Schulanfang: 186 Schweizer Schulen melden Platznot

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Schulanfang: 186 Schweizer Schulen melden Platznot
18. AUGUST 2013
Preis Fr. 4.20 Euro 4.20
URS WIDMER
DELIA MAYER
Die Wahrheit über
sein Leben
«Tatort»-Kommissarin
steht auf Landjäger
Seite 33
Seite 17
27. Jahrgang, Nr. 33 / www.sonntagszeitung.ch
AZA 8021 Zürich Redaktion: 044 248 40 40 · Abo-Service: 044 404 64 40
SoZ 18.8.13, S. 1-3
Schulanfang:
186 Schweizer Schulen
melden Platznot
Ägypten: Mit aller Macht
gegen die Muslimbrüder
KAIRO/BERN 173 Tote in 24 Stunden – das die Bilanz der
jüngsten Ausschreitungen. Gestern kam es zur Konfrontation zwischen Armee und Mursi-Anhängern in einer
Moschee. Die Regierung will die Muslimbruderschaft
auflösen. Ägyptens Botschafter in Bern fordert eine
neutrale Haltung des Auslands. NACHRICHTEN SEITEN 8/9
Eine Umfrage der SonntagsZeitung zeigt Fehlplanungen in vielen Gemeinden
FOTO: REUTERS
VON FLORIAN IMBACH, OLIVER
ZIHLMANN UND MARIE MAURISSE
Bundesrat stoppt
Seilbahn für Nordkorea
BERN In vielen Primarschulen
fehlt es an Platz, mancherorts
herrschen sogar prekäre Verhältnisse: Das zeigt eine Umfrage bei
mehr als 1000 Primarschulen vor
dem morgigen Schulanfang in diversen Kantonen. 240 Schulleiter
haben sich gegenüber der SonntagsZeitung zu Wort gemeldet –
186 davon sprechen von Platznot.
«Unsere Ganztagsbetreuung findet auf sehr engem Raum statt, bis
35 Kinder in einer 3-ZimmerWohnung», schreibt eine Schulleiterin aus dem Kanton Zürich.
«Dass so viele Schulleiter geantwortet haben, zeigt, wie stark
das Thema beschäftigt», sagt
Bernard Gertsch, Präsident des
Schulleiterverbandes. «Es besteht
Handlungsbedarf, die Gemeinden
sind nun sehr gefordert und müssen investieren.» Auch der Lehrerdachverband sieht Probleme.
«Der Mindestplatzbedarf an
Schulen, in denen neue Unterrichtsformen umgesetzt werden
müssen, ist zu klein», sagt Präsident Beat W. Zemp. Es brauche
jetzt griffige Vorschriften und
eine «solide und langfristige
Schulraumplanung.» Damit sind
viele Gemeinden laut Experten
heute überfordert.
Gemäss Prognosen des Bundesamtes für Statistik gehen in
acht Jahren 62 000 Kinder mehr
in die Volksschule als heute. Wegen des Geburtenbooms der Nullerjahre und der Zuwanderung
erreicht die Schweiz 2021 die
höchste Schülerzahl seit Messbe-
ginn 1980. In der Deutschschweiz
sind vor allem die Kantone Zürich, Aargau und Basel-Stadt betroffen. Nur vier Kantone verzeichnen einen Schülerschwund.
Vom Schülerboom profitieren
die Hersteller von provisorischen
Schulräumen. Eine Umfrage unter
vier grossen Herstellern belegt,
dass derzeit mindestens 750 temporäre Klassenzimmer in Betrieb
sind. Vorsichtig geschätzt starten
dieses Schuljahr über 10 000 Kinder in provisorischen Klassenzimmern.
SEITEN 2 UND 3
BERN Im letzten Moment hat der Bundesrat den Export
einer Seilbahn nach Nordkorea verhindert. Dazu wurde
die Embargo-Liste angepasst. Die Bahn war für ein
NACHRICHTEN SEITE 7
Luxus-Skiressort vorgesehen.
Die Flugzeug-Katastrophe
von Dürrenäsch
LENZBURG AG Vor 50 Jahren stürzte eine SwissairMaschine im Aargauer Dorf Dürrenäsch ab. Alle 80 Insassen wurden getötet – und 40 Kinder zu Waisen. Was
damals passierte. Die Rekonstruktion. FOKUS SEITE 13
G LO S S E
Is it because I’m black?
Nachdem die beliebte US-amerikanische Entertainerin
Oprah Winfrey in der Badi Bremgarten mit dem fadenscheinigen Argument abgewiesen worden war, ihre KrokoTasche dürfe sie aber nicht ins Kinderbecken nehmen, weil
sie damit angeblich «falsche Signale» (!) aussende, steht
unser Land einmal mehr im Fokus weltweiter Kritik.
Solche Pannen in der Kommunikation, darin sind sich
internationale Kommunikations-Fachexperten und -expertinnen von Doris «ETH» Fiala bis Klaus «Fidel» Stöhlker
einig, können passieren, dürfen aber nicht passieren. Die
Fachmeinungen der Fachpersonen lauten unisono «Geht
gar nicht!» und «Absolutes No-Go!» und reichen von
«Unverständnis pur» bis zu «purem Unverständnis». Nun
ist Schadensbegrenzung angesagt. Ein erster Versuch dazu
war der Tweet der Schweiz-Tourismus-Sprecherin Daniela
Bär: «Wir brodeln vor Wut.» Der Fachverband Schweizer
Textbausteinhersteller hat sogar mit einem Warnstreik
gedroht. Nur Richard Wolff (Alternative Liste) verweigert
jeden Kommentar zum peinlichen Vorfall. Wovon will er
mit seinem Schweigen wohl ablenken? PETER SCHNEIDER
WETTER
ALPHA
Am Morgen
sonnig, ab Mittag
Wolken. In den Bergen
Gewitter möglich, 29 Grad.
80 Kaderstellen-Angebote
Schulhaus geschlossen: Die Polizei muss die Erstklässler in Kleinbasel am ersten Schultag in ein Provisorium begleiten
FOTO: STEFAN BOHRER
Steuerstreit: Angebot aus USA
Heinz Karrer wird Profi-VR
Washington soll Bussen nochmals erhöht haben
Bei Economiesuisse hat er nur 50-Prozent-Job
BERN Im US-Steuerstreit liegt laut
mehreren Quellen der SonntagsZeitung ein neues Angebot der
USA vor. So sind die Vereinigten
Staaten trotz dem ParlamentsNein vom Juni doch wieder bereit,
ein Programm zu starten, mit dem
die Schweizer Banken ihre Steuervergehen in den USA ohne langwierige Prozesse bereinigen könnten. Doch die USA haben laut Insidern die Bedingungen derart
hochgeschraubt, dass sie für Fi-
nanzministerin Eveline WidmerSchlumpf inakzeptabel seien. So
sollen die USA die Bussen seit
Juni erhöht haben. Ein Abbruch
der politischen Verhandlungen
scheint so immer wahrscheinlicher, denn bei Banken wie CS,
Julius Bär oder ZKB, die im Visier
der USA sind, stocken die Verhandlungen, solange auf politischer Ebene noch Gespräche laufen. Auch Politiker verlangen jetzt
den Abbruch der Übung. SEITE 5
ZÜRICH In Politik und Wirtschaft
wundert man sich, dass Heinz
Karrer die Leitung des Stromkonzerns Axpo freiwillig abgibt und
als Präsident des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse einen
Halbtagsjob übernimmt, der risikobehaftet ist, aber bis dato bescheiden entlöhnt wurde. Recherchen zeigen Karrers Plan: Er wird
Profi-Verwaltungsrat. Damit verschafft er sich Sicherheit, einen
finanziellen Ausgleich und Haus-
macht. «Heinz Karrer wird gut zur
Hälfte Economiesuisse-Präsident
und die andere Zeit Profi-Verwaltungsrat sein», sagt Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt. Rolf
Soiron, Mitglied des Vorstandsausschusses: «Der Präsident von
Economiesuisse soll kein Funktionär oder Politiker sein, sondern
einer von uns.» Für Karrer hat der
Verband die Entlöhnung des Präsidiums auf rund 300 000 Franken
verdoppelt.
SEITE 43
2
IN DEN
SCHULEN
WIRD ES ENG
E D I TO R I A L
Liebe Leserinnen und Leser
Wenn Sie Schmuck, den andere gestohlen haben, kaufen, machen Sie
sich der Hehlerei schuldig. Indem nun
der Bundesrat fremden Staaten
Amtshilfe leisten will, obwohl
klar ist, dass deren Gesuche auf
gestohlenen Daten beruhen,
fördert er die Hehlerei. Zumindest drückt er ein Auge
zu. Was wie ein schlechter
Sommerscherz daherkommt,
ist leider ein seriös gemeinter
Versuch der Landesregierung,
in vorauseilendem Gehorsam
der Kritik aus dem Ausland den
Wind aus den Segeln zu nehmen.
Wieder warnt der Bundesrat –
man mag es nicht mehr hören: Wenn die Schweiz
nicht auch bei Amtshilfegesuchen kooperiere, die auf
gestohlenen Bankkundendaten beruhen, drohe sie
auf einer schwarzen Liste der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) zu landen. Um das zu verhindern, nimmt der
Bundesrat in Kauf, dass rechtsstaatliche Grundsätze
aufgegeben werden. Auch sollen betroffene Personen
nicht mehr vorgängig über Datenlieferungen ans
Ausland informiert werden, womit sich diese nicht
mehr über den Rechtsweg wehren können. Damit
werden Rechte der Bürger eingeschränkt. In dieses
bedenkliche Bild passt, dass der Vorschlag des
Finanzdepartements im Schnellzugstempo durch die
Vernehmlassung und das Parlament geschickt und
dieses teilweise sogar ausgehebelt werden soll.
Schwarze Liste: Na und? Als Bürger ist es mir
lieber, dass wir auf einer schwarzen Liste der OECD
auftauchen, als dass unsere Regierung Grundsätze,
auf denen unser Rechtsstaat basiert, locker verletzt.
Zu den Pluspunkten unserer Demokratie gehört es,
dass das Parlament unsinnige Vorschläge des
Bundesrates versenken kann, wie es dies in letzter
Zeit einige Male getan hat. Auch der neueste Schildbürgerstreich der Landesregierung in Sachen
Amtshilfegesetz verdient es, von den eidgenössischen
Räten kompromisslos abgelehnt zu werden.
Was das Ausland über uns denkt, scheint einigen
Mitgliedern der Landesregierung wichtiger zu sein
als der Schutz des Rechtsstaates. Sie sollten
Rechenschaft darüber ablegen, wem sie eigentlich
dienen: den eigenen Bürgern oder dem Ausland.
Wer Bürgerrechte zu wenig ernst nimmt, hat in
der Landesregierung nichts zu suchen und gehört
MARTIN SPIELER, CHEFREDAKTOR
abgewählt.
MELDUNG
508 Alphornbläser stellen
auf dem Gornergrat Weltrekord auf
ZERMATT VS Der 2009
auf dem Gornergrat
aufgestellte Weltrekord für das grösste
Alphorn-Orchester ist
am Samstag am
gleichen Ort gebrochen
worden: 508 Musiker –
142 mehr als beim
letzten Mal – brachten
ein von Gilbert Kolly
extra komponiertes
Auftragswerk zur
Welturaufführung. Auf 3089 Meter über Meer
spielten die Musiker aus kantonalen, nationalen
und internationalen Formationen vor einer Kulisse
mit Matterhorn und 28 weiteren Viertausendern.
HEUTE
I N S E R AT E
LOTTO
S. 30
BILDUNG UND KURSE S. 14
SPORT AM TV
S. 30
FERIEN UND REISEN
S. 70
TV-PROGRAMM
S. 40
IMMOBILIEN KAUF
S. 50
RÄTSEL
S. 59
IMMOBILIEN MIETE
S. 52
HOROSKOP
S. 68
KINO
S. 38
COMICS/IMPRESSUM
S. 74
VERANSTALTUNGEN
S. 38
WETTER
S. 32
MARKTPLATZ
S. 14
Viele Gemeinden stossen an ihre
Grenzen. Der Report mit Besuchen
in Basel, Wohlen AG und Pfungen ZH
Testlauf in Basel: Polizisten und Eltern begleiten die Kinder über die gefährliche Strasse bis zum einen Kilometer entfernten Provisorium
VON FLORIAN IMBACH, OLIVER
ZIHLMANN, MARIE MAURISSE (TEXT)
UND STEFAN BOHRER (FOTOS)
Ein Polizist mit Funkgerät
führt eine hundert Meter lange
Kinderkarawane an. Ein Grossaufgebot der Polizei sichert die
Kolonne in Kleinbasel wie einen
Demonstrationsumzug. Die Kleinen sind nicht etwa junge Hooligans, sondern Erstklässler des
Bläsi-Schulhauses. Mittendrin gehen Fiamma und Flurin Hand in
Hand. Die beiden Sechsjährigen
sind beste Freunde und kommen
im Partnerlook: Es ist schliesslich
ihr erster Schultag. Ihr Schulhaus
wird umgebaut. Während der
Bauarbeiten müssen sie in ein
mehr als einen Kilometer entferntes Provisorium.
Jetzt findet der Testlauf unter
Aufsicht statt. Die Kleinen müssen eine 20 Meter breite Schnellstrasse passieren. In einem Video
der «Tageswoche» sieht man, wie
drei kleine Mädchen mehrmals
ohne Begleitung versuchen, die
Strasse zu überqueren und
schliesslich mitten auf der Strasse voller Angst umdrehen, weil
ein Tram heranrast.
Die Stadt gibt sich Mühe, den
Umzug gut zu bewältigen. 150 000
Franken kostet es allein, den gefährlichen Übergang zu sichern.
Aber Basels Schulsystem ist buchstäblich eine Grossbaustelle:
15 Schulhausgesamtsanierungen,
8 Neubauten, bisher budgetiert
sind 790 Millionen Franken für
die nächsten zehn Jahre.
Basel erlebt in einem perfekten
Sturm, was derzeit Schulen im ganzen Land an den Anschlag bringt:
Lehrer brauchen für modernen
Unterricht mehr Räume und mehr
Platz. An vielen Orten entstehen
sogenannte Tagesstrukturen, wo
Kinder tagsüber in der Schule bleiben, was zusätzlich Platz braucht.
Reformen verlängern die obligatorische Schulzeit. Vor allem aber
drängen die Babyboomer der Nullerjahre in die Klassenzimmer. Der
Kinderzuwachs betrifft am stärksten die Kantone Basel-Stadt,
Waadt, Zürich, Aargau und Genf.
Die Babyboomer kommen
BERN
Kanton
BS
VD
ZH
AG
GE
VS
TG
CH
ZG
LU
FR
AR
BE
OW
SO
NW
SH
AI
BL
TI
GL
SG
SZ
GR
UR
JU
NE
Schülerzuwachs
2013–21
Veränderung
in Prozent
+3 352
+11 036
+14 804
+6 859
+5 366
+2 946
+2 264
+62 871
+874
+2 912
+2 548
+379
+5 907
+189
+1 063
+174
+277
+64
+863
+1 083
+101
+1 121
+12
-36
-111
-285
-895
+20,9%
+12,9%
+10,2%
+9,8%
+9,7%
+8,3%
+7,9%
+7,2%
+7,2%
+7,1%
+6,9%
+6,6%
+5,9%
+4,7%
+4,1%
+4,1%
+3,5%
+3,3%
+3,1%
+2,9%
+2,5%
+2,1%
+0,1%
-0,2%
-2,9%
-3,4%
-4,4%
Quelle: Bundesamt für Statistik,
Bildungsperspektiven, «Szenarien
2012–2021 für das Bildungssystem»
Prognose der Volksschüler auf Basis
der Daten von 2010
Pfungen ZH: Morgen startet hier
FOTO: FLORIAN IMBACH
die Schule
Eine Umfrage der SonntagsZeitung bei über 1000 Schulleitern
zeigt: Das Platzproblem brennt
unter den Nägeln. 240 Schulen
antworteten. 186 Schulleiter sprechen von Platzproblemen (siehe
Box rechts). Eine Umfrage unter
Herstellern von Schulraumprovisorien zeigt, dass derzeit mindestens 750 provisorische Schulzimmer in Betrieb sind, die Hersteller sprechen von einem Boom
(siehe Text rechts).
In Hunderten Anlagen ist kaum
Platz für die Schüler von heute
und es zeichnet sich bereits ab,
dass sich das Problem weiter zuspitzt. Die Bildungsexperten des
Bundesamtes für Statistik rechnen vor, dass in acht Jahren über
62 000 Schüler mehr in die obligatorische Schule gehen als heute
(siehe Tabelle links). 930 000 Schülerinnen und Schüler sind es im
Jahr 2021, der höchste Wert seit
Einführung der Statistik 1980.
Lehrer und Schulleiter warnen
vor Engpässen. Bernard Gertsch,
Präsident des Schulleiterverbandes, sieht Handlungsbedarf: «Das
Platzproblem beschäftigt uns
stark. Die Gemeinden müssen in
den Schulraum investieren.» Beat
W. Zemp, Präsident des Lehrerverbandes, spricht von einem Problem, das man nicht auf die lange
Bank schieben dürfe.
Vielerorts fehlt eine
Schulraumplanung
Besonders kleine Gemeinden sind
von einem Schüleranstieg oft überfordert. Magden im Kanton Aargau etwa löst den Platzmangel bei
den Kleinsten mit einem «Naturund Bewegungskindergarten».
Der Gemeinde fehlen überdachte
Räume, darum spielen die Kinder
nun das ganze Jahr draussen.
Pfungen im Kanton Zürich bestellte kurzerhand 40 Container.
10 Klassen Primarschüler begehen morgen den ersten Tag des
neuen Schuljahres in Metallboxen. Keine andere Gemeinde des
Kantons ist in den letzten Jahren
so stark gewachsen. Das 3400-Seelen-Dorf bekam innert drei Jahren 25 Prozent mehr Einwohner.
Morgen starten rund 50 Erstklässler: Das gab es hier noch nie.
Gemeindepräsident Max Rütimann will die Situation nicht beschönigen. Er sagt: «Die Einwohnerzahl ist regelrecht explodiert.»
Nun stehen Container auf dem
Schulhausgelände. Die Klassenzimmer sind klein. Wenn es regnet, prasseln die Tropfen lautstark auf das Metalldach, berichten Betroffene. Scheint die Sonne, werde es rasch stickig.
Dabei hätte die Gemeinde wissen können, was auf sie zukommt.
Ende der 80er-, Anfang der 90erJahre wandelte sie eine der grössten Flächen im Kanton zur Bauzone. Vor zehn Jahren wurden die
Parzellen eingeteilt. Spätestens da
hätte der Gemeinderat reagieren
müssen. Seit 2007 wird der Ortsteil Nord überbaut. «Wir waren
überrascht, wie schnell alles ging.
Damals wurde sicher zu wenig
weit gedacht», sagt Rütimann.
In vielen Gemeinden herrscht
ein ähnliches Bild: Eine fachmännische Schulraumplanung fehlt.
Diese sei aber entscheidend und
werde oft vernachlässigt, sagt Urs
Maurer, Experte für Schulraumplanung. Der ehemalige Lehrer,
Architekt und Stadtplaner von
Burgdorf spezialisierte sich vor
13 Jahren auf die Schulraumplanung. Er sagt: «Ohne strategische Planung sehen Gemeinden
Engpässe in der Regel erst, wenn
es zu spät ist.»
Pfungen verkaufte eine an das
Schulgelände angrenzende Parzelle bereits vor Jahren, daher
hatte die Gemeinde keine andere
Wahl, als das alte Schulhaus
Breiteacker abzureissen und dort
ein neues zu errichten. Während
der Sommerferien fuhren die Bagger auf. Wenn die Kinder morgen
an ihrem ersten Schultag aus dem
Fenster sehen, blicken sie auf eine
Baustelle. Rütimann hofft, dass das
Schulhaus im nächsten Schuljahr
bezugsbereit sein wird.
Milizgemeinderäte, Schulpfleger und Schulleiter sind oft
überfordert. Bildungspolitiker des
Bundes und der Kantone bestimmen zwar die Strategie der Volks-
SchulanfangNachrichten
18. AUGUST 2013
V. l.: Sara, Mollana, Fiamma und Henry. Die vier Erstklässler freuen sich über ihren ersten Schultag – im Hintergrund das temporäre Bläsi-Schulhaus auf dem Erlenmatt-Areal in Kleinbasel
schule, ausführen müssen sie aber
die Menschen in den Gemeinden.
«Vom Kanton werden wir allein
gelassen», sagt Rütimann stellvertretend für viele, die dies auch der
SonntagsZeitung geschrieben haben. «Die Kantone haben sich aus
der Planung verabschiedet», lautet das Fazit von Experte Maurer.
Der Schulraumplaner rät zur
Selbsthilfe und bringt mit dem
Netzwerk «Bildung und Architektur» Gemeindevertreter, Schulleiter und Architekten zusammen.
Im Primarschulhaus Halde in
Wohlen AG ist es schon seit längerem viel zu eng. «Jetzt ist aber
wirklich alles komplett voll», sagt
Schulvorsteher Paul Huwiler. Im
Gang stehen Tische und Stühle
für Gruppenarbeiten, der Abwart
weiss nicht mehr wohin mit dem
Schulmaterial, seine 20 Kanister
Reinigungsmittel konnte er gerade noch in einer Kammer stapeln.
Ein Provisorium sollte ursprünglich für 5 Jahre zusätzlichen Raum
bieten – es steht nun schon seit
mehr als 20 Jahren. Die Wände
sind dünn. Wenn die Klasse
nebenan «ich ghöre es Glöggli»
singt, ist an ruhiges Arbeiten nicht
zu denken.
Schulreformen verschärfen
das Problem
Wohlen ist im Kanton Aargau
eine Art pädagogische Regionalmacht. Während die Gemeinde
versucht, die Kinder der Zuzüger
unterzubringen, muss Huwiler an
einer der grössten Schulen des
Kantons die Schulreform Harmos
umsetzen, die die Primarschule
hier um ein Jahr verlängert. Die
Stadt rechnet mit 250 Primarschülern mehr in sechs Jahren
und plant 13 neue Klassen.
In vielen Gemeinden wird deutlich, was Huwiler folgendermassen zusammenfasst: «Wir
brauchen heute in der Schule für
wirklich alles mehr Platz.» Die
meisten Kantone sehen pro Klasse einen Gruppenraum vor, wo
die Schüler selbstständig arbeiten
können. Es gebe wenige Schulleiter, die dafür in ihrem Schulhaus
genug Räume hätten.
Grosses Echo auf Umfrage zur Raumknappheit
Die SonntagsZeitung hat an über 1000 Primarschulleiter in acht
besonders betroffenen Kantonen einen elektronischen Fragebogen
zum Thema Platznot verschickt. 240 haben geantwortet, der grösste
Teil stammt aus den Kantonen Zürich und Aargau. 186 Schulen geben
an, mit Platzproblemen zu kämpfen.
Das Problem wird so schnell nicht verschwinden: 139 dieser Schulleiter
rechnen mit Platzengpässen in den nächsten fünf Jahren. Als häufigste
Ursache für das Problem nennen sie den Kinderzuwachs (136) und neue
Unterrichtsformen wie getrennter Gruppenunterricht (135). Oft berichten
die Schulleiter von Provisorien in ihren Gemeinden. An 48 Schulen
unterrichten Lehrer in provisorischen Schulräumen und Containern. Die
Unterstützung durch die Gemeinde und den Kanton werten 39 Schulleiter als ungenügend, 8 gar als schlecht. Viele Schulleiter nahmen die
Gelegenheit wahr, von ihren teils akuten Platzproblemen zu berichten.
Hier eine Auswahl der Rückmeldungen:
«Unsere Schule verfügt weder über einen Singsaal noch über eine Turnhalle. Die Bibliothek
befindet sich im Keller und ist feucht.»
«Unsere Ganztagesbetreuung findet auf sehr
engem Raum statt, bis 35 Kinder in einer
3-Zimmer-Wohnung.»
«Die Bedürfnisse und auch die Ansprüche
an die Schulhäuser sind in den vergangenen
Jahrzehnten massiv grösser geworden.»
«Ohne Bauvorhaben wäre der Engpass enorm.»
«Kindergärten genügen den heutigen Platzanforderungen oft nicht mehr: Deutsch- und
Förderunterricht finden unter prekären
räumlichen Bedingungen statt.»
«Die nötigen Gelder für personelle Anpassungen,
Infrastruktur und Material werden von den
Politikern nicht gesprochen oder weggespart!»
«Dank engagierter Schulpflege kommt ein
Schulhausneubau diesen Herbst vors Volk.
Hoffnung auf Erleichterung ist angesagt!»
Die Rückmeldungen und Zahlen sind nicht repräsentativ, zeichnen aber
ein gutes Bild der Zustände vor Ort. «Die Umfrage zeigt ein Problem auf,
das man nicht auf die lange Bank schieben darf», sagt Beat W. Zemp,
Präsident des Lehrerdachverbandes.
In Wohlen kam die Schulraumplanung zum Schluss: Ein neues
Schulhaus mit 18 Räumen muss
her, das alte Halde wird saniert,
der Pavillon abgerissen. Ein Neubau, das kann dauern und löst die
aktuellen Platzprobleme nicht.
Doch immerhin: Die Schulraumplanung soll permanent weitergeführt werden, damit die Gemeinde auf zukünftige Engpässe vorbereitet ist. «Das gehört heutzutage einfach zu den Aufgaben
einer Gemeinde, genauso wie die
Finanz- oder Verkehrsplanung»,
sagt Huwiler.
Das sei richtig, sagt Experte Urs
Maurer. Jede Gemeinde müsse
den Bedarf und die zukünftige
Schülerentwicklung regelmässig
überprüfen, auch ohne gleich ein
konkretes Bauprojekt vor Augen
zu haben. «Wenn eine Gemeinde
erst reagiert, wenn der Platz nicht
mehr reicht, muss sie kurzfristig
Provisorien auftreiben und unter
Druck einen Neubau realisieren.»
Das sei teurer als eine strategische
Planung.
Besonders ärgerlich für Lehrer,
Schulleiter und nicht zuletzt die
Kinder: Auch wenn das Platzproblem erkannt wird, zeigen zahlreiche Beispiele, dass die Lösung
an der Gemeinde scheitern kann.
Eine Prorektorin aus Zug sagt:
«Die Schülerzahlen nehmen rasant zu, zusätzlicher Schulraum
ist dringend nötig.» Ein Neubauprojekt aber wurde vor den Sommerferien vom Parlament zurückgewiesen.
In Basel liefen die Eltern Sturm
gegen das Bläsi-Provisorium. Sie
starteten sogar eine Petition, wie
Flurins Vater Salvatore erzählt.
Im provisorischen Schulhaus sitzt
Flurin nun zum ersten Mal an seinem eigenen Pult. Fiamma auch,
sie ist in derselben Klasse.
Der sechsjährige Henry sitzt
ganz hinten und versucht angestrengt, der Lehrerin zuzuhören.
Sein Vater misst derweil am Fenster mit seinem iPhone den Lärm
der 30 Meter entfernten A 2:
«75 Dezibel».
[email protected]
Provisorien
für 10 000 Kinder
Die Produzenten von temporären
Schulräumen erleben derzeit einen Boom
BERN Vier grosse Hersteller von provisorischen Schulzimmern
berechneten auf Anfrage der SonntagsZeitung, wie viele ihrer
Räume derzeit in den Kantonen stehen. Demnach sind für den
Schulstart 2013 rund 750 provisorische Zimmer in Betrieb.
Selbst wenn nicht alle als Klassenräume dienen, kann man davon ausgehen, dass über 10 000 Kinder in Provisorien unterrichtet werden. Allein im Kanton Zürich stehen demnach über
300 Schulzimmer unterschiedlicher Bauart, im Aargau und in
Basel über 100, in St. Gallen rund 90 Zimmer. Wegen der Platzprobleme erleben die Schulzimmerbauer einen Boom. «Die
Nachfrage ist in den letzten zehn Jahren stark angestiegen», sagt
Martin Schenkel, Leiter Raumsysteme bei Condecta. Die Firmen Blumer-Lehmann, Erne und Kifa bestätigen den Trend.
Weil sich die Lage in vielen Schulen verschärft, kommen Anfragen immer kurzfristiger. «Oft ist der Raumbedarf für die
Schüler kurzfristig nicht vorhanden», sagt Ruedi Heim, Geschäftsführer der Kifa. «Teilweise werden auch Kreditbegehren
an der Urne abgelehnt, und es muss schnell eine Lösung her.»
Einige Gemeinden bestellen zusätzliche Räume erst kurz vor den SommerGemeinden ferien.
bestellen noch
«Die Herstellung und Lieferung von
modularen
Schulbauten ist ein Saisonkurz vor den
geschäft, der Schuljahresbeginn dikSommerferien tiert den Fertigstellungstermin», sagt
zusätzliche Martin Reinhard, Produkte-Manager
Räume der Firma Erne. «Das ist nur mit grossen Produktionskapazitäten und einer
enormen Leistungsbereitschaft unserer
Mitarbeiter zu meistern.» Beat W. Zemp, Präsident des Lehrerdachverbandes, sagt, Provisorien seien teilweise sinnvoll. Er
unterrichtete drei Jahre in einem Provisorium, zieht aber eine
kritische Bilanz: «Es war im Winter morgens eiskalt, im Sommer
zu heiss, und es hatte keine ausreichende Schalldämpfung, sodass der Unterricht aus dem Nebenzimmer störte.»
Die Spannbreite der Provisorien ist allerdings breit. Sie
reicht vom alten Metall-Container bis zum Minergie-Pavillon
aus Stahl, Holz und Glas, der als «Providurium» dient. Viele
Schulen bestellen Pavillons, weil sie rasch demontiert und verschoben sind. «Die Gemeinden setzen zunehmend auf Hochqualität-Bauten mit Minergiestandard, die heutige Baunormen
besser erfüllen als viele Schulhäuser aus der Nachkriegszeit»,
sagt Migga Hug von Blumer-Lehmann.
Neben der Qualität der Provisorien ist jedoch auch der
Standort entscheidend. Das provisorische Bläsi-Schulhaus in
Basel erfüllt zwar hohe Standards, sein Standort verlängert
aber den Schulweg, die Turnhalle fehlt, und es steht nur 30 Meter neben der achtspurigen A 2 Basel–Gotthard. Entsprechend
O. ZIHLMANN
laut ist es bei geöffneten Fenstern.