Brief aus New York: Der Präsidentschaftswahlkampf

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Brief aus New York: Der Präsidentschaftswahlkampf
25. Mai 2000
Aktuelle Themen
Brief aus New York: Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA
Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA nahm eine unerwartete
Wende, als die beiden großen Parteien bereits fünf Wochen nach der
ersten Vorwahl in New Hampshire ihre Kandidaten aufstellten. In der
Demokratischen Partei konnte sich Vizepräsident Al Gore eindeutig vor
dem einzigen Gegenkandidaten, dem früheren Senator Bill Bradley,
positionieren. Auf Seiten der Republikanischen Partei besiegte der Gouverneur von Texas, George W. Bush, seinen Rivalen, den Senator von
Arizona, John McCain.
Die Vorwahlen
Die Vorwahlen der Demokratischen Partei brachten keine Überraschung.
Zunächst schien Bill Bradley gute Chancen zu haben, da er den Eindruck eines parteilich ungebundenen Denkers vermittelte, der während
des Wahlkampfes von persönlichen Attacken absehen würde. Auf der
anderen Seite wurde der Auftritt von Gore zunächst durch die Verbindung zu Bill Clinton und einen schlecht organisierten Wahlkampf in Mitleidenschaft gezogen. Diese Situation änderte sich jedoch rasch, als
Gore seinen Wahlkampf neu organisierte, indem er ihn von Washington in seinen Heimatstaat Tennessee verlagerte. Von noch größerer
Bedeutung war jedoch, dass er seinen politischen Stil änderte und dabei auch persönliche Diffamierungen seines Rivalen einbezog. Als Bradleys Kampagne ins Stocken geriet, gab er nach einigen verlorenen Vorwahlen die Niederlage zu und erklärte, dass er bei den Präsidentschaftswahlen Gore unterstützen werde.
Nominierung Al Gores als Kandidat
der Demokraten keine Überraschung
Die Vorwahlen der Republikanischen Partei verliefen weitaus spektakulärer. Zunächst gab es 12 Kandidaten, von denen sechs die Vorwahlen erreichten und an öffentlichen Debatten teilnahmen. Drei Kandidaten gaben nach den ersten Vorwahlen auf und der Wahlkampf wurde
zu einem Wettstreit zwischen George W. Bush und John McCain. Noch
bevor die Vorwahlen begannen, wurde Bush von den Medien zum eindeutigen Kandidaten der Republikaner erklärt. Er erhielt riesige Beträge von Wahlkampfspenden, die ihn praktisch unabhängig von der öffentlichen Wahlkampffinanzierung machten. Außerdem konnte er von
der überwältigenden Unterstützung der republikanischen Gouverneure und kommunalen Parteiorganisationen profitieren. Diese ”Krönung”
führte dazu, dass er im Wahlkampf zunächst kein besonders großes
Engagement an den Tag legte. Dies änderte sich jedoch, als John McCain als Kandidat mit Potential die politische Bühne eroberte und unerwartet die Vorwahlen in New Hampshire und Michigan gewann. Nur
der entscheidende Sieg Bushs bei einigen wichtigen Vorwahlen am 7.
März (”Super Tuesday”), u.a. in Kalifornien und New York, vereitelte
den Sieg McCains.
Nominierung von George W. Bush
für die Republikaner spannender als
erwartet
McCain ist ein interessantes Phänomen im Präsidentschaftswahlkampf.
Seine Popularität und seine überraschenden Siege bei einigen wichtigen Vorwahlen sind auf seinen unermüdlichen Wahlkampf zurückzuführen. Dazu gehörten zahlreiche Auftritte in verschiedenen Städten,
die nicht nur von Republikanern, sondern auch von Demokraten (überall dort, wo sie bei Vorwahlen der Republikanischen Partei ihre Stimme
abgeben konnten) und Unabhängigen besucht wurden. McCains Popularität ist eher durch seine Persönlichkeit und seine Biographie – hohe
Wertvorstellungen, Integrität, seine Vergangenheit als Kriegsgefangener in Vietnam – als durch seine ideologischen Vorstellungen oder sein
McCain als interessantes Phänomen
im Präsidentschaftswahlkampf
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Programm bedingt. McCains Hauptprogrammpunkt ist die Reform der
Wahlkampffinanzierung. Diese scheint jedoch in der Öffentlichkeit nicht
besonders populär zu sein und wird von anderen führenden Vertretern
der Republikanischen Partei aufgrund der verfassungsrechtlich verankerten freien Meinungsäußerung strikt abgelehnt. Viele Kommentatoren interpretierten seinen großen politischen Erfolg als Ausdruck einer
Anti-Clinton-Stimmung: ein Vietnam-Veteran gegen einen Wehrdienstverweigerer, feste Überzeugungen gegenüber einem politischen Zickzackkurs, der sich an den Ergebnissen von Meinungsumfragen orientiert etc.
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Viele Kommentatoren interpretierten
McCains Erfolg als Ausdruck einer
Anti-Clinton-Stimmung
Ob das Phänomen McCain dauerhaft von Bedeutung sein wird, bleibt
abzuwarten. Jedenfalls ist McCain aus dem Rennen um die Präsidentschaft ausgeschieden und im Nachhinein könnte sich sein Auftauchen
als reines Intermezzo erweisen. Es ist jedoch nicht auszuschließen,
dass seine (möglicherweise mangelnde) Unterstützung von Bush in
der Endphase des Wahlkampfes von entscheidender Bedeutung für
das Wahlergebnis sein könnte.
Der Präsidentschaftswahlkampf
Durch die rasche Entscheidung bei den Vorwahlen ist die 8-monatige
Wahlkampfperiode bis zum Wahltermin Anfang November ungewöhnlich lang. Wie werden die Kandidaten diese Phase nutzen? Werden sie
einen aktiven Wahlkampf betreiben? Wen werden sie zum Vizepräsidentschaftskandidaten küren? Wie werden die Parteitage gestaltet?
Was werden die Wahlkampfthemen sein? Und vor allem: wer wird die
Präsidentschafts- und Kongresswahlen gewinnen? Dies alles sind Fragen, die zum jetzigen Zeitpunkt schwer oder unmöglich zu beantworten sind. Es gibt jedoch einige Überlegungen, die für den Charakter
des Wahlkampfes 2000 und das Ergebnis von Bedeutung sein können.
Wahlergebnis noch völlig offen
Am schwierigsten ist die Frage zu beantworten, wer die Präsidentschaftswahl gewinnen wird. Zurzeit haben die beiden Kandidaten ungefähr die gleichen Chancen: in einigen Meinungsumfragen hat Gore
einen leichten Vorsprung, in anderen liegt Bush vorn. Obwohl sich ihre
politische Philosophie stark unterscheidet, weisen die beiden Kandidaten durchaus Ähnlichkeiten auf. Beide sind moderate Politiker, wobei
einer die linke Mitte und der andere die rechte Mitte des politischen
Spektrums repräsentiert. Beide sind Mitglieder des Washingtoner Establishments und repräsentieren die Elite der politischen Klasse in Amerika. Gore ist der Sohn eines bekannten Senators und ist in Washington aufgewachsen; Bush ist der Sohn eines früheren US-Präsidenten
und Enkel eines hochrangigen Senators. Beide haben an den Eliteuniversitäten im Osten der USA studiert und sind vermögend.
Meinungsumfragen zeigen etwa
gleiche Chancen
Kandidaten weisen Ähnlichkeiten auf
Für die Wahlsiegchancen der beiden Kandidaten sind folgende Faktoren von entscheidender Bedeutung:
Der Faktor Wirtschaftssituation
In ökonomischer Hinsicht hat Gore bessere Chancen. Die US-Wirtschaft
befindet sich in sehr guter Verfassung und dürfte sich bis zum Wahltermin weiter robust zeigen. Obwohl man darüber streiten mag, ob die
längste Expansionsphase der Geschichte und der boomende Aktienmarkt wegen oder trotz der Regierung Clinton erzielt wurden – viele
volkswirtschaftliche Beobachter führen die florierende US-Konjunktur
auf die Politik Reagans zurück –, wird der Aufschwung in der amerikanischen Bevölkerung im allgemeinen mit der Politik Clintons begründet, was insofern zutrifft, als der Boom zeitlich mit der Amtszeit Clin-
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Rekordaufschwung wird der Regierung Clinton zugute gehalten – und
damit auch Al Gore
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tons zusammentraf. Da Gore der Regierung Clinton angehört und damit auch mit Clintons ”Vermächtnis” in Zusammenhang gebracht wird,
wird Gore davon profitieren.
Die Bedeutung dieses Faktors sollte jedoch nicht überbewertet werden. Die wirtschaftliche Situation ist sicherlich ein wichtiger Faktor, wenn
sie durch Probleme gekennzeichnet ist – Präsident Bush verlor die Präsidentschaftswahl von 1992, besonders weil man der Auffassung war,
dass sich die US-Wirtschaft weiterhin in einer Rezession befand. Und
Clinton profitierte von dem Slogan: ”It’s the economy, stupid.” Der wirtschaftliche Faktor verliert jedoch in Zeiten des Wohlstands an Bedeutung, da dann anderen Faktoren mehr Bedeutung zugemessen wird.
Mit anderen Worten, die Nation bestraft die Regierung in schlechten
Zeiten, aber belohnt sie nicht unbedingt, wenn die Situation gut ist.
Gute wirtschaftliche Verhältnisse werden inzwischen von den Amerikanern als Normalzustand angesehen.
Der wirtschaftliche Faktor verliert
jedoch in Zeiten des Wohlstands an
Bedeutung
Der Faktor Wertvorstellungen
Da die amerikanische Bevölkerung zufrieden ist und sich die wirtschaftliche Situation durch Wohlstand auszeichnet, hat sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf andere Themen verlagert. Dazu gehören vor
allem auch moralische Wertvorstellungen. Dies gilt insbesondere nach
den Erfahrungen mit der Regierung Clinton, die durch die ”Whitewater”-Affäre, Untersuchungen durch Sonderermittler, Vergehen im Zusammenhang mit Wahlkampffinanzierung, Sexskandale und das Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten gekennzeichnet war. Es
ist kein Zufall – wie die jüngsten Meinungsumfragen zeigen –, dass
58% der Befragten der Meinung sind, dass sich das Land in die richtige
Richtung bewegt, während 15% diese Auffassung nicht teilen; umgekehrt ist dagegen das Ergebnis in Bezug auf die Frage nach den moralischen Werten.
Moralische Wertvorstellungen nach
Clinton-Ära von hoher Bedeutung
Hier befindet sich Gore auf unsicherem Terrain. Er unterstützte Clinton
in vollem Maße und war an mehreren dubiosen Vorgängen aktiv beteiligt, besonders auf dem Gebiet der Wahlkampffinanzierung. Sein wiederholtes Erscheinen bei Veranstaltungen in einem buddhistischen Tempel, deren Erlös wohltätigen Zwecken zukommen sollte, ist hier besonders zu nennen und fand ein Ende, als einer seiner engsten Mitarbeiter
in diesem Zusammenhang vor kurzem krimineller Handlungen überführt wurde. Seine Proteste, dass keine juristische Kontrollinstanz ein
illegales Handeln seinerseits beweisen könne, lösten verächtliche Reaktionen aus. Obwohl Gore z. Z. für eine radikale Reform des Gesetzes
zur Wahlkampffinanzierung plädiert, einschließlich einer Abschaffung
des “soft money”, wird dies als Akt der Verzweiflung gesehen und als
Opportunismus interpretiert. Bush wird ihn in diesem Punkt sicherlich
vehement attackieren.
Gore auf unsicherem Terrain
Der Faktor Vizepräsident
Die Auswahl des Vizepräsidentschaftskandidaten ist seit jeher ein wichtiger Bestandteil des Wahlprozesses. Ein geographisch anderer Hintergrund, Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit und Religion sind
die Hauptkriterien für die Kandidaten. Ihre Wahl war jedoch nie entscheidend für das endgültige Ergebnis der Präsidentschaftswahl.
Diesmal könnte es anders sein. McCains aufsehenerregender Auftritt
als versprechender Präsidentschaftskandidat, besonders seine Popularität bei den Unabhängigen, schaffte eine Situation, in der eine Kandidatur Bush/McCain ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Faktor für das Wahlergebnis sein könnte. Bush stellte McCain nicht als
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Etwaige Kandidatur McCains als
Vizepräsident könnte wahlentscheidend sein
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Bewerber für die Vizepräsidentschaft vor und McCain zeigte auch kein
Interesse an einer Kandidatur. Dies dürfte auf den erbittert geführten
Wahlkampf einschließlich verbaler Verletzungen des politischen Gegners zurückzuführen sein. Viele Republikaner warfen Bush vor, dass er
sich bei seinem Wahlsieg nicht besonders großmütig zeigte und nicht
versucht hat, stärker auf McCain einzugehen. Erst vor kurzem haben
sich die Beziehungen zwischen Bush und McCain durch eine Aussprache bei einem Zusammentreffen verbessert. McCain erklärte, dass er
die Präsidentschaftskandidatur Bushs unterstützen werde, jedoch nicht
als Vizepräsidentschaftsbewerber zur Verfügung stehe. Einige politische
Beobachter sind jedoch der Auffassung, dass dies später der Fall sein
könnte – unter der Voraussetzung, dass McCain vom Sieg Bushs überzeugt wäre. Dies könnte allerdings eine ”No win situation” sein, da er
dies möglicherweise nur weiß, wenn er im Schulterschluss zusammen mit Bush kandidiert.
Der Faktor dritte Partei
Obwohl sich die Reformpartei in großen Schwierigkeiten befindet und
sich bei den jüngsten Meinungsumfragen nur 4% der Befragten für
den potentiellen Kandidaten, Pat Buchanan, aussprachen, könnte dieser Faktor bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen eine Rolle spielen. Wenn
dies der Fall wäre, würde dies Bush Stimmen kosten. Bei der Präsidentschaftswahl von 1992 waren die Stimmen für Ross Perot (19%)
einer der Gründe dafür, dass Bill Clinton den ehemals amtierenden
Präsident George Bush besiegen konnte.
Reformpartei könnte bei einem Kopfan-Kopf-Rennen eine Rolle spielen
Der Faktor ”Fußballmütter”
Der Ausdruck ”Fußballmütter” (Soccer moms) bezeichnet im politischen
Fachjargon der USA Hausfrauen aus den Vorstädten, die ihre Kinder zu
Fußballspielen bringen1 . Die Soccer moms sind in den letzten Jahren
zu einer wichtigen sozialen und politischen Kraft geworden. Bei den
letzten beiden Wahlen wählte eine große Mehrheit der Frauen die Demokratische Partei und viele Analysten sind der Meinung, dass sie
sowohl 1992 als auch 1996 eine entscheidende Rolle bei der Wahl Clintons spielten.
Beide Kandidaten werden sich
intensiv um die Stimmen der weiblichen Bevölkerung bemühen
Deshalb werden sich beide Kandidaten intensiv um die Stimmen der
weiblichen Bevölkerung bemühen. Dabei stehen zwei Themen im Vordergrund – Bildung und Waffenkontrolle. Die Bildungsreform ist eins
der entscheidenden Themen bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl.
Während die Hochschulbildung in den USA ein sehr hohes internationales Ansehen genießt, wird die Grundschulausbildung eher schlecht
beurteilt und reicht nicht an europäische Standards heran. Das Thema
Bildung ist traditionell eine Domäne der Demokratischen Partei. Bush
wird auf diesem Gebiet jedoch aufgrund der erfolgreichen Bildungsreform, die er als Gouverneur von Texas durchführte, durchaus Kompetenz zugetraut. Der kontrollierte Waffenbesitz ist ebenfalls ein politisch
belastetes und kontroverses Thema, besonders nach den tragischen
Vorfällen, bei denen Kinder von Kindern getötet wurden.
Zwei Themen im Vordergrund: Bildung und Waffenkontrolle
Welcher der beiden Kandidaten die meisten Stimmen der Soccer moms
für sich gewinnen kann, ist eine offene Frage. Beide Präsidentschaftskandidaten betonen in ihrem Wahlkampf die Bedeutung der Familie
und streben starke Familien an, in denen die Kinder mit viel Liebe aufwachsen und hohe moralische Wertvorstellungen gelten.
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Dies ist paradox, da Fußball als Sportart in den USA trotz der vielen Versuche, ihn
zum Volkssport zu machen (einschließlich der Fußballweltmeisterschaft vor einigen
Jahren), keine große Rolle spielt. Amerikanische Kinder, besonders Mädchen, sind
jedoch begeisterte Fußballspieler.
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Der Faktor ältere Mitbürger
Die älteren Mitbürger stellen eine kritische Gruppe von Wählern dar
und ihr Einfluss steigt parallel zum wachsender Anteil an der Bevölkerung. Zwar machen Personen im Alter von über 65 nur 13% der Wahlbevölkerung aus; sie werden jedoch als eifrige Wähler umworben. Bei
der letzten Präsidentschaftswahl war die Wahlbeteiligung dieser Gruppe doppelt so hoch wie bei Personen im Alter von 18-24 Jahren. Sie
sind in den großen Bundesstaaten, auf die sich der Wahlkampf konzentrieren wird, stark vertreten. Dazu gehören besonders Pennsylvania,
Illinois und Florida. Ältere Personen wählen traditionell eher die Demokratische Partei. Bei den letzten drei Kongresswahlen wechselten sie
jedoch auf die Republikanische Partei über – bei der Wahl von 1998
ergab sich eine Veränderung von 10 %-Punkten.
Steigender Bevölkerungsanteil und
hohe Wahlbeteiligung stärken Einfluss älterer Mitbürger
Das Hauptwahlkampfthema zur Erhöhung der Popularität der Bewerber bei den älteren Mitbürgern ist die Reform der staatlichen Krankenversicherung (”Medicare”), besonders was Versicherungsleistungen für
rezeptpflichtige Medikamente anbetrifft. Dies ist bereits ein wichtiges
Thema, über das im Kongress lebhaft diskutiert wird. Die gute Wirtschaftssituation hat bereits zu einer Aufwärtsrevision von Schätzungen
hinsichtlich der Dauerhaftigkeit des gegenwärtigen ”Medicare-TrustFonds” geführt. Trotzdem wird die Diskussion im Kongress durch Streitigkeiten zwischen den Parteien bestimmt. Eine Lösung dieses Problems ist wahrscheinlich erst nach den Wahlen zu erwarten. Die Bestandsdauer des Social-Security-Trustfonds (d.h. Rentenversicherung)
ist ebenfalls aufgrund des konjunkturellen Booms und revidierter statistischer Berechnungen ausgeweitet worden. Gore und die Demokraten sprechen jedoch weiterhin über ”Saving Social Security”, während
Bush und die Republikaner eine Reform des Systems durch eine partielle Privatisierung empfehlen. Dies hat zu Verwirrung und Skepsis bei
vielen Pensionären geführt. Infolgedessen wird sich der Wahlkampf darauf konzentrieren, diese Befürchtungen anzuheizen und/oder zu verringern.
Hauptwahlkampfthema bei den
älteren Mitbürgern ist die Reform der
staatlichen Krankenversicherung
Der Faktor Budgetprioritäten
Die ungewohnten Haushaltsüberschüsse haben eine Diskussion darüber ausgelöst, wie diese Mittel verwendet werden könnten. Bush befürwortet umfangreiche Steuersenkungen, um die Gelder wieder der
Bevölkerung zukommen zu lassen – mit dem Argument, dass das Steuervolumen ein Rekordniveau in Relation zum BIP erreicht hat. Gore
kritisiert das Konzept, das er spöttisch als ”Steuermodell” bezeichnet.
Seiner Einschätzung nach würde es die soziale Sicherheit gefährden
und Sozialprogramme aufs Spiel setzen. Er betont die Notwendigkeit
der Rückzahlung der Staatsverschuldung.
Bush befürwortet umfangreiche
Steuersenkungen
Der Themenkomplex ist durch hochgradige Politisierung gekennzeichnet. Aus ökonomischer Sicht sind Steuersenkungen keine Alternative
zur Schuldentilgung und Aufrechterhaltung des Social Security Trustfonds. All diese Ziele können erreicht werden, wenn die Überschüsse
tatsächlich erzielt werden. Die breite Öffentlichkeit kann die zugrunde
liegenden ökonomischen Zusammenhänge jedoch kaum nachvollziehen. Jedenfalls wird Bushs umfangreichem Steuersenkungsprogramm
auf Seiten der Wählerschaft keine große Priorität beigemessen. Die
Bevölkerung ist zufrieden mit ihrer aktuellen wirtschaftlichen Situation,
die Erwartungshaltung ist optimistisch, und die Wahlbürger sind durch
ein großes Steuersenkungsprogramms kaum zu begeistern. Deshalb
befindet sich Gore auf sichererem Terrain.
Themenkomplex ist durch hochgradige Politisierung gekennzeichnet
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Gore sieht dadurch die soziale
Sicherheit gefährdet und präferiert
den Abbau der Staatsschulden
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Der Faktor Außenpolitik
Die Außenpolitik war bei den US-Wahlen nie ein entscheidendes Thema. Dies gilt besonders seit dem Ende des Kalten Krieges und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion. Außerdem gibt es auf diesem Gebiet keine großen Meinungsunterschiede zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten. Beide sind international orientiert und unterstützen den freien Handel. Gore genießt einen leichten Vorteil, da er
über mehr Erfahrung verfügt und zahlreiche ausländische Regierungschefs persönlich kennt.
Keine großen Meinungsunterschiede
Die internationalen Beziehungen der USA werden in der nächsten Regierung allerdings eine große Rolle spielen. Dies ist auf einige Rückschläge und Misserfolge der Regierung Clinton zurückzuführen. Besonders sind hier der schlecht vorbereitete und mit großen Fehlschlägen geführte Kosovo-Krieg und das Debakel beim WTO-Treffen in Seattle zu nennen. Die negativste und weitreichendste Entwicklung ist
jedoch möglicherweise die deutliche Zunahme von Ressentiments
gegenüber den USA, sogar bei traditionell engen Verbündeten. Diese
Animositäten hängen z. T. mit einem gewissen Neidgefühl gegenüber
der ökonomischen und militärischen Überlegenheit der USA zusammen. Der fortschreitende Anti-Amerikanismus im Ausland ist eine sehr
negative Entwicklung. Er dürfte zu isolationistischen Tendenzen im USKongress führen, was, wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, immer
negative Konsequenzen sowohl für Amerika als auch für die übrige
Welt hatte. Eine starke politische Führung ist dringend erforderlich, um
diese Situation zu verbessern.
Die Außenpolitik wird eine größere
Rolle spielen
Die Kongresswahlen
Das politische Interesse der breiten Öffentlichkeit konzentriert sich fast
ausschließlich auf die Wahl des Präsidenten. Die Wahlen zum Kongress,
bei denen das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats gewählt werden, sind jedoch nicht weniger wichtig. Da die Wahlchancen der beiden Kandidaten ungefähr gleich sind, gewinnen sie sogar
an Bedeutung. Sie könnten durchaus richtungsweisend für den politischen Kurs der USA in den nächsten Jahren sein.
Die Wahlen zum Kongress sind nicht
weniger wichtig als die Präsidentschaftswahlen
Der Senat besteht zurzeit aus 55 Republikanern und 45 Demokraten.
Angesichts der Wahlarithmetik und der Parteizugehörigkeit der aus dem
Amt scheidenden Senatoren, spricht Einiges dafür, dass die Republikaner ihre Mehrheit halten können.
Auf der anderen Seite sind die Wahlergebnisse im Repräsentantenhaus noch völlig unklar. Die Republikaner haben zurzeit 222, die Demokraten 211 und die Unabhängigen 2 Mandate. Damit ändern sich die
Machtverhältnisse im Repräsentantenhaus, wenn nur 6 Mandate auf
eine andere Partei entfallen als bisher. Es ist natürlich unmöglich, das
Ergebnis vorherzusagen, und die ähnlichen Siegeschancen der beiden
Präsidentschaftskandidaten machen dies um so schwieriger. Unabhängig davon, welcher der beiden Kandidaten die Wahl gewinnt, hätte der
Verlust der Kongressmehrheit der Republikaner an die Demokraten
erhebliche Auswirkungen auf die politische und ökonomische Situation
der USA. Dies ist hauptsächlich dadurch bedingt, dass die Führung des
Repräsentantenhauses und der Vorsitz wichtiger Ausschüsse dann an
Politiker gehen würde, die dem linken Flügel der Demokratischen Partei angehören.
Verlust der Kongressmehrheit der
Republikaner hätte erhebliche politische und ökonomische Auswirkungen
Die politische Konstellation wird sich durch die Gouverneurswahlen
voraussichtlich nicht stark verändern. 30 Gouverneursposten sind zurzeit in der Hand von Republikanern, während 18 Gouverneure Demokraten sind und 2 Gouverneure den Unabhängigen angehören. Eine
Die politische Konstellation wird sich
durch die Gouverneurswahlen
voraussichtlich nicht stark verändern
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große Mehrheit der republikanischen Gouverneure dürfte im Amt bleiben. Außerdem werden die Wahlen zum Senat und zum Repräsentantenhaus der einzelnen Bundesstaaten voraussichtlich nicht viel an der
gegenwärtigen Zusammensetzung der gesetzgeberischen Organe ändern, die fast paritätisch besetzt sind. Die Demokraten haben zurzeit
gegenüber den Republikanern einen leichten Vorsprung von 25:24 in
den Senaten und von 25:23 in den Repräsentantenhäusern der Bundesstaaten.
Fazit
Die rasche Entscheidung der Vorwahlen und die daraus resultierende
lange Phase bis zu den Präsidentschaftswahlen hat praktisch zu einem
Vakuum in der Vorwahlzeit geführt – zum großen Kummer von Medienkommentatoren und politischen Beobachtern. Die noch anstehenden
Vorwahlen werden nur mit geringem Interesse verfolgt und die Parteitage Ende Juli und im August dürften nichts Neues bringen. Erhöhte
Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem Wahlkampf dürfte es erst
wieder bei den für Anfang Oktober geplanten Debatten im Vorfeld der
Präsidentschaftswahlen geben.
Die rasche Entscheidung der Vorwahlen hat zu einem Vakuum geführt
Trotz des allgemein als langweilig empfundenen Wahlkampfes, der von
vielen als wenig aufregend betrachteten Präsidentschaftskandidaten
und ihrer zahlreichen Parallelen könnte die Wahl 2000 eine der wichtigsten Wahlen der letzten Jahrzehnte sein:
Die Wahl 2000 könnte wichtigste der
letzten Jahrzehnte sein
• Es wird seit vielen Jahren die erste Wahl mit Haushaltsüberschüssen sein, in der die Budgetzwänge der vorangegangenen Defizitära
entfallen. Dies wird zu einer Erhöhung der Sozialausgaben und/oder
Steuersenkungen führen.
• Sie könnte die Clinton-Ära beenden, die durch einen Konjunkturboom,
aber auch Skandale gekennzeichnet ist. Die Alternative wäre, dass
diese Ära mit Al Gore tendentiell verlängert wird.
• Der nächste Präsident wird voraussichtlich drei Richter des Obersten Gerichtshofs ernennen. Damit wird er seine Zusammensetzung und daher auch seine ideologische und philosophische Grundrichtung für viele Jahre beeinflussen.
• Der nächste Präsident muss internationale Probleme der Zeit nach
dem Kalten Krieg angehen, die von der Regierung Clinton vernachlässigt oder falsch gehandhabt worden sind. Dies gilt besonders für
den freien Handel, die Globalisierung, den partiellen Verlust des
amerikanischen Einflusses im Ausland und den fortschreitenden AntiAmerikanismus.
Es stellt sich die Frage, ob die Präsidentschaftskandidaten diese Aufgaben erfüllen können. Dies ist schwer vorhersehbar und wird stark vom
Ergebnis der Kongresswahlen abhängig sein. In der Endphase des
Wahlkampfs wird es nicht nur darum gehen, ob sie den Anforderungen
des Präsidentenamts gewachsen sind. Charakter und persönliche Qualitäten der Kandidaten werden ebenfalls eine Rolle spielen.
Gore hat den Vorteil, dass er von seinen Erfahrungen als Vizepräsident
profitiert, besonders in der Außenpolitik, und daß er große Routine mit
öffentlichen politischen Diskussionen hat. Dies könnte in der letzten
Phase des Wahlkampfs von Bedeutung sein, da die Fernsehdebatten
der Kandidaten von Millionen von Zuschauern verfolgt werden. Außerdem könnte er von der Tatsache profitieren, dass die Demokraten übereinstimmend den Wunsch haben, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen und wieder die Mehrheit im Repräsentantenhaus zu erzielen,
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Gore dürfte von seinen Erfahrungen
als Vizepräsident profitieren, besonders in der Außenpolitik
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während die Republikaner in vielen Fragen unterschiedliche Positionen
vertreten. Gores Schwachpunkt ist jedoch die sogenannte „ClintonMüdigkeit“, zumal er eng mit Clinton und seiner gesamten Ära in Verbindung gebracht wird.
Gores Schwachpunkt ist jedoch die
sogenannte „Clinton-Müdigkeit“
Bush kann auf eine erfolgreiche Amtszeit als Gouverneur von Texas
zurückblicken, besonders in Bezug auf die Bildungsreform, die eins der
Hauptthemen des Wahlkampfs werden könnte. Er wird möglicherweise seinen Slogan des ”mitfühlenden Konservativismus” wiederbeleben, der in der Anfangsphase des Wahlkampfs sehr populär war. Und
er verfügt weiterhin über umfangreiche Wahlkampfgelder (die allerdings
durch die Kampagne gegen McCain stark dezimiert wurden). Andererseits gilt Bush in der Außenpolitik als unbeschriebenes Blatt. Eine solche Theorie wurde allerdings auch im Präsidentschaftswahlkampf 1989
gegen Reagan vorgebracht und ist spektakulär gescheitert. Bush könnte
ohne Zweifel seine Wahlsiegchancen durch McCain’s Popularität erhöhen, indem er ihn überzeugen würde, als Vizepräsidentschaftskandidat
zur Verfügung stehen.
Bush kann auf eine erfolgreiche
Amtszeit als Gouverneur von Texas
zurückblicken
Schließlich sollte man berücksichtigen, dass es nicht so sehr das Wahlverhalten laut Meinungsumfragen ist, sondern vielmehr das Zahlenverhältnis der Wahlmänner in den Bundesstaaten, das ausschlaggebend für die Wahl des Präsidenten ist. Es ist eine Besonderheit des
politischen Systems der USA, dass der Präsident auf der Basis eines
reinen Mehrheitswahlrechts in getrennten Wahlen in 51 Bundesstaaten (einschließlich des District of Columbia) gewählt wird. Dies macht
es noch schwieriger, den Ausgang der Wahl vorauszusagen. Nach den
Erfahrungen der letzten drei Präsidentschaftswahlen zu urteilen, wird
Gore voraussichtlich sowohl an der Ost- als auch an der Westküste die
Mehrheit erzielen. Bush ist im Süden, in der Prärie und in den Rocky
Mountains besonders populär. Beide Kandidaten dürften mit der ungefähr gleichen Zahl von Wahlstimmen in ca. 20 Staaten die Mehrheit
erringen. Deshalb wird das endgültige Wahlergebnis vom Wahlausgang
in ca. 12 Bundesstaaten abhängen, u.a. den Staaten des Mittleren
Westens, Pennsylvania und New Jersey.
Gore wird voraussichtlich sowohl an
der Ost- als auch an der Westküste
die Mehrheit erzielen.
Bush ist dagegen im Süden, in der
Prärie und in den Rocky Mountains
besonders populär
Mieczyslaw Karczmar, Economic Advisor to Deutsche Bank AG
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