AZ Silicon Valley
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AZ 5000 Aarau | Nr. 207 | 9. Jahrgang | Ausgabe 30 | Redaktion 058 200 53 10 | E-Mail [email protected] | Abo 058 200 55 00 | Anzeigen 058 200 53 53 | Fr. 3.50 PATRIZIA LAERI & CO. MARK ZUCKERBERG Bevorzugt das Schweizer Fernsehen junge Moderatorinnen? Facebook probt die Zukunft: Internet soll begehbar werden. Seite 20 Seite 11 Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 | Nationale Ausgabe | www.schweizamsonntag.ch Alles über die Olympischen Spiele in Rio. Seite 36/37 HO Die unheimliche Macht des Silicon Valley Brasilien, wir kommen! Brisanter Rat von Experten Bundesanwalt und -strafrichter abschaffen. Seite 10 Filmfestival Locarno Hollywoodstar Bill Pullman im Interview. Seite 43 Kochen mit Holz, Moos und Rinde Neuer Trend: Der Wald zieht in die Küche. Seite 48 Machbarkeitsglaube und Grössenwahn: Der Apple-Konzern baut in Cupertino (Kalifornien) einen gigantischen neuen Campus. Reuters/Noah Berger Kommentar VON PATRIK MÜLLER Nichts hat unseren Alltag, unsere Arbeit und unsere Gesellschaft so tiefgreifend verändert wie das Internet und das Smartphone. Genau 25 Jahre ist es her, seit die erste Website online ging – es war der Urknall der digitalen Revolution. Aus diesem Anlass ist ein Redaktionsteam der «Schweiz am Sonntag» ins Silicon Valley gereist. In jenes Tal an der US-Westküste südlich von San Francisco, aus dem fast all die bahnbrechenden Erfindungen kommen, die «disruptiven Innovationen», welche ganze Branchen umpflügen. Apple, Google, Facebook, Tesla und der Fahrdienst Uber sind nur einige der bekanntesten Firmen, die hier, zwölf Flugstunden von Zürich, beheimatet sind – und die Revolution in immer schnellerem Tempo vorantreiben. Für unsere Schwerpunktausgabe haben wir führende Persönlichkeiten aus dem Valley getroffen, so den legendären Präsidenten der Elite-Universität Stanford John Hennessy, dessen bekannteste Schüler die Gründer von Google waren. Wir sprachen mit dem Baselbieter Urs Hölzle, der seit den Anfängen bei Google ist, mit dem Rheintaler Daniel Graf, der mit Uber, dem am schnellsten wachsenden Unternehmen der Geschichte, Grosses vorhat, und mit dem Zürcher Super-Investor Toni Schneider, der in über 200 Start-ups investiert ist. Das Bild, das sich aus den Gesprächen ergab, ist klar: Die Revolution ist 25 Jah re Int ernet erst gerade losgegangen. In unserer heutigen Ausgabe lesen Sie, welches die nächsten grossen Dinge sind, an denen die Valley-Pioniere arbeiten. Virtuelle Realität beispielsweise gehört dazu (siehe «morgen»-Bund). Wir zeigen, warum Schweizer Manager in Scharen nach Kalifornien pilgern und wieso hier immer mehr Firmen, von Swisscom bis Nestlé, eigene Niederlassungen gründen (siehe Wirtschaftsteil). Und wir fragen: Worin liegen die Chancen des Wirtschafts- und Bildungsstandorts Schweiz? Zudem be- leuchten wir die fragwürdigen Seiten der Internet-Pioniere: Ihr Machbarkeitsglaube und die Besessenheit, alle Probleme der Menschheit durch Technik zu lösen, offenbaren einen Grössenwahn, der gefährlich ist und die Demokratie untergraben kann. Sinnbildlich dafür steht der neue, gigantische Campus von Apple in Cupertino, der gerade im Bau ist (siehe Foto) und vom Konzern «Spaceship», also Raumschiff, genannt wird. Das Silicon Valley hebt ab – ob das gut kommt? Reportagen, Analysen, Porträts, Reisetipps, Interviews – die Beiträge aus Kalifornien finden Sie in allen Zeitungsbünden. «In der Schweiz gleicht Trump am ehesten LegaGründer Giuliano Bignasca.» OTHMAR VON MATT Seite 19 CH_So Silicon Valley 25 Epizentrum der digitalen Revolution Das Web kam in Genf zur Welt Im Silicon Valley ist man besessen davon, jedes erdenkliche Problem der Menschheit zu lösen. Auch Schweizer zieht es in Scharen hierhin. Was ist die Erfolgsformel des mächtigsten Tals der Welt? VON PATRIK MÜLLER, ANDREAS MAURER (TEXT) UND PATRICK ZÜST (FOTO) ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Der dunkelgraue Kapuzenpulli wäre nichts Spezielles ohne die sechs weiss aufgedruckten Buchstaben. Google. Dieser Schriftzug macht das Kleidungsstück wertvoll, 55.99 Dollar kostet es. Daneben hängt ein Rucksack, schwarz, mit denselben sechs Buchstaben, für 99.99 Dollar. Wir sind im Google-Shop in Mountain View (Kalifornien), am Hauptsitz des Internetkonzerns. Es gibt hier von Baby-Socken bis zur Lippenpomade unzählige Werbeartikel. Die Leute reissen sich darum, und sie zahlen dafür. Sie machen Selfies vor dem Google-Auto und posieren stolz vor dem Firmenlogo. Sie wollen beweisen können: Ich war hier, in der Machtzentrale der digitalen Welt, bei den Revolutionären des 21. Jahrhunderts. Google, Facebook, der Fahrdienst Uber, der Online-Händler Amazon und natürlich Apple mit seinen Kultprodukten iPhone und iPad: Sie sind daran, unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Arbeit komplett zu verändern. Die Menschen rund um den Globus machen bei dieser Revolution mit. Und die Revolutionäre schaffen es gar, Fanartikel zu verkaufen. «Don’t be evil», sei nicht böse, lautet das Motto von Google. Apple-Gründer Steve Jobs prägte den Satz: «Make the world a better place», mach aus der Welt einen besseren Ort. Die Revolutionäre sagen alle, sie hätten nur Gutes im Sinn. Das gilt auch für Elon Musk, den Gründer des Elektroautos Tesla, der diese Woche in den USA eine «Gigafabrik» (O-Ton Musk) eröffnet hat, in dem er Batterien herstellen will, die nichts weniger als «das Energieproblem lösen» sollen. Ein Hort des Optimismus Das Silicon Valley, in dem die meisten dieser Firmen beheimatet sind, sei ein «Hort des Optimismus und des Glaubens, dass sich Probleme lösen lassen», sagt John Hennessy, der Präsi- dent der Elite-Universität Stanford. Wir treffen ihn in seinem Büro, inmitten von Kartonschachteln. Der legendäre Professor, dessen berühmteste Schüler die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page waren, wird bald pensioniert und hat schon die ersten Kisten gepackt. Hennessy glaubt daran, dass an seiner Wirkungsstätte und im Valley noch viele grosse Probleme der Menschheit gelöst werden. Was man in Europa bisweilen als Grössenwahnsieht, wird in Kalifornien wenig hinterfragt. «Wir sind Problem-Solvers», lautet das Selbstverständnis. Egal ob man mit Professoren, Startup-Gründern oder Investoren spricht: Immer dringen ein unbändiger Optimismus und ein Machbarkeitsglaube durch, verbunden mit Risikolust. Das ist insofern bemerkenswert, als nur 1 bis 2 Prozent der Start-up-Unternehmer im Silicon Valley wirklich eine Finanzierung finden, und von diesen wiederum wird nur ein kleiner Bruchteil ein wirklicher Erfolg. Das Silicon Valley ist in Wahrheit ein Tal der Verlierer. Aber scheitern gehört hier zum Konzept, das gilt auch für die Grosskonzerne: Die Wunderbrille «Google Glass» war ein spektakulärer Flop. Schwamm drüber – stattdessen tüftelt Google nun halt am selbstfahrenden Auto und anderen Dingen. Zauberwort Disruption Wahrgenommen werden nicht die Flops, sondern die disruptiven Innovationen: Erfindungen, die die Welt verändern und ganze Wirtschaftszweige umpflügen. Deswegen wallfahren auch Schweizer Unternehmer und Manager ins Silicon Valley, um von den supererfolgreichen Internetkonzernen zu lernen. Sie sind nicht nur von Lernbegierde getrieben, sondern auch von Angst: Wird vielleicht bald ihr eigenes Unternehmen «disrumpiert», von einem Start-up infrage gestellt? Was ist das nächste grosse Ding, das hier entsteht? Der Business-Tourismus boomt. Swiss bietet seit 2010 Direktflüge von Am 6. August 1991 ging die erste Website online. Ein Besuch bei zwei Geburtshelfern. VON CHRISTOPH BERNET ● Standort zu einem der bedeutendsten in Europa machen. Der Initiant, Ringier-Chef Marc Walder, der wiederholt ins Valley reiste, vergleicht den Wettbewerb mit einem Fussballspiel: «Die erste Halbzeit hat Europa gegen die USA verloren. Und zwar haushoch. Nun läuft die zweite Halbzeit. Und die Uhr tickt gegen Europa.» Zürich habe jedoch gute Chancen, die Stadt sei weltweit top in Innovation, Investitionen in digitale Weiterentwicklungen, Bandbreite für Internetdaten und Lebensqualität. Das reiche aber nicht: «Die Besteuerung des Vermögens von jungen Firmen ist ein zentrales Thema, auch die Besteuerung von Mitarbeiterbeteiligungen. Hier muss der Standort Zürich attraktiver werden für Start-ups», fordert Walder. Für den Durchbruch in die USA Google-Shop am Konzernsitz in Mountain View: Die Revolutionäre versprechen eine bessere Welt – die Konsumenten kaufen es ihnen ab. Patrick Züst Zürich nach San Francisco an. Vor einem Jahr wurde das Angebot im Sommer auf zwei tägliche Verbindungen verdoppelt, und der nächste Ausbau steht bevor: Ab April 2017 setzt Swiss auf der Strecke ausschliesslich das neue Flaggschiff ein, die Boeing 777 mit 121 zusätzlichen Sitzplätzen. Mittlerweile haben die Pilgerströme Dimensionen erreicht, die selbst spezialisierten Tourenanbietern nicht mehr geheuer sind. Einige von ihnen, die Ausflüge von San Francisco ins Silicon Valley verkaufen, betonen auf ihren Websites neuerdings nicht mehr, was man alles erleben wird, sondern was man nicht sehen wird. Wer keine Beziehungen hat, wird die Zentralen von Google oder Facebook nicht von innen besichtigen können. Auf den teuren Touren werden die Tech-Touristen dann vor allem merken, dass das Silicon Valley spektaku- lär unspektakulär ist. Ein paar staubige Kleinstädte entlang der Autobahn, deren Ausfahrten man leicht verpasst. Es bleibt nicht beim Reisen. Viele Unternehmen haben Niederlassungen in der Gegend, Multis wie Nestlé ebenso wie die bundesnahen Betriebe Post und Swisscom. Vermehrt ziehen auch kleinere Unternehmen hierher, etwa der Uhrenhersteller TAG Heuer mit Sitz in La Chaux-de-Fonds, der ab November in Santa Clara ein Dutzend Ingenieure einstellen wird. Sie alle wollen in dieser fast magischen Gegend präsent sein und hier die Erfolgsformel der Zukunft finden. Auch die offizielle Schweiz ist da: An bester Lage, am Pier von San Francisco, ist Swissnex domiziliert, eine Initiative des Wirtschaftsdepartements des Bundes. Swissnex will Brücken schlagen zwischen den USA und der Schweiz und vereinigt Start-ups, fehlt es in Europa an Schulen und Universitäten, die wie Stanford konsequent auf Innovation und Gründertum setzen und die besten Talente der Welt anziehen. Zweitens fehlt es in Europa an Kapital und Risikobereitschaft, wie es hier fast im Übermass vorhanden ist. Drittens fehlt es in Europa an einem grossen, einheitlichen Markt mit einer Sprache, die alle verstehen, um Produkten zum Durchbruch zu verhelfen.» Städte rund um den Globus versuchen, eine Innovations- und Start-upKultur zu etablieren, um im digitalen Zeitalter zu bestehen. New York strebt auf, auch Tel Aviv, in Europa verfügen insbesondere London, Berlin, Stockholm und auch Zürich über eine lebhafte Start-up-Szene. In Zürich haben namhafte Unternehmen die Initiative «Digital Zurich 2025» gegründet und wollen den Hochschulen, aber auch Kunst. Fast jede Woche finden am Pier Veranstaltungen mit Schweiz-Bezug statt. Die Defizite Europas Warum finden helvetische Unternehmen ein derartiges Gründer-Biotop offenbar nur im Silicon Valley vor, einem Tal, das in Wahrheit gar kein Tal, sondern ein Canyon ist? In einer Gegend, die bis in die 1950er-Jahre eine Obstplantage war, bevor sie die Ingenieure und die Chip-Produzenten entdeckten, welche dem «Tal» den Namen gaben (Silicium dient zur Herstellung von Halbleitern)? In der Kantine der Stanford Businessschool begegnen wir zufällig dem britischen Star-Historiker Timothy Garton Ash. Wir fragen ihn, warum die Kapitale der Innovation nicht in Europa liege. Ohne lange nachzudenken, nennt er drei Gründe: «Erstens Schweizer Investoren im Silicon Valley sind für ihre alte Heimat erstaunlich zuversichtlich. Super-Investor Toni Schneider ist 1989 nach Kalifornien ausgewandert und hat mit seinen Gesellschaften über eine Milliarde Franken in 200 Start-ups investiert. In Zürich sei es viel einfacher geworden, ein Start-up zu gründen: «Das ist eine super Entwicklung.» Er plant auch selber, in Schweizer Jungfirmen zu investieren. Schneider glaubt, die Schweiz sei ideal für Gründungen – doch wenn ein Start-up dann wachse und den globalen Durchbruch suche, müsse es irgendwann in die USA kommen. «Der Markt in der Schweiz ist einfach zu klein, und es ist zu wenig Kapital vorhanden», analysiert Schneider. Diejenigen, die es wirklich schaffen, bleiben dann meist für immer. Schneiders drei Kinder wachsen in Kalifornien auf, Uber-Topmanager Daniel Graf hat sich eine riesige Farm gekauft, und für Urs Hölzle, der zu Google stiess, als die Firma noch weniger als zehn Mitarbeiter beschäftigte, sind die USA längst zur Heimat geworden. Nur die analoge Armbanduhr erinnert an seine Herkunft: Hölzle trägt ein Modell der SBB-Bahnhofsuhr am Handgelenk, roter Sekundenzeiger inklusive. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Die dunklen Korridore mit Linoleumböden atmen noch den Geist des vordigitalen Zeitalters. Nichts deutet darauf hin, dass hier, auf dem Boden der Genfer Vorortsgemeinde Meyrin, direkt an der französischen Grenze, die Wiege der digitalen Revolution liegt. «Irgendwo hier hat Tim BernersLee das World Wide Web erschaffen», sagt Ben Segal, während er durch ein in die Jahre gekommenes Bürogebäude auf dem Gelände des Cern schreitet. In welchem der kleinen, spartanisch eingerichteten Büros Berners-Lee damals gearbeitet habe, wisse niemand mehr so genau, sagt Segal. Am 6. August 1991 ging hier die erste Website der Welt online – der Server befand sich in Berners-Lees Büro in einem Untergeschoss. Der britische Informatiker Ben Segal war einer der Mentoren von Berners-Lee. Er unterstützte ihn dabei, seine Vision eines weltweiten Informationsnetzes zu verwirklichen. Von 1971 bis zu seiner Pensionierung 2002 war Segal am Cern tätig. Heute ist der 79-Jährige Ehrenmitglied der Informatikabteilung. Zielstrebig steuert Segal auf eine unspektakuläre Messingplatte zu: «Where the Web was born» steht dort in schwarzen Lettern. Es ist die einzige Reverenz an die wohl revolutionärste Entwicklung, die im Cern ihren Anfang nahm. «Vage, aber aufregend» Tim Berners-Lee arbeitete ab 1984 in der Informatikabteilung des Cern und befasste sich mit Standards zur elektronischen Datenübermittlung. Sein regulärer Job habe ihn nicht besonders in Anspruch genommen, weshalb er Zeit hatte, seine Vision des World Wide Web voranzutreiben, sagt Segal. 1989 legte Berners-Lee seinem Vorgesetzten Mike Sendall ein 14-seitiges Konzept vor. Der nüchterne Titel: «Information Management: A Proposal». Sendall war angetan von der Idee seines brillanten Mitarbeiters: «Vage, aber aufregend», lautete sein Fazit. «Als ich Tims Vorschlag zum ersten Mal gelesen habe, habe ich das meiste nicht verstanden», gesteht Segal. Viele Forscher hätten sich damals mit Fragen des Informationsaustausches zwischen verschiedenen Computernetzwerken auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu den anderen habe BernersLee eine Vision gehabt und diese umgesetzt. Er sei jung genug gewesen, um an seinen Traum zu glauben. Von Hindernissen für seine Idee eines weltweiten Netzes habe er sich nicht entmutigen lassen. «Tim sagte mir immer: Ben, wir müssen uns nur auf ein paar simple Sachen einigen.» «Ein grossartiger Kerl» «Tims netzartige Struktur war revolutionär und ihre Genialität wurde vom Cern zunächst nicht erkannt», sagt Maria Dimou. Die 56-jährige Informatikerin ist seit 1988 am Cern tätig. In der experimentellen Physik, der Königsdisziplin des Cern, seien hierarchische Informationsstrukturen dominant gewesen, sagt Dimou. «Tims Ideen trafen am Cern deshalb auf Widerstand.» Weil Berners-Lee keine Finanzierung für die Weiterentwicklung des Webs erhielt, wechselte er 1994 ans Massachusetts Institute of Technology in den USA. Weder Segal noch Dimou hätten sich in der Anfangsphase des WWW vorstellen können, welche fundamentalen Veränderungen es für sämtliche Lebensbereiche bringen würden: «Auch Tim hatte keine Ahnung», glaubt Segal. Beide halten das Internet weiterhin für eine positive Errungenschaft. Gewisse Entwicklungen bereiten Ben Segal aber Mühe – etwa das Darknet, die Flut an Spam-Mails oder die sozialen Auswirkungen: «Als Internetpioniere wollten wir die Welt verbinden.» Das sei zwar gelungen: «Doch wir haben die Menge an Mist unterschätzt, die wir damit ebenfalls verbinden.» Zum Glück sei Berners-Lee ein herzensguter Mensch und Humanist, der sich bis heute für die Vision eines freien Internets im Dienste der ganzen Menschheit einsetze: «Dass es ein so grossartiger Kerl wie Tim war, der das Web erfunden hat, ist letztendlich ein Zufall – aber ein glücklicher.» Windows 95, iPod und Google-Auto: Meilensteine seit dem Start des Internets 1996 Der britische Physiker Tim Berners-Lee schaltet am Cern in Genf die erste Website der Welt frei – die Seite, die unter der Adresse info.cern.ch abrufbar ist, besteht aus 165 Wörtern. Die Stanford-Absolventen und späteren Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page entwickeln den PageRank-Algorithmus (benannt nach Larry Page), der heute 3½Milliarden Suchanfragen pro Tag bearbeitet – und mitentscheidet, was relevant ist. 1995 1999 Microsoft-Gründer Bill Gates stellt das Betriebssystem Windows 95 vor, das die Computerwelt verändern sollte. Bill Gates, der Erfinder von Windows. Mit dem Blackberry kommt das erste Handy auf den Markt, mit dem man gleichzeitig telefonieren, texten und E-Mails verschicken kann. Heute ist Blackberry zu einem unbedeutenden Unternehmen geschrumpft. 1999 Napster ist die erste Online-Musiktauschbörse. Erstmals lassen sich MP3Musikdateien über das Internet teilen. Revolutionär ist der sogenannte Peerto-Peer-Ansatz (P2P). Fotos: Reuters, Keystone, Ho 1991 2000 Die uneingeschränkte Freigabe der Satellitendaten des Global Positioning System (GPS) durch das USMilitär sorgt dafür, dass die Technik präziser und die Geräte erschwinglicher werden. Damit wird der Weg für den Siegeszug der Navis im Auto bereitet. können Fans ihre Lieder nun im iTunes-Store herunterladen. Steve Jobs landet einen Hit und rettet Apple vor der Pleite. 2004 Start des sozialen Netzwerks Facebook. Erster Nutzer ist Gründer Mark Zuckerberg. Heute hat Facebook 1,6 Milliarden Mitglieder. 2005 2001 Apples iPod revolutioniert die Musikindustrie. Statt CDs im Laden zu kaufen, 32 Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Jah re Int ernet Steve Jobs landet mit dem iPod einen Hit. Mark Zuckerberg, der erste Nutzer von Facebook. Auf Youtube wird das erste Video eingestellt. Es zeigt Mitbegründer Jawed Karim im Zoo von San Diego vor einem Elefantengehege. 2005 2008 Google Maps geht online. Es macht schnell herkömmliche Landkarten überflüssig und gehört heute zu den Pflicht-Apps auf jedem Smartphone. 2007 Steve Jobs präsentiert in San Francisco das erste iPhone und verspricht eine Revolution: «Wir werden das Telefon neu erfinden.» Seitdem wurden 700 Millionen iPhones weltweit verkauft. Apple stieg zum wertvollsten Konzern der Welt auf. Durchbruch für die App: Apple lanciert seinen App Store, eine Plattform für Computerprogramme. 2008 In einem White Paper zur Kryptowährung Bitcoin wird erstmals das Konzept der Blockchain beschrieben, eine Art digitales Kassenbuch, mit dem Transaktionen ohne Zwischenschaltung von Banken abgewickelt werden können. 2010 Erneuter Coup von Apple. Es bringt mit dem iPad sein erstes Tablet auf den Markt. Es ist auch für Verlage interessant, Springer-Chef Mathias Döpfner sieht darin die Rettung seiner Branche. 2014 Google stellt sein autonomes Fahrzeug vor, das ohne Editorial Worauf es ankommt PATRIK MÜLLER, Chefredaktor In dieser Woche gab es in den US-Medien nur ein Thema: die Präsidentschaftswahlen. Hillary oder Trump? Um nichts anderes ging es auf CNN und auf den Frontseiten der Zeitungen und in Gesprächen mit Taxifahrern. Man bekam den Eindruck, die USA und die Welt würden sich komplett anders entwickeln, wenn der eine oder die andere gewinnen würde. Gewiss, es sind zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, mit Programmen, die sich diametral zuwiderlaufen. Doch ist es wirklich diese Wahl, ja ist es überhaupt die Politik, die darüber entscheidet, wie wir in den nächsten Jahren leben, arbeiten, uns bewegen und miteinander umgehen? Unser Redaktionsteam verbrachte diese Woche an jenen Orten, die noch grössere Veränderungskraft haben als die US-Präsidentschaftswahl und andere politische Weichenstellungen. Im kalifornischen Silicon Valley entscheidet sich in Garagen, in Konzernzentralen und in Vorlesungssälen, wohin sich die Welt bewegt. Ein Blick auf die wichtigsten Innovationen seit der Entstehung des Internets (siehe unten) genügt, um festzustellen, wie gewaltig der Einfluss der Tech-Pioniere auf unseren Alltag ist. «Wir überschätzen, was in einem Jahr geschieht, und wir unterschätzen, was in zehn Jahren geschehen kann», sagte einst Microsoft-Gründer Bill Gates. Wie wahr. Nichts deutet darauf hin, dass das Tempo der Veränderungen in Zukunft abnimmt. Müssen wir uns fürchten? Angst ist ein schlechter Ratgeber. Im Silicon Valley spielen sich viele fragwürdige Dinge ab, gewisse Pioniere führen sich wie Gott auf und haben Allmachtsfantasien. Das brauchen wir nicht. Aber vom Silicon Valley lernen sollten wir schon. Vor allem: Optimismus. Der strahlte uns an allen Ecken und Enden entgegen, als wir die Zentralen von Google, Facebook und Uber und auch kleinere Firmen besuchten. Wer Erfolg hat, wird bewundert und nicht beneidet. Wer scheitert, muss sich nicht verkriechen, sondern packt die nächste Chance. Ist das bei uns auch so? Denken wir darüber nach, zum Beispiel morgen, an unserem Nationalfeiertag. Den Präsidenten der Universität Stanford haben wir gefragt, wie wir unsere Kinder am besten auf die Welt von morgen vorbereiten können. John Hennessy antwortete: «Das Wichtigste, was Sie Ihren Kindern vermitteln können, ist die Freude am Lernen.» Die Freude, nicht der Inhalt sei entscheidend. Sagt der Pate des Silicon Valley. Irgendwie ermutigend. [email protected] Sie haben abgestimmt Letzten Sonntag fragten wir: Würden Sie Hillary Clinton oder Donald Trump wählen? 59% 41% Das autonome Fahrzeug von Google. Hillary Clinton die Hilfe eines Menschen navigieren kann. Donald Trump 2016 Ergebnis vom 30.07.2016, Teilnehmer 1747 Der indische Hersteller Ringing Bells beginnt mit der Auslieferung seines Billig-Smartphones Freedom 251, das gerade einmal 4 Dollar kostet. Frage der Woche Sehen Sie in der digitalen Revolution mehr Vor- oder mehr Nachteile für sich selbst? Stimmen Sie online ab unter www.schweizamsonntag.ch 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 nachrichten 5 Die Schweiz liegt in Kalifornien Auch der Nahrungsmittel-Riese Nestlé hat Appetit auf digitale Innovationen. Im Gebäude der Schweizer Netzwerkorganisation Swissnex beim Pier 17 lanciert der Konzern aus Vevey VD mithilfe von Innovationsmanagerin Stephanie Nägeli das Projekt «Henri@Nestlé». In diesem Rahmen können Start-ups Nestlé ihre Ideen schmackhaft machen. Es geht um Themen wie virtuelle Realität, künstliche Intelligenz und darum, eine 150-jährige Firma up to date zu halten. Vor Ort sind 14 Angestellte. Schon heute arbeitet Nestlé mit Start-ups wie zum Beispiel Instacart, Feastly und SpoonRocket. (BWE) Toni Schneider Firmengründer und Investor Bereits mit 19 Jahren wanderte Toni Schneider nach Kalifornien aus. Doch seine Herkunft ist ihm nach wie vor wichtig. «A Swiss guy in San Francisco» heisst sein Blog. Er gründete mit Partnern verschiedene Start-ups – unter anderem den E-Mail-Dienst Oddpost, den Yahoo für 30 Millionen Dollar kaufte. Danach entwickelte Schneider den Bloghosting-Dienst WordPress.com, an dem er noch heute beteiligt ist. Als Investor fördert er aber auch Start-ups. So hat er beispielsweise früh in die Fitness-Tracking-Firma Fitbit investiert, die heute über eine Milliarde Dollar wert ist. (RAS) Daniel Graf Leiter Marketplace bei Uber Das Problem von Daniel Graf (41) war, dass er bei seinem Karrierestart der Zeit voraus war. Der Rheintaler beteiligte sich nach seinem Studium in Buchs sowie in den USA an der Gründung von drei Firmen. Diese entwickelten die erste MP3-Jukebox, das erste Internetradio und -TV sowie den ersten Video-Live-Streaming-Dienst. Grafs Start-ups erregten Aufsehen, doch der durchschlagende Erfolg blieb aus. Erst nachdem ihn Marissa Mayer 2011 zu Google geholt hatte, war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Er brachte Google Maps auf den Markt. Nach dem Welterfolg fällte er einen Fehlentscheid. Er wurde Produktchef bei Twitter. Nach einem halben Jahr, der vertraglich kürzestmöglichen Zeit, kündigte er und nahm eine Auszeit. Graf heiratete und kaufte sich eine Farm mit einem Quadratkilometer Land. Dort nimmt er sich auch ab und zu eine Auszeit, seit er Marketplace-Chef beim Online-Fahrdienst Uber ist. Treu bleibt er sich bei der Kleiderwahl. Nicht einmal zu seiner Hochzeit trug er eine Krawatte. (MAU) Diese Unternehmer und Start-up-Gründerinnen sind ins Silicon Valley ausgewandert und haben sich durchgesetzt. Claude Zellweger Design-Chef HTC Fotos: Patrick Zuest, Drew Altizer, Keystone,Lea Hepp, HO Stephanie Nägeli Innovationsmanagerin Nestlé Lea von Bidder Gründerin von Ava In den vergangenen sieben Jahren ist Lea von Bidder neun Mal umgezogen. Weil sie ihren Master im Global Entrepreneurship Program an drei Hochschulen auf drei verschiedenen Kontinenten absolvierte, weil sie danach eine Fabrik für Edelschokolade in Indien gründete und – ganz aktuell – weil sie im Silicon Valley ihre neue Firma vorantreiben will. Beim Frühstück mit der 26-Jährigen aus dem Kanton Zürich merkt man nicht, dass man der Gründerin eines der vielversprechendsten Schweizer Start-ups gegenübersitzt. Ihre Firma «Ava» hat in der ersten Finanzierungsrunde 2,6 Millionen Dollar erhalten und wurde am vergangenen Dienstag in den USA lanciert. Es handelt sich dabei um einen Fertility-Tracker, ein Sensorarmband, das Frauen ihre fruchtbaren Tage verrät. Im Gegensatz zu den vielen Konkurrenzprodukten be- rücksichtigen von Bidder und ihr Team dabei nicht nur die veränderte Körpertemperatur der Frau, sondern dazu noch eine Vielzahl an zusätzlichen Messwerten. Das Produkt wurde von Schweizern entwickelt, es wurde in der Schweiz getestet, und es wird grösstenteils von Schweizer Firmen finanziert (Swisscom und Zürcher Kantonalbank). Trotzdem lebt von Bidder seit über einem halben Jahr in San Francisco und hat dort den Launch von «Ava» vorbereitet. «Das Ganze wäre schon auch in der Schweiz möglich gewesen», sagt sie. «Aber der Weg wäre um einiges härter geworden.» Danach muss sie zu ihrem nächsten Termin, sie trifft sich noch mit einem potenziellen Investor. Lea von Bidder und ihr Start-up «Ava» sind im Valley angekommen. Ins Silicon Valley kam er über Umwege. Und dennoch sei es unausweichlich gewesen, dass er einmal hier arbeite und wohne, sagt Claude Zellweger. Nach der Kantonsschule studierte er in Montreux Design, bildete sich in San Francisco weiter und tat dann das, was hier so viele tun: Er gründete eine Firma, eine Beratungsfirma für Design. Nach sechs Jahren wurde die Firma vom taiwanesischen Elektronikkonzern HTC aufgekauft und Zellweger zum Design-Chef befördert. Seither gibt der Schweizer den Smartphones von HTC in San Francisco ihre Form. Um sich im Tech-Hotspot durchzusetzen, hätten ihm sein Hintergrund als Schweizer und die Offenheit gegenüber Kalifornien geholfen, sagt Zellweger. «Schweizer schauen Dinge kritisch an und geben sich nicht mit der erstbesten Lösung zu frieden. Kalifornier hingegen sind sehr euphorisch, probieren alles aus. Die Kombination von beidem ergibt eine gute Mischung.» Seine siebenjährigen Kinder hält er erst mal fern von Technik. «Zu Hause leben wir so technologieagnostisch wie möglich», sagt der 44-jährige Familienvater. In den ersten Jahren seien das Entdecken der Natur und der Kontakt mit Menschen das Wichtigste. Technik wäre da nur hinderlich, findet er. Und auch Zellweger selbst lässt sich für das Design seiner Geräte gerne von der Natur inspirieren. (RAS) (ZUS) Urs Hölzle Senior Vice President Google Daniel Borel Logitech-Gründer Schon früh zog es den Neuenburger Daniel Borel (64) nach Kalifornien. Nach absolviertem Physik-Studium an der ETH Lausanne hängte er an der Stanford University einen Master an. 1981 gründete er zusammen mit zwei Italienern die Logitech SA, die mit Computermäusen weltbekannt wurde. Borel gab 1998 die operationelle Leitung des Konzerns und zehn Jahre später das Verwaltungsratspräsidium ab. 1992 verlieh ihm die ETH Lausanne den Ehrendoktor-Titel. Seine Erfinder-DNA hat Borel an seine Kinder weitergegeben. Ein Sohn und eine Tochter sind heute erfolgreiche Start-up-Unternehmer im Silicon Valley. (RIK) Urs Hölzle interessiert sich nicht für Geld. Google könnte die erste Firma mit einer Börsenkapitalisierung von über 1000 Milliarden Dollar sein? Dazu kann er nichts sagen. Es ist nicht seine Welt, er kümmert sich nicht um Aktienkurse. Hölzle ist Informatiker. Man könnte ihn auch als einen der grössten Exporterfolge der Schweiz bezeichnen. 1988 siedelte der Liestaler mit einem ETH-Masterabschluss in der Tasche an die EliteUni Stanford über, wo er doktorierte. Danach lehrte er für einige Jahre an der University of California in Santa Barbara, bevor er in den Kontakt mit einem interessanten Startup kam: Google. Auch der Liebe wegen – seine Frau studierte noch in Stanford – nahm er einen Job bei der damaligen Garagen-Firma an. Hölzle war der achte Angestellte von Google, heute ist er der drittälteste Mitarbeiter. Sein Schweizerdeutsch ist nur wenig eingerostet. 25 Jahre lang lebte Hölzle nicht mehr im Land, aber er war oft zu Besuch: Der 52-Jährige war die treibende Kraft hinter dem Google-Standort in Zürich. Der ist mit derzeit 1800 Mitarbeitern das grösste Google-Zentrum ausserhalb der USA und wird weiter ausgebaut. Hölzle ist für die technische Infrastruktur des Konzerns verantwortlich. Neben Effizienz-, Sicherheits- und Umweltfragen – Google will alle Rechenzentren mit erneuerbarer Energie speisen – ist ihm das grösste Wachstumsfeld des Silicon-Valley-Riesen unterstellt: das Cloud Computing. Darunter wird die Auslagerung von Daten, Anwendungen und Analysen in leistungsfähige Rechenzentren verstanden. Das garantiert Aufallsicherheit und Zugriff von überall her. Bis 2020 will Hölzle mehr Umsatz mit Cloud Computing machen als mit dem heute dominierenden Anzeigengeschäft. Nach exakt einer Stunde ist die Zeit des Senior Vice President um. Hölzle hat nach wie vor einen engen Zeitplan. Google hat noch viel vor. (EHS) David Marcus Facebook-Messenger-Chef Als ihn Mark Zuckerberg 2014 zum Essen einlud, glaubte David Marcus (43) erst an eine Kooperation mit dem Social-Media-Giganten. Stattdessen warb ihn Zuckerberg ab. Marcus verliess seinen Posten als Chef des Online-Bezahlsystems Paypal und wurde neuer Leiter des Facebook-Messengers. Damit hat sich Marcus in der obersten Liga des Valley etabliert. Seine Ambitionen sind gross: Der Ausbau des Facebook-Nachrichtendienstes soll es unnötig machen, die Seite zu verlassen. Medienunternehmen müssten ihre Nachrichten direkt in den Feed stellen, sodass man gar keine NewsSeiten mehr besuchen muss. Roger Huldi Direktor «W Hotel» Er hat schon Silicon-Valley-Berühmtheiten, den Rapper Snoop Dogg und sogar den US-Präsidenten empfangen: Roger Huldi (im Bild mit Barack Obama) führt in San Francisco eines der besten Hotels, das «W», gleich neben dem Museum of Modern Art und unweit der Einkaufsmeilen gelegen (404 Zimmer, 9 Suiten). Huldi, aufgewachsen in Zürich und Vater zweier Kinder (18 und 19), kam via Australien und Hawaii nach Kalifornien. Er setzt auf Ökologie: Den Honig für die Gäste gibts von Bienen auf dem Hoteldach. Eben erhielt Huldis Haus vom US-Hotelverband den Award «Property of the year». Margrit Mondavi Weindame und Kulturförderin Es gleicht einer Bestseller-Romanze, wie die Schweizerin Margrit Kellenberger (geboren im Appenzell, aufgewachsen im Tessin) zum Top-Namen in der Weinwelt kam und zur Grande Dame der wichtigsten Weinregion der USA, dem Napa Valley, wurde. In den 60er-Jahren kommt sie mit Mann und Kindern nach Napa und arbeitet für den MondaviWeinpionier-Familienbetrieb. Sie verliebt sich in Robert Mondavi, 1980 heiraten die beiden. Sie wird zur Kunst- und Kulturförderin der Region. Robert verstarb 2008, doch die 90-jährige Margrit ist in Napa immer noch eine Grande Dame. (ALF) 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 7 nachrichten Ausland-News Erdogan weist Kritik an Repressionen zurück ANKARA Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan weist die Kritik des Westens an seinem Vorgehen zurück. «Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten», sagte er laut «Spiegel Online» am Freitagabend an die Adresse der EU und der USA. Erdogan beklagte sich über die mangelnde Solidarität der westlichen Politiker mit der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli. Den USA warf er vor, mit der Beherbergung des Predigers Fethullah Gülen Partei für die Verschwörer gegen den türkischen Staat zu ergreifen. Der Präsident bezeichnet Gülen als Drahtzieher des Putschversuchs. Für eine Auslieferung verlangen die USA stichhaltige Beweise dazu. Seit dem gescheiterten Militärputsch vor zwei Wochen führen Erdogan und seine AKP-Regierung eine grosse Säuberungsaktion in Militär, Justiz und Verwaltung durch. Repressionen gewärtigen auch Medienschaffende und Wissenschafter. Gemäss dem türkischen Innenministerium sind über 18 000 mutmassliche Gülen-Anhänger verhaftet und fast 50 000 türkische Reisepässe für ungültig erklärt worden. (FB) Neuer Anlauf für Unabhängigkeit Schottlands «Everywhere around the world they’re coming to Stanford»: Die Elite-Uni ist ein Talente-Magnet und Brutstätte des Valleys. Reuters/Beck Diefenbach Die heimliche Weltmacht Stanford, Ort der Innovation, produziert Talente wie kaum eine andere Hochschule. Was die Schweiz von ihr lernen kann – und was nicht. VON YANNICK NOCK ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Nur 13 Buchstaben veränderten die Welt. 1998 besuchten die Studenten Larry Page und Sergey Brin ihren Informatikprofessor John Hennessy und zeigten ihm ein Programm, das sie geschrieben hatten – eine Suchmaschine. Hennessy tippte 13 Buchstaben ein: Gerhard Casper, den Namen seines Universitätspräsidenten. Dann geschah, was sonst nie passiert. Yahoo und Altavista verwechselten den Namen stets mit Casper, dem freundlichen Geist. Doch die neue Maschine spuckte tatsächlich das richtige Ergebnis aus. John Hennessy sitzt in seinem Büro und lacht, als er die Geschichte erzählt. Mittlerweile ist er selbst Präsident von Stanford. «Als ich das Resultat sah, wusste ich: Hier geschieht gerade etwas Grosses.» Es war die Geburtsstunde von Google. Heute, 18 Jahre später, führen die beiden Studenten eine der wertvollsten Marken des Planeten. Und Stanford gehört nicht nur zu den Top-3-Universitäten weltweit, sie ist zu einer heimlichen Weltmacht geworden. Sie produziert Spitzenkräfte am Fliessband. Ohne die Hochschule würde das Silicon Valley nicht existieren, sie ist Talentschmiede, Innovationsantrieb und Gründungspate in einem. US-Präsident Barack Obama nennt die Universität «das Herz des Silicon Valley». Dutzende brechen ihr Studium ab Studenten aus allen Kontinenten tummeln sich auf dem riesigen Campus, selbst in den Semesterferien. Nur sind die Gesichter dann jünger. Aspiranten mit glänzenden Augen hetzen über das Gelände, alle mit demselben Traum: nach Stanford. Ein Start-up gründen. Die Welt verändern. Doch längst nicht alle sehen die Innovationskraft Stanfords als die Zukunft der Universitäten. Gelehrte wie Studenten kritisieren die Hochschule für ihren UnternehmerGeist. Am besten brachte es der «New Yorker» 2013 auf den Punkt: «Ist Stanford noch eine Universität?», fragte das Magazin, weil jährlich Dutzende Studenten ihr Studium abbrechen, um für ein Hightech-Start-up zu arbeiten. Der «Alles ist möglich wir verändern die Welt»-Geist steht oft konträr zum wichtigen, aber im Vergleich langweiligen Hochschulabschluss. John Etchemendy, Rektor von Stanford, weiss um das Dilemma. Er ist das Gegenteil von Präsident Hennessy. Der Rektor ist ruhig, spricht leise und ringt manchmal um die richtigen Worte. «Ich empfehle eigentlich allen Studenten, die mich um Rat fragen, ihren Abschluss zu machen», sagt er. Die eine, grosse Idee, die Googles und Facebooks dieser Welt, seien absolute Ausnahmen, mache er seinen Studenten klar. Den Träumen im Weg stehen will er aber nicht. Nicht nur der ungeheure Unternehmerdrang der Studenten unterscheidet Stanford von den Schweizer Universitäten. Private Geldgeber heben die Universität auf Spitzenniveau. Proteste wie 2013 an der Universität Zürich, als die UBS ein Forschungszentrum mit 100 Millionen Franken sponserte, gibt es hier nicht. Geisteswissenschafter Etchemendy kann die Kritik nachvollziehen, für falsch hält er solche Gelder aber nicht. Wie könnte er auch? Stanford stellt in Sachen Drittmittel alles in den Schatten. Mit Spenden-Marathons wie «The Stanford Challenge» holt sich die Universität Rekordsummen. Die über fünf Jahre angelegte Aktion spülte 6,2 Milliarden Dollar in die Kasse – Summen, von denen Zwei Spitzenunis im Vergleich Stanford ETH Zürich Gründungsjahr 1891 1855 Trägerschaft Privat Bund Studenten 15 700 19 200 Professoren 1930 500 Mitarbeiter 12 600 9000 Betreuungsverhältnis 1 zu 1,08 1 zu 2 Studiengebühren pro Jahr 40 000 1200 Jahresetat 5,5 Mrd 1,7 Mrd Nobelpreisträger 30 21 Ranking weltweit 3 9 «Vielleicht kommt das nächste grosse Ding aus der Schweiz.» PATRICK AEBISCHER PRÄSIDENT DER ETH LAUSANNE (EPFL) Schweizer Universitäten nicht mal zu träumen wagen. Für Patrick Aebischer, Präsident der ETH Lausanne (EPFL) und erfolgreichster Sponsorenjäger der Schweiz, ist Stanford ein Vorbild. «Sie haben Google, und sie haben Nobelpreisträger», sagt er. Präsident Hennessy erhielt gar einen Ehrendoktor der EPFL. Der Universität gelinge es, herausragende Basisforschung und erfolgreiche Spin-offs zu kombinieren, sagt Aebischer. Die Bewunderung ist gegenseitig. Stanford-Rektor Etchemendy hebt die ETH Zürich und die EPFL hervor. Ihm imponiert, dass vom Bund finanzierte Universitäten in den weltweiten Rankings Topplätze besetzen, allen voran die ETH Zürich, die es in die Top 10 schafft. Zu Beginn keine Fächerwahl Kritik äussert Etchemendy hingegen am Bachelor-System, wo es vielen Studenten nur noch darum gehe, möglichst schnell möglichst viele Punkte zu sammeln. «Studierende sollten die Zeit haben zu reflektieren und herauszufinden, worin sie wirklich gut sind», sagt er. In Stanford beginnt ein Student typischerweise mit einem Grundstudium, das ihm noch keine Fächerwahl abverlangt. Das kommt erst nach zwei Jahren. Ein Modell, an dem sich auch die Schweiz orientieren will. Die Universitäten planen unter dem Begriff «Bologna 2020», die erste Phase des Studiums – den Bachelor – neu auszurichten. Künftig sollen Studenten nach dem Bachelor als Grundstudium mehrere Master zur Auswahl haben, nicht nur ein paar wenige. «Bevor sie nicht ein Jahr auf dem Campus und in den Vorlesungen verbracht haben, wissen junge Studierende doch gar nicht, was ihnen wirklich zusagt», sagt Etchemendy. Doch könnte die Schweiz überhaupt mit dem Silicon Valley konkurrieren? «Den reinen IT-Kampf haben wir verloren», sagt Aebischer. In einem Bereich habe die Schweiz aber einen grossen Vorteil: in der Gesundheit. «Mit Novartis, Roche und Nestlé stehen globale Player vor der Haustür, das nötige Ökosystem ist also vorhanden.» Aebischer träumt von einem Health Valley in der Schweiz. Unmöglich sei das nicht. «Die wahre Kraft des Silicon Valley liegt darin, dass alle an Wachstum und an den Erfolg glauben», sagt Aebischer. «Wenn wir das auch tun, kommt das nächste grosse Ding vielleicht aus der Schweiz.» GLASGOW In Schottland beginnt sich eine neue Unabhängigkeitsbewegung zu formieren. Gestern demonstrierten in der Innenstadt von Glasgow bis zu 4000 Personen und schwenkten die schottische Nationalflagge. Sie verlangen laut «BBC News» ein neues Referendum über die Unabhängigkeit von Grossbritannien. Die Schotten hatten sich 2014 für den Verbleib im Vereinigten Königreich ausgesprochen. Doch bei der Brexit-Abstimmung vom 23. Juni dieses Jahres stimmten 62 Prozent der schottischen Wähler für den Verbleib in der EU. Deshalb hält auch die schottische Regierung eine weitere Abstimmung für nötig. (FB) 16 Tote nach Absturz von Heissluftballon LOCKHART Ein Heissluftballon mit 16 Personen an Bord ist gestern im Flug in der Nähe von Lockhart in Texas (USA) in Flammen aufgegangen und in der Folge abgestürzt. Wie «NBC News» unter Berufung auf die lokalen Behörden schreibt, sind nach ersten Erkenntnissen alle Passagiere zu Tode gekommen. Warum des Flugobjekt Feuer fing, ist noch nicht bekannt. Lockhart liegt in Zentral-Texas, rund 50 Kilometer südlich der Stadt Austin. (FB) Gewinnzahlen Schweizer Zahlenlotto vom 30.7.2016 7 8 11 13 16 39 Glückszahl 4 Replay 9 Die Gewinne 6+ 0 à CHF 6 0 à CHF 5+ 6 à CHF 5 26 à CHF 4+ 290 à CHF 4 1 650 à CHF 3+ 5 739 à CHF 3 30 676 à CHF 0.00 0.00 16 779.05 1 000.00 199.85 87.70 25.50 9.50 Jackpot 6,4 Mio. Franken Joker 2 3 2 7 6 1 à CHF 5 1 à CHF 4 9 à CHF 3 109 à CHF 2 1 243 à CHF 2 9 177 329.00 10 000.00 1 000.00 100.00 10.00 Euro Millions vom 29.7.2016 1 21 26 40 50 2/4 Sterne 8 nachrichten 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Das neue Leben in der Uber-City In San Francisco hat der App-Fahrdienst eine andere Ausgangslage als in der Schweiz. Im Alltag von San Francisco zählt Uber zu den wichtigsten Verkehrsmitteln. VON ANDREAS MAURER ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● In San Francisco gibt es ein Zeitalter vor und nach Uber. Eine vierzigjährige Geschäftsfrau aus dem Westen der Stadt erzählt, wie es früher war. Für Taxifahrer sei eine Leerfahrt an den Stadtrand zu wenig lukrativ gewesen. «Sogar wenn ich ein Flughafentaxi Tage im Voraus reserviert hatte, kam es vor, dass es nie vorfuhr.» Manche Taxifahrer kehrten auf dem Hinweg um, wenn ihnen am Strassenrand ein anderer Kunde zuwinkte. Der öffentliche Verkehr komme für eine Fahrt ins Stadtzentrum nicht infrage. Die Busse verkehren unzuverlässig. Manche haben nicht einmal einen Fahrplan. «Uber ist das Beste, was San Francisco passieren konnte», sagt die Frau. Der günstigere Preis spielt für sie keine INSERAT Rolle. Sie bestellt täglich via App ein Auto des Fahrdienstes, weil der Service besser ist. Ein Uber-Fahrer kann sich keine schlechte Laune leisten. Sonst verpassen ihm die Kunden mit einem Klick eine schlechte Bewertung. Der Untergang des Taxikartells Die Taxifahrer von San Francisco konnten mit ihrem schlechten Ruf gut leben. Die Stadt sorgte mit hohen Gebühren und einer Limitierung der Lizenzen für ein Unterangebot. Für Chauffeure, die eine Taxilizenz ergattern konnten, herrschten paradiesische Zustände. Ein Taxifahrer berichtet: «Früher fuhr ich durch die Strassen von San Francisco, und überall winkten mir die Leute zu und riefen ‹Taxi!›.» Heute steht er am Strassenrand neben seinem leeren Wagen und ruft den Leuten «Taxi!» zu. Um auf den gleichen Lohn wie früher zu kommen, arbeite er zwölf statt sieben Stunden pro Tag. Um am Flughafen einen Kunden zu finden, warte er drei Stunden statt dreissig Minuten. Disruption, das Zauberwort des Silicon Valley, bedeutet für Uber: Die neue Technologie hat die Mobilität in San Francisco revolutioniert, weil sie viel besser ist als das bestehende Angebot und einiges günstiger. Wie andere Techfirmen hat Uber den Lebensalltag in San Francisco verändert. Im Unterschied zu Google oder Facebook ist Uber weltweit aber nicht nur virtuell, sondern auch physisch präsent. In San Francisco ist Uber mehr als eine Alternative zu Taxis. Der Taximarkt der Stadt wurde bei der Gründung von Uber vor sieben Jahren auf 140 Millionen Dollar geschätzt. Uber soll mittler- weile das Fünffache erreicht haben. Die Hälfte aller Uber-Fahrten in San Francisco wird über den neusten UberDienst «Carpool» abgewickelt. Die Fahrzeuge werden mit mehreren Kunden gefüllt, die leichte Umwege in Kauf nehmen. Auch Pendler werden zu Chauffeuren: Sie nehmen auf dem Arbeitsweg Uber-Kunden mit. So verdienen sie Geld und können die für Carpools reservierte Spur auf der Autobahn benützen. Das Angebot soll auch in der Schweiz lanciert werden. Das nächste Uber-Zeitalter Der Markt hat in San Francisco ein Staatsversagen gelöst. In Zürich oder Basel wächst Uber nicht nur wegen juristischer Probleme langsamer als in San Francisco. In der Schweiz ist das Potenzial kleiner, weil die Konkurrenz Keystone/Montage MTA besser ist. Der öV funktioniert, und die Taxis kommen zur vereinbarten Zeit. Spätestens mit den nächsten Entwicklungsschritten wird Uber auch den Alltag in der Schweiz stärker prägen. Paris und London sind die ersten europäischen Städte, in denen Uber auch Essenslieferungen anbietet. Weitere Transportangebote von Blumen bis zu Paketen sind in Vorbereitung. In der Uber-Zentrale in San Francisco werden noch viel grössere Pläne geschmiedet. Sobald selbstfahrende Autos im Verkehr sind, will Uber in diesen Markt einsteigen. Privatpersonen und Firmen sollen selbstfahrende Autos für Uber als rollende Geldmaschinen durch die Städte kurven lassen. Im Silicon Valley ist man optimistisch: Schon in fünf Jahren soll der Schritt in das nächste Uber-Zeitalter erfolgen. 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 ausland Ausgegrenzt in der «linksten Stadt der Welt» 9 DRUCK AUF MERKEL WEGEN TERROR Schaffenskrise einer Kanzlerin San Franciscos Republikaner fürchten die Ächtung. Und das Silicon Valley fürchtet Trump. Im politischen Berlin wurden diese Woche so einige Wetten abgeschlossen. Wie lange würde es wohl dauern, bis die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel wieder Druck von der kleinen Schwesterpartei CSU bekommt? Nach 24 Stunden war es so weit. «Mich persönlich hat das nicht überzeugt», verkündete Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) und fügte gleich noch hinzu, dass sich seine Meinung «ziemlich» mit der des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs Horst Seehofer decke. Mit «das» meinte Söder den grossen Auftritt der Kanzlerin in Berlin. Jedes Jahr in den Sommermonaten stellt sie sich einmal ausführlich der Presse. Eigentlich war der diesjährige Termin Ende August angesetzt. Doch dann passierten die ersten islamistischen Anschläge in Deutschland: In Würzburg attackierte ein 17Jähriger aus Afghanistan oder Pakistan Passagiere in einem Zug, in Ansbach (Bayern) verletzte ein Syrer bei einem Selbstmordattentat 15 Menschen. Beide waren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Ein paar Tage später unterbrach Merkel ihren Urlaub in Brandenburg und gab früher als geplant in Berlin ihre grosse Pressekonferenz. Und da kam auch jene Frage, die zu erwarten gewesen war, weil sie das ausdrückt, was viele Menschen in Deutschland nun denken. «Was «Das war ein fundamentaler Fehler.» BAYERNS FINANZMINISTER MARKUS SÖDER (CSU) ÜBER MERKELS FLÜCHTLINGSPOLITIK Republikaner Donald Trump: Keine Chance in San Francisco. Key Demokratin Hillary Clinton: Viele sehen in ihr ein Übel – aber ein kleineres. VON OTHMAR VON MATT ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Er stellt die US-Fahne mitten in den Raum. Dann fordert Jason P. Clark, der Vorsitzende der Republikaner San Franciscos, zum Treuegelöbnis gegenüber der US-Fahne auf. 17 Männer erheben sich, legen ihre rechte Hand aufs Herz: «Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.» Unteilbar? Mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden? So unverbrüchlich wie einst scheint das nicht mehr zu sein im Amerika von heute. Die ungewöhnliche Runde, die sich in einem Hinterzimmer der «Sausage Factory» in der Castro Street versammelt hat, wirkt ein wenig wie eine klandestine Tagung. Es sind lauter homosexuelle Republikaner aus San Francisco, die sich für ihr monatliches Log Cabin Meeting treffen. Es nennt sich so in Erinnerung an Abraham Lincoln, den ersten republikanischen US-Präsidenten der Geschichte. Er war in einer Log Cabin, einer Blockhütte, zur Welt gekommen. Der konspirative Charakter ist kein Zufall. Republikaner, vor allem Wähler von Donald Trump, müssen ihre Gesinnung im San Francisco von heute verheimlichen. Ein Outing hätte unabsehbare gesellschaftliche und berufliche Folgen. Die Republikaner fürchten ihre Ächtung. Politisch sind die Republikaner hier seit Jahrzehnten marginalisiert. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2012 kamen sie auf nur 47 076 Stimmen oder 13 Prozent Wähleranteil. Das ist nichts gegen die 301 723 Stimmen oder 83,4 Prozent Anteil der Demokraten. Sechsmal konnten die Republikaner seit 1904 die Präsidentschaftswahlen in San Francisco gewinnen, letztmals vor 60 Jahren. Und 1964, kurz vor der 68er-Bewegung, stellten sie den letzten Stadtpräsidenten. Inzwischen sind sie in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. «San Francisco ist die linkste Stadt der Die Republikaner von San Francisco in der «Sausage Factory». Welt», sagt Fred Schein, 73. Er war bis vor kurzem Präsident der Log Cabin San Francisco. Es ist die lokale Gruppe, welche die grösste republikanische Organisation für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern (LGBT) begründet hat. «Ich kenne keine linkere Stadt und kein linkeres Land auf der Welt. Schweden, Dänemark und Norwegen sind konservativer als San Francisco.» «Volksrepublik San Francisco» Ähnlich sieht das Gene Epstein, 41, Senior Marketing Manager im Silicon Valley, der in San Francisco wohnt. «Meine Freunde sprechen nur noch von der ‹Volksrepublik San Francisco›», sagt er. «Weil es hier nur noch eine Partei gibt, die Demokraten. Das ist wie einst in der DDR.» Epstein muss es wissen. Er wuchs in der Sowjetunion auf, wanderte in die USA aus und verenglischte dafür seinen Namen. Inzwischen hat er nicht nur den Namen an die örtlichen Verhältnisse angepasst. Er gibt sich auch politisch höchst zurückhaltend. Er hütet sich davor, sich in San Francisco als Republikaner zu outen. Das sei zu heikel, es drohe ATT ihm Ausgrenzung. «Dass ich homosexuell bin, kann ich an der Arbeit offen deklarieren», sagt er. «Dass ich Republikaner bin, würde ich hingegen nie eingestehen.» Selbst Bekannte wissen davon nichts. «Ich weihe nur langjährige Freunde ein.» Er sei zu «100 Prozent» einverstanden damit, was die Transgender-Aktivistin Caitlyn Jenner während des Konvents der Republikaner vor eineinhalb Wochen gesagt hatte: «Es ist viel einfacher, ein Coming-out als Transgender zu machen denn als Republikaner.» Jenner war Goldmedaillen-Gewinner der Olympischen Spiele von 1976 im Zehnkampf. 2015 outete sie sich als Transfrau. Epstein ist nicht der einzige Republikaner aus San Francisco, der seine politische Gesinnung aus Angst vor Repressionen verheimlicht. Viele gehen genauso vor. Wie der renommierte Wirtschaftsjournalist Ralph* aus San Francisco. Er will anonym bleiben. Ralph bezeichnet sich selbst als «liberalen Republikaner». Im Gegensatz zu Epstein ist für ihn klar, dass er Trump wählt. Er glaubt an dessen Verhandlungsfähigkeiten. Im Büro spreche er aber nicht über seine politische Gesinnung, sagt er. Key Und schon gar nicht, dass er Trump wählen möchte. «Das käme nicht gut an in einer Stadt wie San Francisco.» Für Gene Epstein zeigt das, dass die Polarisierung ein ungesundes Mass angenommen hat. Er gibt den Medien die Schuld am Hassklima. «Sie stellen uns Republikaner seit Jahrzehnten als Rassisten und Fremdenfeinde dar», sagt er. Sie zeichneten mit System das Bild der «bösen Partei der Reichen». In San Francisco, vor allem im Silicon Valley, wächst die Sorge über einen allfälligen US-Präsidenten Trump. Umso mehr, als diese Woche eine CNNWählerumfrage Trump erstmals vor Hillary Clinton sah. Die Voten über Trump fallen nicht sehr wohlwollend aus. Der hohe Manager eines Tech-Konzerns sagt lakonisch: «Donald Trump? Ich weiss nicht, wie man den Namen schreibt.» Und ein Stanford-Professor hält fest: «Donald Trump wäre eine Katastrophe. Eine Katastrophe für die ganze Welt.» Im Silicon Valley nennt man Trump inzwischen in einem Atemzug wie den Brexit in Grossbritannien. Man hört den Vergleich mit Boris Johnson. Und sogar mit Marine Le Pen. 145 Manager aus dem Silicon Valley sprachen sich in einem offenen Brief gegen Trump aus. Er stehe für «Zorn, Fanatismus und Angst vor neuen Ideen und Leuten und die grundsätzliche Idee, dass die USA schwach und auf dem absteigenden Ast» seien. Ganz anders sieht das eine andere Grösse des Silicon Valley. Paypal-Gründer und Facebook-Verwaltungsrat Peter Thiel unterstützt Trump. Er war es, dem es als erstem Redner an einem republikanischen Parteitag überhaupt vorbehalten war, offen über seine Homosexualität zu reden. «Ich bin stolz, schwul zu sein. Ich bin stolz, Republikaner zu sein», rief Thiel ins Rund – und erntete Standing Ovations. Thiel war für die gebeutelten Republikaner von San Francisco ein kleiner Lichtblick in eher düsteren Zeiten. * Name der Redaktion bekannt sagen Sie», fragte eine niederländische Journalistin Merkel, «wenn Ihnen jemand auf der Strasse vorwirft, die Willkommenskultur sei an den Anschlägen von Würzburg und Ansbach schuld?» Merkels Antwort war knapp: «Das Verweigern der Humanität» hätte womöglich noch gravierendere Folgen gehabt. Sie sprach auch erneut jenen Satz, den sie schon vor einem Jahr gesagt hatte und der in die Geschichtsbücher eingegangen ist: «Wir schaffen das.» Doch die Zweifel daran werden immer lauter. Merkels Willkommenskultur, die mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland brachte, stand bereits zu Jahresanfang auf dem Prüfstand. Viele, die den Kurs der Kanzlerin zunächst mitgetragen hatten, waren von den sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Flüchtlinge in der Silvesternacht in Köln so schockiert, dass sie sich von Merkel abwandten. Doch Merkel konnte dem Sturm trotzen, weil die Zahl der Neuankommenden durch die Schliessung der Balkanroute rapide zu sinken begann. Nun aber geht es um eine neue Dimension der Angriffe und der Druck auf Merkel wächst täglich. Es sei ein «fundamentaler Fehler» gewesen, die Flüchtlinge zum Teil unkontrolliert ins Land gelassen zu haben, kritisiert Söder. Natürlich werde man Menschen in Not weiterhin helfen. «Aber bei dem Thema ist Blauäugigkeit wirklich das falsche Konzept, sondern der erste Ansatz heisst Sicherheit.» Nicht nur die Alternative für Deutschland (AfD), sondern auch Rechtspopulisten aus ganz Europa wie Geert Wilders (Niederlande) und Heinz-Christian Strache (Österreich) fallen über Merkel her. Auch in CDU-Kreisen ist man höchst alarmiert, gleichzeitig aber hilflos. Und so hegt man zwischen Kanzleramt, Bundestag und Parteizentralen nicht nur einen menschlichen, sondern auch einen politischen Wunsch: Dass in Deutschland nicht auch noch ein wirklich grosser islamistischer Terrorangriff geschieht, so wie in Paris oder Nizza, wo es Dutzende Tote gegeben hat. BIRGIT BAUMANN, BERLIN morgen Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 leben & wissen DER PATE DES SILICON VALLEY John Hennessy ist Präsident der EliteUniversität Stanford. Seiten 16/17 Das Internet wird begehbar Das Silicon Valley ist im Bann einer neuen Technologie. Wie die virtuelle Realität unsere Welt verändern wird. VON RAFFAEL SCHUPPISSER Illustration: Viktor Koen 25 Jah re Int ernet G rosses entsteht oft in der Garage. Steve Jobs hat den Apple-Computer in der Garage entwickelt, Bill Gates das Betriebssystem Microsoft und Larry Page zusammen mit Sergey Brin die Suchmaschine Google. Die wohl letzte grosse Garagen-Erfindung stammt von Palmer Luckey. 2011 hat der damals 19-Jährige in der Garage seiner Eltern in Los Angeles die Cyberbrille Oculus Rift entwickelt. Setzt man sie auf, hat man das Gefühl, man stehe mitten in einer andern Welt, in einer virtuellen Realität. All diese Erfinder haben eins gemeinsam: Sie haben nicht nur in der Garage eine Firma gegründet. Sie haben eine ganze Industrie begründet. Mark Zuckerberg – der Facebook übrigens nicht in der Garage, sondern im Schlafzimmer lanciert hat – meinte unlängst: «Die virtuelle Realität ist die nächste Plattform.» Nachdem das Smartphone den Bildschirm auf Hosentaschenformat geschrumpft hat, ist er nun dank Virtual Reality (VR) grenzenlos gewachsen: Zum ersten Mal starren wir nicht mehr auf eine rechteckige Fläche, sondern sind Teil einer digitalen Welt. Vor zwei Jahren hat Facebook Palmer Luckys Firma Oculus für 2 Milliarden Dollar gekauft. Kein schlechter Deal, bedenkt man, dass nun alle grossen Technikfirmen mit Hochdruck an eigenen Brillen arbeiten. Und unzählige Start-ups VR-Applikationen entwickeln. «Wer eine Idee hat, der findet schnell Risikokapital. Das geht im Moment fast zu einfach», sagt Toni Schneider. Der Schweizer Investor lebt seit knapp 30 Jahren im Silicon Valley. Seinen ersten Job fand er in den 90er-Jahren bei einer VR-Firma – damals war die Technik aber noch nicht weit genug, und das Projekt wurde wieder eingestellt. Das ist nun anders. Es gibt bereits zahlreiche Apps für die Brillen Oculus Rift und HTC Vive. Viele davon sind Games. Doch dabei wird es nicht bleiben. «Ich bin überzeugt, dass soziale VR-Anwendungen sehr erfolgreich werden», sagt Schneider. Freunde, die auf verschiedenen Kontinenten leben, würden sich in Zukunft in der virtuellen Realität treffen und gemeinsam Zeit verbringen. Telefonkonferenzen würden nicht mehr über Skype geführt, sondern in der virtuellen Realität abgehalten. Ein Start-up, das die virtuelle Realität zu einem sozialen Ort macht, ist Altspace VR aus dem Silicon Valley. Fortsetzung auf Seite 12 INSERAT 11 25 12 morgen Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Im Bett mit einem Pornostar So real waren Pornos noch nie: Virtual Reality läutet eine neue Sex-Ära ein. In San Francisco trifft sich die Branche und plant die Zukunft. So sieht man einen Erotik-Film über eine Virtual-Reality-Brille, hier bei einer Präsentation in Cannes. VON SARAH SERAFINI UND BENJAMIN WEINMANN ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● In San Francisco traf diese Woche die Pornoindustrie auf die Tech-Branche. Im über hundertjährigen, schlossähnlichen Gebäude von Kink, einer der grössten Produktionsfirmen für Fetisch-Filme, spielt ein DJ elektronische Musik. Der Gastgeber untermauert mit der opulenten Dekoration – roter Spannteppich, schwere Vorhänge und protzige Möbel – die Goldgräber-Stimmung im Raum. In den letzten Jahren litt die Pornobranche unter der Rezession und Websites wie Youporn und Pornhub, die ihre Inhalte gratis zur Verfügung stellten. Wurden in Spitzenjahren bis zu zehn Milliarden Dollar umgesetzt, so sind es jetzt laut Branchenkennern halb so viel. Doch nun scheint es wieder aufwärtszugehen. Die grosse Hoffnung ruht auf der Virtual-Reality-Technologie (VR). Da ist die Pornodarstellerin im kurzen, eng anliegenden Kleid auf hohen Hacken. Daneben der schwule Filmproduzent, der den Gästen zuprostet. Noch eher im Hintergrund hält sich Fortsetzung von Seite 11 «Wir wollen das beste gemeinsame Erlebnis für VR ermöglichen, das es gibt», sagt Bruce Wooden von Altspace VR. Die App ist in einer ersten Version bereits für alle VR-Brillen verfügbar. Altspace ist der Ort, an dem sich die ersten VR-Enthusiasten mit ihren Avataren treffen, sich über Mikrofon unterhalten und zusammen Spass haben. Manchmal legt auch ein DJ auf, oder es tritt ein Künstler auf. Als der amerikanische Komiker Reggie Watts in Altspace die virtuelle Bühne betrat, waren über 1000 Avatare im Publikum. Noch sind die Brillen klobig, teuer und setzen einen leistungsstarken PC voraus. Doch die Computertechnologie entwickelt sich bekanntlich exponenziell. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die dritte oder vierte Generation der Brillen sowohl angenehm zu tragen ist als auch ohne PC auskommt, weil der Prozessor bereits integriert ist. «Haben die VR-Brillen erst einmal den Massenmarkt erobert, wird Altspace zu einer stark bevölkerten Metropole werden», sagt Bruce Wooden, und seine dunklen Augen leuchten. Zeit, mit Bruce Wooden nach Altspace zu reisen. Das zweite Second Life In der Realität sieht der VR-Nerd mit seinen Rastalocken, der schwarzen Wollmütze und der randlosen Brille ein bisschen wie ein intellektueller Rapper aus. In der virtuellen Realität wird er von einem comicartigen Avatar mit etwas zu eckigem Kopf verkörpert. Und dennoch: Seine ein älterer Mann mit weissem Hemd und bunter Krawatte. Er entwickelt VR-Brillen und ist zum ersten Mal an einem Event wie diesem. So unterschiedlich sie auch sind, sie alle sind am selben Thema interessiert: Porno trifft auf Virtual Reality. Was das heisst, demonstriert Anna Lee, Präsidentin der kanadischen Holofilm Productions, an ihrem Stand. Im Schlafzimmer dabei Die VR-Brille ist schwer und drückt auf die Nase. Auch, dass rundherum fremde Menschen stehen, ist nicht gerade entspannend. Doch als der Film anläuft, gerät das störende Umfeld in den Hintergrund. Zwei Blondinen in Spitzenunterwäsche sitzen auf einem samtbezogenen Sofa und beginnen sich auszuziehen und lächeln dem Betrachter lasziv ins Gesicht. Das sieht so unmittelbar aus, dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Vor allem dann, wenn sich die Darstellerin umdreht und ihren nackten Po in die Kamera hält und der Zuschauer sich nur wenige Millimeter davon entfernt wähnt. Stimme, die Art und Weise, wie er seinen Kopf bewegt, mit den Händen gestikuliert, ist unverkennbar. Altspace besteht aus verschiedenen Räumen: Einer sieht aus wie aus einem Science-Fiction-Film, ein anderer ist einer mittelalterlichen Taverne nachempfunden. Man kann hier zum Spass fechten und Brettspiele spielen. In einem anderen Raum befindet sich eine grosse Leinwand, auf der man sich Youtube-Videos anschauen kann. Und ein weiterer Raum sieht aus wie ein Museum. An den Wänden sind Bilder aufgemacht, die ein Künstler in seinem TumblerBlog veröffentlicht hat. Statt dass man sich am Computer durch die Bilder klickt, schreitet man um sie herum, betrachtet sie aus verschiedenen Perspektiven. Das Internet wird zu einem begehbaren Ort. Damit beginnt eine Vision Realität zu werden, die Science-Fiction-Autoren wie William Gibson («Neuromancer») oder Neal Stephenson («Snowcrash») in ihren Büchern vorhergesagt haben: Eine Welt, die bloss aus Bits und Bytes besteht, sich aber real anfühlt. Philip Rosedale träumt seit seiner Kindheit davon. Bekannt wurde der amerikanische Internet-Unternehmer als Gründer von Second Life, jener Online-Parallelwelt, die einst ein Millionenpublikum in Bann zog. Mittlerweile arbeitet er in seinem Loft-Büro in San Francisco am Nachfolger High Fidelity. «Jetzt endlich ist die Technologie so weit, um das möglich zu machen, was ich schon mein ganzes Leben lang tun wollte», sagt der 47jährige Rosedale und fährt sich mit der Hand durch sein mittlerweile grau gewordenes Haar. Anna Lee produziert seit einem Jahr VR-Pornos. Sie sagt: «Meine Träume werden gerade wahr. Unsere Umsätze verdoppeln sich jeden Monat.» Es wäre nicht das erste Mal, dass die Pornoindustrie eine Vorreiterrolle einnimmt bei der Verbreitung einer neuen Technologie. Sie war ein wesentlicher Treiber bei Erfolgsgeschichten von Videokassetten, Blu-ray Discs und den Internetformaten. Die beiden Branchen bedingen und fördern sich ständig. Besonders viel Aufmerksamkeit geniesst an diesem Abend Ela Darling. Die Darstellerin ist aus der Porno-Metropole Los Angeles angereist und gilt als Branchenpionierin. Seit zwei Jahren produziert die 30-Jährige VR-Pornos in Form von bis zu dreistündigen Live-Übertragungen. Die Kamera habe ihr Businesspartner, ein Programmierer, entwickelt. Und inzwischen arbeiten rund 20 weitere Frauen für sie. Für Darling ist klar, dass VR nicht bloss ein Trend ist, so wie etwa der 3-D-TV. «VR-Filme bieten viel mehr Nähe und Intimität.» Dies habe auch Folgen für das Verhalten ihrer Fans. Bei früheren Webcam-Shows, bei denen Der neue Steve Jobs Palmer Luckey, der Erfinder der Virtual-Reality-Brille Oculus Rift, hat es bereits auf das Cover des «Time Magazine» geschafft. Warum Virtual Reality unsere Gesellschaft verändern wird, titelte das Magazin aus New York. ihr die Zuschauer schreiben konnten, seien sie viel ungezügelter gewesen. «Jetzt sind sie respektvoller, weil sie sich mitten in meinem Schlafzimmer fühlen, von Angesicht zu Angesicht.» Natürlich komme es auch vor, dass sich mancher in mich verliebt.» Zu ihren Abonnenten gehörten vor allem Amerikaner. Ein paar Schweizer seien aber auch dabei. Folgen für den realen Sex Für die Vertreter von «Ruby VR» ist der Porno-Event noch immer ein Neuland, wie Mahmoud Mattan erklärt. Zwar stelle man schon länger VR-Brillen aus Karton für Handys her. Doch erst seit kurzem wage sich die Firma damit auch auf den Pornomarkt. «Inzwischen haben wir über 100 000 Stück verkauft.» Einfache Modelle gibt es ab 2 Dollar, teurere für 35. Damit sind sie deutlich günstiger als die professionelleren Modelle von Samsung oder der Facebook-Tochter Oculus, die mindestens 100 Dollar kosten. Damit VR den Mainstream-Durchbruch schaffe, müssten noch mehr Leute eine Brille besitzen, sagt Mat- Dass die Parallelwelt Second Life, in der Menschen Häuser bauen und Geschäfte eröffnen können, zu keinem nachhaltigen Erfolg wurde, dafür sieht Rosedale zwei Gründe. Erstens haben die Menschen doch nie ganz in die Welt eintauchen können, sondern bloss wie bei einem Computerspiel bloss in einen Bildschirm gestarrt. Zweitens haben sie nicht mit ihren Händen mit der Welt interagieren können, sondern bloss mit Maus und Tastatur. «All das wird damit anders», sagt Rosedale und zeigt auf eine VR-Brille und zwei neuartige Touch-Controller, die neben ihm auf einem Tisch liegen. Die Brille gibt einem das Gefühl, man sei tatsächlich in der Parallelwelt, und die Controller dienen als Hände; man kann damit Gegenstände aufheben, damit beim Reden gestikulieren und einander die Hände schütteln. Zeit, mit Philip Rosedale nach High Fidelity zu reisen. Wer schafft den Durchbruch? Während Rosedale beziehungsweise sein etwas jüngeres Abbild durch High Fidelity schreitet, beginnt er zu erzählen: «Diese Welt kann so wichtig werden wie die richtige Welt, vielleicht sogar noch wichtiger.» Rosedale vergleicht die momentane VREntwicklung mit der Smartphone-Revolution. In sieben bis zehn Jahren würden VR-Brillen so verbreitet sein wie heute Smartphones. «Dann werden in dieser Welt eine Milliarde Menschen leben», sagt der High-Fidelity-Entwickler und macht mit seiner Hand eine ausufernde Bewegung über das noch brachliegende digitale Land, das bis in die Unendlichkeit reicht. Platz gibt es hier auf jeden Fall genug. AFP/Valery Hache tan. In den USA hatte kürzlich die «New York Times» günstige Kartonbrillen an rund 1,5 Millionen Kunden gratis abgegeben. «Die Frage ist auch, wann Hollywood erste VR-Kinofilme produzieren wird.» Der neue «Ghostbusters»-Film habe zumindest online bereits mit kleineren VR-Clips geworben. Facebook und Google würden zurzeit massiv in die Weiterentwicklung von VR investieren. «Nach dem Radio kam das Fernsehen, dann das Internet und das Smartphone. Jetzt steht die Ära der Virtual Reality vor der Tür», sagt Mattan. In den kommenden Monaten wird das VR-Angebot auf Pornokanälen rasant steigen, darin sind sich die Besucher an diesem Abend einig. Doch wie wird sich das neue Medium auf das Sexualverhalten in der realen Welt auswirken? Die Reise in die virtuelle Welt der unbegrenzten Porno-Möglichkeiten wird noch intensiver, noch echter. Als Nächstes wird die Verknüpfung des Erlebten auf der Brille mit sensorischen Sexspielzeugen angestrebt. Der Kampf um echten und realen Sex hat erst begonnen. Jeder Mensch, jede Firma, jede Schule, jedes Land kann hier auf einem Grundstück sein Tun auf die virtuelle Realität ausweiten. High Fidelity basiert auf dem Open-Source-Prinzip. Jeder kann sich das Programm herunterladen und selber eine Welt erschaffen. Rosedale und sein Team stellen bloss das Programm zur Verfügung und verwalten die virtuellen Adressen – so wie das Network Information Center die Domains des Internets vergibt. Geht es nach Rosedale, wird High Fidelity nicht einfach eine App, sondern etwas viel Grösseres: nämlich die Infrastruktur eines neuen, begehbaren Internets. Virtual Reality hat das Potenzial, zu einer disruptiven Technologie zu werden, also Bestehendes völlig zu verändern. Kürzlich prophezeite die Technikbibel «Wired»: «Der VR-Gewinner wird die grösste Firma in der Geschichte werden.» Die Firma könnte High Fidelity heissen. Oder Altspace VR. Oder, und das ist nicht unwahrscheinlich, ganz anders. Vielleicht wurde sie noch gar nicht gegründet. Dass sie aber Google oder Facebook heisst, das hält zumindest Toni Schneider für sehr unwahrscheinlich. «Bisher hat jede grosse Tech-Revolution eine neue, mächtige Firma hervorgebracht», sagt der Investor und Silicon-Valley-Kenner. Im Hauptsitz von Facebook, dort wo jetzt Palmer Luckey und sein Team an der VR-Zukunft arbeiten, hängt noch immer ein Firmenschild von Sun Microsystems. Dem einstigen Computerriesen gehörte der Campus, ehe er einging. Das Schild soll die Facebook-Mitarbeiter daran erinnern, wie schnell alles vorbei sein kann, wenn man einen Trend verpasst. 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 morgen 13 Ctrl Alt Delete: Demokratie Das Silicon Valley hat eine Vision: Die politikbefreite Gesellschaft. Enden wir in einer Diktatur der Daten? Mitarbeiter mit Laptop auf dem Dach des Facebook-Campus im Silicon Valley. VON CHRISTOF MOSER ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Falls die Welt da draussen untergeht? Ein Lächeln huscht über das Bubengesicht von Kyle Gerstenschlager, dem PR-Mann von Facebook, der uns auf dem Firmengelände herumführt: «Wir würden hier locker überleben!» Das neue, gigantische, 40 000 Quadratmeter grosse Hauptquartier des sozialen Netzwerks am Hacker Way 1 in Menlo Park südlich von San Francisco bietet Mitarbeitern alles, damit sie möglichst ungestört von Privatleben und Alltagssorgen ihrer Arbeit nachgehen können: Arzt- und Zahnarztpraxen, Coiffeursalons, Bibliotheken, Fitnesscenter, Restaurants, Banken. Öffentlicher Verkehr? Braucht hier niemand. Busse holen die Belegschaft morgens am Wohnort ab und fahren sie abends wieder zurück. Selbstverständlich auf der Fastlane, vorbei an den Staukolonnen auf den chronisch überlasteten Highways des Golden State und weit weg von der heruntergekommenen staatlichen Bahninfrastruktur in der Bay Area. Der Staat ist fern – und langsam Die Tech-Mitarbeiter – nicht nur bei Facebook, sondern auch im Nachbarstädtchen Mountain View bei Google oder bei Twitter und Uber in San Francisco – leben in einer eigenen Welt. Verlassen sie für einmal das Firmengelände, vergessen sie zuweilen, nach dem Einkaufen an der Ladenkasse zu bezahlen, weil sie gewohnt sind, dass sie sich alles gratis nehmen können. Hier interessiert man sich vor allem für das Unternehmen und sich selbst (in dieser Reihenfolge), aber kaum für Politik oder gesellschaftliche Probleme, jedenfalls nicht auf lokaler Ebene – warum denn auch? Die Benutzeroberfläche ihrer Welt wird nicht staatlich, sondern weitestgehend privat finanziert und betrieben. Das geht so weit, dass man sich fast etwas wundert, warum die Ampeln an den Strassenkreuzungen um die Facebook-Zentrale wie überall sonst auf Grün springen und keinen Daumen nach oben anzeigen, wenn die Fahrbahn frei wird. Staatsferne gilt als einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren des Silicon Valley. So sagt der deutsche Informatiker und Robotik-Spezialist Sebastian Thrun, der bei Google die sagenumwobene Forschungsabteilung Google X leitet (und seit 2014 im Verwaltungsrat der Credit Suisse sitzt), dass im Hightech-Tal an der US-Westküste vor allem deshalb so grenzenlos viel möglich ist, weil die Regierung im fernen Washington mit ihren langsamen demokratischen Prozessen gesetzgeberisch immer weit hinter den technischen Entwicklungen hinterherhinke. Das Motto der Gründer und Erfinder im Silicon Valley lautet denn auch: «Ask for forgiveness, not for permission», was so viel heisst wie: Mach mal, und wenns schiefgeht, kannst du immer noch um Entschuldigung bitten. Darauf bauen ganze Geschäftsmodelle auf, zum Beispiel jenes des Online-Fahrdienstvermittlers Uber, der mit seiner App ins regulierte Taxigewerbe eindringt und damit weltweit mit Zulassungsbehörden in Konflikt gerät. Bewilligungen und Regulationen? Sind in der Uber-Welt schlicht nicht vorgesehen. Entschuldigungen allerdings auch nicht. Redet man mit Uber-Entwicklern am Firmenhauptsitz in San Francisco, machen diese keinen Hehl daraus, mit ihrem boomenden Geschäftskonzept gezielt disruptiv – also zerstörend – gegen staatliche Regulierungsbestimmungen vorgehen zu wollen. Und sie sehen sich dabei nicht zuletzt deshalb im Recht, weil sie bei der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur vielerorts ein Politikversagen orten. Gefährliche Vision: Aushöhlung der Demokratie durch Big Data Was der Staat zum Beispiel im Grossraum San Francisco seit den 1970erJahren nicht mehr zu schaffen scheint – ein modernes, qualitativ gutes öffentliches Verkehrsnetz für die Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen –, will Uber schaffen: besser und erst noch viel billiger. Alles, was die Firma dafür braucht, sind möglichst viele Kunden mit einem Smartphone in der Hosentasche und ihrer App auf dem Screen. Unerwähnt lassen die digitalen Vordenker allerdings, dass die marode Verkehrsinfrastruktur in Kalifornien mit einer Politik zu tun hat, die ihnen entgegengekommen ist. Just in den 1970ern hat der spätere US-Präsident Roland Reagan als republikanischer Gouverneur von Kalifornien mit seiner Steuerpolitik zugunsten der Unternehmen der Staatskasse viel Geld entzogen, was den Tech-Firmen bis heute beim Steuernsparen hilft, dem Staat seither aber nicht beim Modernisieren der Infrastruktur. Damit schliesst sich ein Kreis, der seine Wirkung erst noch mit voller Wucht entfalten soll. Die Vordenker im Silicon Valley wollen Staat und Politik längst nicht mehr nur wegdimmen, sondern gänzlich ausschalten. Paypal-Gründer Peter Thiel zum Beispiel, der sagt: «Ich glaube nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind.» Es gehe darum, neue Lebensräume zu finden, um der Politik zu entfliehen, schrieb er 2009 in einem Essay, der Patrick Züst in der steilen These gipfelte, das Wahlrecht für Frauen habe Kapitalismus und Demokratie zu einem Widerspruch gemacht. Ein Jahr zuvor spendete Thiel 500 000 Dollar ans «Seasteading Institute», von dessen Mitbegründer Randolph Hencken das Zitat überliefert ist: «Die Demokratie ist eine 230 Jahre alte Technologie. Können wir nicht mal etwas Neues versuchen?» Seither lassen Thiel und Co. nicht locker mit der Idee, Mikrogesellschaften auf schwimmenden Inseln zu gründen, die sich allen bestehenden staatlichen Regeln entziehen sollen. Doch viel gefährlicher als die abenteuerlichen Visionen der HightechExzentriker ist die Aushöhlung der Demokratie durch Big Data, die längst im Gang ist – und inzwischen auch von Technologievisionären wie Apple-Mitbegründer Steve Wozniak oder Microsoft-Gründer Bill Gates als «ernste Gefahr für die Menschheit» bezeichnet wird. Jedes Jahr verdoppelt sich die Menge der Daten, die wir produzieren, was konkret bedeutet: Allein 2016 kommt eine Datenmenge hinzu, die wir zuvor in der ganzen Menschheitsgeschichte produziert haben. Mittels Algorithmen sollen diese Daten zur Automatisierung der Gesellschaft genutzt werden und die Politik mit Technik überflüssig machen. Silicon-Valley-Ikone Tim O’Reilly nennt dies «algorithmische Regulierung»: Alles soll «smart» werden – Autos, Strassen, Städte. Die Vision: Niemand soll mehr Gesetze brechen können, weil Big Data das Brechen von Gesetzen verhindert. Ferne Zukunft? Keineswegs. Der bekannte Internet-Vordenker und Silicon-Valley-Kritiker Evgeny Morozov nennt als bereits existierendes Beispiel Handys, die erkennen, ob sie verbotenerweise am Steuer eines Autos benutzt werden – und in diesem Fall automatisch ihren Dienst verweigern. Bald schon sollen auch Kreditkartenbetrug und Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sein: Die Daten verraten, wer mehr ausgibt, als er oder sie zu verdienen angibt. Bereits angewendet und fast gänzlich unbestritten ist Big Data in der Terrorismusbekämpfung: Geheimdienste wie die NSA sammeln für nichts anderes als die frühzeitige Erkennung von terroristischen Aktivitäten die Daten von uns allen. Morozov warnt davor: Statt die Ursachen von Problemen zu bekämpfen – was die Kernaufgabe der Politik sein sollte –, werden Regierungen in Zukunft nur noch die Auswirkungen der Probleme steuern. Werte der Politik kommen unter die Räder Statt darüber nachzudenken, was zu Terrorismus führt – soziale Ungleichheit zum Beispiel –, werden nur noch deren Auswirkungen bekämpft. Was beim Terrorismus die wenigsten stören dürfte, wird sich schon bald auf andere Bereiche ausdehnen. Übergewicht? Kein Problem mehr der Nahrungsmittelindustrie und ihren Zuckerzusätzen, sondern nur noch ein Problem des persönlichen Verhaltens. Unter die Räder kommen damit Werte, die der Politik zugrunde liegen sollten. Die Frage: Was wollen wir als Gesellschaft – und warum? Solche Überlegungen sind ineffizient und werden wegoptimiert. So gelange man zur technokratischen Utopie von politikfreier Politik, sagt Morozov – und in eine Diktatur der Daten. Wollen wir das? 25 14 morgen Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Das Tech-Monster treibt Mietpreise in Rekordhöhe Nirgendwo in den USA sind die Wohnkosten so hoch wie in San Francisco. Die Wut steigt. VON FABIENNE RIKLIN, BENJAMIN WEINMANN UND ANDREAS MAURER ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Doktorand wohnt in der Garage Die günstigste Wohnung von San Francisco mit Bad und WC liegt in der Nähe des Golden Gate Park. Das sagt zumindest deren Mieter Jean-Denis Benazet (36), ein Molekularbiologe aus Frankreich. Für seine Forschung an der University of California verdient er 3000 Dollar. 1600 Dollar zahlt er für sein Studio, eine ehemalige Garage, welche die Vermieterin illegal umgenutzt hat. Die Miete verlangt sie bar auf die Hand. Ungemütlich ist das Studio, weil die Kloake der anderen Hausbewohner regelmässig aus der Toilette und der Dusche quillt. Nachts hält ihn die Frau des oberen Stockwerks wach, die schlaflos ihre Runden dreht. Als würde er mit einer riesigen Ratte leben, sagt er. Mit Nagetieren kennt sich Benazet aus. Rund 2000 Mäuse habe er mit seinen Versuchen bisher getötet. Der Biologe, > Disruption Danach strebt jedes Start-up. Disruptive Technologien sollen mit einem neuen, innovativen Ansatz ganze Märkte revolutionieren und bestehende Produkte komplett ersetzen. So hat die DVD die klassische VHS-Kassette verdrängt, so greift Uber derzeit das Taxi-Gewerbe an. > Künstliche Intelligenz Ein Computer, der selbstständig lernt. Das ist nicht nur die Basis für so manchen Science-Fiction-Film, sondern auch die Grundlage für Maschinen, die sich neuen Situationen dynamisch und selbstständig anpassen können. So ergeben sich komplett neue technische Möglichkeiten – vom selbstfahrenden Auto bis hin zum autonomen und in der Gesellschaft integrierten Roboter. ● Es riecht nach Urin und Marihuana, Menschen in zerlumpten Kleidern kauern in Hauseingängen und Bushäuschen: Im Tenderloin-Quartier in San Francisco, unweit der Touristenströme, stehen Obdachlose an jeder Ecke. Über 6600 Menschen leben hier auf der Strasse, prozentual zur Bevölkerung so viele wie in keiner anderen Stadt der USA. Ihr Hass gilt den gut verdienenden Mitarbeitern aus dem Silicon Valley. «Kill Tech Zilla» lautet der Aufruf auf einer Graffiti-Wand im Mission-Quartier, in Anlehnung an das Godzilla-Filmmonster. Die «Monster» aus dem Valley können jede noch so hohe Miete bezahlen. Die meisten Ingenieure wollen nicht in Kleinstädten wie Palo Alto, Menlo Park oder Mountain View leben, wo Facebook, Google und Co. ihren Hauptsitz haben, sondern in der pulsierenden Grossstadt. Sie lassen sich täglich mit firmeneigenen Bussen zur Arbeit chauffieren. Die Miet- und Immobilienpreise in der ehemaligen Hippie-Metropole sind explodiert. In den vergangenen Jahren wurde die Mittelschicht aus der Stadt verdrängt. Lehrer, Polizisten, Krankenschwestern können es sich nicht mehr leisten, hier zu leben. Sie verdienen oft nicht mehr als 60 000 Dollar pro Jahr. Zu wenig für ein Leben in der City. Eine vierköpfige Familie benötigt gemäss dem Insight Center for Community Economic Development 90 000 Dollar Jahreseinkommen, um die Grundbedürfnisse zu decken. Einige halten sich mit zwei oder gar drei Jobs über Wasser, andere ziehen in Vororte und nehmen über einstündige Arbeitswege auf sich. Die Stadt hat es verpasst, in die Höhe zu bauen. So fehlen heute rund 40 000 Wohnungen für mittlere und tiefe Einkommen. Am augenfälligsten sind die Folgen in der Tenderloin. Sabur (60) verbrachte den grössten Teil seines Lebens auf der Strasse, heute lebt er in einer Sozialwohnung. Er zeigt auf einen Wohnblock: «Den haben sie neu renoviert. Jetzt kostet eine Zwei-Zimmer-Wohnung 3500 Dollar. Wie soll ich dies mit meiner Sozialhilfe bezahlen?» Sabur liess sein Baseball-Stipendium wegen Drogen und Alkohol sausen. «Wers einmal verbockt hat, der schafft es nicht mehr zurück – vor allem nicht als Schwarzer.» Sabur hat sich aufgegeben. Am Abend stellt er sich jeweils mit Hunderten anderen Obdachlosen in eine Schlange für eine warme Mahlzeit. Meist gibt es Reis mit Bohnen. Glutenfreie Burrito für 20 und Bierstangen für 8 Dollar bezahlen neureiche Mittzwanziger nur wenige Strassen entfernt im Mission District, einem ehemaligen Unterschichtsviertel, das inzwischen gentrifiziert wurde. Die wichtigsten Begriffe des Silicon Valley > Venture-Capital Damit ein Start-up den Sprung von der Garage in die ganze Welt schafft, braucht es Geld. Risikokapital – oder eben Venture-Capital – von privaten Unternehmern ermöglicht den Aufbau der eigenen Firma und ist damit der finanzielle Motor für Innovationen. 2015 wurden im Silicon Valley 34 Milliarden Dollar investiert. > Augmented Reality Während die Virtual Reality eine komplett künstliche Welt erzeugt, wird bei der Augmented Reality (Erweiterte Realität) die Welt digital ergänzt. Das aktuellste Beispiel dafür ist die Smartphone-App «Pokémon Go». In Zukunft sollen virtuelle Elemente auch über Brillen oder gar über künstliche Kontaktlinsen eingeblendet werden. > Cloud Die digitalen Wolken stellen die nächste grosse Revolution in der Informatik dar. Computerleistung soll sich zukünftig fast komplett von der lokalen Hardware lösen und ähnlich wie Strom nur noch auf Nachfrage bezogen werden. Das hat nicht nur einen Einfluss auf das Speichern von Daten (Dropbox, GoogleDrive), sondern vor allem auf das effiziente Ausführen von Programmen. Oben: Graffiti als Ausdruck der Wut gegenüber den reichen Silicon-Valley-Angestellten. Unten links: Immobilienmaklerin Amy Clemens. Unten rechts: Der Molekularbiologe Jean-Denis Benazet wohnt in einer umgebauten Garage. HO/BWE/RIK der in Basel doktorierte, sagt: «Selbst die Mäuse haben in San Francisco weniger Platz als im Basler Labor.» Während seiner Studentenzeit in Basel habe er problemlos eine günstige Wohnung gefunden. Danach zog er nach Boston, Los Angeles und New York. «Ich würde nicht sagen, dass die Wohnung in San Francisco meine bisher schlechteste ist. Es ist die einzig schlechte», sagt er. In diesen Tagen zieht er zu seiner Partnerin nach New York. Seine Vermieterin hat sofort einen Nachmieter gefunden. Die Abwasserleitungen hat sie nicht saniert. Szenenwechsel: An der Bush Street Nummer 900 leben die Menschen nicht auf der Strasse oder in Garagen. Die Umgebung strahlt zwar keinen besonderen Luxus aus, doch im mehrstöckigen Apartment-Komplex werden die Bewohner von einem Concierge begrüsst. In der Miete inbegriffen sind ein geheizter Swimmingpool, ein Fitnesscenter und ein Parkplatz. Aktuell steht eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Mini-Balkon zum Verkauf. Vor zehn Jahren hat ein Ehepaar diese für 400 000 Dollar gekauft. Jetzt ist sie für 689 000 Dollar ausgeschrieben – ein Schnäppchen für diese Gegend. Am Schluss werden es mehr sein. Denn die zuständige Immobilienmaklerin Amy Clemens weiss: «Die Interessenten überbieten sich, manchmal sogar um bis zu hun- dert Prozent, und bezahlen in bar.» Clemens nennt das «Aggressive Pricing». Und wer kommt zum Zug? Am häufigsten kämen Investoren, die die Wohnung weitervermieten wollen, sagt Clemens. «Oft sind es auch reiche Eltern, die ihren Kindern eine sichere Wohnung kaufen möchten, wenn sie aufs College gehen. Und natürlich ‹Techies›, die im Silicon Valley arbeiten.» Um einen möglichst hohen Preis zu erzielen, wurde ein «Staging» durchgeführt: Eine externe Firma brachte die Wohnung auf Vordermann. Die privaten Möbel werden für Fotos und Führungen ausgetauscht. «Das wird in 80 Prozent aller Fälle gemacht», sagt Clemens. Auch im Apartment an der Bush-Street sieht alles blitzblank aus. Auf dem Salon-Tischchen liegt ein Hochglanzbuch mit dem Titel «Great Yachts and their Design». Mehr Arme und mehr Reiche Laut dem Immobiliendienst Zumper sind die Mieten in den USA nirgendwo höher als in San Francisco, mit einem Median-Preis von 3590 Dollar für eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Damit hat die Bay Area sogar New York überholt. Doch nicht nur die Mietpreise sind hoch. Gemäss der Immobilienfirma Paragon ist der Median-Preis für ein Haus in San Francisco mit 1,36 Millionen Dollar sechsmal höher als im Rest der USA. Dabei sind die Häuser nicht etwa hochwertiger oder luxuriöser. Einzig die Nachfrage führte zu dieser exorbitanten Wertsteigerung. Ein Beispiel: Ein nach dem Zweiten Weltkrieg für 5000 Dollar errichtetes Haus in der GoogleStadt Mountain View wird heute auf 2,5 Millionen geschätzt. Nicht wenige sprechen bereits von der nächsten Immobilienblase. Angenommen wird, dass das Wachstum zumindest stagniert. Dennoch sind zahlreiche Projekte für Luxus-Apartments in der Pipeline. Manche davon nicht nur mit Fitnesscenter und Pool. Der neuste Trend: Velo-Garagen und Hunde-Waschsalons. Trotz mehreren Initiativen der Stadt wächst der Unterschied von Arm und Reich weiter: Die Zahl der Empfänger von Lebensmittelmarken hat ein ZehnJahres-Hoch erreicht und die Zahl der Obdachlosen ist in zwei Jahren um 20 Prozent angestiegen. Die Bewohner der Bush Street werden regelmässig von der Realität eingeholt. Es kommt zu Einbrüchen. «Das sind keine professionellen Banden», erzählt eine Mieterin, «sondern Drogenjunkies aus der Tenderloin.» Die Sicherheitsleute seien jeweils rasch zur Stelle. Neunzehn Überwachungskameras im Gebäude registrieren sofort, wenn die Nachbarn des Elendsviertels in die Luxuswelt eindringen. > Pivoting Wenn ein Geschäftsmodell nicht funktioniert, dann wird es angepasst. Im Silicon Valley wird dieses Pivoting – also das konzeptionelle «Umschwenken» – nicht nur akzeptiert, sondern sogar geschätzt. Allgemein wird die Meinung vertreten: Wer noch nie gescheitert ist, kann auch keinen Erfolg haben. > Fintech Die disruptiven und innovativen Ideen aus dem Silicon Valley machen vor keiner Branche halt. Als Fintech werden Technologien bezeichnet, die in der Finanzwelt angesiedelt sind und die klassischen Banken konkurrenzieren sollen. > Inkubator Hier werden erfolgreiche Start-ups gezüchtet. Inkubatoren sind private oder staatliche Organisationen, die junge Firmengründer aktiv beim Aufbauen ihres Unternehmens unterstützen – sei es mit Büroräumen, NetworkingEvents oder individuellem Coaching. > Hackathon Bei den immer populärer werdenden Veranstaltungen steht der Computercode im Mittelpunkt. Programmierer treffen sich, um gemeinsam während einer bestimmten Zeit an einem digitalen Problem zu arbeiten. Das können Stunden oder Tage sein. Der grösste Hackathon Europas wird im September in Zürich stattfinden. 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 das grosse interview 16 17 «Studenten sind heute viel klüger als früher» Er gilt als Pate des Silicon Valley: John Hennessy, Präsident der Elite-Universität Stanford und Google-Verwaltungsrat, unterrichtete viele der grossen Technikpioniere. Im Interview spricht er über Gründergeist, die ETH und räumt einen riesigen Fehler ein. Die fast monopolistische Dominanz Googles ist dennoch ein Problem. Sie dürfen nicht vergessen, dass solche Firmen trotz ihrer Dominanz schnell ersetzt werden können. In der Technologie gilt «easy come, easy go». Wenn jemand eine bessere Idee oder eine bessere Lösung findet, verliert man schnell seinen Platz an der Sonne. IBM war einst Platzhirsch, auch Microsoft oder Yahoo. Und heute? Die Dinge ändern sich unglaublich schnell. Nur wer sich weiterentwickelt, hält seine Vormachtstellung. VON YANNICK NOCK, PATRIK MÜLLER (TEXT) UND PATRICK ZÜST (FOTO) Das Büro ist ein Chaos. Offene Pappkartons versperren den Weg, Bilder und Bücher liegen auf dem Boden. Mittendrin: John Hennessy, 63 Jahre alt, enthusiastisch wie ein Erstsemesterstudent. «Kommen Sie rein», ruft er. «Aaah, die Schweiz, ein tolles Land!» Hennessy tritt nach 16 Jahren als Stanford-Präsident zurück und räumt gerade auf. Er wechselt aber nur das Büro, der Universität bleibt er erhalten. Hennessy hat die digitale Revolution geprägt wie kaum ein anderer. Im Gespräch erzählt er von seinen Erlebnissen mit Apple-Ikone Steve Jobs, den Google-Gründern und mit USPräsident Barack Obama. Mr. Hennessy, welche Eigenschaft unterscheidet Stanford von anderen Spitzenuniversitäten der Welt? John Hennessy: Es ist unsere Kultur: die Mischung aus tiefgreifender Innovation und Unternehmergeist. Sie durchdringt den gesamten Campus. Wir lieben Veränderung, wir lieben es, Pioniere zu sein. Wenn sich ein neues Forschungsfeld auftut, wollen wir dabei sein. Würde es das Silicon Valley ohne diese Pionierfreude überhaupt geben? Stanford war sicher der Schlüssel. Trotzdem müssen wir realistisch bleiben: Wenn wir nicht da gewesen wären, hätte wahrscheinlich eine andere Universität unsere Rolle übernommen. Das Silicon Valley wäre dann aber in einem anderen Teil des Landes. Trotz der digitalen Revolution spielt die geografische Nähe eine riesige Rolle. Die direkte Interaktion ist nicht zu ersetzen. Das sah man schon bei AppleGründer Steve Jobs. Seine ersten Erfahrungen sammelte er in unserem Computer-Club auf dem Campus. Und er ist nicht der Einzige. Talente aus der ganzen Welt kommen nach Stanford. Und was tun sie danach? Sie bleiben und arbeiten in einem Radius von 50 Meilen um unseren Campus, bei Google, Facebook und den anderen Unternehmen. Sie sind Stanford über Jahrzehnte treu geblieben, leiten die Universität seit 16 Jahren. Wie haben sich die Studenten über diesen langen Zeitraum verändert? Studenten sind heute viel klüger als früher. Sie waren schon immer schlau, trotzdem ist das Niveau heute ein anderes, besonders was die Technik-Kenntnisse angeht. Das gilt nicht nur für Stanford, sondern für das ganze Land und ganz Europa. Ausserdem sind sie deutlich entschlossener. Das klingt, als wäre die heutige Generation in allem besser. Naja, sie sind auch ungeduldiger geworden. Sie wollen Veränderung, und sie wollen sie schnell. Doch echter Wandel dauert manchmal länger. Sie haben den Aufstieg des Valley an vorderster Front erlebt. Was wurde versäumt? Wir haben einen grossen Fehler begangen. Die Welt wäre heute ein anderer Ort, wenn es uns gelungen wäre, in der Frühphase des Internets ein gutes Zahlungssystem für Inhalte zu schaffen. Damals wäre es einfacher gewesen, die Gratiskultur gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wir hätten ein funktionierendes Business, statt dem, was wir heute haben – ein «Hey seht, alles ist gratis!» Trotzdem scheinen alle so rasch wie möglich ins Business einsteigen zu wollen. Richtig, das ist ein Ergebnis der Googleund Facebook-Ära. Der Aufstieg der sozialen Medien hat die Studenten in ihrem Denken geprägt. Fünf Personen können in einer Garage etwas austüfteln – und boom! – die Welt erobern. Früher lag die Stärke eines Unternehmens oft auf einer tiefgreifenden Überlegenheit ihrer Technik. Ein Drittel der Firmen war mit ihrem Produkt erfolgreich. Heute gibt es nur wenige Unternehmen mit einem überwältigenden Marktanteil. 95 Prozent der anderen Start-ups verschwinden wieder. Besonders schwierig ist es in der Welt der sozialen Medien. Man weiss nie, welche Entwicklung abheben wird. Das macht es schwierig, den Wert einer Technologie zu erkennen. «Das ist eine unglaubliche Demonstration der Schweizer Bildungsstärke.» Wir hätten einen Weg finden müssen, wie man schnell und effektiv für Inhalte wie einen Zeitungsartikel bezahlt. Auch ich mache mir Sorgen, um den Relevanz-Gehalt im Netz. Was ist das Netz ohne echte Inhalte wirklich wert? Bei Google scheinen Sie den Wert schnell erkannt zu haben: Ihre Studenten Larry Page und Sergey Brin kamen mit der Suchmaschine zuerst zu Ihnen. Ich hatte diesen Aha-Moment, wie schon einige wenige Male davor. Bei Yahoo zum Beispiel, als man das erste Mal eine Pizza im Netz bestellen konnte. Da erkannte ich, wofür das Web wirklich gebraucht werden würde. Es geht nicht um Wissenschafter, die sich Wie wird die Gesellschaft von dieser Entwicklung beeinflusst? Man sieht doch bereits, wie Newsportale Artikel auf ihre Leser zuschneiden, man bekommt nur noch das zu lesen, was man ohnehin denkt. Die Leute werden nicht mehr herausgefordert. Auf der Strecke bleiben lokale Zeitungen, die früher die meisten Stelleninserate in ihren Blättern hatten, mehr als die «New York Times». Dann kam das Stellenportal «Monster.com» und wuuumm (wirft die Hände horizontal auseinander). Nichts mehr. Hier haben wir einen Fehler gemacht. «IBM war einst Platzhirsch, auch Microsoft oder Yahoo. Und heute? Die Dinge ändern sich unglaublich schnell.» Sie sind Optimist. Kann das einer Ihrer Studenten wieder hinbekommen? Wir werden es auf jeden Fall versuchen. Aber es wird ein harter Weg. schnell Papiere zusenden wollen, was ja die Idee des Cern war. Es geht darum, den Alltag der Menschen leichter zu machen. Ähnlich ging es mir bei Google, weil sie jede andere Suchmaschine in den Schatten stellte. Ich dachte nur: Holy Moses! Die beiden haben eine fantastische Idee! Sie selbst wurden Google-Verwaltungsrat und sind es bis heute geblieben. Nicht nur die Medien, auch die Forschungsgemeinschaft kritisiert Ihre Nähe zum Unternehmen: Sie würden damit die Unabhängigkeit der Forschung gefährden. Gemeinsam für mehr Innovation und immer für einen guten Spruch zu haben: Stanford-Präsident John Hennessy (Mitte) 2015 mit US-Präsident Barack Obama und Apple-CEO Tim Cook. Keystone Ich verstehe die Bedenken, weil es tatsächlich zu Interessenkonflikten kommen kann. Deshalb glaube ich an totale Transparenz. Jeder weiss, dass ich Verwaltungsratsmitglied bin. Ausserdem trete ich in den Ausstand, wenn es um eine konkrete Zusammenarbeit zwischen Google und Stanford geht. Die Universität bleibt unabhängig. John Hennessy vor seinem Büro an der Universität Stanford: «Wir lieben es, Pioniere zu sein.» Wir stecken mitten in der vierten digitalen Revolution. Wie können Eltern ihre Kinder am besten auf das vorbereiten, was sie in der neuen Welt erwartet? Das wichtigste, was sie ihren Kindern vermitteln können, ist die Freude am Lernen. Bringen Sie ihnen das Lesen bei, so, dass es ihnen Spass macht. Neues Wissen ist keine Qual. Wenn Kinder das Gefühl bekommen, dass Lernen nur mit einem öden Klassenzimmer zusammenhängt, werden sie keine Freude verspüren. Sie müssen sich selber fragen: Warum funktioniert etwas, Der Pate des Valley Sein Start in Stanford war alles andere als mustergültig. Als John Hennessy (63) kurz nach seinem Abschluss von der State University of New York (at Stony Brook) 1977 nach Stanford zu einem Vorstellungsgespräch reiste, kam er zu spät – er hatte sich auf dem riesigen Gelände verlaufen. Danach ging es für den Professor für Elektrotechnik und Informatik aber stetig aufwärts. Er bildete einige der bekanntesten Technikpioniere aus, wurde Rektor und im Jahr 2000 schliesslich Präsident der Universität. Er gilt als der beste Sponsorenjäger der Welt und Pate des Sillicon Valley. Sitzungen beendet er mit «Charge» – zum Angriff. Im September tritt er als Präsident zurück, bleibt der Elite-Universität aber erhalten. Hennessy ist mit seiner Schulliebe Andrea Berti verheiratet, sie haben zwei erwachsene Söhne. wie es funktioniert? Das heisst nicht, dass sie alle Fächer mögen müssen, aber sie sollen nie den Spass verlieren. Das ist die Basis. Wie aber können sie sich danach im stärker werdenden Wettbewerb behaupten? Ach wissen Sie, die Kinder sollen etwas finden, das sie lieben und in dem sie gut sind. Die zwei Faktoren hängen ohnehin zusammen. Sie werden nie etwas lieben, wenn sie nicht besonders gut darin sind. Nur dann kann man sich selbst ans Limit puschen. Ich sage den Erstsemestern immer: Findet etwas, dass ihr so gerne macht, dass ihr am Samstagmorgen freiwillig aufsteht, um es zu tun. Wer das gefunden hat, kann eine Karriere starten, die er wirklich geniesst. Das ist doch eines der grossen Ziele im Leben. Wie sehen Sie die Schweizer Bildungslandschaft und ihre Universitäten? Ich kenne natürlich die ETH und die EPFL (ETH Lausanne), dort bin ich sogar Ehrendoktor. Das sind ganz tolle Institutionen. Ich bewundere, dass ein so kleines Land gleich zwei der besten technischen Universitäten Europas hervorgebracht hat. Das ist eine unglaubliche Demonstration der Schweizer Bildungsstärke. Auch die Universität Zürich ist hervorragend. Immer wenn ich in Zürich bin, spüre ich, dass es eine Stadt ist, die auf Bildung besonderen Wert legt. Was kann Stanford von den Schweizer Universitäten lernen? Unsere Systeme sind natürlich grundverschieden, was mir aber aufgefallen ist: Schweizer Studenten sind während einer Vorlesung unglaublich aufmerksam (lacht). Nie habe ich eine Vorlesung gehalten und musste sehen, wie einer sein iPhone zückt. Davon könnten sich die Amerikaner eine Scheibe abschneiden. Sie haben die Unterschiede im System angesprochen. Private Geldgeber werden an Schweizer Hochschulen sehr skeptisch gesehen. Ist das ein Fehler? Wir sind eine Privatuniversität, ohne Sponsoren und Philanthropen könnten wir nicht überleben. Die Herausforderung aller Hochschulen ist es, ihre Werte sicherzustellen, wenn sie pri- vate Gelder bekommen. Das gelingt uns, weil wir selber die Ziele festlegen und dann mit Geldgebern reden. Es ist unsere Entscheidung. Europa setzt viel stärker auf die Finanzierung durch den Staat, das hat bei euch gut funktioniert. Trotzdem müssen sich wohl nun auch eure Universitäten die Frage stellen: Brauchen wir mehr Drittmittel oder können wir uns auch die nächsten 30 Jahre auf die Regierung verlassen? Denn es dauert Jahrzehnte, bis die Spender-Mentalität in einer Hochschule verankert ist. Sie loben die Schweizer Hochschulen, und in unserem Land ist auch Kapital vorhanden, Firmengründungen sind nicht allzu schwierig. Warum gelingt es der Schweiz nicht, ein kleines Valley zu gründen? Nun, es ist nicht ganz einfach, in euer Land einzuwandern. Bei Google oder Facebook sieht man Menschen aus allen Ecken der Welt. Das Valley ist ein Magnet. Diese Offenheit ist ein grosser Vorteil für die USA. Der, der die besten Talente hat, hat auch die besten Chancen und Voraussetzungen. Trotzdem ist Google Zürich zu einem Magnet für Talente geworden. Die Stadt fühlt sich international an. Am 1. September treten Sie als Präsident zurück, fördern dann aber ein ambitiöses Projekt. Was können Sie über das KnightHennessy-Programm verraten? Der Welt fehlen die grossartigen Anführer. Das gilt sicher in der Politik, aber auch in Teilen der Wirtschaft oder in Non-Profit-Organisationen. Unser Ziel ist es nun, die besten Studenten aus aller Welt auf unseren Campus zu holen und sie auf die kommende Herausforderung vorzubereiten. Wir wollen ihre Führungsqualitäten stärken. Also träumen Sie davon, den nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten auszubilden? Wieso nicht? Präsident Obama war erst letzten Monat hier, er liebt den Campus, denn er liebt Innovation. Aber es geht nicht nur um die USA, nehmen Sie zum Beispiel Afrika. Dort brauchen wir mit Sicherheit grosse Anführer, um all die Probleme zu lösen. Ich hoffe, dass wir in 20 oder 30 Jahren zurückblicken und sagen können, dass wir erfolgreich waren. 25 18 gestern Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Wie das Silicon ins Valley kam Hippie-Kultur, die US-Army und ein verräterischer Genfer trugen zur Entstehung der Technologie-Brutstätte bei. VON PASCAL RITTER ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Das Silicon Valley, das Zentrum der Technologiefirmen, hat einen doppelt irreführenden Namen. Die Region, in der sich innerhalb weniger Quadratkilometer Weltkonzerne wie Facebook, Google oder Cisco befinden, ist eher eine Ebene als ein Tal. Im Westen wird sie durch Hügel begrenzt, die sich an der Pazifikküste erheben. Im Osten grenzt das Gebiet an die Bucht von San Francisco. Der Begriff Silicon erinnert im Deutschen an Gesichtscreme oder Brustimplantate, steht aber für das Element Silicium, ein sogenannter Halbleiter. Es wird in Mikrochips verbaut. Silicium-Plättchen, in die Schaltkreise eingelassen sind, bilden die Grundlage für moderne Computer und Smartphones. Um diese Chips entwickelte sich ab den späten 1950er-Jahren eine Industrie südlich der kalifornischen Metropole San Francisco. Die Erfinder dieser Technik, die sogenannten «Traitorous eight» (deutsch: die verräterischen acht), werden wie Helden gefeiert. Gordon Moore, Julius Blank, Victor Grinich, Eugene Kleiner, Jay Last, Robert Noyce, Sheldon Roberts und Jean Hoerni gelten als Gründerväter des Silicon Valley. An die Westküste gebracht hatte sie der Physiker William Shockley im Jahr 1956. Sein Ziel war es, seine Transistorentechnik, für die er im gleichen Jahr den Nobelpreis erhalten hatte, weiterzuentwickeln. Doch der umtriebige Chef und seine jungen Mitarbeiter verstanden sich nicht. Es kam zum Bruch. Der Verrat der «Traitorous eight» bestand in der Gründung einer Konkurrenzfirma: Fairchild Semiconductors. Es war ein sehr erfolgreicher Verrat. Fairchild wurde zum ersten Massenproduzenten von Mikrochips. Stanford-Historikerin Leslie Berlin betont, dass das gute Zusammenspiel der verschiedenen Forscher Fairchild erfolgreich machte. Dass eine Idee des Schweizers Jean Hoerni den Durchbruch brachte, ist aber unbestritten. Ein Genfer im Valley Hoerni, 1924 in Genf geboren, studierte Mathematik und promovierte in Physik. In Cambridge machte er einen zweiten Doktor in Physik. 1952 wechselte er ans California Institute of Technology, wo er Shockley kennen lernte. Bei Fairchild entwickelte er ein Verfahren, das es erlaubte, Mikrochips in Massen zu produzieren. Im Computer History Museum unweit des Google-Geländes in Mountain View, zwischen dem Highway 101 und einem Forschungsgelände der Nasa, werden Notizbücher, Skizzen und Entwürfe der «Traitorous eight» wie Reliquien ausgestellt. Nicht einmal die Theke der Bar fehlt, an der die Jungs ihr Bier tranken. Das Silicon Valley war von Anfang an auch Lifestyle. Ein Glaubenssatz der Tech-Branche lautet bis heute: Ideen entstehen nicht im Einzelbüro, sondern beim Austausch mit anderen. Den Bartheken von damals entsprechen die Begegnungszonen samt Hotdog-Wagen, Pingpong-Tisch oder Glace-Stand, die heute in keinem TechUnternehmen fehlen. Die Distanz zu den Businesszentren an der Ostküste wie der Wall Street, die INSERAT Die «Traitorous eight»: Gordon Moore, Sheldon Roberts, Eugene Kleiner, Robert Noyce, Victor Grinich, Julius Blank, Jean Hoerni und Jay Last (1960). Keystone / Magnum / Wayne Miller Start-up-freundliche Stanford-Universität und die kalifornische Hippie- und Do-it-yourself-Kultur gelten als Faktoren, welche den Entwicklern den nötigen Freiraum gaben, um revolutionäre Erfindungen hervorzubringen. Kluge Köpfe und Freiräume reichten nicht aus, um aus dem verschlafenen Obstanbaugebiet Santa Clara ein Technologiezentrum zu machen. Es brauchte auch Geld, viel Geld. Heute kommt es von Investoren, die profitabel anlegen wollen, damals kam es von der Armee. Die Region war im Zweiten Welt- krieg ein Zentrum der amerikanischen Luftwaffe. Um die Flugfelder siedelten sich Elektronikfirmen an. Und der Hunger nach Technik liess nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nach. Im Gegenteil. Die USA und die Sowjetunion lieferten sich einen Wettlauf der Aufrüstung. Es herrschte Kalter Krieg. Dabei spielte nicht nur die Explosivkraft von Wasserstoff- oder Atom-Bomben eine Rolle, sondern auch Rechenleistung. Nur wer es schaffte, Flugbahnen und Geschwindigkeiten in Millisekunden zu berechnen, war auch eine ernstzunehmende Bedrohung für den Gegner. Die USA wähnten sich noch in den frühen 1950er-Jahren in der Gewissheit, dem Kommunismus technologisch überlegen zu sein. Doch am 4. Oktober 1957 wurde der Sputnik I in die Umlaufbahn katapultiert. Der erste Satellit startete nicht in Cape Canaveral, sondern im kasachischen Baikonur. Das war ein Schock für die USA. Denn eine russische Rakete, die einen Satelliten in die Umlaufbahn schiesst, kann auch eine Bombe bis nach Washington tragen. Die US-Behörden intensivierten ihre Die Nachahmer Fotos: Key, HO ● Zürich Tel Aviv New York London Einer der grössten Entwicklungsstandorte von Google ausserhalb der USA ist in Zürich. Damit weht ein Hauch von Silicon Valley an der Limmat, die Initiative «Digital Zurich 2025» will ihn verstärken. Zürich soll zum Tech-Hub werden. Ringier-Chef Marc Walder gelang es CEOs, Politiker und Professoren für das Anliegen zu gewinnen. Silicon Wadi wird die Region um Tel Aviv an der israelischen Küste genannt. Hatte das Land kaum Hardware entwickelt, spielt es im Bereich Software eine Rolle. So wurde etwa der Nachrichtenübermittlungsdienst ICQ von der israelischen Firma Mirabilis entwickelt. Firmen wie IBM, Intel oder HP beschäftigen Hunderte Entwickler im Silicon Wadi. Distanz zur Wall Street galt mal als Vorteil des Silicon Valley. Die Investoren sind den Programmierern aber längst gefolgt, und die Coder folgten dem Geld und kamen zur Wall Street. Teile von New Yorks Business District werden als Silicon Alley bezeichnet. Googles zweitgrösstes Büro ist dort sowie der Hauptsitz der Telekomfirma Verizon. Silicon Roundabout wird die Tech-Industrie an der Themse genannt. Um den Platz Old Street Roundabout im Hackney-Quartier siedelten sich die englischen Start-ups an. Universitäten und die Politik unterstützen die Entwicklung offiziell. Aus London stammt etwa der Musikdienst Last.fm. Amazon und Google lassen in der Stadt der Queen entwickeln. Forschungstätigkeit. Firmen wie Fairchild profitierten vom Hunger der Armee nach Elektronik und Innovation. Die «Traitorous eight» blieben nicht lange zusammen. 1968 gründeten Gordon Moore und Robert Noyce die Firma Intel, die sich zum Prozessor-Giganten entwickelte. «Moores Law», das Gesetz, wonach sich die Rechenleistung von Prozessoren regelmässig verdoppelt bei gleichen Produktionskosten, war in vollem Gang. Auslagerung nach Asien Als der Journalist Don Hoefler am 11. Januar 1971 den Begriff Silicon Valley (eine Anspielung auf den Werbe-Slogan von Santa Clara: «The Valley of Heart’s Delight») zum ersten Mal in einem Zeitungsartikel zu Papier brachte, hatte sich die Anzahl Techfirmen vervielfacht. 1976 gründete Steve Jobs Apple und machte den Computer zum Massenprodukt. Das Valley blieb noch bis in die 1980er-Jahre ein Industriegebiet. Auch mit entsprechenden Folgen für die Umwelt. Heute werden iPhone und PC in Asien produziert, wo die Löhne niedrig und die Umweltgesetze lasch sind. In den Industriebrachen haben sich Programmierer eingenistet und tüfteln an Apps und Programmen. Übrigens: Der Genfer Hoerni blieb nicht lange bei Fairchild. Schon nach wenigen Jahren verliess der die Pionierfirma und gründete ein neues Unternehmen. Es ist auch diese Nonchalance, alte Projekte hinter sich zu lassen und neu anzufangen, die das Phänomen Silicon Valley ausmacht. 19 meinung Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Und wenn Donald Trump Schweizer wäre? Othmar von Matt, Politikchef Die Nachricht: Letzte Woche nominierte der Parteikonvent der Republikaner Donald Trump als Präsidentschaftskandidaten. Diese Woche hoben die Demokraten Hillary Clinton auf den Schild. Der Kommentar: Ging es in den Gesprächen in San Francisco oder im Silicon Valley um Donald Trump, kam irgendwann die Schweiz ins Spiel. «Könnt ihr Trump nicht in die Schweiz mitnehmen?», fragte ein US-Professor. Und eine Lehrerin wollte wissen: «Hätte Trump in der Schweiz eine Chance, gewählt zu werden?» Hinter der Frage, die wie eine harmlose Spielerei daherkommt, steckt Fassungslosigkeit. Wie nur konnte es so weit kommen, dass Trump ernsthafte Chancen hat, 45. US-Präsident zu werden? Hätte Donald Trump eine Chance, Bundesrat zu werden? Ein Mann, der sich selbst als mehrfacher Milliardär bezeichnet, bei dem die Öffentlichkeit aber nicht weiss, ob er nicht tatsächlich nur millionenschwer ist? Ein Mann, der als Unternehmer viermal in Konkurs ging? Ein Mann, der nie ein politisches Amt ausübte? Ein Mann, der eine Mauer bauen will? Ein Mann, der als pathologischer Lügner gilt? Ein Mann, der permanent beleidigt? Ein Mann, dessen Bekanntheit auf seiner Rolle als «Hire-and-Fire»-Gastgeber der TV-Reality-Show «The Apprentice» fusst? Ein Mann, der nur ein Lebensmotto zu haben scheint: «Ich.» Silvan Wegmann zur Woche. Gastbeitrag von Ruedi Noser Es braucht New Switzerland 1845 gründeten 150 Auswanderer aus dem Glarnerland, meinem Geburtskanton, New Glarus in Wisconsin (USA). Sie waren gezwungen, in eine neue Welt aufzubrechen. Ich bin stolz auf meine Vorfahren: Wer eine solche Reise ins Unbekannte macht, auch wenn die Not gross ist, muss mutig sein. Diese Leute waren die Opfer der ersten industriellen Revolution, die Handweber und Spinner überflüssig machte. Sie wurden durch Webmaschinen und Spinnmaschinen ersetzt. Textilfabriken sprossen im 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden. Trotzdem blieb die Schweiz ein Auswanderungsland, denn die Technologie der Textilindustrie wurde importiert; man wendete sie an, und sie schuf wenig Arbeitsplätze. 1880 arbeiteten 63 Prozent aller Industrie-Erwerbstätigen in der Textilbranche, 40 Jahr später waren es noch 22 Prozent. Trotz vielen Einzelschicksalen blieb die ganz grosse Katastrophe aus, wie wir sie rund 100 Jahre früher erlebt haben. Sie blieb nicht nur aus, die Schweiz wurde in dieser Zeit gar vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland. Parallel zu dieser schicksalhaften Wirtschaftsgeschichte entstand unsere ETH. 1855 wurde sie gegründet, 1886 das Chemieund 1890 das Physikgebäude, dann 1900 das Maschinenlabor in Betrieb genommen. In der Folge entwickelte sich die Chemie- und Maschinenindustrie. Die Schweiz wandelte sich von der Produktions-Anwenderin zur Produktions-Entwicklerin. Unternehmerisch gesprochen: Die Investition in die Elitenbildung von der ETH zahlte sich aus. Hatte die Schweiz die erste industrielle Revolution noch verpasst und wurde in der Folge komplett von England dominiert, war man für die zweite industrielle Revolution gewappnet. Ruedi Noser ist Unternehmer in der IT-Branche und FDP-Ständerat des Kantons Zürich. Er engagiert sich bei der Initiative «Digital Zurich 2025». «Ideen, wenn nicht x-fach abgesichert, sind uns suspekt.» Heute stehen wir mit der Digitalisierung an einer ähnlichen Wegscheide wie im 19 Jahrhundert. Es gibt in der IT etwa 200 000 Fachkräfte. Wie damals in der Textilindustrie sind die meisten von ihnen Anwender dieser Technologien, die nicht aus der Schweiz stammen, ja auch nicht aus Europa. Obschon viele bahnbrechende Erfindungen im Bereich der Digitalisierung hier stattgefunden haben, verloren wir in den 70er- und 80er-Jahren die ganze Computerindustrie und in den 90erund 2000er-Jahren die gesamte Telekommunikation. Profitiert haben in erster Linie die USA. Heute muss man konstatieren, dass Europa und die Schweiz die erste Halbzeit der Digitalisierung verloren haben. In der zweiten Halbzeit geht es nun um den Wettbewerb der Wertschöpfung und damit um nichts weniger als unseren Wohlstand. Und wir sind mannigfaltig gefordert. Zuerst müssen wir als Gesellschaft verstehen, was die Digitalisierung wirklich alles verändert. Wenn man im 20. Jahrhundert eine Firma aufbauen wollte, musste man Kapital, Boden und Arbeitskräfte haben. All das war zum einen knapp, zum anderen – wenn man es denn hatte – wurde es sofort besteuert. In der Digitalisierung gelten andere Regeln. Während man im 20. Jahrhundert mit einer Idee ohne Kapital nichts erreichen konnte, gilt jetzt, dass du mit Kapital ohne die richtige Idee nichts erreichen kannst. Und gerade unsere Kultur wird dadurch fundamental herausgefordert. Überragendes und Elitäres ist uns fremd, Ideen, wenn nicht x-fach abgesichert, suspekt. Wer eine Idee erfolgreich realisiert, wird beneidet, wer scheitert, ist out. Das Geheimnis des Silicon Valley, so sagt man, ist unter anderem die Art und Weise, wie man dort mit dem Scheitern umgeht: «Toll, dass du es versucht hast!» Unser Wille zur Perfektion und unsere intolerante Fehlerkultur stehen der digitalen Kultur zuwider. Neben der kulturellen besteht für uns eine institutionelle Herausforderung. Mit der Vermögenssteuer haben wir den Neid in unserem Staatsgebilde buchstäblich institutionalisiert: Die Schweiz ist das einzige Land, das Ideen besteuert, bevor sie überhaupt einen Gewinn erzielen. Und die Vermögenssteuer verhindert oft, dass ein Einzelner eine grosse Firma besitzen kann. Wenn die Digitalisierung aber das Jahrhundert der Ideen ist, dann muss es möglich sein, dass Menschen mit ihren Ideen grosse Firmen aufbauen und auch besitzen können, ohne dass der Fiskus sie enteignet. Die zweite industrielle Revolution hat die Schweiz stark gemacht, weil wir nach der ersten in die Elitenbildung investiert haben. Seit damals haben wir sehr viel in die Breitenbildung investiert. Wir sind vermutlich das Land, in dem jeder Jugendliche die Chance hat, die optimale Ausbildung zu bekommen, mit der er am besten durch das Leben kommt. Jedenfalls weit besser als in den USA. Diese breite Ausbildung bietet uns die Chance, kombiniert mit den richtigen Talenten auch bei der digitalen Revolution zu den Gewinnern zu gehören. Verlangt wird aber, dass wir die Voraussetzungen schaffen, damit diese Talente in der Schweiz bleiben oder wie vor 150 Jahren in die Schweiz kommen. Darum braucht es eine Initiative im Bundesrat, die prüft, was zu machen ist, damit wir diese Talente haben und auch behalten können. Es braucht keine Industriepolitik dazu. Eine richtige Bildungspolitik, die die Schweiz zum digitalen Hub von Europa macht, und eine Steuerpolitik, die wieder Unternehmertum im grossen Stil zulässt – das würde als Rahmenbedingungen reichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir Mut bewiesen. Auch heute brauchen wir wieder Mut und einen grossen Effort. Weniger aus der Not, wie damals die Glarner, die auswanderten, um New Glarus zu gründen. Wir brauchen den Mut, die richtigen Entscheide zu treffen, damit in der Digitalisierung ein New Switzerland entstehen kann – und zwar hier bei uns und nicht im Silicon Valley, in das unsere Talente auswandern. Die Schweiz muss mit ihrer Kultur die Digitalisierung prägen wollen. Wir können sie nicht nur den US-Konzernen überlassen, wir müssen solche Konzerne in die demokratische Schweiz holen. Es braucht mehr als die 150 Auswanderer, um New Switzerland zu schaffen. Darum: Machen Sie dort mit, wo Ihr Beitrag verlangt wird. Werden Sie ein Teil von NewSwitzerland.org In der Schweiz gleicht Trump am ehesten Lega-Gründer Giuliano Bignasca: Er war ein sozial-national ausgerichteter, unflätiger, aber politisch erfolgreicher Selfmade-Man. Bignasca hätte aber nicht den Hauch einer Chance gehabt, Bundesrat zu werden. Zu ernsthaft wird in der Schweiz Politik betrieben. Zu gefestigt ist die direkte Demokratie. Und zu wenig polarisiert ist das Land im Vergleich zu den USA von heute. Einen Trump-Vorläufer gibt es in unmittelbarer Nähe aber sehr wohl: Silvio Berlusconi. Wohin das geführt hat, lässt sich in Italien besichtigen. [email protected] Sündenböcke und Drückeberger Henry Habegger, Redaktor Die Nachricht: Die grüne Aargauer Regierungsrätin und Asylverantwortliche Susanne Hochuli kandidiert nicht für eine weitere Amtszeit. Sie wolle Leben und Agenda wieder selbst bestimmen. Der Kommentar: Während acht Jahren war Susanne Hochuli in der Aargauer Regierung unter anderem für das Asyldossier zuständig. Für die übrigen Parteien waren das recht angenehme Jahre. Wenn etwas schieflief, war Hochuli der Sündenbock. Gab es 2014 etwa lauten Krach um ein Bundeszentrum, forderte die SVP den Rücktritt der Regierungsrätin. Das «Volk» sei wütend. Die grüne Regierungsrätin befand sich damit in der gleichen Lage wie auf Bundesebene die SP-Frau Simonetta Sommaruga. Auch sie ist Dauerbeschuss vorwiegend von rechts ausgesetzt, auch sie macht alles falsch, wenn es nach ihren Kritikern geht. Das ist natürlich billig, denn in diesem Dossier kann man fast nichts richtig machen. Erst recht nicht, wenn man es allen recht zu machen versucht. Die Migrationsströme sind so schnell nicht aufzuhalten, die Flüchtlingsbewegungen ebenso wenig. Dabei machen weder Hochuli noch Sommaruga eine besonders linke Flüchtlingspolitik, was ihnen auch Kritik aus den eigenen Reihen einträgt. Sommaruga baut das Asylprozedere in eine schon fast beängstigend perfekte Maschinerie um, bei der Menschlichkeit schnell mal zu kurz kommt. Mit ihrer Eritrea-Reise etwa ist Hochuli in eine Falle getappt, die ein Regime ihr gestellt hat. Aber das alles ist leicht gesagt. Wie beim Bund, wo sie den Drückeberger gab, wäre es auch auf Kantonsebene an der SVP, die Verantwortung für das Asyldossier zu übernehmen. Wer immer alles besser weiss, muss irgendwann hinstehen und zeigen, dass er es besser macht. [email protected] wirtschaft Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 21 SILICON VALLEY Wo die wertvollsten Unternehmen ihren Sitz haben. Seiten 22/23 Pilotanlage für neue Therapieformen gegen Krebs: Für die Forschung der Schweizer Chemie ist das Silicon Valley wichtig geworden. Keystone Die Schweizer im Silicon Valley Schweizer Pharmariesen sind bereits dick im Geschäft – neu wagt auch ein Uhrenkonzern den Sprung. VON BEAT SCHMID UND STEFAN EHRBAR ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Es kann kein Zufall sein, dass das Schweizer Uhrenunternehmen TAG Heuer ausgerechnet Santa Clara ausgesucht hat. Die Stadt mit gut 100 000 Einwohnern ist so etwas wie der Geburtsort des Silicon Valley. Hier befindet sich der Hauptsitz von Intel, des Computerchip-Produzenten, der 1971 mit dem Intel 4004 den ersten integrierten 4-Bit-Prozessor auf den Markt brachte, der die Computertechnologie revolutionierte. 45 Jahre später macht sich nun also das erste Schweizer Uhrenunternehmen auf in den Westen. TAG-HeuerChef Jean-Claude Biver sagt zur «Schweiz am Sonntag»: «Ab November wird auch TAG Heuer in Santa Clara zehn bis zwölf Ingenieure beschäftigen. Es wird unsere erste technologische Niederlassung im Silicon Valley sein», sagt der Manager, der beim Luxuskonzern Louis Vuitton für sämtliche Uhrenmarken zuständig ist. Die Welt inklusive die Uhrenindustrie müsse weiter, ist Biver überzeugt. Die Ingenieure werden direkt im weitläufigen Intel-Campus Quartier beziehen. Für Biver ist der Gang ins Silicon Valley eine logische Konsequenz. Letztes Jahr lancierte er eine erste Smartwatch, die mit Chips von Intel arbeitet. Wenn er eigene Leute vor Ort hat, sind sie näher dran und können schneller reagieren. TAG Heuer ist eines von Dutzenden Schweizer Unternehmen, die im Valley ihre Zelte aufgeschlagen haben. Anfang der 1980er-Jahre war es der Computermauspionier Logitech, der in das damals kaum besiedelte Gebiet vorstiess. Die Firma wurde in der Westschweiz gegründet, wo immer noch der Hauptsitz liegt, doch das operative Zentrum befindet sich in Newark, südlich von Oakland. Auf der anderen Seite der Bay, in Foster City, findet sich die kleine Softwarefirma Balluun. Auch sie hat ihren rechtlichen Sitz in der Schweiz, doch getüftelt wird im Silicon Valley. Laut Chef Roland Kümin sind die «Leute hier neugierig, offen und geprägt von einem starken Optimismus». Anders in der Schweiz, wo man «immer noch zuerst die Gefahren und Risiken» sehe. «Das paralysiert», so Kümin, der zwischen der Schweiz und dem Silicon Valley pendelt. Kümin will mit seiner Firma disruptive Energien freisetzen. So soll Balluun Firmen auf clevere Weise zusammenbringen, sodass teure Auftritte an Messen schlicht nicht mehr nötig sind. Das Unternehmen hat vor kurzem eine Finanzierung über 40 Millionen Franken erhalten und will nun das Entwicklerteam im Valley «massiv ausbauen». Seit 13 Jahren ist der Bund dabei Den Austausch zwischen Schweizer Firmen, der Wissenschaft und dem Silicon Valley hat sich die Organisation Swissnex auf die Fahne geschrieben. Vor 13 Jahren eröffnete die zu einem Drittel vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation und dem De- partement für Auswärtige Angelegenheiten finanzierte Organisation ihren Aussenposten in San Francisco. Vor kurzem hat die Organisation neue, grosszügigere Räumlichkeiten bezogen. Noch riecht es nach frischer Farbe; die meisten Arbeitstische sind allerdings unbesetzt. In einem Teil des loftartigen Raumes ist aber schon etwas los. Da sitzen Mitarbeiter von Nestlé vor ihren Computerbildschirmen. Der Nahrungsmittelmulti will die quirlige Startup-Szene vor Ort beobachten können. Auch die Swisscom hat einen Horchposten eingerichtet. Seit 1998 beobachten Mitarbeiter in Menlo Park die Entwicklung. Unter dem früheren Chef Carsten Schloter verfolgte die Swisscom ehrgeizige Pläne und begann mit der Entwicklung von Cloud-Lösungen. Doch mittlerweise sind die Bemühungen eingeschlafen. Die Swisscom verlegte den Fokus auf Partnerschaften mit Start-ups und Trend-Scouting. Der Outpost läuft auf Sparflamme. Gerade zehn Mitarbeiter beschäftigt die Swisscom vor Ort. Ein Ausbau, so SwisscomSprecher Joseph Huber, sei nicht geplant. Mehr Aktivität legen Schweizer Pharmafirmen an den Tag. Sie beschäftigen Zehntausende Personen in der Bay Area und übertrumpfen damit die Schweizer IT-Branche bei weitem. Der wahrscheinlich grösste Schweizer Arbeitgeber in der Region ist Roche. 2009 übernahmen die Basler die Biotech-Firma Genentech vollständig. Über 10 000 Angestellte beschäftigen die DNA-For- 25 Jah re Int ernet CH-Firmen in der Bay Area Firma Standort Branche Actelion South San Francisco Pharma Balluun Foster City Software Faceshift AG San Francisco Avatar Software Genentech (Roche) San Francisco Pharma Kaywa AG San Francisco Mobile Apps Keylemon SA Campbell Face recognition Koemei SA San Francisco VideoSuche Logitech Newark Hardware Novartis diverse Standorte Pharma Roche PleasanPharma ton/diverse Scandit Inc. San Francisco Swisscom Menlo Park Telekom TAG Heuer Mobile barcode Santa Clara Uhren Quelle: eigene Darstellung/swissnex scher zurzeit im Süden von San Francisco. Darüber hinaus arbeiten 800 Mitarbeiter im nahe gelegenen Pleasanton für die Roche Molecular Diagnostics, weitere 500 sind für Roche Sequencing an diversen Standorten in der Bay Area tätig. Basler Pharma gibt Gas Die Region sei ein «sehr wichtiger Standort im innovationsgetriebenen Unternehmen», sagt eine Sprecherin. Grund dafür seien die Dichte von Risikokapitalgebern und Hightech-Unternehmen sowie das ausgeprägte akademische Netzwerk. Das ermögliche unterschiedliche Kooperationen oder Akquisitionen. Die Pharmafirmen wachsen im Silicon Valley vor allem durch Übernahmen: Erst letztes Jahr übernahm Roche Geneweave, eine Diagnostikfirma mit Sitz in Los Gatos. Eine ähnliche Strategie verfolgt Novartis: 2006 hatte der Konzern eine Mehrheit an der Biotech-Firma Chiron mit über 5000 Mitarbeitern nahe San Francisco übernommen. 2008 akquirierte Novartis einen grossen Teil der Lungen-Forschung des Nektar-Konzerns und damit weitere 140 Mitarbeiter in der Bay Area. Das Silicon Valley ist wichtig für Schweizer Firmen, auch wenn sie im IT-Bereich hier wenig zu melden haben. Anders sieht es in Branchen aus, in denen die Schweiz ohnehin stark ist – allen voran im Bereich Gesundheit. Hier hilft das Valley, dass sie noch stärker werden. 22 wirtschaft 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Die grösst en Firmen im Silicon Valley SAN FRANCISCO Brisbane Hillsborough Redwood Shores Palo Alt o Stanford Alviso Mount ain View Sant a Clara Sunnyvale SAN JOSE Cupert ino Die 25 wert vollst en Unternehmen in Milliarden Franken 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10 . 11. 12. 13. 14. Apple Alphabet (Google) Facebook Oracle Int el Cisco Gilead Sciences Salesforce.com PayPal Holdings Adobe Syst ems Ne t fl ix Yahoo Hewlett Packard Ent erprise Tesla Mot ors 570 530 355 170 164 153 10 5 49 47 46 43 34 30 30 15. 16. 17. 18. 19. 20 . 21. 22. 23. 24. 25. eBay Int uit Applied Mat erials Equinix Int uitive Surgical VMware HP Elect ronic Arts Nvidia SanDisk LinkedIn Uber Genent ech (Roche) 27 26 23 22 22 22 21 20 19 15 15 (nicht börsenkotiert) (nicht börsenkotiert) GRAFIK: MTA/ SAS 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 wirtschaft 23 COMPUTERSPIEL Das Tal der Milliarden Die wertvollsten Firmen der Welt sind zwischen San Francisco und San José angesiedelt. VON BEAT SCHMID ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Aus dem Silicon Valley stammen die wertvollsten Firmen der Welt. Die ersten drei – Apple, Googles Mutterkonzern Alphabet und Facebook – kommen auf einen Unternehmenswert von fast 1,5 Billionen Dollar (1500 Milliarden). Allein der Computerkonzern Apple wird derzeit mit 570 Milliarden an der Börse bewertet, Alphabet mit 530 und Facebook mit 355 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Für die beiden Schweizer Pharmaunternehmen Roche und Novartis müsste ein Käufer 212 und 209 Milliarden Franken auf den Tisch legen. Die beiden Grossbanken UBS und Credit Suisse gibt es zum Aktionspreis von 51 und 23 Milliarden Franken – zusammen sind sie achtmal weniger wert als Apple. Sind diese astronomisch anmutenden Bewertungen noch gerechtfertigt, oder erleben wir gerade eine gigantische Bewertungsblase? Aus fundamentaler Sicht sind diese Bewertungen nicht aus der Luft gegriffen. Zum Beispiel Apple: Der iPhone-Hersteller veröffentlichte diese Woche zwar einen Gewinnrückgang um 27 Prozent auf 7,8 Milliarden Franken. Aber weil die Analysten düsterere Zahlen erwartet hatten, zogen die Aktien dennoch deutlich an. Der Rückgang der iPhone-Verkäufe war weitgehend im Kurs eingepreist. Die Apple-Titel handeln derzeit zum 11-Fachen des Gewinns. Damit liegt die Apple-Aktie 35 Prozent unter dem Leitindex S&P500. Zudem hat der Konzern ein 250 Milliarden Dollar schweres Aktienrückkaufprogramm am Laufen. Man könnte also durchaus argumentieren, dass Apple unterbewertet ist. Wertzuwachs oft spektakulärer als in der Dotcom-Phase Die phänomenale Entwicklung der Börsenkurse setzte nach der Finanzkrise im Jahr 2008/09 ein. Der Wertzuwachs fällt dabei zum Teil noch spektakulärer als während der berüchtigten DotcomPhase um die Jahrtausendwende. Da- mals zählen Firmen wie Microsoft und Cisco zu den wertvollsten Technologiefirmen der Welt. Das Erstaunliche an der jüngsten Entwicklung ist, dass es den jungen Firmen immer schneller gelingt, sehr grosse Börsenwerte zu generieren. Um auf eine Kapitalisierung von 350 Milliarden zu kommen, brauchte Apple 31 Jahre. Bei Microsoft dauerte die Phase 13 Jahre, bei Google noch 9 Jahre und bei Facebook lediglich 4 Jahre nach dem Börsenstart. Chefs von der Angst getrieben, den Wendepunkte zu verpassen Der kometenhafte Aufstieg junger Firmen sorgt für einen konstanten Stresspegel bei den Chefs der etablierten Grosskonzerne. Ständig werden sie von der Angst verfolgt, von einem jungen Konkurrenten überholt zu werden. «Nur die Paranoiden überleben», lautete einst der Titel eines Bestsellers von Andrew Grove, dem langjährigen Chef des Prozessorriesen Intel. Es erschien im Jahr 1997 und hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Spürbar ist die Paranoia, wichtige Wendepunkte zu verpassen, auf Schritt und Tritt im Silicon Valley. Auch auf dem Campus von Facebook, dem schnell wachsenden Social-Media-Unternehmen, das diese Wochen einen spektakulären Gewinnsprung auf 2,1 Milliarden Dollar für das letzte Quartal meldete. Facebook-CEO Mark Zuckerberg wollte ein Zeichen setzen. Als es dem Social-Media-Unternehmen wegen des schnellen Wachstums in den alten Büros zu eng wurde, übernahm es das Firmengelände von Sun Microsystems, einer einst umjubelten High-End-Computerfirma, die extrem zuverlässige und ultraschnelle Server und Workstations produzierte. Doch das Unternehmen schlitterte in die Krise und wurde schliesslich vom Datenbank-Riesen Oracle geschluckt. Zuckerberg verfügte, dass das alte SunLogo am Gebäude stehen blieb – als Mahnmal, dass der Erfolg, sei er auch noch so spektakulär, nicht gegeben ist. Innovativer, schneller, reicher – das ist die Maxime des Silicon Valley. Bereits ganz junge Unternehmer müssen sich diesem Gesetz unterwerfen, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance haben wollen. Am Anfang eines Startups stehen meist zwei, drei junge Ingenieure, die Tag und Nacht an einem Prototyp tüfteln. Sobald die Idee Gestalt annimmt, kommt das grosse Geld ins Spiel. An der Sand Hill Road in Palo Alto sitzen die grössten Geldgeber der Silicon-Valley-Geldmaschine. Sie laden die Jungunternehmer in schicke Sitzungszimmer ein, wo sie die einmalige Chance bekommen, ihre Pläne zu präsentieren. Haben sie Glück, erhalten sie von diesen Venture-Capital-Firmen – im Valley werden sie VCs genannt – die ersten paar hunderttausend Dollar. Die Risikokapitalgeber händigen das Geld nicht aus Nächstenliebe aus, sondern aus knallhartem Kalkül, um möglichst früh Schnelle Brüter Anzahl Jahre nach Börsengang, bis der Firmenwert 350 Milliarden Dollar erreichte Facebook Alphabet Cisco Systems Microsoft Amazon.com 4 9 10 13 18 31 Apple QUELLE: FACTSET GRAFIK: MTA/SAS den Fuss in einer Firma zu haben, die zum nächsten Google oder Facebook werden könnte. Wenn alles gut läuft, folgt nach diesem ersten «Seed»Geld eine erste richtige Finanzierungsrunde, dann die zweite und dann die dritte. Spätestens dann wird über einen Börsengang gesprochen beziehungsweise einen Verkauf an einen Konkurrenten. Bei jeder Finanzierungsrunde erhöht sich dabei der Firmenwert. Wenn ein Gründer in einer ersten Runde 10 Prozent der Firma für eine Million Dollar verkauft, beträgt der Wert der Firma somit 10 Millionen Franken. Je nachdem, wie attraktiv eine Firma ist und wie viele Investoren Schlange stehen, können die Bewertungen ziemlich schnell in astronomische Höhen schnellen. Uber kann das Wachstum teils aus eigener Kasse finanzieren So zum Beispiel beim Fahrtenvermittlungsdienst Uber: Zuletzt hat ein saudischer Staatsfonds 3,5 Milliarden Dollar in die Firma investiert, was den Unternehmenswert von Uber auf 62 Milliarden Dollar hochschraubte. Damit hat die Firma aus San Francisco so viel Geld in der Kasse, dass sie in der nächsten Zeit gar keinen Börsengang ins Auge fassen muss. Das Wachstum kann sie zum Teil aus der eigenen Kasse finanzieren: In den 20 wichtigsten Märkten schreibt sie einen Gewinn von einer Milliarde Dollar. Momentan gibt es keine Anzeichen, als würde der Boom im Silicon Valley bald zu Ende gehen. Im Gegenteil: Die weltweit tiefen Zinsen werden eher dazu führen, dass noch mehr Kapital ins Tal zwischen San Francisco und San José fliessen wird. Denn weltweit suchen Investoren verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten, die Renditen versprechen, die über den (Negativ-) Zinsen von Staatsanleihen liegen. Das Silicon Valley ist der Ort, wo nicht nur Ideen sprudeln, sondern auch das Geld. Der Kampf um die Wolke Google, Microsoft und Amazon streiten sich um die Cloud – ein 1000Milliarden-Dollar-Markt. Hälfte des Betriebsgewinns kommt inzwischen aus diesem hochprofitablen Segment. Jeff Bezos, der Amazon-Gründer und CEO, wurde belächelt, als er vor über zehn Jahren ins Cloud-Geschäft einstieg. Jetzt lacht niemand mehr, vor allem bei Microsoft und Google nicht, den beiden grössten Konkurrenten im Cloud-Geschäft. Bezos hat einen nicht unerheblichen Vorteil gegenüber den beiden anderen Tech-Firmen. Als Händler ist er ein Meister darin, mit hauchdünnen Margen zu operieren. Microsoft und vor allem Google ist dies weitgehend fremd. VON BEAT SCHMID ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Auch 20 Jahre nach der Gründung steht Google vor allem für seine Suchmaschine. Das Unternehmen hat schon einige Versuche unternommen, dies zu ändern. Nicht zuletzt ist die Umbenennung des Konzerns auf Alphabet Ausdruck davon, nach neuen Ufern aufbrechen zu wollen. Nachdem die Firma vor ein paar Jahren den Social-MediaTrend verpasst hatte, will die Firma beim nächsten grossen Ding nichts anbrennen lassen. Es geht dabei um die Speicherung von Daten in der sogenannten Cloud. Um was geht es? Noch heute speichern die meisten Privatpersonen und Unternehmer ihre Daten und Computerprogramme auf Notebooks oder Servern. Weil Internetverbindungen immer schneller werden, wird es immer einfacher, Daten und Programme in der Datenwolke, eben der Cloud, zu verwalten. Der Trend ist nicht neu, schon gegen Ende der 1990er-Jahre gab es E-Mail-Programme wie Hotmail oder Konkurrenten: Amazon-Gründer Jeff Bezos und Google-Chef Eric Schmidt. Key Yahoo-Mail, welche die Daten der Nutzer auf zentralen Servern speicherten – meist kostenlos. Neu ist, dass Private und auch Unternehmen fast ihre gesamten Informatikbedürfnisse aus der Cloud beziehen können. Dies hat natürlich seinen Preis. Die Umsätze, die Cloud-Dienstleister erzielen, gehen derzeit durch die Decke. Der grösste Anbieter ist aber nicht Google, sondern Amazon, der vor allem als Online-Buchhändler und Detailhändler bekannt geworden ist. Diese Woche legte das Unternehmen seine Quartalszahlen vor. Es bot dabei eine handfeste Überraschung: Gegenüber dem Vorjahresquartal verneunfachte die Firma den Gewinn auf über 850 Millionen Dollar. Das Verblüffende an den Zahlen war, dass der Anstieg trotz unvermindert hohen Investitionen zustande kam. Zu einem guten Stück geht das auf steigende Erträge bei den Cloud-Diensten zurück, mit denen Amazon im letzten Quartal 2,89 Milliarden Dollar Umsatz machte. Fast die Höchste Zeit für Google, neue Umsatzquellen zu erschliessen Ihr Geschäft ist seit je enorm margenträchtig. Besonders bei Google, das 90 Prozent des Umsatzes mit dem Verkauf von Werbung macht. Man scheint sich einfach darauf zu verlassen, dass die hochmargigen Online-Ads auch in Zukunft die Kassen füllen werden. Doch zumindest beim Wachstum hat Facebook Google abgelöst. Es ist höchste Zeit für Google, neue Umsatzquellen zu erschliessen. Ein hoher Manager beziffert den Markt für Cloud-Lösungen auf weltweit über 1000 Milliarden Dollar. Selbst wenn Google nicht Marktführer wird, dürfte etwas abfallen. «Pokémon Go» verunsichert Tech-Giganten Es ist ein Hype, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Innerhalb von drei Wochen luden mehr als 75 Millionen Smartphone-Nutzer als Spiel «Pokémon Go» herunter. Es ist damit das erfolgreichste Computerspiel, das die Welt je gesehen hat. Im Silicon Valley ist dieser phänomenale Erfolg inzwischen ein heiss diskutiertes Thema. Es gibt kaum ein Gespräch unter Internet-Unternehmern, in dem nicht über «Pokémon Go» gesprochen wird. Dabei wird das weltweite Phänomen mit in Parks herumirrenden Jugendlichen mit Handy vor der Nase nicht etwa belächelt, sondern sehr ernst genommen. Das Spiel elektrisiert und verunsichert die Branche zugleich. «Es ist unglaublich, wie es die Entwickler geschafft haben, in so kurzer Zeit so viele Menschen zu erreichen – und das mit lediglich 50 Mitarbeitern», sagt ein Manager. Andere Firmen wie Facebook oder Snapchat hätten dafür viel länger gebraucht und mit wesentlich mehr Personal. Wer so schnell wächst, zieht die Aufmerksamkeit auf sich – eine der wichtigsten Währungen im Silicon Valley. Und wer einen Hype kreiert, gilt als attraktiv für talentierte Mitarbeiter, zieht Investoren an und Werbegelder. Das Spiel wurde von der Softwarefirma Niantic ausgedacht. Das Interessante an dieser Firma ist, dass sie bis vor kurzem dem Google-Konzern Elektrisiert die Branche: «Pokémon Go». HO Alphabet gehörte. Doch der Gigant entliess das Unternehmen in die Freiheit. Das war ein kluger Schachzug. Denn erst durch seine Unabhängigkeit habe Niantic eine Kooperation mit Nintendo überhaupt abschliessen können, sind sich Beobachter sicher. Dem japanischen Computerspiel-Spezialisten gehören die Rechte an den Pokémon-Figuren. Viele Firmen hätten schlicht Angst, mit dem Suchgiganten zu kooperieren, da er ihnen zu gross und zu mächtig erscheine. Der Erfolg von Niantic entlarvt aber auch eine Schwäche von Alphabet. Das Unternehmen fördert unter seinem Dach zwar viele kleine Firmen mit teilweise verrückten Ideen, aber es gelingt ihm kaum, aus diesen Jungfirmen neue Stars zu formen. Wenn sie ausserhalb mehr Kreativität entwickeln können, lässt Google sie besser ziehen. BEAT SCHMID INSERAT 25 24 wirtschaft Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Leserfragen an den Geldberater Sämtliche Leserfragen werden beantwortet. Schreiben Sie Geldberater François Bloch ein E-Mail an: [email protected]. > Wie sehen Sie die Perspektiven der Sonova-Aktie? Ich liege jetzt mit meinem Durchschnitt ca. 3 Fr. im Minus. Wäre es allenfalls ratsam, diesen Verlust zu realisieren und in eine Ihrer Empfehlungen, Burkhalter oder Kardex, zu investieren? Dieser Verlust ist kein eigentlicher Dammbruch, viel wichtiger scheint , wie die Aussichten von Sonova in der Zukunft sind. Das Produkteangebot hat sich in meinen Augen über die letzten drei Jahre massiv verbessert. Daher ist ein Verkauf nicht opportun. Wie Sie mir auf Nachfrage mitgeteilt haben, besitzen Sie Sonova-Aktien im Wert von über 30 000 Franken. Damit steht dem gedeckten Call-Verkauf über 6 Monate mit einem Ausübungspreis bei 130 Franken nichts im Weg. Durch die einkassierte Prämie sollte Ihr Verlust damit vollständig aufgeholt sein. Haben Sie ein bisschen Sitzleder, Sonova ist kein Topfavorit von mir, aber auch keine schlechte Firma, wo Handeln sofort angesagt ist. Mit Stil, aber ohne Erfolg: Wartesaal im Bahnhof von Palo Alto. Patrick Züst Amerika entdeckt den TGV Kalifornien plant die Verkehrsrevolution nach europäischem Vorbild. Doch das Projekt steht auf der Kippe. VON STEFAN EHRBAR ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Jeff Morales muss wieder einmal erklären, weshalb er sein Geld wert ist. Es ist früher Dienstagmorgen in einem nüchternen Sitzungssaal in San José, als der Chef der California High Speed Rail Authority (HSR) vor die Mitglieder der Handelskammer Silicon Valley tritt. Morales spricht ruhig und überlegt. Sein Projekt ist Superlativ genug. 65 Milliarden US-Dollar sollen bis 2029 in den Bau einer 800 Kilometer langen Zugstrecke zwischen Anaheim, Los Angeles und San Francisco fliessen. Später könnten auch San Diego im Süden und Sacramento im Norden erschlossen werden. Es ist das grösste Infrastrukturprojekt Kaliforniens seit 60 Jahren, ein Plan nach europäischem Zuschnitt, mit Vorbildern in Deutschland, Frankreich und Italien. Das Problem: Erst etwa ein Fünftel der Gelder ist beisammen. Damit wird der erste Abschnitt zwischen San Jose und Bakersfield gebaut. Ab 2025 rollen dort die Züge. Für den Rest braucht Morales’ Behörde Geld. Rod Diridon, Ex-Politiker und Leiter eines Forschungsinstituts, soll das Projekt an diesem Morgen begründen. Er spricht vom Klimawandel. Die Wirtschaftsvertreter klatschen müde. Wegen Moral-Appellen steigt kein Mensch auf den Zug um. Morales weiss das. Wenn er über HSR spricht, streicht er anderes heraus: Effizienz, Geschäftsgelegenheiten, Chancen für die Stadtentwicklung. Schon heute pendeln Leute zwischen dem Central und dem Silicon Valley, weil sie sich das Wohnen im Technik-Tal nicht leisten können. Drei Stunden braucht ein Weg. Mit der neuen Linie werden es 40 Minuten sein. Die Fahrt auf der kompletten Strecke zwischen Los Angeles und San Francisco soll dereinst unter drei Stunden dauern und etwa 80 Dollar kosten. Wenn die Linie erst einmal steht, ist Morales überzeugt, werden die Leute sie nutzen. «Die Mehrheit trifft praktische Entscheidungen», sagt er. «Wall-Street-Banker in New York nutzen die U-Bahn nicht, weil sie sich gern in überfüllte Wägen zwängen. Sondern weil es die praktischste Art ist, sich fortzubewegen.» Ideologie gegen die Eisenbahn Das Projekt könnte ein Revival der Bahn in den USA einleiten. Mit dem Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand sie in der Versenkung. Jede Mittelstandsfamilie konnte sich bald ein Auto leisten. 1956 unterzeichnete Präsident Eisenhower den Highway Act. Mit ihm gaben sich die USA ein modernes Autobahn-Netz. Die meisten Bahngesellschaften schlossen in Folge, die verbliebenen konzentrierten sich auf wenige Strecken. Zwar werden etwa 40 Prozent der Fracht innerhalb der USA per Bahn verschickt. Menschen aber nutzen das Auto oder das Flugzeug. Die staatliche Bahngesellschaft Amtrak mit ihrem landesweiten Netz befördert in einem Jahr so viele Passagiere wie die SBB in einem Monat. Die Politik kümmerte sich lange nicht um die Probleme. In Kalifornien änderte sich dies, als unter dem republikanischen Gou- Peter Spuhler möchte die Züge für die kalifornische TGV-Linie bauen. Mario Heller verneur Pete Wilson 1998 die HSR gegründet wurde. Ein Urnengang fand zehn Jahre später statt, die Kalifornier sagten mit 52,7 Prozent Ja zum Staatsbeitrag von knapp 10 Milliarden US-Dollar. Seit letztem Jahr erhält HSR zudem Gelder aus einem Emissionsprogramm. Weitere Geldquellen erschloss sich das Projekt auf eher glückliche Weise: 2008 zogen mit Barack Obama und Joe Biden zwei öV-affine Politiker ins Weisse Haus. Sie skizzierten die Vision von Hochgeschwindigkeits-Netzen im ganzen Land. Über 3 Milliarden Dollar investierte Washington seither in die HSR. Von solchen Geldern könnten alle Bundesstaaten profitieren. Aus ideologischen Gründen verzichteten aber viele darauf, etwa Florida, Ohio und Wisconsin. Und so bleibt das Projekt in Kalifornien vorerst das Einzige im Land. Vom Projekt profitieren könnte eine Schweizer Firma. Der Bahnbauer Stadler von Peter Spuhler hat angekündigt, HSRZüge bauen zu wollen. Der Hochgeschwindigkeits-Markt spielt im Geschäft der Thurgauer noch keine grosse Rolle, ist aber interessant. Ob Stadler zum Zug kommt, ist unklar. Die Ausschreibung beginnt erst, die Konkurrenz ist hart. Unsicher ist auch, ob 2029 tatsächlich Züge zwischen San Francisco und Los Angeles verkehren. Geplant ist, die Betreiberrechte an eine private Firma zu verkaufen und mit dem Erlös den Bau der kompletten Strecke zu finanzieren. Das Feedback sei sehr gut, sagt Jeff Morales. Aber unterschrieben sei noch nichts. Kalifornien nimmt den europäischen Weg. Der Optimismus bleibt amerikanisch. Man werde die besten Ideen der ganzen Welt nehmen und miteinander verbinden, sagt der HSR-Chef. «Wir werden technologisch führend sein.» Der Verkehr fliesst nie in Kalifornien Kalifornien hat ein grosses Verkehrsproblem. Die Lösungen im Silicon Valley sind trotzdem eher altbacken. VON STEFAN EHRBAR ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Im Silicon Valley sitzen die hellsten Köpfe der Welt. Aber wenn sie ein Verkehrsproblem lösen sollen, fällt ihnen nichts Schlaueres ein als Doppelstockbusse. Im Sekundentakt fahren diese an Feierabend von den Hauptsitzen von Google oder Facebook in Richtung San Francisco – und verschlimmern damit die Situation auf den notorisch überfüllten Highways noch. In San Francisco und Los Angeles verlor ein durchschnittlicher Pendler letztes Jahr 80 Stunden im Stau, schreibt das Texas Transportation Institute. Nur Washington D. C. schneidet schlechter ab. Und die Verkehrssituation in Kalifornien wird immer übler: Noch vor fünf Jahren lag diese Zahl in Los Angeles bei 61 Stunden. Auch in der Luft ist der Verkehr geschäftig. 124 Flüge verkehren täglich zwischen Los Angeles und San Francisco. Die Hochgeschwindigkeits-Linie der Bahn (siehe oben) dürfte diese Zahl dramatisch senken. Das zeigt die Erfahrung mit vergleichbaren europäischen Projekten. Trotzdem gibt es wenig Opposition aus der Airline-Branche. Der Flughafen San Francisco weibelt für das Projekt, bezeichnet es gar als «dritte Landebahn». Er kann nicht ausgebaut werden und möchte die Kapazität lieber für Langstreckenflüge nutzen. Die Ursachen für die Verkehrskrise in Kalifornien sind vielfältig. Die kalifornische Wirtschaft boomt. Der Bundesstaat mit heute 40 Millionen Einwohnern erwartet bis 2060 eine Bevölke- rungszunahme um 12 Millionen. Im Silcon Valley kommt hinzu, dass die Mitarbeiter der dezentral gelegenen Firmen oft lieber in der Grossstadt San Francisco wohnen. Andere wiederum können sich das Valley nicht mehr leisten und müssen deshalb länger pendeln. Kalifornien setzt nun stark auf den öffentlichen Verkehr. In San Francisco etwa wird im November über ein 3,5-Milliarden-Dollar-Paket abgestimmt, mit welchem die S-Bahn-ähnliche BART ausgebaut und verlängert werden soll. > Habe schon viel Geld mit Ihren Tipps verdient. Ich habe noch 23 000 Fr. zum Anlegen. Was würden Sie mir raten? Actelion oder VAT N? Ich halte von beiden Firmen sehr viel. Wobei meine Präferenz bei der Actelion liegt, und dies seit mehreren Jahren. Der Basler Biotechwert verspricht noch ein nettes Aufwärtspotenzial, während bei VAT momentan die Luft draussen ist nach dem phänomenalen Start an der Schweizer Börse seit dem IPO. Kaufen Sie 100 Actelion-Aktien, und verschreiben Sie diese auf sechs Monate. Dadurch erhalten Sie ein optimales Rendite-Risiko-Profil. > Ich habe bei der XYZ Bank ein grösseres Wertschriften-Depot, 25 verschiedene Titel. Unter anderem habe ich 60 Givaudan-Aktien, Einstandspreis 484 Fr. Nun meine Frage: Ist mit Givaudan etwas nicht in Ordnung? Denn die Analysten der XYZ-Bank empfehlen mir, die Aktien zu verkaufen und in attraktivere Anlagen zu investieren. Was soll ich machen? Die Beweggründe der XYZ Bank (Name der Bank ist der Redaktion bekannt) sind mir schleierhaft. Ich würde begeistert sein, die Werte von Givaudan zu einem solchen Einstandspreis in meinem Portfolio zu halten. Sicherlich ist Givaudan nicht der TopPerformer an der Schweizer Börse, aber Qualität und Aussichten sind einzigartig. Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen, behalten Sie Ihre Positionen. Rappenspalter: Tipps von François Bloch Faszinierend > Heute geht es nach Hamburg, und dabei bin ich auf ein Hotel gestossen an ausgezeichneter Lage. Aber viel spannender finde ich das Design – faszinierend. Darf ich vorstellen: das Hotel East, ein Vier-Sterne-Superior-Hotel (www.east-hamburg.de) mitten in St. Pauli. Dabei gibt es ein paar Tricks, wie Sie billiger in dieses Hotel gelangen. a) Buchung auf der hoteleigenen Website, wo Sie bis zum 31. August 2016 einen Rabatt von nahezu 20% erhalten mit dem Buchungscode THX_Summer1. Oder b): Sie gehen auf die Website von secretescapes.de. Im Preis inbegriffen ist sogar der Zugang zum Spa und Fitness-Zentrum. Fazit: Schon die Lobby des Hotels begeistert. Die Zimmer sind vom Design her ein Hingucker, und mit dem Standort der Unterkunft ist ein Wochenendtrip nach Norddeutschland ein Genuss. Aktueller Tiefstpreis: 135 Franken pro Nacht. Anlagenote: 9,9/10 sport Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 31 OLYMPISCHE SPIELE Für Usain Bolt und Co. heisst es bald: Rio, wir kommen! Seiten 35 bis 37 Facebook-Stars: Dieses Foto gefällt 6,1 Millionen Menschen Im Fussball werden die Tore auf dem Rasen geschossen. Doch die virtuellen Treffer im Internet sind marketingstrategisch ebenso wichtig. Und der König im World Wide Web ist? Genau: Cristiano Ronaldo. VON THOMAS RENGGLI ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Wer ist der beste Fussballer der Gegenwart? Eine Kurzumfrage unter den Ballkünstlern Cristiano Ronaldo, Lionel Messi und Neymar würde vermutlich drei verschiedene Antworten liefern. Zlatan Ibrahimovic freilich hätte dafür nur ein müdes Lächeln übrig und würde sagen: «Jag är Zlatan» («Ich bin Zlatan»). Ein Blick in die virtuelle Realität ergibt aber ein klares Bild: Neu-Europameister Cristiano Ronaldo schwebt in einer eigenen Umlaufbahn – mit rund 116 Millionen Fans auf Facebook und 45 Millionen Followern auf Twitter. Trotz Twitter-Verweigerung landet Messi mit rund 87 Millionen Facebook-Fans auf Platz zwei. Dahinter steht Neymar (rund 58 Millionen Fans auf Facebook und 23 Millionen Follower auf Twitter). Der schwedische Lautsprecher Zlatan Ibrahimovic agiert auf dem Parkett der sozialen Medien ähnlich glücklos wie zuletzt an der Euro in Frankreich – gut 25,5 Millionen Facebook-Fans und vier Millionen Follower auf Twitter. Im World Wide Web der Superstars ist Zlatan ein Wasserträger. Ronaldo wie Shakira Als Ronaldo im Herbst 2014 der erste Sportler war, der auf Facebook die 100-Millionen-Grenze knackte, war dies dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin «Forbes» eine grosse Schlagzeile wert. Zuvor hatte nur die Popsängerin Shakira diesen Wert überschritten. «Forbes» schrieb über Ronaldo vom «Social Media Superstar». Der Geadelte selber sagte: «Ich bin sehr geehrt, die 100-MillionenMarke erreicht zu haben. Dieser Wert ist ein Meilenstein in meiner Karriere und erlaubt mir, mich mit allen Fans rund um die Welt zu unterhalten. Die grossartige Unterstützung inspiriert mich und ich danke allen.» Es ist davon auszugehen, dass dieser Kommentar aus der Feder von Ronaldos Management stammte. Denn seine Berater können am besten abwägen, wie wertvoll die Popularität in der virtuellen Welt für die Sponsorenverträge ist. Verweist Ronaldo auf Facebook oder Twitter auf eine Mitteilung seiner Partner (Nike, Tag Heuer, Emirates oder Samsung), geht das per Mausklick um den Globus. Die Fans allerdings wollen noch lieber hinter die Fassade blicken: Ronaldos populärster Post auf Facebook ist ein Foto mit seinem Sohn. Es generierte 6,1 Millionen «Likes». Im Kosmos der «Likes» und «Tweets» spielen auch die Schweizer mit. Der hiesige Sportler mit den meisten virtuellen Freunden ist Roger Federer – 14,6 Millionen auf Facebook, 6 Millionen auf Twitter. Doch schon eine Liga tiefer kommt dem gezielten Umgang mit sozialen Medien eine immer wichtigere Rolle zu. Der Bündner Giusep Fry, einer der führenden Schweizer Sportmanager, bezeichnet die Präsenz im Internet kommerziell als «matchentscheidend»: «Es gibt Firmen, die wollen mit einem 25 Jah re Int ernet Sportler mit weniger als 100 000 Facebook- und Twitter-Freunden nicht zusammenarbeiten.» Mountainbike-Weltmeister (und FryKlient) Nino Schurter kann auf den «Support» von 264 000 FacebookFreunden zählen. Und weil er sich im WWW ähnlich geschickt bewegt wie auf der Rennstrecke und proaktiv auf seine Sponsoren verweist, zahlt sich dies für alle Beteiligten aus. «Viele Partner lassen sich eine gewisse Anzahl Posts vertraglich zusichern», sagt Fry. Zu Schurters Partnern gehört die Tessiner Bank Cornèrcard. Marketingchef Beat Weidmann bestätigt Frys Aussage: «Wenn eine Interaktion mit den Kunden entsteht, ist das besonders wertvoll. Deshalb platzieren wir oft Wettbewerbe oder Videos auf Facebook oder Instagram.» In konkreten Zahlen kann Weidmann den Wert aber nicht benennen: Cristiano Ronaldo posiert mit seinem Sohn im Badezimmer: Der private Schnappschuss begeistert weltweit Facebook über sechs Millionen Menschen. «Wir transportieren Emotionen und erreichen so potenzielle Kunden auf einer persönlicheren Ebene als mit Inseraten oder TV-Spots – eine Erhebung über die finanzielle Relevanz haben wir aber nicht.» Im Schweizer Fussball dominiert der FC Basel auch in den sozialen Medien. Mit 1,9 Millionen Facebook-Freunden weist er eine dreimal so grosse Popularität auf wie die neun anderen SuperLeague-Klubs zusammen. Seit dem 1. Januar beschäftigt der FCB einen Social Media Manager: Simon Walter. «Als grosser Klub kann man es sich nicht erlauben, abseits zu stehen – gerade weil einzelne Sponsoren die Präsenz auf Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat erwarten», sagt der FCBInternet-Fachmann. Dabei gehen die Ansprüche aber auseinander. Während etwa Adidas in den sozialen Medien sehr offensiv agiert, hält sich Novartis vornehm zurück. Die Ägypter lieben den FC Basel Dass die Zusammensetzung der Facebook-Freundschaften einer gewissen Zufälligkeit untersteht, zeigt gerade das Beispiel des FCB. Als der Verein 2012 den Ägypter Mohamed Salah unter Vertrag nahm, stieg die Basler Popularität in Ägypten sprunghaft. Noch heute sind überproportional viele Internet-Freunde des FCB in Kairo und Umgebung zu Hause. Egal ob Rhein, Nil oder Isar. Hüben wie drüben macht man die Erfahrung, dass ein grosser Freundeskreis im Internet wirtschaftlichen Vorteil verspricht – gerade bei ausländischen Topstars. Spieler wie Mesut Özil von Arsenal oder David Alaba von Bayern verdanken viele ihrer persönlichen Werbeverträge dem Auftritt in den sozialen Medien. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Markt für Facebook-Freunde und TwitterFollower besteht. Die Firma «Social Media Daily» beispielsweise verkauft 1000 Follower (plus je 50 Favorisierungen und Retweets) für 39 Euro. Auch im Internet gilt: Nicht jeder Freund ist ein echter Freund – und Liebe ist auch käuflich. So hat die beste Facebook-Beziehung ihre menschlichen Grenzen. Können nicht positive Botschaften und Erfolgsmeldungen verbreitet werden, steigt die Gefahr von anonymen Verunglimpfungen und virtuellen Pöbeleien. Doch letztlich gilt überall eine einfache Gleichung: Nur wer im Stadion das Tor trifft, kann auch im Internet jubeln. Denn die virtuelle Welt ist unbarmherzig: Nach dem sportlichen Regen kommt der Shitstorm. 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 mobil 39 Wie das Auto intelligent wurde Vom Radio über die Verkehrsmeldung bis hin zum intelligenten Fahrzeug: Das Internet verändert das Auto. VON PHILIPP AEBERLI ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Am Anfang war das Auto. Mehr eine motorisierte Kutsche. Doch schon bald entwickelte es sich zum komfortablen Fortbewegungsmittel. Der Gedanke, Unterhaltung ins Auto zu bringen, kam schon bald auf. Anfang der 1920er-Jahre wurden die ersten Radios im Ford Model T verbaut. 1927 wurde erstmals ein Radio als offizielles Zubehör ab Werk angeboten: der «Philco Transitone» bei Chevrolet. In Europa brachte Blaupunkt den ersten Radio auf den Markt. Er wog 15 Kilogramm und kostete 465 Mark – rund ein Drittel des ganzen Autos. Purer Luxus also. Dass man den Radio als Informationsquelle für den Fahrer nutzen kann, lag auf der Hand. Einen grossen Schritt in diese Richtung machte man am 1. Juni 1974. Das «Autofahrer-RundfunkInformationssystem» erlaubte die automatische Erkennung von Verkehrsmeldungen, sodass man vor einem Stau rechtzeitig gewarnt wird. Den Grundstein für die nächsten Schritte legte das Navigationssystem, das ab Anfang der 1990er-Jahre aufkam. Im 7er brachte BMW 1994 als erster Hersteller Europas das Navi ab Werk auf den Markt. Das gab dem Autoradio eine zweite Dimension: Er konnte nun grafisch informieren. Über die Rundfunkwellen konnte er schon bald Verkehrsdaten empfangen und die Route entsprechend optimieren. Vom Zusatz zum Mittelpunkt Bis anhin war die Radio-Navigationseinheit allerdings nur ein Zusatz, der, bis auf die Stromversorgung, unabhängig vom Auto funktionierte. Nachträglich verbaut und grundsätzlich frei austauschbar. Das änderte sich ab 2001, als BMW mit dem «iDrive»-System erstmals sämtliche Fahrzeugfunktionen über den zentralen Monitor zugänglich machte. Der Monitor, der davor nur als Zusatz für Unterhaltung und Navigation im Auto war, wurde damit zum zentralen Element, zum Hirn des Autos. Die Verkehrsmeldungen gelangten aber weiterhin über Radiofrequenzen ins Auto. Doch nun ist das Ende der UKW-Zeit auch in der Schweiz absehbar. Was folgt dann? Radio wird digital über DAB+ übermittelt, den Rest macht das Internet. Es kommt per SIM-Karte, die der Kunde meist selbst besorgen muss, oder per W-LAN-Verbindung über das Smartphone ins Auto. Und es eröffnet völlig neue Möglichkeiten. Die Verkehrsmeldungen können in Echtzeit empfangen werden, diese Daten stellen verschiedene Betreiber zur Verfügung. Für möglichst genaue Daten macht beispielsweise TomTom jedes Navi zum Datensammler: Die Bewegungen der Geräte werden anonymisiert ausgewertet, sodass Staus exakt erfasst werden können. Nebst den Verkehrsmeldungen bringt das Internet im Auto aber noch eine ganze Menge von weiteren Möglichkeiten. Bei VW nennt sich dieses Angebot «CarNet». Das klassische Navi wird dadurch um einige nützliche Zusatzfunktionen erweitert. So steht beispielsweise eine Online-Zielsuche zur Verfügung. Man kann also beispielsweise nach einer Firma in einem bestimmten Ort suchen – das erspart den Umweg, sich erst die genaue Adresse zu suchen. Am Zielort können, sofern die Daten zur Verfügung stehen, freie Parkplätze angezeigt werden, das Wetter für die nächsten Stunden oder die nächsten Tankstellen mit Spritpreisen und Infos wie Öffnungszeiten oder Ähnliches. Es sind Angebote, die sich in Zukunft immer weiter entwickeln sollen. Denkbar ist beispielsweise auch eine vorausschauende Routenberechnung. Denn die Verkehrsmeldungen in Echtzeit sind, realistisch betrachtet, zu langsam. Wer um 6 Uhr morgens in Zürich losfährt, bekommt freie Fahrt angezeigt. Ist man aber um kurz nach sieben vor den Toren Berns, staut sich da womöglich schon der morgendliche Pendlerverkehr. Deshalb soll das Navigationssystem in Zukunft auf Statistiken zurückgreifen können, die ebendieses Szenario voraussagen können. Aufgrund immer genauer werdender GPSOrtung soll der Stau zudem noch genauer erfasst werden können – bis auf die Fahrspur genau. So können Verkehrsbehinderungen noch genauer umfahren werden. Die Umwelt wird zur virtuellen Realität: Informationen werden in Zukunft direkt auf die Scheibe projiziert. Mehr Kommunikation Die Kommunikation, und das ist ein weiterer Schritt hin zum autonomen Fahren, soll aber in Zukunft nicht mehr nur zwischen Auto und Server erfolgen. Die Autos der Zukunft kommunizieren auch untereinander. Das kann die Fahrt sicherer und angenehmer machen. So kann ein Auto am Stauende andere Autos in der Umgebung warnen. Dasselbe ist bei Pannen, Unfällen oder Gefahren auf der Strasse denkbar. Polizei, Feuerwehr und Ambulanz können in Zukunft nicht nur per Sirene, sondern auch mit einem digitalen Signal warnen und sich so deutlich früher bemerkbar machen; ob nun ein Mensch oder ein Computer das Auto steuert, spielt dabei keine Rolle. Fest steht aber, dass sich der Autoradio immer mehr vom Unterhalter zum Hirn des Autos wandeln wird. Das Auto kann auf immer mehr Daten zugreifen. Eine moderne Luxuslimousine verfügt daher über gut 200 Steuergeräte. Die Brücke ins Netz VON PHILIPP AEBERLI ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Jeder hat ein Smartphone, kann man salopp sagen. Statistisch untermauert sind es rund 2 Milliarden intelligente Telefone auf der Welt, wobei in den nächsten drei Jahren nochmals gut 600 Millionen dazukommen dürften. Für die Autohersteller ist es also unerlässlich, das Smartphone auch ins Auto zu bringen. Denn dieses Gerät, das wir fast immer mit uns herumtragen, wurde zum Teil unseres Lebens, zur Gewohnheit, auf die wir nicht mehr verzichten wollen – auch beim Fahren nicht. Das birgt Chancen und Risiken: Einerseits kann das Smartphone mit verhältnismässig geringem Aufwand viele Funktionen ins Auto bringen, andererseits kann es auch eine erhebliche Ablenkung bedeuten. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Hersteller um die Smartphone-Integration im Auto kümmern. Die neueste Infotainment- Die bekannte Bedien-Oberfläche bleibt auch im Auto erhalten. Generation im Volkswagenkonzern ist dank Apple Carplay, Android Auto und MirrorLink mit rund 80% aller Geräte kompatibel und kann deren Inhalte auf dem Monitor anzeigen. Die Steuerung VW Nachrichten Smartphone und Auto wachsen zusammen Mit dem Smartphone tragen wir das Internet immer bei uns. Auch im Auto. ● BMW VW erfolgt wo immer möglich über die Spracheingabe, die Darstellung auf dem Touchscreen wird möglichst gross und simpel gestaltet. Zudem bestimmen die Hersteller, welche Apps ins Auto kommen: Soziale Netzwerke, Messenger oder gar Pokémon? Bestimmt nicht! Aber dank Karten, Telefon, Musik oder Hörbüchern kann man viele Vorzüge aus dem Internet übers Smartphone nutzen, ohne teure Sonderausstattung im Auto zu haben. Die entsprechende Smartphone-Verbindung ins Auto ist bei vielen Herstellern kostenlos oder für wenige hundert Franken Aufpreis zu haben. Eine Investition, die sich auch für die Zukunft lohnt, da das Smartphone dank Updates immer auf dem neusten Stand bleibt. Nur die Internetverbindung muss man haben, wenn man beispielsweise die Navigation nutzen will. Gerade für die Urlaubsfahrt ins Ausland ein Punkt, der nicht zu unterschätzen ist. Hier sollte man sich besser vorgängig informieren. Aber das sollte ohnehin jedem Smartphone-Nutzer bekannt sein. BMW Ab August ist der BMW Connected Service auch in der Schweiz verfügbar. Der Dienst verbindet das Auto mit dem Smartphone. So können nicht nur Informationen wie Tankfüllung und Reichweite auf dem Handy angezeigt werden, sondern auch Navigationsziele vom Telefon an das Auto geschickt werden. Dabei kann auch auf Kontakte und Kalender im Telefon zugegriffen werden. Praktische Zusatzfunktion: Die App überprüft die aktuelle Verkehrssituation und teilt dem Benutzer mit, wenn dieser sich auf den Weg machen sollte, um pünktlich zum nächsten geplanten Termin zu erscheinen. Zudem kann die App auch den Weg vom Parkplatz bis zum tatsächlichen Ziel anzeigen. Praktisch, wenn man in einer fremden Stadt nicht direkt am Ziel parkieren kann. Das System ist in den USA schon seit Ende März im Einsatz und erhielt für Europa schon erste Verbesserungen. Künftig sind weitere Funktionen geplant. (PD) kultur Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 & freizeit 41 MIRGA GRAŽINYTĖ-TYLA Die Kapellmeisterin verrät Erfolgsrezept und Fallstrick von Dirigentinnen-Karrieren. Seite 42 Shops und Beatniks in der Haight Street in San Francisco. Getty Images/Jean-Pierre Lescourret Das Erbe der Hippies Vor bald 50 Jahren entwickelte sich San Francisco zur Hochburg der Hippie-Bewegung. Von ihrer Ideologie ist mehr übrig geblieben, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. SARAH SERAFINI H aight Street, San Francisco, 1967. Hunderttausend Menschen folgen der Hymne des Sängers Scott McKenzie, stecken sich Blumen is Haar und strömen in die Hochburg der Hippies. «If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair.» Es ist der Summer of Love, der Höhepunkt der Blumenkinder-Bewegung. Der Stadtteil Haight-Ashbury hat sich zum Treffpunkt der rebellischen Jugend, der Musiker und der Kiffer entwickelt. Am Ende der Haight Street, dort wo der Golden Gate Park beginnt, spielen Rockstars wie Jimi Hendrix, Janis Jo- plin oder The Grateful Dead gratis Konzerte. Vor der Bühne tanzt Allen Ginsberg, der bekannte amerikanische Poet und intellektuelle Kopf der Beat-Generation, mit Tausenden anderen jungen Menschen auf LSD. Mitten unter ihnen war damals Pam Brennan. Die heute 61-Jährige ist eine der letzten Original-Hippies, die immer noch am Ort des Geschehens wohnt, in einem Haus gleich unter der Haight Street. Brennan trägt ein schwarz verwaschenes Beatles-Fan-Shirt. Von den Ohren baumeln kleine Anhänger in der Form einer Schwalbe. Mit einer raschen Handbewegung streicht sie sich die dunklen Fransen aus dem Gesicht. Während des Summer of Love war sie 12 Jahre alt. Mit ihrer Familie war sie nach San Francisco gereist. «Vor Staunen blieb mir der Mund offen stehen», sagt sie. «Die Haight Street war so voller Leute, dass wir in unserem Auto weder vor noch zurück kamen.» Überall habe es nach Gras gerochen, Musik lief an jeder Ecke, und die Menschen hätten sie angelächelt. «Es war magisch. Ohne dass ich Gras geraucht hätte, war ich high von dieser Atmosphäre.» Kommerz und Zerfall Sie wusste, dass sie sobald wie möglich hierhinziehen wollte. Wenige Jahre später lebte sie in Haight-Ashbury in ihrer ersten Kommune. Freie Liebe, Nacktheit, Drogen, politische Diskussionen 25 Jah re Int ernet seien an der Tagesordnung gewesen. «Ich fühlte mich einer Bewegung zugehörig, die sich anfühlte, als könne sie wirklich etwas verändern», sagt sie. Der Zerfall der Hippie-Bewegung begann nach dem Woodstock-Festival. Im August 1969 feierte eine halbe Million Blumenkinder ihre Rockstars. Aus der rebellischen Jugendbewegung war eine kommerzielle Populärkultur geworden. Die politische Botschaft hinter den langen Haaren und den farbigen Gewän- dern verschwand allmählich. Überschattet von der Mordserie des Kommunen-Führers Charles Manson und dem Tod eines Zuschauers während eines Rolling-Stones-Konzerts verlor die Bewegung an Glanz. Als dann mehrere Hippie-Vorbilder, darunter Janis Joplin, Jim Morrison und Jimi Hendrix, an einer Überdosis Heroin starben und 1975 der Vietnam-Krieg endete, war die Flower-Power vorbei. Die Faszination durch die Hippies bleibt jedoch bis heute bestehen. Noch immer pilgern täglich Hunderte Touristen in das Viertel Haight-Ashbury. Doch von den alten Idealen der Hippies ist Fortsetzung auf Seite 42 42 kultur Fortsetzung von Seite 41 hier heute nurmehr wenig zu spüren. Das Hippie-Sein wird als Touristenattraktion vermarktet. Die Häuserfassaden sind im psychedelischen LSD-Look bemalt, im «Day Dreamer Smoke Shop» stehen Hanfpfeifen im Schaufenster, in den sich aneinanderreihenden Second-Hand-Läden werden muffig riechende Batikgewänder anprobiert und Jesus-Latschen verkauft. Touristen bleiben an der Ecke Haight und Ashbury Street stehen, um ein Foto vom Strassenschild zu machen. Nur wenige Meter von hier bildet sich eine Menschentraube vor einem rosa viktorianischen Haus. Eine Zeit lang bewohnte Janis Joplin den ersten Stock. Schräg gegenüber lebte die Band The Grateful Dead. Nach dem Summer of Love verschwanden sie aus der Stadt, wie auch die meisten anderen der 100 000 Hippies. Übrig blieben die Jugendlichen, die von zu Hause ausgerissen waren, um der Bewegung beizuwohnen. Viele landeten als Obdachlose auf der Strasse. Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Der liebe Gott und der Dirigent können nur Männer sein So lautet das ungeschriebene Gebot der Klassik. Zeit, dem rätselhaften Phänomen auf den Grund zu gehen, zumal das Lucerne Festival 2016 auf Dirigentinnen setzt. Suche nach dem letzten Spirit In Haight-Ashbury scheint von dem Hippie-Spirit nicht viel übrig geblieben zu sein. Doch noch immer gibt es vor allem jüngere Menschen, die es hierhinzieht, auf der Suche nach dem bisschen Magie von 1967. Im Golden Gate Park liegen sie in der Sonne auf dem Hippie-Hügel. Zu dessen Fuss befindet sich der Baum, unter dem Janis Joplin gern sass. Manchmal kommen sie hier zusammen und klopfen rhythmisch auf ihren Trommeln. «Selbstverständlich bezeichne ich mich immer noch als Hippie.» PAM BRENNAN, ORIGINAL-HIPPIE In der Vergangenheit gab es regelmässig Versuche, das Quartier von den jungen Hippies und den Obdachlosen zu säubern. Wie überall in San Francisco sind auch in Haight-Ashbury die Immobilienpreise derart in die Höhe gestiegen, dass sich hier Normalverdienende ein Haus nicht mehr leisten können. Immer mehr Ketten eröffnen an der Haight Street ihre Filialen. Pam Brennan engagiert sich in einem Nachbarschaftsrat, der gegen diese Aufwertungskampagnen ankämpft. «Selbstverständlich bezeichne ich mich immer noch als Hippie», sagt Brennan. Nie habe sie aufgehört, für ein besseres Leben und gegen den Status quo zu kämpfen. Noch immer stellt sie sich gegen den Mainstream mit seinen bürgerlichen Wohlstandsidealen. In ihrem Haus lebt sie in einer Gemeinschaft mit zehn anderen Personen und führt einen ökologischen Lebensstil. Drogen nehme sie schon lange nicht mehr. Selten ziehe sie noch an einem Joint. Lieber sei ihr heute ein gutes Glas Wein. Hippies wirken nach Näher betrachtet, hat die Hippie-Bewegung in San Francisco deutlichere Spuren hinterlassen, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. So ist beispielsweise die Schwulen- und Lesbenbewegung fester Bestandteil der Stadt. Auch dass in unmittelbarer Nähe von San Francisco die weltweit grösste Dichte an technologischer Innovation entsteht, ist ein Stück weit den Hippies zu verdanken. Denn zur gleichen Zeit, als die Hippies in der Stadt rebellierten, entstand im Silicon Valley die Computerindustrie. Wer tagsüber programmierte, ging abends mit den Hippies an Konzerte. Die zwei Szenen überlappten sich und waren keinesfalls getrennte soziale Welten. Über den Gründer von Apple, Steve Jobs, ist bekannt, dass er eine Zeit lang in einer Kommune lebte und LSD ausprobierte. Die Hippies träumten von einer befreiten, individualisierten Gesellschaft ohne Hierarchien, Bürokratien und staatliche Ordnung. Im Kommunenleben sollten Körper und Geist eine Einheit bilden, ob beim Familienleben oder bei der Arbeit. Dass in Grosskonzernen wie Facebook, Google oder Uber die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit immer mehr ineinanderfliesst und genau dies zum Erfolg der Unternehmen beiträgt, ist ein Erbe der Träume der Hippies. Mirga Gražinytė-Tyla: «Mein Beruf besteht aus Musik und aus Kommunikation.» VON ANNA KARDOS ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● O Klassikbetrieb! Die Musik aus dem 19. Jahrhundert und die Ansichten noch ein gutes Stück älter?! Fast könnte man es meinen: «Die Essenz eines Dirigenten ist Stärke. Die Essenz einer Frau Schwäche», verkündete unlängst Juri Temirkanow, Chefdirigent der Sankt Petersburger Philharmoniker und Inhaber derselben Position bis 2006 auch beim Baltimore Symphony Orchestra. Das Fazit seiner maskulin-eloquenten Analogie ist sogar für weibliche Gehirne verständlich: «Frauen, Finger weg vom Dirigierstab!» Je namhafter, desto männlicher Immerhin in einem Punkt trifft der reaktionäre Orchesterleiter den Nagel auf den Kopf: Wie er scheinen auch andere zu denken. Viele andere. Oder können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich erinnern, wann Sie zuletzt eine Dirigentin ein Sinfonieorchester haben leiten sehen? Diesen Sommer wird es mehr als eine Gelegenheit dazu geben. Wenn im Rahmen des Lucerne Festival die Crème de la Crème der internationalen Dirigentinnen am Ufer des Vierwaldstättersees gastiert, von der Pionierin Marin Alsop über die Netzwerkerin Anu Tali bis zum Shootingstar Mirga Gražinytė-Tyla. Damit bricht das Hochglanzfestival ein ungeschriebenes Gebot der Klassik: Je namhafter ein Orchester, desto unwahrscheinlicher, dass es von einer Frau geleitet wird. Tatsächlich betraten in der 133-jährigen Geschichte der legendären New Yorker Metropolitan Opera bislang nur drei Frauen das Dirigierpodest, und in Deutschland sind von 131 musikalischen Chefposten bloss 2 mit Frauen besetzt – das ist eine schlechtere Frauenquote als beim Kegelklub Schafisheim. Dirigieren scheint so in etwa der männlichste Beruf der Welt zu sein, übertrumpft nur noch vom katholischen Priesteramt und dem Trainerposten im Männerfussball. Merkwürdig. Wie Testosteronbomben, die den Dirigierstab als eine Variante des legendären Fuchsschwanzes für sich 3 So viele Dirigentinnen haben es in der 133-jährigen Geschichte der New Yorker Metropolitan Opera aufs Dirigierpodest geschafft. pachten, wirken die Herren Orchesterleiter ja gemeinhin nicht. Liegt es also schlicht und einfach am Musikstil, dass Frauen in der Klassik so selten das Sagen haben? Denn in der Sparte Pop schwimmen immer mehr weibliche Stars wie Madonna, Miley Cyrus oder Adele obenauf. Sie dirigieren zwar nicht klassisch mit Stab, dafür umgekehrt einen ganzen Stab an Mitarbeitern. Selbst wenn ihre Stimmen geschmeidiger sind als jene ihrer männlichen Kollegen, am Gesang allein, an den Rhythmen und Harmonien kann es nicht liegen, dass DER Pop neuerdings weiblich ist, DIE Klassik jedoch nach wie vor männlich. Vielleicht beruht es vielmehr darauf, dass Popmusikerinnen keinen «fremden» Klangkörper dirigieren, sondern für sich selbst stehen? Adele Laurie Blue Adkins ist Miss Boss des Unternehmens «Adele» und auf den muskelbepackten Schultern von Madonna Louise Ciccone ruht das Musikimperium «Madonna». Firma versus Philharmonie Doch längst sind Frauen nicht mehr nur in eigener Sache unterwegs, sondern leiten höchst erfolgreich Unternehmen, Sheryl Sandberg etwa als Geschäftsführerin bei Facebook, die Schweizerin Barbara Kux im Vorstand von Siemens. Doch während in der Schweizer Wirtschaft sich immerhin 16 Prozent der Verwaltungsratsmandate und 6 Prozent der Chefsessel in Frauenhand befinden, sind das Zahlen, von denen Sinfonieorchester nur träumen. Und manchmal scheint es, dass sie davon eher albträumen. Weshalb ist das so? Was ist so grundverschieden an Philharmonie und Firma? Liegt es an der Perspektive? Wie im Eisenbahn-Lied von Mani Matter, wo die einen stets im Voraus darauf schauen, was kommt, während die anderen darauf zurückblicken, was war. Dementsprechend lauten die Gebote der Geschäftswelt: Fortschritt, Entwicklung, Neuerung. Jene der Klassik dagegen meist: Tradition, historische Authentizität, Rückblick. Wobei sich mit den genialen alten Zöpfen eines Dimitrijus Matvejevas Haydn oder Mozart eben auch weniger geniale alte Zöpfe verflechten. Beispielsweise die irrige Annahme, dass der liebe Gott und ein Dirigent nur männlich sein können. Dabei zeigte unlängst eine beachtlich gross angelegte Studie auf, dass Firmen mit über 30 Prozent Frauen in der Geschäftsleitung den Reingewinn um bis zu sechs Prozent steigern können. Ist der Boss eine Bossin, seien die Mitarbeitenden engagierter, die Unternehmenskultur offener, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steige. Davon können sich Sinfonieorchester heutzutage eine Scheibe abschneiden. Denn ausgerechnet in der Idee einer offenen Unternehmenskultur liegt der Schlüssel, weshalb Frauen auf dem Dirigentenpodest noch immer selten sind. Mirga Gražinytė-Tyla, 2013/2014 Kapellmeisterin in Bern und Andris Nelsons’ Nachfolgerin beim City of Birmingham Symphony Orchestra, verrät in einem Satz Erfolgsrezept und Fallstrick vieler Dirigentinnen-Karrieren: «Mein Beruf besteht aus Musik und Kommunikation.» Instrument der Dirigentin Während nämlich Opernsängerinnen und Klaviersolistinnen in vollem Besitz ihrer instrumentalen Kräfte sind, sprich, ihr Instrument nach eigenem Willen klingen lassen können, besteht das Instrument der Dirigentin aus dem Orchester. Und wenn auch nur ein Drittel der Musiker ähnlicher Ansicht ist wie der eingangs zitierte Temirkanow, dann ist das Instrument sprichwörtlich verstimmt. Sodass selbst die begnadetste Orchesterleiterin damit nichts anfangen kann. Kein Happy End also für Dirigentinnen? Aber sicher doch. Auf den alternden Polterer Juri Temirkanow folgte beim Baltimore Symphony Orchestra 2007 eine starke Dirigentenpersönlichkeit. Es war niemand anders als Marin Alsop. Und selbst Temirkanow muss schulterzuckend eingestehen: Ihre Essenz ist Stärke – ob nun als Dirigentin oder als Frau. lifestyle 43 Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 25 Jah re Int ernet VON ALEXANDRA FITZ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Daniel steht vor der Tür. Der 24-Jährige hält unser Essen in den Händen. ThaiCurry und Thunfischtartar mit Avocado und Mango. Daniel arbeitet für Caviar. Das ist nicht etwa ein Restaurant, das Essen ausliefert, so wie es Thai- und China-Restaurants oder Pizzerien bisweilen anbieten. Caviar ist ein Lieferdienst, der via App bestellt wird. Eine Plattform, die das Essen unzähliger Restaurants mit hungrigen Mäulern zusammenbringt. 35 Minuten vorher haben wir uns auf der App durch Menus von Hunderten von Restaurants geklickt, um uns letztendlich für einen beliebten Thai in San Francisco zu entscheiden. Per Kreditkarte haben wir bezahlt und gewartet. Ganz einfach. Das Schwierigste war die grosse Auswahl. Es hilft zu wissen, auf welche Küche man Lust hat, am besten aber weiss man schon das Restaurant. Erschwert wird die Auswahl durch die etlichen Mitkonkurrenten im FoodApp-Bereich. Seit etwa zwei Jahren starten On-Demand-Apps (Apps auf Anfrage) in San Francisco durch. Und sie werden immer beliebter und zahlreicher. Zu verlockend ist es, alles, was man möchte, mit ein paar Klicks auf dem Smartphone zu bestellen. Sich nicht aus der Komfortzone zu bewegen, sondern italienisches Essen, nervige Erledigungen, manikürte Nägel, saubere Kleidung und eine blitzblanke Wohnung nach dem Motto «Finger auf den Touchscreen und fertig» zu bekommen. Alles, was man dazu braucht: Handy und Kreditkarte. Dafür gibt’s ne App ker gerufen. Massieren lassen in den eigenen vier Wänden? Kein Problem. Zum Friseur? Braucht zu viel Zeit, er soll nach Hause kommen. Mit dem Hund Gassi gehen? Auch da hilft eine App. Wag heisst sie. Damit kann man einen Hundesitter bestellen und seine Route mit dem Vierbeiner per GPS verfolgen. Ja, Herrchen und Frauchen bekommen sogar eine Benachrichtigung, wenn ihr Labradoodle einen Baum besudelt und ihr Havaneser ein Häufchen gemacht hat. Hunger? Dreckige Wäsche? Chaos daheim? In Städten wie San Francisco löst man die Probleme mit Apps. Uber war aller Anfang In den USA ist es alltäglich, dass Hundebesitzer ihre Vierbeiner nicht selber ausführen, sondern einen professionellen Hundesitter engagieren. Und nicht alle haben an dem neuen App-Trend ihre Freude. Jeff beispielsweise, der mit seinem Partner eine Dogsitting-Firma im Südwesten von San Francisco betreibt, ist skeptisch, was eine App wie Wag betrifft. Es sei nicht wirklich gut, wenn immer ein anderer Gassigeher die Hunde ausführt, so könne man gar nicht mit den Tieren arbeiten, ihnen Manieren beibringen und Marotten abgewöhnen. Die offensichtliche Inspiration für diese Entwicklung ist der Fahrdienst Uber. Auch diese On-Demand-App wurde in San Francisco gegründet. Das war 2009. Seitdem wächst Uber unanständig schnell und chauffiert in immer mehr Ländern Menschen umher. Doch die Firma belässt es nicht bei Personenfahrten. Man kann sich nun auch Essen bestellen. Uber Eats heisst der Dienst, den es in den USA und neu auch in London und Paris gibt. Handy, ich brauch Hilfe! Doch fehlt da nicht was? Shutterstock Ein Grossteil der On-Demand-Services entsteht in San Francisco. Hier um das Silicon Valley herrscht Gründerstimmung. Und hier, wo junge Leute in Unternehmen wie Facebook und Google arbeiten und beschränkte Freizeit haben, ist der Markt für zeitsparende Apps gross. So könnte man die AppsOn-Demand auch als Services für Workaholics oder faule Städter bezeichnen. In San Francisco funktionieren sie so gut, weil die Stadt dicht besiedelt ist. Und so im Umkreis von wenigen Kilometern genügend Leute einen bestimmten Dienst nachfragen. Längst beschränken sich die Apps nicht mehr nur auf den Food-Bereich. Das Putzen und Aufräumen der Wohnung – sei es nach einer wilden Party oder regelmässig, weil man selber zu faul ist – kann man auch so erledigen lassen. Die typischen Waschsalons, die wir aus amerikanischen Filmen kennen, werden womöglich auch bald ausgestorben sein. Denn mit ein paar Klicks kann man sich seine Schmutzwäsche daheim abholen lassen, damit man sie frisch gewaschen und gebügelt zurückkommt. Ikea-Möbel, die zu schwer sind, um sie allein zusammenzuschrauben? Per App wird ein fremder Hobby-Handwer- Geht nicht etwas Wichtiges verloren? Der Kontakt untereinander? Das Witzeln mit dem Kellner, das Abtauchen in eine andere Welt beim Friseur? Es ist doch eine Belohnung, sich in einem dafür bereitgestellten Setting etwas Gutes zu tun. Wir wollen doch aus dem Haus, aus dem Büro, nicht ständig zwischen Arbeit und Wohnung hin und her pendeln. Wer sich den Luxus leistet, eine Haushälterin zu beschäftigen, schätzt es zweifelsohne, wenn sie genau weiss, was man will. Und schliesslich vertraut man einem Menschen Haus, Schlüssel und Hund an. Ist es da nicht von Vorteil, wenn man diese Person kennt? On-Demand-Apps entlasten uns, aber sie führen auch dazu, dass das Miteinander anonymer wird. Heute bringt Daniel das Essen, Morgen Samy meine Wäsche, und Sara tätschelt samstags meinen Hund. Während die TechNerds in Amerika prophezeien, dass On-Demand sich noch stark entwickeln und noch sehr viel weiter führen wird, sind wir in der Schweiz noch traditioneller und zurückhaltender, was Apps auf Anfrage betrifft. In amerikanischen Grossstädten gehört Uber etwa zum Alltag, bei uns sind Uber-Nutzer eine kleine Gruppe. Noch. Wenn die Mücken am 1. August keinen Stich haben Manchmal braucht es nicht viel, um glücklich zu sein. Ein lauschiges Plätzchen im Garten etwa, einen Liegestuhl und eine Cola mit Röhrli. Daran nuckelte ich andächtig und stiess einen wohligen Seufzer in die Abenddämmerung aus. Manchmal braucht es nicht viel, um Glück zu zerstören. Zwei Milligramm Körpergewicht reichen . Das bringt eine Culex pipiens auf die Waage, bekannt als gemeine Stechmücke. Oder Blutsauger. Oder Schlafkiller: Ich war gerade im Begriff, wegzudösen, als mich ein besonders gemeines Exemplar angriff. Mit hysterisch hohem Summton schwirrte die Mücke um mich herum. Ein paar Minuten wildes Herumfuchteln später trat ich entnervt den Rückzug in die Wohnung an. Im Treppenhaus blieb der Blick des Nachbarn an meinen zerstochenen Beinen hängen. «Hättest halt Mückenschutzspray Bitte schön! Rahel Koerfgen Ein Franzose zum Nationalfeiertag: Der Lippenstift Vinyl Cream von YSL. HO benutzen sollen», stichelte er. Na, vielen Dank auch. Dieses Chemie-Zeugs ist mir zuwider. Es riecht eklig (und vertreibt nicht nur Mücken) und ist erst noch giftig: Diese Sprays enthalten gesundheitsschädigende Stoffe. «Nicht alle», entgegnete der Nachbar, winkte mich in seine Wohnung und drückte mir eine grüne Flasche in die Hand. «Dieser da kommt ohne Chemie aus, und damit haben die Sauviecher keinen Stich.» Ich lese, dass der Mückenschutzspray von Para Kito (zwanzig Franken, in Drogerien und Apotheken) zu 100 Prozent pflanzlich ist. Die Wirkstoffe sind so sanft, dass der Spray sogar bei Kleinkindern angewendet werden kann. Der Geruch ist gewöhnungsbedürftig, aber das nehme ich jetzt halt in Kauf. Der Spray muss gleich den Härtetest bestehen: Zum Einsatz kommt er heute an der Bundesfeier am Rhein. Dann werden nicht nur die Basler, sondern auch die Mücken in Festlaune sein. Am 1. August dann die zweite Probe, zurück an den Schauplatz des letzten Angriffs: Im Garten werde ich den Grill anwerfen und im Kreise meiner Freunde feine Schweizer Produkte schlemmen, etwa Cervelats, urchiges Brot und Glace vom Bauernhof. Nur an meine Lippen kommt kein Schweizer, sondern ein Franzose: Der Lippenstift Vinyl Cream von Yves Saint Laurent (ab sofort erhältlich, 48 Franken) steht für volle Farben, sexy Lackglanz und langen Halt. Passend zum Anlass wähle ich die Nuance Rouge Vinyle. Das ist ein sattes Rot, so rot wie die Schweizerfahne, so rot wie Blut. Was das angeht, werden die Mücken in meinem Garten in Zukunft leer ausgehen. Dafür nehme ich auch in Kauf, dass ich ein wenig komisch rieche. Um glücklich zu sein, braucht es manchmal halt doch ein wenig mehr. kultur 44 Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 San Francisco durch die Augen eines Cinephilen und lernen die «wahren Werte» der Such- und Geldmaschine Google kennen. Auch in der benachbarten Universität Stanford wurden Szenen gedreht. New York hat die Brooklyn Bridge. London die Tower Bridge. Aber nur San Francisco hat die Golden Gate Bridge, das rote Pazifik-Tor in die Bay Area. Es ist eines der meistfotografierten Wahrzeichen der Welt. Kein Wunder, ist auch Hollywood von der ikonenhaften Brücke mystisch angezogen und dreht immer wieder in der Stadt der Hippies. So oft, dass man inzwischen einen Stadtrundgang anhand von berühmten Szenen machen kann, um einen Eindruck von der Gegend zu erhalten. . . . and cut! Benjamin Weinmann Wer sich gleich zu Beginn mit dem Silicon-Valley-Virus infizieren lassen will, kann zuerst den Google-Campus in Mountain View besuchen, Drehort der PR-induzierten Komödie «The Internship» (2013). Darin heuern Vince Vaughn und Owen Wilson als Praktikanten an 25 Jah re Int ernet Die Reise geht weiter nordwärts. Am Fusse der Twin-Peaks-Hügel liegt das Lesben-und-Schwulen-Viertel Castro, in dem Regisseur Gus Van Sant 2008 das bewegende Leben von Harvey Milk (Oscar für Sean Penn) verfilmte, dem ersten öffentlich schwulen Politiker der USA. Hier wohnte Milk und führte seinen Wahlkampf. Die Hauptstrasse Market runterfahrend in Richtung Piers befindet sich die City Hall, das Rathaus, wo Milk im echten Leben und im Film sein tragisches Ende fand. Dann folgt ein kleiner Umweg über die Hayes Street in Richtung Pazifik zum Alamo Square, das wohl zweitbeliebteste Fotosujet der Stadt. Hier präsentiert sich die bunte Häuserreihe, die viele Postkarten ziert und Serienfans bekannt ist als Wohnstätte der Familie Tanner aus «Full House» (1987 bis 1995 und zurzeit als Neuauflage bei «Netflix»). Es geht weiter downtown, wo sich viele Szenen der Filmgeschichte tummeln. Chinatown: «Big Trouble in Little China» (1986). Pacific Heights: «Mrs. Doubtfire» (1993) und «Basic Instinct» (1992). Washington Square: «Dirty Harry» (1971) und «Blue Valentine» (2010). Krönender Abschluss der Stadtrundfahrt ist die Golden Gate Bridge. Hier spielte Hitchcock in «Vertigo» (1958) mit dem Adrenalin der Zuschauer. Captain Kirk und Mr. Spock spazierten der Bucht entlang («Star Trek IV», 1986). Die Affen in Hip-Hop Es beginnt mit dem Betrug: Eine Freundin berichtet Dreezy, dass sie ihren Freund mit einer anderen Frau gesehen hat. Enden tut es mit Schüssen. Die US-Sängerin und Rapperin legt ein beachtlich dichtes Debüt vor. Das nimmt vom ersten bis zum letzten Ton ein und schafft es sogar, über mehrere Songs eine Geschichte zu entwickeln. Dreezy ist eine selbstbewusste Dame, die im (Gefühls-)Chaos nie den Überblick verliert. Sie kann erzählen und hat einen ganz eigenen, kratzigen, dreckigen Stil, ihre kleinen, scharfen Beobachtungen darzubieten. Mal spuckt sie sie verächtlich aus, mal gibt sie ganz die Lady. MICHAEL GRABER On The Run ★★★★★ Blues-Rock Wo ist die Intensität? Die schwedisch-amerikanisch-französische Band Blues Pills gehört mit den Rival Sons, Kaleo, Temperance Movement und Black Keys zu den Hoffnungsträgern des Retro-Rock. Live hat das Quartett um Sängerin Elin Larsson bei uns die hohen Erwartungen schon mehrfach erfüllt. Auf ihrem zweiten Album «Lady In Gold» bleibt die Band aber vieles schuldig. Vermisst wird der Druck, die Intensität und Dringlichkeit der Liveband. Elin Larsson singt zwar ordentlich, aber wo ist die ekstatische Leadgitarre? Wir freuen uns auf das Konzert im Oktober in Pratteln. STEFAN KÜNZLI Blues Pills: Lady In Gold, Nuclear Blast. Erscheint am 5. 8. Live: 22. 10., Pratteln, Z7. ★★✩✩✩ Jazz Kulinarischer Jazz aus Kanada Selbst bestens informierte Jazzaficionados werden beim Namen Taylor Cook (noch) passen müssen. Das 25-jährige Riesentalent aus Kanada (Altsaxofon, Flöte, Klarinette) outet sich in «The Cook Book» als musikalischer Tausendsassa. In einem 10-gängigen Menü präsentiert der Chefkoch ein stilistisch schwindelerregend breites Angebot von Minibigband-Swing, Gospelgroove, Bebop, Fusion, Vocaljazz, Hardbop-Streichquartett-Verschnitt und, und, und … Ein musikalischer Riesenspass voller Überraschungen für musikalisch Unvernagelte. JÜRG SOMMER Taylor Cook: The Cook Book (taylorcook.com/cdBaby.com). Ich persönlich verbinde vor allem «The Rock» (1996) mit San Francisco. Dank der starken Bildsprache kommt die Stadt im Action-Klassiker besonders gut zur Geltung. In der Innenstadt findet eine rasante Verfolgungsjagd statt. Ein Cable Car fliegt bei einer Explosion in die Luft. Kampfjets fliegen unter der Golden Gate Bridge hindurch zur Gefängnisinsel Alcatraz. Sie ist inzwischen eine Touristenattraktion, wie Ausbrecher John Mason (Sean Connery) ungläubig feststellen muss. Eine Touristenattraktion, die sich lohnt, so wie die ganze Stadt. True Crime Ein starkes Ausrufezeichen Dreezy: No Hard Feelings (Universal). «Planet of the Apes» (2011) erkämpften sich auf der Brücke den Weg in die Freiheit. Und unzählige Male liess Hollywood die Brücke zerstören, wie zuletzt in «Godzilla» (2014) oder in «San Andreas» (2015). ★★★★✩ Film-DVD Griechische Chaos-Familie 2003 sorgte «My Big Fat Greek Wedding» für einen Überraschungserfolg. Die Culture-Clash-Komödie von Autorin und Hauptdarstellerin Nia Vardalos überzeugte mit unbeschwertem Charme, Witz und Romantik. Die harmlose Fortsetzung hat zu Beginn etwas Mühe, in die Gänge zu kommen, unterhält dann aber durchweg. Toula (Vardalos) und Ehemann Ian sind schon lange Jahre verheiratet. Doch als Tochter Paris in einer anderen Stadt ans College will, mischt sich Toulas griechischer Familien-Clan ein. Chaos ist garantiert. BENJAMIN WEINMANN Kirk Jones: My Big Fat Greek Wedding 2. Universal. 90 Minuten. ★★★✩✩ Netflix tipp der woche Auf das richtige Pferd gesetzt Ständig macht er ein langes Gesicht. Er kann ja nicht anders, denn BoJack ist ein Pferd. Genauer gesagt ist er ein anthropomorphes Pferd, das heisst: BoJack sieht zwar aus wie ein Pferd, spricht und bewegt sich aber wie ein Mensch. Doch auch als Mensch würde er ein langes Gesicht machen. Denn BoJack ist einsam und voller Reue. Daran ändert auch seine Luxusvilla in den Hollywood Hills nichts. Der Glanz der Tage, als BoJack noch als Star einer 90er-Sitcom gefeiert wurde, ist längst verblasst. Kein Witz: Die derzeit beste Comedyserie ist ein Cartoon über ein depressives Pferd. Die Netflix-Eigenproduktion «BoJack Horseman» ist alles andere als Kinderkram, hat weniger mit Disney zu tun als mit komplexen Meisterwerken wie«Mad Men» und «Breaking Bad». Serienschöpfer Raphael Bob-Waksberg zieht der Traumfabrik den Boden unter den Füssen weg und blickt tief in die Abgründe von Ruhm und Egomanie. In den ersten zwei Staffeln kämpft sich BoJack (genial gesprochen von Will Arnett) ins Rampenlicht zurück. In der eben veröffentlichten dritten Staffel darf er gar auf einen Oscar hoffen. Würde sich BoJack auf der Suche nach Glück, Bedeutung und nach sich selbst bloss nicht andauernd selbst sabotieren. Lassen Sie sich von der bunten 2-D-Welt nicht täuschen, eine unglaubliche Tiefe zeichnet dieses Pferd aus. Wie hier Tiere mit Menschen verkehren, mag auf den ersten Blick absurd wirken – doch «BoJack Horseman» ist lustiger, bewegender und menschlicher als alles, was derzeit zu sehen ist. LORY ROEBUCK Er schreibt die derzeit wahrscheinlich besten Krimi-Dialoge zwischen Oslo, Zürich und Brooklyn, hat ein vortreffliches Gespür für die Tragikomik des Lebens am Abgrund und weiss, wovon er schreibt: Carmelo Pietro Stella, kurz Charlie Stella, ein 1956 in Manhattan geborener Ex-Tellerwäscher, Ex-Melonenpacker, Ex- Fensterputzer und Ex-Burger-Brutzler, der sich anschickt, international zu den Grossen des Krimi-Genres aufzusteigen. Was der Mann draufhat, demonstriert er nun erstmals eindrucksvoll im Rahmen seines grandiosen Mafia-Thrillers «Johnny Porno», einem knapp 500-seitigen Knaller, der sich liest, als hätten Quentin Tarantino, Buddy Giovinazzo und Paul Cain gemeinsame Sache an der Maschine gemacht. Stella schreibt einen Ton, der sich im Gehörgang festkrallt. Er erzählt von der rauen, hässlichen Alltagspoesie, wie sie kleine Mafiosi an den Tag legen, die wissen, dass der nächste Atemzug unter unglücklichen Umständen bereits ihr letzter sein kann. Johnny Porno kann ein Lied davon singen, was es heisst, für die Cosa Nostra die Drecksarbeit an der Front zu machen. Er kutschiert mit seiner Rostlaube die Kohle, welche die Cosa Nostra mit dem von ihr produzierten späteren PornoKlassiker «Deep Throat» in den Hinterzimmern irgendwelcher Bars allabendlich einspielt, quer durch New York. Bezahlt wird in 5-Dollar-Scheinen, doch das Geschäft läuft schleppend. Dass Johnny trotzdem immer neue Verfolger im Rückspiegel seines schäbigen kleinen Geldtransporters ausmacht, die ihm die Kohle abzujagen versuchen, bringt schliesslich einen Plot in Gang, der so schräg und rasant zugleich ist, dass man sich verwundert fragen muss, weshalb den hiesigen Krimi-Spähern diese schwarz funkelnde Perle erst jetzt ins Netz gegangen ist. Denn Stellas Wundertüte, in der so ziemlich alles drin ist, was einen erstklassigen Krimi ausmacht, ist bereits vor sechs Jahren in den USA erschienen und hat den Ex-Theaterschreiber dort zu einer grossen Nummer gemacht. Doch nun hat Thomas Wörtche, der Doyen des deutschen Krimis, Stella gottlob endlich an den Haken bekommen und kredenzt ihn uns zur erquickenden Lektüre. Gut so. «Er lebte den Schund, den er schrieb», hiess es einst in Daniell Woodrells makellosem Country-Noir «Stoff ohne Ende» über dessen Helden Doyle Redmond. Auf Johnny Porno übertragen würde das wohl bedeuten: «Er floh vor dem Scheiss, den er leben musste.» PETER HENNING BoJack Horseman. Raphael Bob-Waksberg. Alle 3 Staffeln (36 Episoden à ca. 25 Minuten) jetzt auf Netflix. ★★★★★ Charlie Stella: Johnny Porno. Suhrkamp. Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf. 496 S. ★★★★★ 25 Jah re Int ernet Schweiz am Sonntag 31. Juli 2016 Thinkstock If you’re going to Saaan Fraaancisco ... ... machen Sie sich auf eine bunte Stadt mit toleranten, kreativen Menschen gefasst. Seien Sie gewappnet für kühle Brisen, lassen Sie den Nebel über die Stadt ziehen, und kommen Sie bloss hungrig. VON ALEXANDRA FITZ Alcatraz Golden Gate Nat'l Recreation Area Bridge Golden Gate Alcatraz Island Treasure Island Fisherman's Yerba WharfBuena Island Fort Mason Fort Point Presidio of San National Historic Francisco North Beach Marina Site Presidio San Francisco Fort Winfield Russian Hill Maritime Natl Hist Pk Pacific Scott Heights China Town Financial District Richmond District Golden Gate Park Nob Hill Western Addition Richmond District SAN Strawberry Hill The Castro Noe Valley Portrero Hill Bernel Heights Twin Peaks Bayview Hunter's Point District Penguin Island Lake Merced Port Missio District Sunset District Sunset District Downtown HaightFRANCISCO South Market Ingleside Ingleside Excelsior Bayshore Candlestick Point State Rec Area MAPS4NEWS.COM/©HERE W enn wir auf einem Städte-Trip sind, dann saugen wir mit Nase, Augen und Ohren im Sekundentakt Eindrücke ein. In Chinatown rümpfen wir die Nase ob des Fischwassers, das über die Strassen in die Gullis sickert. In der Market Street horchen wir auf, wenn Sirenen der Feuerwehr- und Polizeiautos schrillen und uns an Action-Filme erinnern. Wir vergleichen die Umgebung mit zu Hause. Mit der Summe der Impressionen und Ereignisse machen wir uns ein Bild von einem Ort und bewerten ihn. Fragen uns manchmal gar: Könnte ich hier leben? Zu Hause erzählen wir, zeigen Bilder. Fragen Sie sich auch manchmal: Wenn ich diesen Ort mit einem Wort beschreiben müsste, welches wäre es? Berlin mit «hip», Zürich mit «schön»? Dann wäre San Francisco – die Stadt an der Westküste der USA – wohl mit «cool» zu bewerten. Hier leben echte Charaktere. Die Stadt strotzt vor Kreativität und Energie. In der viertgrössten Stadt Kaliforniens und nach New York US-Grossstadt mit der zweithöchsten Bevölkerungsdichte pulsiert an jeder Ecke Leben. Ihre Bewohner sind tolerant, innovativ, hip und technisch versiert. Die Stadt begeistert weniger mit imposanten Hochhäusern als vielmehr mit Quartieren, die alle ihren eigenen Charme haben. Die vielen Hügel (rund 50) bescheren einem spektakuläre Ausblicke. Es ist sympathisch, dass in der Innenstadt klapprige Busse und ein Nostalgie-Tram (Linie F, Market Street) herumtuckern, obwohl sie ans Silicon Valley grenzt, den Nabel der Digitalisierung und des Hightech. Und erst die Cable Cars, die von «conductor» und «gripman» (Fahrer) gesteuert werden. Ab aufs Trittbrett und die California und Powell Street rauf- und runterrattern. Der Wind zerzaust einem die Haare, bis man dem Fahrer zuruft: «Next Stop Please!». In Castro erkennt man, was «tolerant» heissen kann. Hier im Gay-Viertel wehen die Regenbogen-Flaggen das ganze Jahr über. Noch immer zehrt die Stadt vom «Sommer of Love». Obwohl keine Blumenkinder mehr auf den Trottoirs hocken, leben noch immer viele Freidenker in der Stadt. Es sollen sich über 47 Fotos: Fitz, HO, Thinkstock Die Golden Gate Bridge – das Wahrzeichen von San Francisco. reisen 1000 verschiedene Volksgruppen in der Stadt versammeln. Jeder Stadtteil steht für eine bestimmte Nationalität. Und die Bewohner wollen alle authentisch leben und essen. Man sagt, in San Francisco gäbe es so viele Restaurants, dass alle Einwohner gleichzeitig ausgehen könnten und jeder Platz fände. San Fran ist das Mekka der Foodies. In Frisco weht eine frische Brise «Cool» ist San Francisco aber auch im ursprünglichen Wortsinn. In der Stadt an der Bucht ist es für kalifornische Verhältnisse oft frisch. Wer im Sommer nach Kalifornien reist, erwartet sportliche Leute, die in Shorts dem Strand entlang joggen. Doch in Frisco – obwohl die stolzen Bewohner diese Bezeichnung für ihre Stadt nicht allzu gern hören, passt der Terminus gut zum Klima – weht oft ein Lüftchen vom Meer her. Daher kleiden sich die San Franciscans in Schichten und haben immer ein Jäckchen als Back-up dabei. Am wärmsten ist es im September und Oktober, während des Indian Summer. Aber viel wärmer als 20 Grad wird es auch dann nicht. Im Sommer hat in San Francisco vor allem einer das Sagen: der Nebel. Morgens fröstelt die Stadt fast immer unter einer Nebeldecke. Warme Luft aus dem Inland trifft auf kalte Meeresluft, und so entsteht über der San Francisco Bay Nebel. Zum Glück verflüchtigt sich der «Fog» nachmittags meist, dann kämpft sich die Sonne durch und zeigt sich von ihrer goldenen Seite. Endlich kommt das Wahrzeichen der Stadt zum Vorschein. Die wagemutige Konstruktion, die 67 Meter über dem Meer hängt, ist eigentlich rot. Doch im Sonnenlicht – wenn der Nebel dann mal weg ist – strahlt sie wirklich golden. Die 2,7 Kilometer lange Fahrt geniesst man am besten auf dem Velosattel. Die Autos rauschen vorbei, der Wind reisst einem fast den Lenker aus den Händen, doch das Gefühl auf dem mächtigen Stahlding ist unbeschreiblich. Man blickt auf die Skyline der City und ehrfürchtig auf die berüchtigte Gefängnis-Insel Alcatraz in der Bay. Drüben angekommen, düst man den Hügel hinunter, um im mondänen Hippie-Städtchen Sausalito zu flanieren, bevor man auf der Ferry samt Velo wieder in die Metropole schippert. Man legt bei der Fisherman’s Wharf an und befindet sich am Pier 39 mit Souvenir- Cable Cars – Nostalgie in der Stadt der Zukunft. Bitte anstehen! Bi-Rite Creamery in der Valencia Street, Mission. Sausalito, schönes Städtchen – am besten mit Velo über die Golden. Hipster-Hangout, der beliebte Mission Dolores Park. Im Regenbogenland, Castro ist das Gay-Viertel der Stadt. Viktorianische bunte Häuser aus dem 19. Jh. – die «Painted Ladies». Shops und den faulen Seelöwen im touristischen Epizentrum. Und murmelt bei all dem Kitsch: «Typisch Amerika.» Authentischer und weit entzückender sind die vielen Quartiere mit ihren Bewohnern. Wer die «Hauptstrasse» (Market Street) zwischen den Wolkenkratzern entlang gelaufen ist, macht sich auf alle Seiten in die unterschiedlichen Stadtteile auf. Das älteste Chinatown Nordamerikas etwa, Haight-Ashbury, hatte seine Blütezeit im Summer of Love, und trotzdem zeugen die bunten, schönen Häuser noch von der Flower-Power-Zeit. North Beach ist die Heimat der Italiener. Der trendy Mission District Spannend und aufstrebend ist der Mission District. Es ist ein wenig absurd, dass der erste und älteste Stadtteil Friscos die Quelle all der neuen, hippen Dinge ist. Mission – früher Lateinamerika im Kleinen genannt – ist eigentlich Heimat der Lateinamerikaner und der spanischen Sprache. Heute erobern Hipster die Gegend um die Mission und Valen- cia Street. Hier futtert man die leckersten Burritos, bestaunt Graffiti-Wände um die 24th Street und gönnt sich ein Eis bei «Bi-Rite Creamery», gemäss dem Reiseführer «San Francisco for the young, sexy and broke» die berühmteste Eisdiele. Wer aufgrund der roten Absperrbänder denkt, es handle sich um einen VIP-Club, hat noch nicht erkannt, dass Amis für alles Schlange stehen. Auf Kreationen wie Caramel-Seasalt und Roasted-Banana wartet man geduldig. Um sich dann im Mission Dolores Park zwischen Palmen mit Blick auf die Skyline auszuruhen. Die amerikanische Küche fällt uns gewiss nicht als Erstes ein, wenn wir an feine Speisen aus aller Welt denken. Klar mögen wir alle mal Burger und Fritten – aber immer Fast Food kann es dann doch nicht sein. Frisco ist anders, San Fran ist ein Food-Mekka. Alleine wegen der Kulinarik lohnt es sich, an die Bay Area zu pilgern. Die Vielfalt liegt vor allem an den vielen Einflüssen – die Mehrheit der 840 000 Einwohner ist zugereist, ein Drittel sogar von ausserhalb der USA. Obwohl sich hier wirklich viel um Essen dreht, achtet niemand in den USA so sehr auf die schlanke Linie und auf gesundes Essen wie die Kalifornier. Healthy Food und Smoothies gibt es hier an jeder Ecke. Mit weit über 1000 Restaurants ist das Angebot – um es mit dem amerikanischen Wort zu sagen – einfach «awesome». Auch wenn Europäer und allen voran die zurückhaltenden Schweizer es oft anstrengend und übertrieben finden, wenn Amerikaner lauthals von Dingen schwärmen, hat man trotzdem das Gefühl, dass sich die San Franciscans für ihre Besucher interessieren. Klar, beim locker-flapsigen «Hey, how are you doing?» wissen wir immer noch nicht so recht, ob sie wirklich eine Antwort erwarten. Aber sie sind offen. So kommt es schon mal vor, dass sie aufgrund des Reiseführers auf dem Tisch fragen: «Do you enjoy your stay?» Sie interessieren sich für die Herkunft ihres Gegenübers, wollen wissen wie die Schweiz ist. Hierzulande sind viele von uns dazu zu scheu. – Also ab nach Frisco. Dort gibt’s Inspiration und Energie. Reiseinfos zu San Francisco Anreise: Zweimal täglich mit Swiss, direkt, früh buchen Übernachten: Im SoMa District, gleich bei der Market Street, mitten im Museumsviertel im W Hotel, einem der besten Hotels der Stadt, das vom Zürcher Roger Huldi geführt wird. www.wsanfrancisco.com; «The Red Victorian»: B&B in der Haight Street (Hippie-Viertel) ein Relikt aus den Blumenkindertagen, www.redvic.com Verkehr: Muni - öffentlicher Verkehrsverbund. Der Tagespass kostet etwa 15 Dollar. San Francisco ist zwar die Stadt des Fortschritts, aber verkehrstechnisch lottert es ein wenig. Die Busse sind fast kriminell, das F-Tram, das zum Hafen fährt, schon wieder nostalgisch, die Cable Cars ein Muss (lange Schlange!), Uber und Cabs sind dazu gute Alternativen. Essen: Stetig kommen neue Restaurants dazu, was gerade angesagt ist, finden Sie auf dem Food-Blog www.violetfog.com oder auf der Website des Food-Magazins «7x7». Dort lesen Sie auch «100 Things to Eat in San Francisco Before You Die», www.7x7.com, www.tablehopper.com ist eine wöchentliche Kolumne über die Food-Szene San Franciscos. Unbedingt probieren: Burrito in Mission, Crabs – fangfrische Taschenkrebse vor allem auf Fiherman’s Wharf und Sourdough Bread – knuspriges, helles Sauerteigbrot. Tagestrips: Oakland und Berkley. In die Weingegend nach Napa, Sonoma oder Mendocino. August bis Oktober tummeln sich dort Touristen, Insider sagen, die ersten zwei Novemberwochen seien am besten. Sausalito, nur über die Golden Gate, mit bunten Hausbooten. Yosemite National Park. Lake Tahoe. Allgemeine Infos: San Francisco for the young, sexy and broke» von OTP, spezieller Führer, allgemeine gute Infos auf www.sanfrancisco.travel.