Nicht nur an Otitis media denken

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Nicht nur an Otitis media denken
Fortbildung
Ohrenschmerzen bei älteren Patienten
Nicht nur an Otitis media
denken
practica 2013 Bad Orb
Dr. med. Fritz Meyer
Facharzt für Allgemeinmedizin, Sportmedizin,
Facharzt für Hals-NasenOhrenheilkunde
86732 Oettingen/Bayern
Kurs Nr. 356
Ohrenschmerzen und
Schwerhörigkeit
Unser Fall
Bei der Untersuchung sind der Tragus
und die retroaurikuläre Umgebung des
rechten Ohres äußerlich zwar unauffällig, aber deutlich druckschmerzhaft. Ein
Trommelfellbefund kann nicht erhoben
werden, weil der rechte Gehörgang nahezu vollständig zugeschwollen ist. Nach
Entnahme eines Abstrichs wird zur Abschwellung ein Tamponadestreifen in
den erkrankten Gehörgang eingelegt, der
mit 70 %igem Isopropylalkohol und einer
Kortisonlösung getränkt ist. Am nächsten Morgen ist der Gehörgang so weit offen, dass im vorderen, unteren Anteil des
entzündlich geröteten Trommelfells eine
kleine Perforation erkennbar wird, aus
der sich putrides Sekret entleert. Unter
dem Bild einer purulenten Otitis media
mit begleitender Entzündung des Gehörganges wird systemisch und topisch mit
einem Gyrasehemmer behandelt. In den
folgenden Tagen kommt es zunächst zu
einer Schmerzreduktion und Minderung
der Otorrhoe, zumal auch die inzwischen nachgewiesenen Pneumokokken
für das eingesetzte Antibiotikum sensi40
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alle Fotos: Meyer
Die 75-jährige Maria H. klagt seit zwei
Tagen über starke, einseitige Gesichtsschmerzen, die hinter dem rechten
Ohr ihren Anfang genommen hätten.
Zudem leide sie unter gleichseitigen Kiefer- und Zahnschmerzen, die sie aber
nicht näher eingrenzen könne. Sie sei
immer ohrgesund gewesen, habe auch
jetzt subjektiv keine Hörminderung auf
dem betroffenen Ohr, keinen Schwindel
und kein Fieber. Jetzt sei sie allerdings
beunruhigt, weil sich aus dem schmerzenden Ohr kräftig Eiter entleere.
Abb. 1: Die 75-jährige Patientin unserer Fallgeschichte mit otogener Fazialisparese rechts
tiv sind. Eine knappe Woche nach der
Erstkonsultation berichtet die Patientin
jedoch von erneuten Ohrenschmerzen
mit einem maximalen Schmerzpunkt
über dem kaudalen Anteil des Mastoids. Außerdem sei ihr aufgefallen, dass
sie die rechte Gesichtshälfte nicht mehr
so richtig bewegen könne (Abb. 1), meningitische Zeichen oder ein Nystagmus
finden sich nicht.
Unter der Diagnose einer otogenen Fazialisparese wird die Patientin umgehend in eine Hals-Nasen-Ohrenklinik
eingewiesen und dort am nächsten Tag
operiert. Wie klinisch schon zu vermuten
war, hatte die Mittelohrentzündung zu
einer Mastoiditis mit Einbeziehung des
N. facialis geführt. Nach der Operation
bilden sich der lokale Ohrbefund und
die Fazialisparese regelrecht zurück.
Fast zwei Monate nach diesem Ereignis
kommt Maria H. erneut sehr besorgt mit
einer rechtsseitigen Otalgie ohne Otor-
rhoe in die Sprechstunde. Sie befürchtet
einen Rückfall, wobei die Beschwerdeschilderung anders klingt: Jetzt sei es
die Region vor dem Ohr und über dem
Kiefergelenk, die ihr Schmerzen bereite, und schon beim Öffnen des Mundes
habe sie erhebliche Einschränkungen.
Tatsächlich sind das rechte Mastoid, der
Gehörgang und das Trommelfell vollkommen reizlos, der gleichseitige Kiefergelenkspalt aber sehr druckschmerzhaft
und die Mundöffnungsweite deutlich
reduziert. Die Vorstellung beim Kieferchirurgen bestätigt den Verdacht:
Die „Ohrenschmerzen“ wurden diesmal
durch eine Irritation des Kiefergelenkes
initiiert und möglicherweise durch eine muskuläre Dysbalance in der Phase
der Gesichtsnervenlähmung ausgelöst.
Entsprechend wurde eine kieferorthopädische Behandlung mit einer Korrekturschiene (Abb. 2) eingeleitet, die zur
nahezu vollständigen Beschwerdefreiheit der Patientin führte.
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Fortbildung
Dasselbe ist nicht das Gleiche
Die vorgestellte Kasuistik bestätigt die
alte Erfahrung, dass ähnliche Symptome
noch längst nicht die gleiche Ursache
haben müssen, auch wenn es vom Betroffenen aufgrund einer zeitlichen Koinzidenz gerne so vermutet wird.
Unter einer Otalgie wird zunächst jeder
im Ohr empfundene Schmerz verstanden. Weil nicht nur im Ohr, sondern
auch weiter vom Ohr entfernt liegende Erkrankungen als Auslöser in Frage
kommen, werden Ohrenschmerzen nach
ihrer vermuteten Herkunft praktischerweise in ohrnahe (otogene) und ohrferne (nicht otogene) Otalgien unterteilt
(Tabelle 1).
Kinder versus Erwachsene
Dabei unterscheiden sich die Ursachen
bei Kindern und Erwachsenen nicht nur
in der Art, sondern auch in der Häufigkeit erheblich. Kindliche Otalgien sind
im hausärztlichen Praxisalltag hauptsächlich otogen, meist als Folge einer
akuten oder rezidivierenden Otitis media, gelegentlich auch als Reizzustand
durch Fremdkörper oder nach Manipulationen.
Beim adulten Ohrenschmerz spielen
akute Mittelohrentzündungen eine eher
nachrangige Rolle. Der Ohrenschmerz
der Erwachsenen ist hälftig [1] durch
strukturelle Läsionen des äußeren Ohres
oder des Mittelohres, mindestens genauso häufig aber auch durch nicht otogene
Auslöser (Tabelle 2) bedingt.
Die Genese nicht otogener Schmerzen
erklärt sich aus der sensiblen Versorgung
des Ohres, die durch vier Hirnnerven (V,
VII, IX, X) und Äste des Plexus cervicalis
(C2, C3) sichergestellt wird. Die möglichen Quellen (Tabelle 1) projizierter
Otalgien sind damit vielfältig und in
weiterführende Überlegungen bei der
Ursachensuche mit einzubeziehen.
Abwendbar gefährliche Verläufe bei
Otalgien
Im Hausarztalltag sind lebensbedrohliche Komplikationen bei akuten Ohrenschmerzen älterer Menschen selten. Wie
unsere Fallgeschichte aber zeigt, können
www.allgemeinarzt-online.de Otalgien nach ihrem Entstehungsort*
ohrnah
(otogen)
ohrfern
(nicht otogen)
•• Ohr
•• Mesopharynx
•• Nase, Nasennebenhöhlen, Nasen­
rachenraum
•• Kiefergelenk
•• Zähne
•• Halswirbelsäule
•• Halsweichteile
•• Halslymphknoten
•• Speicheldrüsen
•• Speiseröhre
•• Luftröhre
Äußeres Ohr
Gehörgang
Mittelohr
Tuba auditiva
Tabelle 1
* Der Nasenrachenraum wäre eigentlich als ohrnah
einzugruppieren, da Erkrankungen des Epipharynx
via Eustachische Röhre Auswirkungen auf das Mittelohr haben [2]. Da er aber in der Regel von einem
Hausarzt nicht eingesehen werden kann, wird er in
dieser und den folgenden Tabellen den ohrfernen
Auslösern zugerechnet.
sich aus einer zunächst unproblematisch
scheinenden Mittelohrentzündung
durch Progression unerwartete Komplikationen (Mastoiditis, Fazialisparese,
Meningitis, Gehirnabszess) entwickeln.
Ohrenschmerzen bei Erwachsenen
sind oft durch strukturelle Läsionen
des Ohres/Mittelohres oder durch
nicht otogene Auslöser bedingt.
Obwohl diese Verläufe im hausärztlichen
Alltag zwar Raritäten sind, müssen sie
dennoch als abwendbar gefährliche
Ereignisse bedacht werden, wenn sich
außergewöhnliche Schmerzen oder
neurologische Symptome dazugesellen
(Tabelle 3).
Ebenso kann der häufig genug mit starken, schneidenden Ohrenschmerzen beginnende Peritonsillar- oder Retrotonsillarabszess plötzlich lebensbedrohliche
Folgen für den älteren, nicht selten in
Ursachen otogener und nicht otogener Otalgien bei älteren Menschen [modifiziert nach 3]. Beispielhaft werden nur solche Erkrankungen genannt, die
auch mit hausärztlichen Mitteln diagnostiziert werden können.
otogene Otalgie
nicht otogene Otalgie
häufiger vorkommend
•• mit Gehörgangsbefund
○○ Zeruminalpfropf
○○ Otitis externa
•• mit Trommelfell- und/oder Mittelohrbefund
○○ Otitis media acuta
○○ Tubenfunktionsstörung
häufiger vorkommend
•• Zahn-, Kiefergelenkerkrankungen
•• Erkrankungen der Halswirbelsäule
•• Rachenerkrankungen
○○ Tonsillitis, Pharyngitis
gelegentlich oder selten vorkommend
•• mit Gehörgangsbefund
○○ Fremdkörper
○○ Gehörgangsfurunkel
○○ Gehörgangsexostosen
gelegentlich oder selten vorkommend
•• Rachenerkrankungen
○○ Peritonsillarabszess
○○ Retrotonsillarabszess
○○ Malignome des Rachens, des Mundbodens, der Zunge
•• mit Trommelfell- und/oder Mittelohrbefund
○○ exazerbierte Otitis media chronica
○○ Trommelfellverletzungen
••
○○
○○
○○
○○
mit Befund am äußeren Ohr
Perichondritis
Erysipel
Zoster oticus
Chondrodermatitis nodularis helicis
anterior
○○ Malignome des äußeren Ohres
•• Erkrankungen des Nasenrachenraumes,
der Nase und der Nasennebenhöhlen
•• Erkrankungen der Speicheldrüsen, der
Speiseröhre, der Luftröhre oder der
Schilddrüse
•• Neuralgien
○○ Trigeminusneuralgie
○○ Irritationen des N. glossopharyngeus
Tabelle 2
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Fortbildung
Symptomsynopsis subjektiver und objektiver Symptome bei Erkrankungen
älterer Menschen mit otogenen Otalgien
Otitis
externa
Otitis media
ohne Komplikationen
Arzt- und/oder patientenseitig auslösbare Ohrenschmerzen durch
retroaurikulären möglich
nein
nein
Druck
präaurikulären
möglich
möglich
nein
Druck
Helixzug
ja
nein
möglich
Tragusdruck
ja
nein
nein
Schlucken
nein
nein
ja
Otitis media
mit Komplikationen
Mundöffnung
möglich
Valsalvamanöver nein
Cerumen
obturans
möglich
nein
möglich
möglich
ja
möglich
nein
möglich
nein
ja
ja
ja
nein
nein
nein
ja
ja
nein
nein
nein
nein
möglich
ja
Subjektive Schmerzlokalisation des Patienten
im Äußeren des
Ohrs
ja
im Inneren/in der nein
Tiefe des Ohres
Abb. 2: Kieferorthopädische Korrekturschiene
bei Kiefergelenkproblemen.
Sekretion aus dem Ohr
serös
putrid/foetid
möglich
möglich
Hörminderung
möglich
möglich
ja
subjektiv empfunden durch
den Patienten
möglich
möglich
ja
objektivierbar
durch
pathologische
Stimmgabelversuche
Neurologische und/oder neurootologische Begleitsymptome
ja
Schwindel
nein
nein
nein
möglich
Ohrgeräusche
nein
nein
möglich
möglich
sonstige patholo- nein
gische Befunde
(z. B. Hirnnervenausfälle)
nein
nein
möglich
ja
Tabelle 3
Aus einer Mittelohrentzündung
können sich unerwartete Komplikationen wie Mastoiditis, Meningitis oder Fazialisparese entwickeln.
seinem Allgemeinbefinden herabgesetzten Patienten haben, weil Atmung und
Ernährung behindert werden.
Während diese bedrohlichen Verläufe
selbst mit den eingeschränkten Möglichkeiten eines Hausarztes erkannt oder
zumindest vermutet werden können,
kann es bei akuten oder auch länger
andauernden Ohrenschmerzen eines
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Erwachsenen ohne fassbare Ohrbefunde
schwierig werden.
Häufiger zu bedenken sind dabei Erkrankungen der Halswirbelsäule, des Kiefergelenks, der Zähne und ihres Halteapparates sowie der nasalen Funktionsräume
(Nasenhaupthöhle, Nasennebenhöhlen,
Nasenrachenraum), die auch mit hausärztlichen Mitteln in der Zusammenschau von erhobenem Befund und entsprechenden Funktionsprüfungen (vgl.
dazu auch Abb. 3) erkannt werden können. Sollten sich dabei keine Erklärungen für den Ohrenschmerz finden, muss
Abb. 3: Fortgeleitete Ohrenprobleme infolge
einer Störung der nasalen Funktionseinheit:
Druckgefühl, verstärkt beim Schlucken, und
Schmerzen im linken Ohr führen den 70-jährigen Rentner in die Sprechstunde. Auffällig
ist ein negatives Valsalvamanöver links. In der
Nase findet sich außerdem eine pfenniggroße, borkige Septumperforation, die über eine
Strömungsstörung zu einer Herabsetzung
der Atemluftkonditionierung in der Nase,
damit zur Tubenfunktionsstörung und so zu
den Ohrenschmerzen geführt hat [modifiziert
nach 4].
letztendlich auch die Möglichkeit eines
weiter entfernt liegenden Malignoms
(Kiefer, Zunge, Mundboden, Pharynx,
Oesophagus, Trachea) in Betracht gezogen werden und der Patient in jedem
Fall weitergehend und interdisziplinär
(HNO-Arzt, Neurologe, Orthopäde, Kieferorthopäde, Zahnarzt, Internist) abgeklärt werden.
▪
Diesen Beitrag sowie die vollständige Literaturliste
finden Sie auch unter
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Interessenkonflikte: keine deklariert
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