die Jahrtausendwende). Parallelen wie diese oder auch die geradezu «mathe-magische» Begeisterung für Algorithmen und die Digitalisierung unserer Welt – nach Einschätzung von Piergiorgio Odifreddi soll sich in naher Zukunft selbst das menschliche Verhalten mathematisch erfassen lassen … – dürften jedoch dazu angetan sein, uns vor vorschneller Überheblichkeit zu bewahren. Zumindest als Politberater würde Pythagoras vermutlich auch heute reüssieren. Dass er zu seiner Zeit in diesem Gebiet ausserordentlich erfolgreich agierte, sagen die Quellen ausdrücklich: Sogleich nach seiner Ankunft in Süditalien soll er mit seiner charismatischen Erscheinung und mit ethisch-politischen Reden auf die dortige Bevölkerung mächtig Eindruck gemacht haben. Der Stadtrat von Kroton überliess ihm daher die einzelnen Gesellschaftsgruppen zur gründlichen moralischen Schulung, und auch die umliegenden Städte sollen Pythagoras’ Rat gesucht haben (nach der Legende hat Pythagoras’ Lehre über Numa Pompilius, den zweiten König Roms, auch auf die römische Gesetzgebung eingewirkt). Die Ratschläge, die Pythagoras der krotoniatischen Elite erteilt haben soll, enthalten nicht wenig, was bis heute bedenkenswert ist. Eine Leitidee seines politischen Handelns war die vermutlich zahlenphilosophisch und kosmologisch untermauerte harmonía unter den verschiedenen sozialen Gruppen: eine harmonische «(Zusammen-)Fügung» also, welche den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen sollte. Dass der richtige Massstab (logismós) Zwist beendet und Eintracht mehrt sowie die Kluft zwischen arm und reich überbrücken hilft, hält der politisch besonders erfolgreiche Pythagoreer und Platonfreund Archytas von Tarent ausdrücklich fest. Er scheint im Übrigen nicht bei zahlenphilosophischen Theorien stehen geblieben zu sein, sondern eine proportionale Umverteilung zwischen Armen und Reichen in seiner Heimatstadt realisiert und damit wesentlich zur sozialen Kohäsion beigetragen zu haben. Christoph Riedweg ist Professor für Klassische Philologie (Gräzistik) am Klassisch-Philologischen Seminar, [email protected] magazin 2/11 49 Porträt Christine Kaufmann Juristin im Führerstand Als Studentin lernte die Rechtsprofessorin Christine Kaufmann, dass eine gute Juristin zweifeln muss. Heute arbeitet sie für das «Kompetenzzentrum Menschen rechte», und die Studierenden liegen ihr zu Füssen. Von Marita Fuchs Sie wollte Lokomotivführerin werden. Die roten Zugmaschinen, die unbegrenzt scheinende Freiheit im Führerstand – das faszinierte sie. Welche Enttäuschung, als die Zehnjährige erfuhr, dass nur Männer Lokführer bei den Schweizerischen Bundesbahnen werden konnten. Mit der Grossmutter zusammen schrieb sie einen Brief, wollte wissen, warum das so ist. Und es kam auch ein Brief zurück mit einer freundlichen aber unverbindlichen Erklärung. Noch heute ist sie der Grossmutter dankbar, dass sie ihre Empörung ernst genommen und mit ihr zusammen in Worte gefasst hat. Die Grossmutter war ein prägendes Vorbild: Selbstbewusst, mit beiden Beinen auf dem Boden und immer da, wenn sie gebraucht wurde. Sie hört auch sonst viel von Ungerechtigkeit, am Mittagstisch in der Wohnung in Schwamendingen, einem Zürcher Aussenquartier. Der Vater ist bei der Fremdenpolizei und erzählt seinen beiden Töchtern vom Arbeitsalltag, von Flüchtlingen und warum Menschen aus Ungarn fliehen müssen. Christine Kaufmann ist nicht Lokführerin geworden, sondern Professorin für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Universität Zürich. Dieses Semester hat sie ein Sabbatical. Im Freizeitlook sitzt sie in ihrem Büro an der Rämistrasse. Sie trägt eine indische Bluse mit dezenten glitzernden Pailletten. «Ich geniesse diese vorlesungsfreie Zeit», sagt sie. Und fährt lächelnd fort: «In meinen Vorlesungen auf der Bachelorstufe liegen mir die Studierenden buchstäblich zu Füssen.» Die Hörsäle sind überfüllt, auf Treppen und auf dem Boden ist fast jeder Platz belegt. Persönliche Kontakte sind schwierig. Umso mehr suche sie Wege, um ihre Vorlesungen interaktiv zu gestalten und mit den Studierenden auch ausserhalb des Hörsaals, ins Gespräch zu kommen. Desinteresse macht sie ratlos. «In einer Vorlesung im vergangenen Semester sass ein Student im Hörsaal», erzählt sie, «er hatte Kopfhörer auf und las ‹20 Minuten›. Ich unterbrach meinen Vor- trag, ging zu dem jungen Mann, der mich erst gar nicht bemerkte, und schlug ihm vor, doch besser zu gehen, um ungestört von der Vorlesung zu lesen.» Über die verblüffende Antwort «Sie stören mich gar nicht», lacht sie heute noch. 50 Bild: Jos Schmid magazin 2/11 Geklauter Bikini Geprägt von ihren Eltern und ihrer Grossmutter, die alle nicht studieren konnten, entschied sie sich für ein Jurastudium an der Universität Zürich. Die Studienbedingungen waren ganz anders, als ihre heutigen Studierenden es erleben. Sie war eine von etwa 200 Erstsemestrigen. Doch schnell zweifelte sie, ob sie das richtige Fach gewählt hatte. «Mein Rechtsempfinden hat sich nicht immer mit dem gedeckt, was Gerichte entschieden.» Bei einer Übung geriet sie per Zufall in eine «Jungmanager-Aktenkoffergruppe», nett, aber nicht ihre Welt. «Die Kollegen wussten auf zählte seine Geschichte: Die Mutter ist gestorben, der Vater seither oft müde und traurig. Die Zehnjährige versucht neben der Schule dem jüngeren Bruder die Mutter zu ersetzen und führt den Haushalt. Als sie von der Familie einer Freundin eingeladen wird, mit ihr nach Italien in die Badeferien zu fahren, stimmt ihr Vater sofort zu, aber sie schämt sich, ihn um Geld für einen Bikini zu bitten, hat er doch so viele andere Sorgen. Die Jugendanwältin habe damals sehr feinfühlig das Mädchen befragt und die Geschichte hervorgelockt. Sie habe ihr dann eine Hilfe organisiert, damit sie im Haushalt entlastet sei. «Gott sei Dank hat das Mädchen damals den Bikini geklaut, sonst wäre ihre Geschichte nie herausgekommen und man hätte ihr nicht helfen können.» Erlebnisse wie dieses waren es, die Christine Kaufmann davon überzeugt haben, für das Recht im weitesten Sinne zu kämpfen. Die 48-Jährige erzählt lebhaft und gestenreich mit einer jugendlichen engagierten Stimme. Sonnenlicht fällt durch die grossen Fenster, direkt auf ihren perfekt aufgeräumten Schreibtisch. Menschenrechte und Geschäft Christine Kaufmann kommt auf die Radiosendung zu sprechen, an der sie am Abend zuvor beteiligt war. Für die Medien ist sie zur gefragten «Mein Rechtsempfinden hat sich nicht immer mit dem gedeckt, was Gerichte entschieden.» Christine Kaufmann alles eine Antwort, alles war klar. Damals habe ich gedacht, das kann ich nicht, da bin ich falsch.» Zwei ihrer damaligen Professoren, Dietrich Schindler und Manfred Rehbinder, machten ihr Mut, sprachen von ihrem eigenen Ringen um gerechte Lösungen und bestätigten der jungen Studentin, dass ein guter Jurist zweifeln müsse. Schliesslich beseitigte ein Praktikum bei der Jugendanwaltschaft letzte Bedenken. Die Jugend anwälte liessen die junge Studentin bei Ortsterminen dabei sein und zogen sie zu Einvernahmen bei. An einem Tag wurde ein junges Mädchen vorgeladen. Zehn Jahre alt, verunsichert, stand es vor der Jugendanwältin. Ein Kaufhausdetektiv hatte es beim Stehlen erwischt: Er fand einen bunten Bikini in ihrer Einkaufstasche. Das Mädchen er- Expertin geworden, seit sie als Professorin für das «Kompetenzzentrum Menschenrechte» arbeitet. In der Sendung ging es um die militärische Intervention in Libyen und die Frage, ob diese völkerrechtlich vertretbar sei. Ihre Stimme hebt sich, sie klopft resolut auf den Tisch. «Der Moderator unterbrach die Gesprächsteilnehmer mehrmals. Er wollte sein Konzept durchziehen. Ein vertieftes Gespräch war so nicht möglich.» Es ärgert sie, wenn etwas nicht gründlich angegangen wird. Der Bereich «Wirtschaft und Recht» des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte wird von Christine Kaufmann zusammen mit Hans Peter Wehrli von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät geleitet. Das Zentrum will die nationalen Kapazitäten zur Umsetzung der magazin 2/11 51 Interview Roger Alberto zum Jahr der Chemie Menschenrechte stärken und die Schaffung einer unabhängigen Nationalen Menschenrechtsinstitution vorbereiten. «Die Wirtschaft kommt mit allen Lebensbereichen in Berührung. Wer Menschenrechte realisieren will, kommt an der Wirtschaft nicht vorbei», sagt Kaufmann. Das Zentrum will Unternehmen darin unterstützen, sozial verantwortlich zu handeln. Grossunternehmen sind hier teilweise schon sehr weit. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) haben aber nicht die Ressourcen, herauszufinden, wo Menschenrechte in ihren Geschäften eine Rolle spielen. KMU bei ihren Abklärungsarbeiten zu helfen, ist eine der Aufgaben des neuen Zentrums für Menschenrechte. Am richtigen Ort Vertiefte Kenntnisse der Wirtschaft erwarb sich Christine Kaufmann nach ihrem Studium bei ihrer Arbeit für die Schweizerische Nationalbank. Von 1991 bis 2000 vertrat sie als Mitglied einer EFTA-Expertengruppe die Nationalbank in den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum. Danach leitete sie in der Nationalbank als Direktorin den Personaldienst. Diese Aufgabe – es galt die Arbeitsbedingungen rechtlich neu zu gestalten und weit reichende Restrukturierungen einzuleiten – kostete sie viel Kraft. Hinter Frühpensionierungen und unfreiwilligen Stellenwechseln, die sie umsetzen musste, standen persönliche Schicksale, die ihr nahe gingen. Sie selbst hatte sich kurz vorher auf eine neue Situation einstellen müssen: Die Diagnose einer chronischen Gelenkserkrankung hatte die privaten Lebenspläne der damals jungen Frau erschüttert. Als sie ihre Aufgabe bei der Nationalbank erfüllt sah, beschloss sie deshalb, das zu tun, was sie schon lange wollte: Zurück an die Universität, um sich endlich wieder vertieft mit juristischen Inhalten auseinanderzusetzen. Sie zog in die USA und schrieb ihre Habilitation über Globalisierung und Arbeitsrecht. «Jetzt bin ich an der Universität am richtigen Ort», sagt Christine Kaufmann. Was sie immer noch gerne macht, ist Bahnfahren. Heute mit Lokführerinnen. «Chemie ist eine kreative Wissenschaft» Chemiker gleichen Künstlern, die aus ihrer Fantasie neue Objekte erschaffen, sagt Roger Alberto im Interview. Und er erklärt, weshalb das Image der Chemie korrigiert werden muss. Von Felix Würsten und Thomas Gull Herr Alberto, die Universität und die ETH Zürich führen im Juni unter dem Motto «Kulturleistung Chemie» verschiedene Veranstaltungen zum internationalen Jahr der Chemie durch. Worin besteht die Kulturleistung der Chemie? Roger Alberto: Wir sind heute in der Lage, ein relativ kultiviertes Leben zu führen. Das verdanken wir Errungenschaften, die wir uns im Laufe der Zeit erarbeitet haben. Wir haben Medikamente entwickelt, Kommunikationstechnologien, Textilien, Farben und vieles mehr. All das wäre ohne Beiträge der Chemie undenkbar. Das ist die indirekte Kulturleistung der Chemie. Daneben gibt es auch noch eine direkte Kulturleistung: In der Chemie findet ein Denkprozess statt, der demjenigen von Kulturschaffenden sehr ähnlich ist. Bildhauer oder Maler erschaffen aus ihrer Fantasie heraus Objekte. Chemiker machen oft etwas Ähnliches: Sie kreieren neue Verbindungen, häufig ohne zu wissen, ob diese Verbin dungen später einen konkreten Nutzen haben werden. Der französische Chemiker Marcelin Berthelot brachte es auf den Punkt: «La chimie crée son objet.» Kontakt Prof. Christine Kaufmann, [email protected] 52 magazin 2/11 Bilder: Jos Schmid Ist die Chemie eine speziell kreative Wissenschaft? Alberto: Ich denke, ja. Ingenieure zum Beispiel sind in diesem Sinne nicht kreativ, da sie bei ihrer Arbeit stets von etwas ausgehen, das bereits bekannt ist. Allerdings ist es auch in der Chemie zunehmend so, dass alles einem bestimmten Zweck dienen sollte. Wird die Kreativität durch diese Entwicklung eingeschränkt? Alberto: Der Zweck zeichnet eine bestimmte Spur vor, und damit wird die Kreativität eingeschränkt. Wenn heute erwartet wird, dass auch die Grundlagenforschung einen Nutzen hat, beeinflusst dies die freie Forschung. Das ist nicht zu vermeiden. Sie haben es bereits gesagt: Die Chemie hat wichtige Beiträge für unsere Gesellschaft geleistet. Wird diese Leistung in der Öffentlichkeit angemessen wahrgenommen? Alberto: Das ist eines unserer Hauptprobleme: Die Chemie wird in der breiten Öffentlichkeit nur sehr beschränkt wahrgenommen. Man nimmt sie vor allem dann wahr, wenn etwas schief läuft, wenn es knallt und stinkt. Die meisten Menschen bringen Chemie mit Pharma in Verbindung, mit Dünger, Fungiziden und giftigen Stoffen, aber kaum mit Alltagsdingen wie Handybildschirmen. Im Jahr der Chemie soll dieses Bild nun korrigiert werden? Alberto: Es ist natürlich nur einen Tropfen auf den heissen Stein, was wir da machen können, aber immerhin: Wir haben die Gelegenheit, uns der Öffentlichkeit zu zeigen. An den Gymnasien gehört Chemie nicht gerade zu den beliebtesten Fächern. Woran liegt das? Alberto: Chemie wird häufig als schwierig empfunden, genauso wie Physik. Die Biologie hat es da einfacher, da man in diesem Fach viel auswendig lernen kann. In der Chemie und der Physik Wenn das Fach in den Mittelschulen einen so schweren Stand hat: Haben Sie Probleme, genügend Studierende zu finden? Alberto: Nein, wir verzeichnen in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die jungen Leute wieder vermehrt «etwas Solides» studieren wollen. Zum anderen haben wir unsere Sichtbarkeit gegen aussen verbessert. Am diesjährigen Fakultätstag beispielsweise haben viele Leute an den Rundgängen durch unsere Labors teilgenommen. Solche Veranstaltungen wirken offenbar nachhaltig. Gegenwärtig haben wir sogar zu viele neue Studierende. Für das Praktikum hatten wir im letzten Semester zu wenig Laborplätze. Die Wahrnehmung bei den Jugendlichen kann demnach positiv beeinflusst werden? Alberto: Auf jeden Fall. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass sich die chemischen Institute an der Universität in den letzten Jahren kontinuierlich «Die Chemie wird in der breiten Öffentlichkeit vor allem dann wahrgenommen, wenn etwas schief läuft, wenn es knallt und stinkt.» Roger Alberto hingegen müssen die Schülerinnen und Schüler gewisse Zusammenhänge verstehen. Wir sind gegenwärtig daran, zusammen mit der ETH Zürich die Ausbildung der Chemielehrer zu verbessern, damit in den Schulen künftig ein moderneres Bild der Chemie vermittelt wird. Mit den heutigen multimedialen Möglichkeiten könnte man die Chemie viel attraktiver präsentieren. verbessert haben. Bei uns herrscht eine gute Arbeitsatmosphäre, und wir machen interessante Forschung. Das ist für die jungen Leute attraktiv. Wie sind denn die Berufsaussichten der Abgängerinnen und Abgänger? Alberto: Im Grossen und Ganzen gut. Alle unsere Abgängerinnen und Abgänger haben nach dem Abschluss umgehend eine Stelle gefunden – wenn auch vielleicht nicht unbedingt dort, wo sie ursprünglich wollten. Die chemische Industrie bietet heute ja nicht mehr massenhaft Arbeitsplätze für Forscher an. Ist die Industrieforschung für die Hochschulen eine ernsthafte Konkurrenz, weil die grossen Firmen viel mehr Ressourcen für die Forschung zur Verfügung haben? Alberto: Die Industrie hat beträchtliche Mittel zur Verfügung, das ist richtig. Gleichzeitig arbeitet sie sehr zielgerichtet. Da können wir an den Hochschulen durchaus mithalten. Zieht sich die Industrie zunehmend aus der Grundlagenforschung zurück? Alberto: Diesen Eindruck habe ich, ja. Die Firmen interessieren sich nur noch für das, was sich kommerziell nutzen lässt. Dadurch entsteht eine Innovationslücke. Wenn wir an der Hochschule ein neues, potenziell interessantes Molekül entdecken, muss dieses in einem zweiten Schritt Zur Person: Roger Alberto (52) ist Professor für Anorganische Chemie. Seine Forschungsgruppe untersucht die Anwendung von Metallen in der Biologie und Medizin für diagnostische und therapeutische Zwecke. Im Zentrum steht das Element Technetium. Ein weiteres Forschungsgebiet ist die Speicherung von Sonnenlicht in chemischen Bindungen. Kontakt: Prof. Roger Alberto, [email protected] magazin 2/11 53 zunächst besser charakterisiert werden. Erst danach kann man es allenfalls einer kommerziellen Nutzung zuführen. Für uns Hochschulforscher ist diese Zwischenphase nicht mehr interessant. Doch wenn die Industrie diese Arbeit auch nicht mehr übernehmen will, entsteht eine Lücke, die schwer zu überbrücken ist. Welches sind denn heute die grossen Forschungsthemen für die Universitäten? Alberto: Die nachhaltige Energieerzeugung wird sicher zu einem wichtigen Thema. Die grosse Frage ist, wie man Sonnenenergie direkt in chemische Energie umwandeln könnte. Wenn es gelingen würde, eine künstliche Photosynthese zu entwickeln, dann wäre das eine ganz grosse Kulturleistung. Nach den katastrophalen Ereignissen in Japan scheint mir klar, dass diese Forschung einen massiven Schub erleben wird. Ein zweites Thema ist die Gesundheit. Unsere Gesellschaft wird immer älter, Krankheiten wie Alzheimer werden zunehmen, entsprechend gewinnt die pharmazeutische Forschung an Bedeutung. Eine dritte Herausforderung ist die Wasserversorgung. Wie können wir die Menschen mit genügend sauberem Trinkwasser versorgen – beispielsweise in Ländern wie Indien, wo die Situation heute sehr prekär ist? Da brauchen wir neue Ansätze, zu denen die Chemie wichtige Beiträge leisten kann. Die chemische Forschung hat in den letzten Jahren einen rasanten technologischen Wandel erlebt. Man kann heute in kurzer Zeit grosse Mengen an Proben analysieren, Moleküle im Computer simulieren oder Datenbanken mit Millionen von Verbindungen 54 magazin 2/11 effizient nach geeigneten Substanzen durchsuchen. Wie hat diese Entwicklung die Forschung verändert? Alberto: Ein zentraler Aspekt der Chemie ist zu wissen, was man eigentlich in der Hand hat. Das ist das A und O: Man macht etwas Neues und schaut dann, was man gemacht hat. Vor zwanzig, dreissig Jahren war das noch ein langwieriger Prozess, heute läuft das meist routinemässig ab. tuition nicht, die es eben auch braucht. Und aus dieser Intuition heraus entsteht letztlich die Kreativität. Alfred Werner war ein extrem intuitiver Mensch, deshalb war er so erfolgreich. Das Problem liegt an einem anderen Ort: Die meisten modernen Maschinen sind Blackboxes. Man schiebt etwas hinein und weiss nicht mehr, was mit der Probe danach geschieht. Jetzt kann man «Die Entwicklung einer künstlichen Photosynthese wäre eine grosse Kulturleistung.» Roger Alberto Man hat also im Prinzip mehr Zeit, um kreativ zu sein, weil man sich nicht mehr mit den täglichen Problemen der Charakterisierung auseinandersetzen muss. Wenn man allerdings in der Literatur liest, wie viel der Schweizer Nobelpreisträger Alfred Werner bereits Anfang des 20. Jahrhunderts verstanden hat, ohne all die ausgeklügelten Maschinen, die wir heute haben, dann ist das schon beeindruckend. Bräuchte es diese Maschinen also eigentlich gar nicht, um gute Chemie zu machen? Alberto: Doch, doch, schliesslich ist nicht jeder so begabt wie Alfred Werner. Macht die moderne Technik nicht etwas denkfaul? Alberto: Nicht unbedingt. Mit der Computational Chemistry etwa können wir die Eigenschaften von Molekülen schon vor der Synthese berechnen. Das erleichtert unsere Arbeit enorm. Aber diese neuen Möglichkeiten ersetzen die In- das, was herauskommt, einfach entgegennehmen – oder man kann es kritisch hinterfragen. Dieses kritische Nachfragen ist auch eine Art Kreativität. Die Chemie hat immer mehr Berührungspunkte zu anderen Fächern, sei es in der Pharmazie, der Energietechnik oder den Materialwissenschaften. Bleibt sie mittelfristig ein eigenständiges Fach? Alberto: Vor fünfzig Jahren konnten die Chemiker noch Moleküle herstellen, ohne zu wissen, ob sie für etwas gut sind. Gerade diese Arbeiten sind heute für uns eine wichtige Inspirationsquelle. Doch Chemie als l’art pour l’art ist heute nicht mehr zeitgemäss. Man arbeitet zielgerichteter und ist daher zwangsläufig darauf angewiesen, interdisziplinär zu arbeiten. Eben, die Forschungsgebiete nähern sich immer mehr an. Alberto: Ja, aber jeder hat nach wie vor seine eigenständige Expertise. Wenn Sie in der Biologie wurde, als Ernährungsprojekt bezeichnen. Denn der künstliche Ammoniak ist die Basis für die Düngerherstellung. Ohne diese Erfindung sähe es heute bitter aus für die Menschheit. Das weiss aber kaum jemand in der breiten Öffentlichkeit. Alberto: Ich mache mir oft einen Spass und frage die Leute, ob sie mir drei grosse Chemiker nennen können. einen bestimmen Prozess auslösen oder unterdrücken wollen, dann brauchen Sie ein Molekül, und dieses Molekül können die Chemiker herstellen, nicht die Biologen. Wenn ich als Chemiker umgekehrt ein Molekül habe, von dem ich glaube, es könnte therapeutisch interessant sein, dann bin ich auf die Biologen angewiesen, um das zu bestätigen. Die Gebiete bleiben selbständig, aber das Interface wird durchlässiger. Wird die Chemie durch diese vermehrte Zusammenarbeit nicht zunehmend zur «Hilfswissenschaft» für die anderen Fachgebiete? Alberto: Das kommt natürlich ganz darauf an, wie man Hilfswissenschaft definiert. Wenn ich als Chemiker ein Molekül herstelle, das Sonnenlicht in Wasserstoff umwandelt, und die Ingenieure nutzen dieses Molekül zur Energiegewinnung, dann ist es doch eigentlich die Chemie gewesen, die diese Technik kreiert hat. Ich finde den Ausdruck «Hilfswissenschaft» daher nicht passend. Die Chemie ist eine Grundlagenwissenschaft, ohne die andere Disziplinen nichts ausrichten können. Die Physik und die Biologie profilieren sich in der Öffentlichkeit mit fundamentalen wissenschaftlichen Fragen. Wo steht da die Chemie? Alberto: Es gibt durchaus wichtige Fragen, die wir Chemiker bearbeiten, etwa die CO2-Abscheidung bei Kraftwerken oder die nachhaltige Energieerzeugung. Aber ein vergleichbares publikumswirksames Projekt wie die Teilchenphy siker am CERN oder die Biologen mit der Entschlüsselung des Genoms haben wir kaum. Eine Konzentration der Kräfte wie in der Teilchenphysik ist in der Chemie auch gar nicht nötig. Alberto: Das ist so. Bahnbrechende Chemie kann man auch im kleinen Labor machen. Wenn Sie ein Molekül finden, das CO2 in Methan umwandelt, dann ist das ein grosser Durchbruch. Doch dazu brauchen Sie nun mal keinen gigantischen Teilchenbeschleuniger. Auf der anderen Seite hätte man mit einem Grossprojekt vielleicht auch mehr Forschungsmittel zur Verfügung? Alberto: Ich könnte mir vorstellen, dass nach der Atomkatastrophe in Japan nun ein solches gros ses Projekt lanciert werden könnte. Bisher fehlte dazu ganz einfach der gesellschaftliche Druck. Im Unterschied zu den Chemikern verwenden die Physiker und Biologen ein bemerkenswertes Vokabular: Sie entschlüsseln die «Bausteine des Lebens» oder suchen nach dem «Gottesteilchen», sie reden von «schwarzen Löchern» und «braunen Zwergen». Das ist alles sehr anschaulich. Alberto: Einverstanden, solche prägnanten Bilder haben wir nicht. Vielleicht sind die Chemiker einfach zu bescheiden. Dabei hätten wir schon Dinge vorzuweisen, die wirklich wichtig sind. Wenn man beispielsweise die Entschlüsselung des Genoms mit einer Verbesserung des Lebens gleichsetzt – woran ich selbst nicht glaube –, dann könnte man genauso gut die Ammoniaksynthese, die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt Wen würden Sie da nennen? Alberto: Einer der wichtigsten ist sicher Fritz Haber, der die Ammoniaksynthese entwickelte. Carl Djerassi, der Erfinder der Antibabypille, gehört ebenfalls zu den grossen Köpfen. Und schliesslich könnte man in dieser Reihe auch Albert Hofmann erwähnen, der als erster LSD herstellte. Diese Chemiker haben unsere Gesellschaft wirklich fundamental verändert. Herr Alberto, besten Dank für das Gespräch. Internationales Jahr der Chemie Die Generalversammlung der UNO hat das Jahr 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie erklärt. Unter dem Slogan «Chemie – unser Leben, unsere Zukunft» werden dazu in der ganzen Schweiz verschiedene Veranstaltungen durchgeführt. An den Aktivitäten beteiligen sich auch die Universität und die ETH Zürich. Sie werden im Juni unter dem Motto «Kulturleistung Chemie» ihre Aktivitäten der breiten Öffentlichkeit näher vorstellen. So können beispielsweise am 18. Juni 2011 die Labors auf dem Campus Irchel besichtigt werden. Am 23. Juni 2011 werden Wissenschaftler der Universität und der ETH Zürich mit geladenen Gästen aus Wirtschaft und Wissenschaft auf Schiffsrundfahrten auf dem Zürichsee über die Chancen und Risiken von Nanomaterialien, über die Kulturleistung Chemie und die Energieformen der Zukunft diskutieren. Und schliesslich findet speziell für Schulkinder der 3. bis 6. Klasse am 28./29. Juni 2011 eine Spezialausgabe der Kinderuniversität zu chemischen Fragen statt. Websites: www.kulturleistung-chemie.ch, www.kinderuniversitaet.uzh.ch magazin 2/11 55 Bücher Darwins langer Atem Darwin deuten: Ein Sammelband gibt vielfältige Einblicke in die Grundlagen der biologischen Forschung und beleuchtet die gesellschaftlichen Implikationen der Evolutionstheorie. Von Tanja Wirz 2009 jährte sich der Geburtstag von Charles Darwin zum 200. Mal. Zudem war es 150 Jahre her, seit er in seinem Hauptwerk «Über die Entstehung der Arten» die Evolutionstheorie dargelegt hatte. Anlässlich dieses Doppeljubiläums fand an der Universität Zürich eine Ringvorlesung statt. Die Beiträge dazu liegen nun unter dem Titel «Darwins langer Arm – Evolutionstheorie heute» in Buchform vor. Der von Heinz-Ulrich Reyer und Paul Schmid-Hempel herausgegebene Sammelband tritt mit grossem Anspruch an. Es will einen Überblick über den aktuellen Wissensstand geben und die Bedeutung der Evolutionstheorie nicht bloss für die Biologie, sondern auch für Medizin, Technik und Kultur, für die Sprachwissenschaften, Philosophie, Ethik und Religion klären. Im Umschlagtext wird versprochen: «Das breite Spektrum an Betrachtungsweisen macht das Buch zu der vielleicht umfassendsten Darstellung des Evolutionsgedankens, die gegenwärtig erhältlich ist.» Gelingt es, diesen Anspruch einzulösen? Knapp die Hälfte des Bandes nehmen Beiträge von Biologen ein, schliesslich gehört die Evolutionstheorie zu den «basics» aller Wissenschaften, die sich mit Lebewesen befassen. Als Auftakt gibt der Zoologe Heinz-Ulrich Reyer eine gut verständliche Einführung in die Theorie und ihre Entstehung. Anschliessend erklärt der Biologe Homayoun C. Bagheri die Voraussetzungen dafür, dass auf der Erde Leben entstehen konnte und fragt, ob es wohl im Weltall noch anderswo Lebewesen gibt. Der Paläontologe Marcelo R. Sánchez-Villagra erläutert, wie mit Fossilien ein «Stammbaum» des Lebens aufgestellt werden kann. Dabei korrigierte er die populäre Vorstellung, der Mensch stamme vom Affen ab: Wir haben bloss einen gemeinsamen Vorfahren. Er hält zudem fest: «Der Mensch ist im biologischen Sinne nicht Vollendung eines stetigen Trends hin zu Höherem.» Die Natur verfolge keinen Plan; evolutionäre Entwicklung bedeutet bloss Anpas- 56 magazin 2/11 sung an bestimmte Umweltbedingungen, und diese ändern sich ständig und damit auch der Selektionsdruck auf die Organismen. Es folgen fünf weitere Beiträge von Biologen: Lukas Keller und Erik Postma erklären, wie Inzucht zu schlecht angepassten Nachkommen führt, Sebastian Bonhoeffer befasst sich mit der Evolution von Krankheitserregern und der Biochemiker Andreas Plückthun erläutert, wie er durch «Evolution im Reagenzglas» biopharmazeutische Wirkstoffe sucht, welche das krankhafte Wachstum von Zellen verhindern sollen. Egoistische Gene und Altruismus Zwei weitere Biologen, Peter Hammerstein und Paul Schmid-Hempel, befassen sich mit einem Thema, das vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie zum Problem wird: Altruismus. Wenn es primär darum geht, zu überleben und möglichst viele Nachkommen zu haben, wie kommt es dann, dass manche Lebewesen anderen helfen? Schmid-Hempel erklärt, dass es sich bei diesen (scheinbar) moralischen Verhaltensweisen um eine Strategie der «egoistischen» Gene handle. Und denen ginge es nicht um das individuelle Überleben, sondern um das der eigenen Art, Herde oder Verwandtschaft. Peter Hammerstein untermauert diese These mit der aus den Wirtschaftswissenschaften stammenden Spieltheorie, die ebenfalls damit zu kämpfen hat, dass sich Spieler in Experimenten nicht immer rational verhalten, sondern Nachteile in Kauf nehmen, um allzu egoistische Mitspieler zu bestrafen. Wie lässt sich menschliches Verhalten mit der Evolutionstheorie begründen? Carel van Schaik und Judith M. Burkart vom Anthropologischen Museum der Universität Zürich geben dazu eine spannende Einführung und zeigen, dass Menschen insofern spezielle Tiere sind, als sie Erfindungen über lange Zeiträume tradieren können. Dass Kulturtechniken wie Werkzeuggebrauch oder das Kochen den Menschen einen evolutionären Vorteil verschafft hat, ist einzusehen. Doch wie steht es um die Kunst? Der Wissenschaftshistoriker Thomas Junker schreibt, auch diese habe eine biologische Funktion, bei der Partnerwahl und beim Erlernen von Kooperation. Ohne moralische Folgen Richtig kontrovers wird es, wenn es um Moral und Religion geht. Dies zeigen die Beiträge von fünf Theologen und Philosophen. Die populäre Tendenz, alles Gesellschaftliche vom Sozialstaat bis zur Geschlechterordnung mit der Evolutionstheorie naturalisieren zu wollen, löst in diesen Kreisen Unbehagen aus. Die Philosophen KlausPeter Rippe und Hans-Johann Glock sind sich einig, dass sich aus Darwins Theorie keine moralischen Folgerungen ableiten lassen. Dass es trotzdem gemacht wird, führt zu Gegenbewegungen, dies zeigt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in seinem Beitrag zum in Amerika verbreiteten Kreationismus, also zur Vorstellung, dass die Evolutionstheorie der christlichen Schöpfungsgeschichte unterzuordnen sei. Hier plädiert niemand für den Kreationismus, doch sowohl der Philosoph Gereon Wolters als auch der Theologe Hans Weder finden, man dürfe Gott oder zumindest die Vorstellung von etwas Heiligem, den Menschen übergeordneten nicht aufgeben. Wie die Evolutionstheorie missbraucht werden kann, beschreibt Hans-Konrad Schmutz: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Darwins Theorie benutzt, um die Forderung nach «Rassenhygiene» und Zwangsmassnahmen im Dienste eines «gesunden Volkskörpers» zu begründen. Es ist ein breites Spektrum, das in diesem Buch ausgebreitet wird. Es bietet anregende Lektüre, obschon für Laien nicht alle Beiträge einfach verständlich sind. Allerdings handelt es sich weniger um einen Überblick, als um einen vielfältigen Einblick in die Forschungsgebiete von Zürcher Naturwissenschaftlern, begleitet von vorwiegend philosophischen und theologischen Kommentaren. Heinz-Ulrich Reyer, Paul Schmid-Hempel (Hg): Darwins langer Arm – Evolutionstheorie heute. vdf Hochschulverlag, Zürich 2011, 288 Seiten, 48 Franken Selbstbestimmte Völker Karneval der Götter Alternative Globalisierung Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein rechtlich-politisches Konzept mit beträchtlichem Sprengpotenzial, wie das Buch von Jörg Fisch, Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an der Universität Zürich, «Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Die Domestizierung einer Illusion» zeigt. Im Namen der Selbstbestimmung haben in den vergangenen 250 Jahren zahlreiche Völker das koloniale Joch abgeschüttelt. In der nach Fischs Lesart ersten Entkolonisierung zwischen 1777 und 1826 befreiten sich zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika von der Herrschaft Englands, später viele lateinamerikanische Staaten von jener Portugals und Spaniens. Nach dem Zweiten Weltkrieg hebelte die Forderung nach Selbstbestimmung nach und nach die kolonialen Machtverhältnisse in den Ländern des Südens aus. Obwohl sich die Entkolonisierung nach 1945 gegen die europäischen Kolonialmächte richtete, wurden die von ihnen gezogenen oft willkürlichen Grenzen weit gehend akzeptiert. Im Gegensatz dazu führte das Selbstbestimmungsrecht nach 1989 zur Implosion der Vielvölkerstaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens. Trotz seiner grossen Wirkungsmacht steht das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf tönernen Füssen. Es wurde zwar 1966 von der Uno im Rahmen der beiden Menschenrechtspakte festgeschrieben. Doch das Völkerrecht definiert nicht, was ein Volk ist. Deshalb gelte: «Volk ist, wer Volk sein will», schreibt Fisch. Diese Einladung zur Selbstermächtigung schafft Probleme. So ist heute nicht absehbar, wohin das Selbstbestimmungsrecht in Zukunft führen wird. Seine konsequente Umsetzung hätte eine weitere Fragmentierung der heutigen Staatenwelt zur Folge. Hellsichtig verweist Fisch auf den utopischen Aspekt der Selbstbestimmungsformel: «Ein Zustand der Welt, in dem jedes Volk einen eigenen Staat bilden darf und jeder Mensch dem Volk seiner Wahl angehören kann, lässt sich zwar denken aber nicht verwirklichen.» Thomas Gull Chinesen verehren den Wein als «Mittel zur Überwindung irdischer Grenzen und Weg in die Transzendenz». Kein Wunder stehen hemmungslose Trinkgelage oft im Zentrum chinesischer Erzählungen. Etwa in einem Rebellenroman aus dem 14. Jahrhundert, in dem ausschweifende Zechereien «eine karnevaleske Verbrüderung der Gesetzlosen – als Stellvertreter für das Volk – symbolisieren». Solche Besäufnisse lassen sich aber auch als Verweis auf die Dekadenz einer auf Kosten des Volkes reich gewordenen Oberschicht verstehen. Die Leseart ist eine Frage des Standpunktes. China ist reich an Geschichten, die ihre Kraft aus dem weiten Feld transzendenter Phänomene im Dunstkreis zwischen Geist und Materie, Leben und Tod oder Natur und Kultur ziehen. Solche Erzählungen sind Teil der chinesischen Erinnerungskultur. Sie dienen als Bindeglied zwischen Tradition, Moderne und Nation. Andrea Riemenschnitter, Professorin für Moderne Chinesische Sprache und Literatur an der Universität Zürich, hat diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet. Darin interessiert sie sich vor allem dafür, wie solche Geschichten in der wechselvollen chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu einer «archetypischen Matrix» wurden; einer Matrix, auf deren Basis die Vorstellungskraft Geschichten stets neu entwirft, erneuert und rekonstruiert. In Riemenschnitters Verständnis sind chinesische Mythen und Geschichten nicht nur Teil der nationalen Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft. Riemenschnitter beschreibt Dutzende mythischer Figuren und Erzählungen mit dem Instrumentarium einer westlich geschulten Sozialwissenschaftlerin und Linguistin, kombiniert mit stupender Kenntnis chinesischer und internationaler Primär- und Sekundärliteratur. Resultat ist ein zwar anspruchsvoller, aber um so faszinierender Einblick nicht nur in die chinesische Literatur und Geschichte, sondern auch in die Bedeutung von Mythen. Roland Gysin Globalisierung prägt nicht nur die Wirtschaft, sondern zunehmend auch soziale Bewegungen, die sich der Vorherrschaft der neoliberalen Markt ideen zu widersetzen versuchen. Mark Herkenrath, Privatdozent für Soziologie an der Universität Zürich, zeigt am Beispiel der Alianza Social Continental (ASC), wie globalisierungskritische Bewegungen auf dem amerikanischen Doppelkontinent erfolgreich zusammenarbeiten. Seit 1997 bildet die ASC eine Koalition verschiedener Organisationen, die sich gemeinsam für die Einstellung der Verhandlungen zum panamerikanischen Freihandelsabkommen Free Trade Area of the Americas (FTAA) einsetzen. Doch ist ein Widerstand gegen die etablierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung nicht aussichtslos? Herkenrath verneint mit einem Verweis auf neogramscianische Theorieansätze. Für Gramsci nehmen die herrschenden Eliten eine hegemoniale Stellung in einer Gesellschaft ein, indem sie neben der wirtschaftlichen Macht und der Verfügungsgewalt über den Staatsapparat auch die Zustimmung einer Mehrheit der Beherrschten besitzen. Diese kulturelle Dimension der Hegemonie bietet einen Ansatzpunkt für einen Wandel: «Kulturelle Führerschaft kann von materiell machtlosen Gruppen immer wieder angefochten und destabilisiert werden.» Im ideellen Fundament der gegenwärtigen Ordnung erkennt Herkenrath Risse, da die Zweifel an den neoliberalen Versprechungen zunehmen. Die Aussichten für eine neue Weltpolitik schätzt er als «heiter bis durchzogen» ein. Zwar seien sich die transnationalen sozialen Bewegungen in der Ablehnung des neoliberalen Globalisierungsprojekts einig, «doch fehlt bislang ein konsensuales Zukunftsprojekt». In seiner brilliant formulierten Studie zeigt der Autor plausibel auf, dass der Neoliberalismus nicht den Endpunkt einer historischen Entwicklung darstellen muss und dass gesellschaftliche Alternativen Realisierungschancen haben. Roman Benz Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Die Domestizierung einer Illusion; C.H. Beck Verlag, München 2010, 384 Seiten, 49.50 Franken Andrea Riemenschnitter: Karneval der Götter. Mythologien, Moderne und Nation in Chinas 20. Jahrhundert; Verlag Peter Lang, Bern 2011, 603 Seiten, 109 Franken Mark, Herkenrath: Die Globalisierung der sozialen Bewegungen. Transnationale Zivilgesellschaft und die Suche nach einer gerechten Weltordnung; VS Verlag, Wiesbaden 2011, 343 Seiten, 55.90 Franken magazin 2/11 57 Schlusspunkt von Simona Ryser Moving bodies (in NYC) Da rennen sie und radeln, alle paar Blöcke, sie rennen in der Luft, jedesmal wird mein Blick angezogen, hinter der Fensterfront am Eck. Second floor. Doch ich gehe weiter, gehe der Avenue lang, über Strasse und Strasse, dann ums Eck und wieder ums Eck. Hier ist rechtwinklige Orientierung angesagt. Auf den grösseren Strassenkreuzungen bleibe ich kurz stehen in der Mitte. Eine Minisekunde stehe ich auf dem Punkt, der von zwei Geraden gekreuzt wird. Egal in welche Richtung ich schaue, immer treffen sich die Linien, an denen die Häuser in die Höhe schiessen in der Unendlichen. Ich kneife die Augen zu und hoffe, einen Horizont zu erkennen: der Fluss, das Meer, ein Schiff, ein Eroberer, ein Indianer. Doch dann blinkt die Ampel rot, die Autos stehen vierreihig gestaffelt und ich muss los. Ich gehe up, das hab ich schnell gelernt. Beim Gehen fällt es mir leichter zu unterscheiden zwischen up and down. Wenn ich allerdings die Subway benütze, stehe ich, gebannt von der schönen Typographie der Buchstaben und Farben, blind vor den Pfeilen und weiss nicht, in welchen Schacht ich hinuntersteigen muss. Downtown oder uptown, it depends, je nach dem, wo ich einsteige. Weil ich nicht stehen und zögern will, lass ich mich mitreissen von diesem Sog, als wärs ein Staubsauger, diese dunklen Löcher und Stiegen, grau und grauer, tiefer und noch tiefer zieht es mich. Unter dieser Stadt muss ein hohles Labyrinth von Tunneln und Gängen liegen. Schliesslich stehe ich gebannt auf dem Perron. Zuerst kommt das Dröhnen, dann der Wind, dann das Brummen, dann die Erschütterung, dann die Lichtreflexe, dann die Subway. Sie füllt das Bild aus, als wäre eine Wand ins Bild geschoben worden. Sie hat kein Anfang und kein Ende und es schaut aus, als wärs ein Kulissenbild. Überhaupt wirkt das Ganze wie eine Filmszene. Die Subway scheint aus Alu, uralt und abgenutzt, und ruckelt hin und her. Die Leute stehen oder 58 Illustration: Gerda Tobler sitzen gedrängt. Eben noch sind sie eilig die Treppen heruntergehastet und kurz bevor die Subwaytüren schlossen ins Innere des Zuges gesprungen. Jetzt schauen sie schweigend auf ihre Schuhspitzen, stehen stumm, setzen sich und sinken zusammen. Sie lassen sich hin- und herschaukeln. Die Subway streicht ein unauffälliges Lullaby über die sinkenden Köpfe. Augen werden schwer, Lider fallen zu. Stumm und schwer wanken die Körper hin und her, zusammengefallen und müde, während der Zug die ganze Eile der müden Körper übernommen hat und zu den nächsten Strassen rast. Next Stop. Ich lasse mich mit einem Pulk Menschen aus der Subway rausdrücken. Ich steige hoch, steige, steige, fahre mit dem hölzernen Elevator und denke einen Augenblick lang an Kojak, war da nicht eine Verfolgung über diese Rolltreppe, dann aber tauche ich auf mit dieser Menschentraube und stehe auf der Strasse. Corner SE, 6th Avenue, 56 Street. Die Hochhäuser kratzen am Himmel, der Wind bläst eisig, die Menschen laufen davon. Das Cellphone am Ohr, die Einkaufstaschen unter den Arm geklemmt, den Kaffee im Pappbecher in der Hand. Ich gehe ein Stück mit und stehe bald wieder mitten auf der Strassenkreuzung. Hier müsste ich doch das Meer sehen, den River, was ist denn am Ende dieser Häuserschlucht?, flirrende Luft in der Ferne, doch dann blinkt es wieder rot. Die Staffel Autos steht schon startbereit, ich renne und mit mir, jetzt sehe ich`s, second floor, hinter der Glasfront des gegenüberliegenden Gebäudes laufen sie wieder an Ort, schweissüberströmt, die Kopfhörer im Ohr, sie rennen und radeln, den Blick auf die schöne unendliche Stadt. Ob sie den Horizont sehen können? Simona Ryser ist Schriftstellerin und Sängerin, zurzeit writer-in-residence am Deutschen Haus der New York University. PUBLIREPORTAGE SEHQUALITÄT = LEBENSQUALITÄT Müde, gereizte Augen? Die Ursache kann eine Überanstrengung Ihrer Augen sein. Mit professioneller Erfahrung und geeigneten Hilfsmitteln können Ihre Augen entlastet werden. Die Sehgewohnheiten haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Die visuellen Anforderungen steigen ständig. Immer mehr wichtige Informationen werden mit den Augen aufgenommen. Heute müssen die Augen oft stundenlang beim Lesen oder am Computer ununterbrochen in die Nähe von 40 cm bis 80 cm fokussieren. Ihre Augenmuskeln erbringen dabei eine Höchstleistung. Müde, gereizte Augen, Kopfweh, Nackenverspannungen und Lichtempfi ndlichkeit können die Folge sein. Bildschirm-Comfortbrillen entlasten die Augen Oft reicht die universelle Gleitsichtbrille bzw. Fern- oder Lesebrille nicht aus, um diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden. So wie ein Paar Schuhe auch nicht allen Anforderungen vom Tanzen bis zum Bergsteigen gerecht wird, lassen sich mit einer einzigen Brille auch nicht immer alle wichtigen Sehaufgaben optimal erfüllen. Für stundenlange Computerarbeit werden Ihre Augen mit der speziell entwickelten Baldinger Optik Bildschirm-Comfortbrille wesentlich entlastet. Vorteile gegenüber einfachen Lesebrillen Lesebrillen mit einem Nahzusatz von +1,5 und höher haben in der Regel einen Schärfenbereich bis zu 66 cm oder noch näher. Mit der Bildschirm-Comfortbrille wird der Schärfenbereich individuell erweitert. Durch den oberen Teil des Glases sehen Sie z. B. bis 80 cm entspannt scharf. Durch den unteren Teil des Glases bis auf ca. 40 cm. So haben Sie den ganzen Arbeitsbereich in der Nähe von 40 cm bis zum Bildschirm in 80 cm optimal abgedeckt. Vorteile gegenüber Gleitsichtbrillen Die Gleitsichtbrille hat sich als AllroundUniversalbrille durchgesetzt und sich trotz einigen Nachteilen für viele als bester Kompromiss bewährt. Ein grosser Nachteil ist die kleine Zone für den Bildschirm und deren Position im Gleitsichtglas. Um den Bildschirm längere Zeit mit der optimalen Korrektur zu betrachten, muss der Kopf oft immer mehr in den Nacken gelegt werden. In dieser Position kann das Blickfeld auf den Bildschirm sehr limitiert sein. Man muss immer «zielen» oder «nachfahren», was aber äusserst unergonomisch und ermüdend ist. Mit der Baldinger Optik Bildschirm-Comfortbrille überblicken Sie den grössten Teil des Bildschirms deutlich mit der optimalen, ermüdungsfreien Sehergonomie. Musik-, Bastel- und Nähbrillen Auch für alle anderen Hobbys und Arbeiten, bei denen Sie einen erweiterten Nahbereich benötigen, gibt es die optimale Baldinger Optik Nah-Comfortbrille. Know-how Mit den von Baldinger Optik speziell entwickelten, bewährten Lösungskonzepten tragen Sie die optimale Baldinger Optik Comfortbrille mit der besten Sehergonomie. So lassen sich Ermüdung und andere Symptome reduzieren und eine grössere Sicherheit erreichen. Wie immer bietet Baldinger Optik auch auf diese Gläser eine Verträglichkeitsgarantie. Mehr Sicherheit durch weniger müde Augen! Weitere Informationen finden Sie unter: www.baldinger.ch, [email protected] Baldinger Optik AG, Eidg. dipl. Augenoptiker Hottingerstr. 40, 8032 Zürich, Tel. 044 251 95 94 Alleestr. 25, 8590 Romanshorn, Tel. 071 463 11 77 Baldinger Optik Sehergonomie Ermüdungsfreies Sehen dank optimaler Sehergonomie von Baldinger Optik. Was ist das Spezielle an den Baldinger Optik Bildschirm-Comfortbrillen? Die Bildschirm-Comfortbrillen ermöglichen Ihnen bei einer natürlichen ergonomischen Haltung ein grosses scharfes Blickfeld auf den Bildschirm. Nach Bedarf ist die Nähe zum Lesen unten im Brillenglas zusätzlich angepasst, um auch dort ein ermüdungsfreies Lesen in ca. 40 cm Entfernung zu ermöglichen. Die Fernkorrektur ist in der Regel in den Bildschirm-Comfortgläsern nicht enthalten. Dies zugunsten der grösseren Schärfezonen für den Bildschirm und zum Lesen. Zum Autofahren sind die BildschirmComfortbrillen im Allgemeinen nicht geeignet, da das allenfalls enthaltene Blickfeld in die Ferne den Anforderungen im Strassenverkehr nicht genügt. Das Besondere der Baldinger Optik Bildschirm-Comfortbrillen ist der erweiterte Sehbereich, der ein relativ grossflächiges Bild in verschiedenen Nah-Abständen ermöglicht. So können Sie ermüdungsfrei in verschiedenen Distanzen lesen. Gleitsichtglas Fernsichtbereich Bildschirmdistanzkorrektion Nahsichtbereich ca. 40 cm Mit der Gleitsichtbrille Um deutlich zu fokussieren, muss durch den unteren Teil des Gleitsichtglases geblickt werden. Dafür ist es nötig den Kopf anzuheben. Die Folge : eine unergonomische, anstrengende Haltung mit Verspannungen von Hals und Nacken. Langfristig kann dies zu Problemen führen. Baldinger Optik Bildschirm-Comfortglas Grössere Schärfezonen für die Bildschirmdistanzkorrektion Nahsichtbereich ca. 40 cm Gutschein im Wert von Fr. 20.– Für die Einmessung und optimale Anpassung Ihrer BildschirmComfortbrille nach der speziellen Baldinger Optik Methode für Fr. 25.– statt Fr. 45.–. Bitte vereinbaren Sie Ihren Termin bei Baldinger Optik in Zürich Tel. 044 251 95 94. Gutschein nicht kumulierbar, gültig bis 30. Juni 2011. Mit der Baldinger Optik Bildschirm-Comfortbrille Bei ergonomischer Haltung wird der Bildschirm grossflächig mit entspannten Augen dauerhaft deutlich gesehen. 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