AZ Silicon Valley

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AZ Silicon Valley
AZ 5000 Aarau | Nr. 207 | 9. Jahrgang | Ausgabe 30 | Redaktion 058 200 53 10 | E-Mail [email protected] | Abo 058 200 55 00 | Anzeigen 058 200 53 53 | Fr. 3.50
PATRIZIA LAERI & CO.
MARK ZUCKERBERG
Bevorzugt das Schweizer Fernsehen junge Moderatorinnen?
Facebook probt die
Zukunft: Internet soll
begehbar werden.
Seite 20
Seite 11
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016 | Nationale Ausgabe | www.schweizamsonntag.ch
Alles über die
Olympischen
Spiele in Rio.
Seite 36/37
HO
Die unheimliche Macht
des Silicon Valley
Brasilien,
wir kommen!
Brisanter Rat
von Experten
Bundesanwalt
und -strafrichter
abschaffen.
Seite 10
Filmfestival
Locarno
Hollywoodstar
Bill Pullman
im Interview.
Seite 43
Kochen mit Holz,
Moos und Rinde
Neuer Trend:
Der Wald zieht
in die Küche.
Seite 48
Machbarkeitsglaube und Grössenwahn: Der Apple-Konzern baut in Cupertino (Kalifornien) einen gigantischen neuen Campus.
Reuters/Noah Berger
Kommentar
VON PATRIK MÜLLER
Nichts hat unseren Alltag, unsere Arbeit und unsere Gesellschaft so tiefgreifend verändert wie das Internet
und das Smartphone. Genau 25 Jahre
ist es her, seit die erste Website online
ging – es war der Urknall der digitalen
Revolution. Aus diesem Anlass ist ein
Redaktionsteam der «Schweiz am
Sonntag» ins Silicon Valley gereist. In
jenes Tal an der US-Westküste südlich
von San Francisco, aus dem fast all die
bahnbrechenden Erfindungen kommen, die «disruptiven Innovationen»,
welche ganze Branchen umpflügen.
Apple, Google, Facebook, Tesla und
der Fahrdienst Uber sind nur einige der
bekanntesten Firmen, die hier, zwölf
Flugstunden von Zürich, beheimatet
sind – und die Revolution in immer
schnellerem Tempo vorantreiben. Für
unsere Schwerpunktausgabe haben wir
führende Persönlichkeiten aus dem
Valley getroffen, so den legendären
Präsidenten der Elite-Universität Stanford John Hennessy, dessen bekannteste Schüler die Gründer von Google waren. Wir sprachen mit dem Baselbieter
Urs Hölzle, der seit den Anfängen bei
Google ist, mit dem Rheintaler Daniel
Graf, der mit Uber, dem am schnellsten
wachsenden Unternehmen der Geschichte, Grosses vorhat, und mit dem
Zürcher Super-Investor Toni Schneider,
der in über 200 Start-ups investiert ist.
Das Bild, das sich aus den Gesprächen ergab, ist klar: Die Revolution ist
25
Jah re Int ernet
erst gerade losgegangen. In unserer
heutigen Ausgabe lesen Sie, welches
die nächsten grossen Dinge sind, an
denen die Valley-Pioniere arbeiten.
Virtuelle Realität beispielsweise gehört
dazu (siehe «morgen»-Bund).
Wir zeigen, warum Schweizer Manager in Scharen nach Kalifornien pilgern und wieso hier immer mehr Firmen, von Swisscom bis Nestlé, eigene
Niederlassungen gründen (siehe Wirtschaftsteil). Und wir fragen: Worin liegen die Chancen des Wirtschafts- und
Bildungsstandorts Schweiz? Zudem be-
leuchten wir die fragwürdigen Seiten
der Internet-Pioniere: Ihr Machbarkeitsglaube und die Besessenheit, alle
Probleme der Menschheit durch Technik zu lösen, offenbaren einen Grössenwahn, der gefährlich ist und die
Demokratie untergraben kann. Sinnbildlich dafür steht der neue, gigantische Campus von Apple in Cupertino,
der gerade im Bau ist (siehe Foto) und
vom Konzern «Spaceship», also Raumschiff, genannt wird.
Das Silicon Valley hebt ab – ob das
gut kommt?
Reportagen, Analysen, Porträts,
Reisetipps, Interviews – die Beiträge
aus Kalifornien finden Sie in allen
Zeitungsbünden.
«In der Schweiz
gleicht Trump am
ehesten LegaGründer Giuliano
Bignasca.»
OTHMAR VON MATT
Seite 19
CH_So
Silicon Valley
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Epizentrum der digitalen Revolution
Das Web kam in
Genf zur Welt
Im Silicon Valley ist man besessen davon,
jedes erdenkliche Problem der Menschheit
zu lösen. Auch Schweizer zieht es in
Scharen hierhin. Was ist die Erfolgsformel
des mächtigsten Tals der Welt?
VON PATRIK MÜLLER, ANDREAS MAURER
(TEXT) UND PATRICK ZÜST (FOTO)
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Der dunkelgraue Kapuzenpulli wäre
nichts Spezielles ohne die sechs weiss
aufgedruckten Buchstaben. Google.
Dieser Schriftzug macht das Kleidungsstück wertvoll, 55.99 Dollar kostet es. Daneben hängt ein Rucksack,
schwarz, mit denselben sechs Buchstaben, für 99.99 Dollar. Wir sind im
Google-Shop in Mountain View (Kalifornien), am Hauptsitz des Internetkonzerns. Es gibt hier von Baby-Socken bis zur Lippenpomade unzählige
Werbeartikel. Die Leute reissen sich
darum, und sie zahlen dafür. Sie machen Selfies vor dem Google-Auto und
posieren stolz vor dem Firmenlogo.
Sie wollen beweisen können: Ich war
hier, in der Machtzentrale der digitalen Welt, bei den Revolutionären des
21. Jahrhunderts.
Google, Facebook, der Fahrdienst
Uber, der Online-Händler Amazon
und natürlich Apple mit seinen Kultprodukten iPhone und iPad: Sie sind
daran, unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Arbeit komplett
zu verändern. Die Menschen rund um
den Globus machen bei dieser Revolution mit. Und die Revolutionäre schaffen es gar, Fanartikel zu verkaufen.
«Don’t be evil», sei nicht böse, lautet
das Motto von Google. Apple-Gründer
Steve Jobs prägte den Satz: «Make the
world a better place», mach aus der
Welt einen besseren Ort. Die Revolutionäre sagen alle, sie hätten nur Gutes
im Sinn. Das gilt auch für Elon Musk,
den Gründer des Elektroautos Tesla,
der diese Woche in den USA eine «Gigafabrik» (O-Ton Musk) eröffnet hat, in
dem er Batterien herstellen will, die
nichts weniger als «das Energieproblem lösen» sollen.
Ein Hort des Optimismus
Das Silicon Valley, in dem die meisten
dieser Firmen beheimatet sind, sei ein
«Hort des Optimismus und des Glaubens, dass sich Probleme lösen lassen», sagt John Hennessy, der Präsi-
dent der Elite-Universität Stanford.
Wir treffen ihn in seinem Büro, inmitten von Kartonschachteln. Der legendäre Professor, dessen berühmteste
Schüler die Google-Gründer Sergey
Brin und Larry Page waren, wird bald
pensioniert und hat schon die ersten
Kisten gepackt. Hennessy glaubt daran, dass an seiner Wirkungsstätte und
im Valley noch viele grosse Probleme
der Menschheit gelöst werden. Was
man in Europa bisweilen als Grössenwahnsieht, wird in Kalifornien wenig
hinterfragt. «Wir sind Problem-Solvers», lautet das Selbstverständnis.
Egal ob man mit Professoren, Startup-Gründern oder Investoren spricht:
Immer dringen ein unbändiger Optimismus und ein Machbarkeitsglaube
durch, verbunden mit Risikolust. Das
ist insofern bemerkenswert, als nur 1
bis 2 Prozent der Start-up-Unternehmer im Silicon Valley wirklich eine Finanzierung finden, und von diesen
wiederum wird nur ein kleiner Bruchteil ein wirklicher Erfolg. Das Silicon
Valley ist in Wahrheit ein Tal der Verlierer. Aber scheitern gehört hier zum
Konzept, das gilt auch für die Grosskonzerne: Die Wunderbrille «Google
Glass» war ein spektakulärer Flop.
Schwamm drüber – stattdessen tüftelt
Google nun halt am selbstfahrenden
Auto und anderen Dingen.
Zauberwort Disruption
Wahrgenommen werden nicht die
Flops, sondern die disruptiven Innovationen: Erfindungen, die die Welt
verändern und ganze Wirtschaftszweige umpflügen. Deswegen wallfahren
auch Schweizer Unternehmer und
Manager ins Silicon Valley, um von
den supererfolgreichen Internetkonzernen zu lernen. Sie sind nicht nur
von Lernbegierde getrieben, sondern
auch von Angst: Wird vielleicht bald
ihr eigenes Unternehmen «disrumpiert», von einem Start-up infrage gestellt? Was ist das nächste grosse Ding,
das hier entsteht?
Der Business-Tourismus boomt.
Swiss bietet seit 2010 Direktflüge von
Am 6. August 1991 ging die erste Website
online. Ein Besuch bei zwei Geburtshelfern.
VON CHRISTOPH BERNET
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Standort zu einem der bedeutendsten
in Europa machen. Der Initiant, Ringier-Chef Marc Walder, der wiederholt
ins Valley reiste, vergleicht den Wettbewerb mit einem Fussballspiel: «Die
erste Halbzeit hat Europa gegen die
USA verloren. Und zwar haushoch.
Nun läuft die zweite Halbzeit. Und die
Uhr tickt gegen Europa.»
Zürich habe jedoch gute Chancen,
die Stadt sei weltweit top in Innovation, Investitionen in digitale Weiterentwicklungen, Bandbreite für Internetdaten und Lebensqualität. Das reiche aber nicht: «Die Besteuerung des
Vermögens von jungen Firmen ist ein
zentrales Thema, auch die Besteuerung von Mitarbeiterbeteiligungen.
Hier muss der Standort Zürich attraktiver werden für Start-ups», fordert
Walder.
Für den Durchbruch in die USA
Google-Shop am Konzernsitz in Mountain View: Die Revolutionäre versprechen eine bessere Welt – die Konsumenten kaufen es ihnen ab.
Patrick Züst
Zürich nach San Francisco an. Vor einem Jahr wurde das Angebot im Sommer auf zwei tägliche Verbindungen
verdoppelt, und der nächste Ausbau
steht bevor: Ab April 2017 setzt Swiss
auf der Strecke ausschliesslich das
neue Flaggschiff ein, die Boeing 777
mit 121 zusätzlichen Sitzplätzen.
Mittlerweile haben die Pilgerströme
Dimensionen erreicht, die selbst spezialisierten Tourenanbietern nicht mehr
geheuer sind. Einige von ihnen, die
Ausflüge von San Francisco ins Silicon
Valley verkaufen, betonen auf ihren
Websites neuerdings nicht mehr, was
man alles erleben wird, sondern was
man nicht sehen wird. Wer keine Beziehungen hat, wird die Zentralen von
Google oder Facebook nicht von innen besichtigen können.
Auf den teuren Touren werden die
Tech-Touristen dann vor allem merken, dass das Silicon Valley spektaku-
lär unspektakulär ist. Ein paar staubige Kleinstädte entlang der Autobahn,
deren Ausfahrten man leicht verpasst.
Es bleibt nicht beim Reisen. Viele
Unternehmen haben Niederlassungen
in der Gegend, Multis wie Nestlé ebenso wie die bundesnahen Betriebe Post
und Swisscom. Vermehrt ziehen auch
kleinere Unternehmen hierher, etwa
der Uhrenhersteller TAG Heuer mit
Sitz in La Chaux-de-Fonds, der ab November in Santa Clara ein Dutzend Ingenieure einstellen wird. Sie alle wollen in dieser fast magischen Gegend
präsent sein und hier die Erfolgsformel der Zukunft finden.
Auch die offizielle Schweiz ist da: An
bester Lage, am Pier von San Francisco, ist Swissnex domiziliert, eine Initiative des Wirtschaftsdepartements
des Bundes. Swissnex will Brücken
schlagen zwischen den USA und der
Schweiz und vereinigt Start-ups,
fehlt es in Europa an Schulen und Universitäten, die wie Stanford konsequent auf Innovation und Gründertum setzen und die besten Talente der
Welt anziehen. Zweitens fehlt es in Europa an Kapital und Risikobereitschaft, wie es hier fast im Übermass
vorhanden ist. Drittens fehlt es in Europa an einem grossen, einheitlichen
Markt mit einer Sprache, die alle verstehen, um Produkten zum Durchbruch zu verhelfen.»
Städte rund um den Globus versuchen, eine Innovations- und Start-upKultur zu etablieren, um im digitalen
Zeitalter zu bestehen. New York strebt
auf, auch Tel Aviv, in Europa verfügen
insbesondere London, Berlin, Stockholm und auch Zürich über eine lebhafte Start-up-Szene.
In Zürich haben namhafte Unternehmen die Initiative «Digital Zurich
2025» gegründet und wollen den
Hochschulen, aber auch Kunst. Fast
jede Woche finden am Pier Veranstaltungen mit Schweiz-Bezug statt.
Die Defizite Europas
Warum finden helvetische Unternehmen ein derartiges Gründer-Biotop offenbar nur im Silicon Valley vor, einem Tal, das in Wahrheit gar kein Tal,
sondern ein Canyon ist? In einer Gegend, die bis in die 1950er-Jahre eine
Obstplantage war, bevor sie die Ingenieure und die Chip-Produzenten entdeckten, welche dem «Tal» den Namen gaben (Silicium dient zur Herstellung von Halbleitern)?
In der Kantine der Stanford Businessschool begegnen wir zufällig dem
britischen Star-Historiker Timothy
Garton Ash. Wir fragen ihn, warum
die Kapitale der Innovation nicht in
Europa liege. Ohne lange nachzudenken, nennt er drei Gründe: «Erstens
Schweizer Investoren im Silicon Valley
sind für ihre alte Heimat erstaunlich
zuversichtlich. Super-Investor Toni
Schneider ist 1989 nach Kalifornien
ausgewandert und hat mit seinen Gesellschaften über eine Milliarde Franken in 200 Start-ups investiert. In Zürich sei es viel einfacher geworden,
ein Start-up zu gründen: «Das ist eine
super Entwicklung.» Er plant auch selber, in Schweizer Jungfirmen zu investieren. Schneider glaubt, die Schweiz
sei ideal für Gründungen – doch wenn
ein Start-up dann wachse und den globalen Durchbruch suche, müsse es irgendwann in die USA kommen. «Der
Markt in der Schweiz ist einfach zu
klein, und es ist zu wenig Kapital vorhanden», analysiert Schneider.
Diejenigen, die es wirklich schaffen,
bleiben dann meist für immer. Schneiders drei Kinder wachsen in Kalifornien auf, Uber-Topmanager Daniel Graf
hat sich eine riesige Farm gekauft, und
für Urs Hölzle, der zu Google stiess,
als die Firma noch weniger als zehn
Mitarbeiter beschäftigte, sind die USA
längst zur Heimat geworden. Nur die
analoge Armbanduhr erinnert an seine Herkunft: Hölzle trägt ein Modell
der SBB-Bahnhofsuhr am Handgelenk,
roter Sekundenzeiger inklusive.
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Die dunklen Korridore mit Linoleumböden atmen noch den
Geist des vordigitalen Zeitalters. Nichts deutet darauf hin,
dass hier, auf dem Boden der
Genfer Vorortsgemeinde Meyrin, direkt an der französischen Grenze, die Wiege der
digitalen Revolution liegt. «Irgendwo hier hat Tim BernersLee das World Wide Web erschaffen», sagt Ben Segal, während er durch ein in die Jahre
gekommenes Bürogebäude auf
dem Gelände des Cern schreitet. In welchem der kleinen,
spartanisch eingerichteten Büros Berners-Lee damals gearbeitet habe, wisse niemand
mehr so genau, sagt Segal.
Am 6. August 1991 ging hier
die erste Website der Welt online – der Server befand sich in
Berners-Lees Büro in einem
Untergeschoss. Der britische
Informatiker Ben Segal war einer der Mentoren von Berners-Lee. Er unterstützte ihn
dabei, seine Vision eines weltweiten Informationsnetzes zu
verwirklichen. Von 1971 bis zu
seiner Pensionierung 2002 war
Segal am Cern tätig. Heute ist
der 79-Jährige Ehrenmitglied
der Informatikabteilung.
Zielstrebig steuert Segal auf
eine unspektakuläre Messingplatte zu: «Where the Web was
born» steht dort in schwarzen
Lettern. Es ist die einzige Reverenz an die wohl revolutionärste Entwicklung, die im Cern ihren Anfang nahm.
«Vage, aber aufregend»
Tim Berners-Lee arbeitete ab
1984 in der Informatikabteilung des Cern und befasste
sich mit Standards zur elektronischen
Datenübermittlung.
Sein regulärer Job habe ihn
nicht besonders in Anspruch
genommen, weshalb er Zeit
hatte, seine Vision des World
Wide Web voranzutreiben, sagt
Segal. 1989 legte Berners-Lee
seinem Vorgesetzten Mike
Sendall ein 14-seitiges Konzept
vor. Der nüchterne Titel: «Information Management: A Proposal». Sendall war angetan
von der Idee seines brillanten
Mitarbeiters: «Vage, aber aufregend», lautete sein Fazit.
«Als ich Tims Vorschlag zum
ersten Mal gelesen habe, habe
ich das meiste nicht verstanden», gesteht Segal. Viele Forscher hätten sich damals mit
Fragen des Informationsaustausches zwischen verschiedenen Computernetzwerken auseinandergesetzt. Im Gegensatz
zu den anderen habe BernersLee eine Vision gehabt und diese umgesetzt. Er sei jung genug
gewesen, um an seinen Traum
zu glauben. Von Hindernissen
für seine Idee eines weltweiten
Netzes habe er sich nicht entmutigen lassen. «Tim sagte mir
immer: Ben, wir müssen uns
nur auf ein paar simple Sachen
einigen.»
«Ein grossartiger Kerl»
«Tims netzartige Struktur war
revolutionär und ihre Genialität wurde vom Cern zunächst
nicht erkannt», sagt Maria Dimou. Die 56-jährige Informatikerin ist seit 1988 am Cern tätig. In der experimentellen
Physik, der Königsdisziplin des
Cern, seien hierarchische Informationsstrukturen
dominant gewesen, sagt Dimou.
«Tims Ideen trafen am Cern
deshalb auf Widerstand.» Weil
Berners-Lee keine Finanzierung für die Weiterentwicklung
des Webs erhielt, wechselte er
1994 ans Massachusetts Institute of Technology in den USA.
Weder Segal noch Dimou
hätten sich in der Anfangsphase des WWW vorstellen können, welche fundamentalen
Veränderungen es für sämtliche Lebensbereiche bringen
würden: «Auch Tim hatte keine
Ahnung», glaubt Segal. Beide
halten das Internet weiterhin
für eine positive Errungenschaft. Gewisse Entwicklungen
bereiten Ben Segal aber Mühe –
etwa das Darknet, die Flut an
Spam-Mails oder die sozialen
Auswirkungen: «Als Internetpioniere wollten wir die Welt verbinden.» Das sei zwar gelungen: «Doch wir haben die Menge an Mist unterschätzt, die wir
damit ebenfalls verbinden.»
Zum Glück sei Berners-Lee
ein herzensguter Mensch und
Humanist, der sich bis heute
für die Vision eines freien Internets im Dienste der ganzen
Menschheit einsetze: «Dass es
ein so grossartiger Kerl wie
Tim war, der das Web erfunden hat, ist letztendlich ein Zufall – aber ein glücklicher.»
Windows 95, iPod und Google-Auto: Meilensteine seit dem Start des Internets
1996
Der britische Physiker Tim
Berners-Lee schaltet am
Cern in Genf die erste
Website der Welt frei –
die Seite, die unter der
Adresse info.cern.ch
abrufbar ist, besteht aus
165 Wörtern.
Die Stanford-Absolventen
und späteren Google-Gründer Sergey Brin und Larry
Page entwickeln den PageRank-Algorithmus (benannt
nach Larry Page), der heute
3½Milliarden Suchanfragen
pro Tag bearbeitet – und
mitentscheidet, was
relevant ist.
1995
1999
Microsoft-Gründer Bill
Gates stellt das Betriebssystem Windows 95 vor,
das die Computerwelt
verändern sollte.
Bill Gates, der Erfinder von
Windows.
Mit dem Blackberry kommt
das erste Handy auf den
Markt, mit dem man gleichzeitig telefonieren, texten
und E-Mails verschicken
kann. Heute ist Blackberry
zu einem unbedeutenden
Unternehmen geschrumpft.
1999
Napster ist die erste Online-Musiktauschbörse.
Erstmals lassen sich MP3Musikdateien über das Internet teilen. Revolutionär
ist der sogenannte Peerto-Peer-Ansatz (P2P).
Fotos: Reuters, Keystone, Ho
1991
2000
Die uneingeschränkte Freigabe der Satellitendaten
des Global Positioning System (GPS) durch das USMilitär sorgt dafür, dass
die Technik präziser und
die Geräte erschwinglicher
werden. Damit wird der
Weg für den Siegeszug der
Navis im Auto bereitet.
können Fans ihre Lieder
nun im iTunes-Store herunterladen. Steve Jobs landet
einen Hit und rettet Apple
vor der Pleite.
2004
Start des sozialen Netzwerks
Facebook. Erster Nutzer ist
Gründer Mark Zuckerberg.
Heute hat Facebook 1,6 Milliarden Mitglieder.
2005
2001
Apples iPod revolutioniert
die Musikindustrie. Statt
CDs im Laden zu kaufen,
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Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Jah re Int ernet
Steve Jobs landet mit dem
iPod einen Hit.
Mark Zuckerberg, der erste
Nutzer von Facebook.
Auf Youtube wird das erste
Video eingestellt. Es zeigt
Mitbegründer Jawed Karim
im Zoo von San Diego vor
einem Elefantengehege.
2005
2008
Google Maps geht online. Es
macht schnell herkömmliche Landkarten überflüssig
und gehört heute zu den
Pflicht-Apps auf jedem
Smartphone.
2007
Steve Jobs präsentiert in
San Francisco das erste
iPhone und verspricht eine
Revolution: «Wir werden
das Telefon neu erfinden.»
Seitdem wurden 700 Millionen iPhones weltweit
verkauft. Apple stieg zum
wertvollsten Konzern der
Welt auf.
Durchbruch für die App:
Apple lanciert seinen App
Store, eine Plattform für
Computerprogramme.
2008
In einem White Paper zur
Kryptowährung Bitcoin wird
erstmals das Konzept der
Blockchain beschrieben,
eine Art digitales Kassenbuch, mit dem Transaktionen ohne Zwischenschaltung von Banken abgewickelt werden können.
2010
Erneuter Coup von Apple.
Es bringt mit dem iPad sein
erstes Tablet auf den Markt.
Es ist auch für Verlage interessant, Springer-Chef
Mathias Döpfner sieht darin
die Rettung seiner Branche.
2014
Google stellt sein autonomes Fahrzeug vor, das ohne
Editorial
Worauf es
ankommt
PATRIK MÜLLER, Chefredaktor
In dieser Woche gab es in den US-Medien
nur ein Thema: die Präsidentschaftswahlen. Hillary oder Trump? Um nichts anderes ging es auf CNN und auf den Frontseiten der Zeitungen und in Gesprächen mit
Taxifahrern. Man bekam den Eindruck,
die USA und die Welt würden sich komplett anders entwickeln, wenn der eine
oder die andere gewinnen würde. Gewiss, es sind zwei Persönlichkeiten, die
unterschiedlicher nicht sein könnten, mit
Programmen, die sich diametral zuwiderlaufen. Doch ist es wirklich diese Wahl, ja
ist es überhaupt die Politik, die darüber
entscheidet, wie wir in den nächsten Jahren leben, arbeiten, uns bewegen und
miteinander umgehen?
Unser Redaktionsteam verbrachte diese
Woche an jenen Orten, die noch grössere
Veränderungskraft haben als die US-Präsidentschaftswahl und andere politische
Weichenstellungen. Im kalifornischen Silicon Valley entscheidet sich in Garagen,
in Konzernzentralen und in Vorlesungssälen, wohin sich die Welt bewegt. Ein
Blick auf die wichtigsten Innovationen
seit der Entstehung des Internets (siehe
unten) genügt, um festzustellen, wie gewaltig der Einfluss der Tech-Pioniere auf
unseren Alltag ist. «Wir überschätzen,
was in einem Jahr geschieht, und wir unterschätzen, was in zehn Jahren geschehen kann», sagte einst Microsoft-Gründer
Bill Gates. Wie wahr. Nichts deutet darauf
hin, dass das Tempo der Veränderungen
in Zukunft abnimmt.
Müssen wir uns fürchten? Angst ist ein
schlechter Ratgeber. Im Silicon Valley
spielen sich viele fragwürdige Dinge ab,
gewisse Pioniere führen sich wie Gott auf
und haben Allmachtsfantasien. Das brauchen wir nicht. Aber vom Silicon Valley
lernen sollten wir schon. Vor allem: Optimismus. Der strahlte uns an allen Ecken
und Enden entgegen, als wir die Zentralen von Google, Facebook und Uber und
auch kleinere Firmen besuchten. Wer Erfolg hat, wird bewundert und nicht beneidet. Wer scheitert, muss sich nicht
verkriechen, sondern packt die nächste
Chance. Ist das bei uns auch so? Denken
wir darüber nach, zum Beispiel morgen,
an unserem Nationalfeiertag.
Den Präsidenten der Universität Stanford
haben wir gefragt, wie wir unsere Kinder
am besten auf die Welt von morgen vorbereiten können. John Hennessy antwortete: «Das Wichtigste, was Sie Ihren Kindern vermitteln können, ist die Freude
am Lernen.» Die Freude, nicht der Inhalt
sei entscheidend. Sagt der Pate des Silicon Valley. Irgendwie ermutigend.
[email protected]
Sie haben abgestimmt
Letzten Sonntag fragten wir:
Würden Sie Hillary Clinton oder
Donald Trump wählen?
59%
41%
Das autonome Fahrzeug von
Google.
Hillary
Clinton
die Hilfe eines Menschen
navigieren kann.
Donald
Trump
2016
Ergebnis vom 30.07.2016, Teilnehmer 1747
Der indische Hersteller
Ringing Bells beginnt mit
der Auslieferung seines Billig-Smartphones Freedom
251, das gerade einmal
4 Dollar kostet.
Frage der Woche
Sehen Sie in der digitalen Revolution mehr
Vor- oder mehr Nachteile für sich selbst?
Stimmen Sie online ab unter
www.schweizamsonntag.ch
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
nachrichten
5
Die Schweiz liegt
in Kalifornien
Auch der Nahrungsmittel-Riese
Nestlé hat Appetit auf digitale Innovationen. Im Gebäude der Schweizer Netzwerkorganisation Swissnex
beim Pier 17 lanciert der Konzern
aus Vevey VD mithilfe von Innovationsmanagerin Stephanie Nägeli
das Projekt «Henri@Nestlé». In diesem Rahmen können Start-ups Nestlé ihre Ideen schmackhaft machen.
Es geht um Themen wie virtuelle Realität, künstliche Intelligenz und darum, eine 150-jährige Firma up to
date zu halten. Vor Ort sind 14 Angestellte. Schon heute arbeitet Nestlé
mit Start-ups wie zum Beispiel Instacart, Feastly und SpoonRocket. (BWE)
Toni Schneider
Firmengründer und Investor
Bereits mit 19 Jahren wanderte Toni
Schneider nach Kalifornien aus.
Doch seine Herkunft ist ihm nach
wie vor wichtig. «A Swiss guy in San
Francisco» heisst sein Blog. Er gründete mit Partnern verschiedene
Start-ups – unter anderem den
E-Mail-Dienst Oddpost, den Yahoo
für 30 Millionen Dollar kaufte. Danach entwickelte Schneider den
Bloghosting-Dienst WordPress.com,
an dem er noch heute beteiligt ist.
Als Investor fördert er aber auch
Start-ups. So hat er beispielsweise
früh in die Fitness-Tracking-Firma
Fitbit investiert, die heute über eine
Milliarde Dollar wert ist. (RAS)
Daniel Graf
Leiter Marketplace bei Uber
Das Problem von Daniel Graf (41)
war, dass er bei seinem Karrierestart
der Zeit voraus war. Der Rheintaler
beteiligte sich nach seinem Studium
in Buchs sowie in den USA an der
Gründung von drei Firmen. Diese
entwickelten die erste MP3-Jukebox,
das erste Internetradio und -TV sowie den ersten Video-Live-Streaming-Dienst. Grafs Start-ups erregten Aufsehen, doch der durchschlagende Erfolg blieb aus. Erst nachdem ihn Marissa Mayer 2011 zu
Google geholt hatte, war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Er brachte Google Maps auf den Markt.
Nach dem Welterfolg fällte er
einen Fehlentscheid. Er wurde Produktchef bei Twitter. Nach einem
halben Jahr, der vertraglich kürzestmöglichen Zeit, kündigte er und
nahm eine Auszeit. Graf heiratete
und kaufte sich eine Farm mit einem
Quadratkilometer Land. Dort nimmt
er sich auch ab und zu eine Auszeit,
seit er Marketplace-Chef beim Online-Fahrdienst Uber ist. Treu bleibt
er sich bei der Kleiderwahl. Nicht
einmal zu seiner Hochzeit trug er
eine Krawatte. (MAU)
Diese Unternehmer und Start-up-Gründerinnen sind ins
Silicon Valley ausgewandert und haben sich durchgesetzt.
Claude Zellweger
Design-Chef HTC
Fotos: Patrick Zuest, Drew Altizer, Keystone,Lea Hepp, HO
Stephanie Nägeli
Innovationsmanagerin Nestlé
Lea von Bidder Gründerin von Ava
In den vergangenen sieben Jahren ist
Lea von Bidder neun Mal umgezogen. Weil sie ihren Master im Global
Entrepreneurship Program an drei
Hochschulen auf drei verschiedenen
Kontinenten absolvierte, weil sie danach eine Fabrik für Edelschokolade
in Indien gründete und – ganz aktuell – weil sie im Silicon Valley ihre
neue Firma vorantreiben will.
Beim Frühstück mit der 26-Jährigen aus dem Kanton Zürich merkt
man nicht, dass man der Gründerin
eines der vielversprechendsten
Schweizer Start-ups gegenübersitzt.
Ihre Firma «Ava» hat in der ersten
Finanzierungsrunde 2,6 Millionen
Dollar erhalten und wurde am vergangenen Dienstag in den USA lanciert. Es handelt sich dabei um einen Fertility-Tracker, ein Sensorarmband, das Frauen ihre fruchtbaren
Tage verrät. Im Gegensatz zu den
vielen Konkurrenzprodukten be-
rücksichtigen von Bidder und ihr
Team dabei nicht nur die veränderte
Körpertemperatur der Frau, sondern dazu noch eine Vielzahl an zusätzlichen Messwerten.
Das Produkt wurde von Schweizern entwickelt, es wurde in der
Schweiz getestet, und es wird grösstenteils von Schweizer Firmen
finanziert (Swisscom und Zürcher
Kantonalbank). Trotzdem lebt
von Bidder seit über einem halben
Jahr in San Francisco und hat dort
den Launch von «Ava» vorbereitet.
«Das Ganze wäre schon auch in
der Schweiz möglich gewesen»,
sagt sie. «Aber der Weg wäre
um einiges härter geworden.» Danach muss sie zu ihrem nächsten
Termin, sie trifft sich noch
mit einem potenziellen Investor.
Lea von Bidder und ihr Start-up
«Ava» sind im Valley angekommen.
Ins Silicon Valley kam er über Umwege. Und dennoch sei es unausweichlich gewesen, dass er einmal
hier arbeite und wohne, sagt Claude
Zellweger. Nach der Kantonsschule
studierte er in Montreux Design,
bildete sich in San Francisco weiter
und tat dann das, was hier so viele
tun: Er gründete eine Firma, eine
Beratungsfirma für Design. Nach
sechs Jahren wurde die Firma vom
taiwanesischen Elektronikkonzern
HTC aufgekauft und Zellweger zum
Design-Chef befördert. Seither gibt
der Schweizer den Smartphones von
HTC in San Francisco ihre Form.
Um sich im Tech-Hotspot durchzusetzen, hätten ihm sein Hintergrund als Schweizer und die Offenheit gegenüber Kalifornien geholfen,
sagt Zellweger. «Schweizer schauen
Dinge kritisch an und geben sich
nicht mit der erstbesten Lösung zu
frieden. Kalifornier hingegen sind
sehr euphorisch, probieren alles
aus. Die Kombination von beidem
ergibt eine gute Mischung.»
Seine siebenjährigen Kinder hält
er erst mal fern von Technik. «Zu
Hause leben wir so technologieagnostisch wie möglich», sagt der
44-jährige Familienvater. In den
ersten Jahren seien das Entdecken
der Natur und der Kontakt mit Menschen das Wichtigste. Technik wäre
da nur hinderlich, findet er. Und
auch Zellweger selbst lässt sich für
das Design seiner Geräte gerne von
der Natur inspirieren. (RAS)
(ZUS)
Urs Hölzle Senior Vice President Google
Daniel Borel
Logitech-Gründer
Schon früh zog es den Neuenburger
Daniel Borel (64) nach Kalifornien.
Nach absolviertem Physik-Studium
an der ETH Lausanne hängte er an
der Stanford University einen Master
an. 1981 gründete er zusammen mit
zwei Italienern die Logitech SA, die
mit Computermäusen weltbekannt
wurde. Borel gab 1998 die operationelle Leitung des Konzerns und
zehn Jahre später das Verwaltungsratspräsidium ab. 1992 verlieh ihm
die ETH Lausanne den Ehrendoktor-Titel. Seine Erfinder-DNA hat
Borel an seine Kinder weitergegeben. Ein Sohn und eine Tochter sind
heute erfolgreiche Start-up-Unternehmer im Silicon Valley. (RIK)
Urs Hölzle interessiert sich nicht für
Geld. Google könnte die erste Firma
mit einer Börsenkapitalisierung von
über 1000 Milliarden Dollar sein?
Dazu kann er nichts sagen. Es ist
nicht seine Welt, er kümmert sich
nicht um Aktienkurse. Hölzle ist Informatiker. Man könnte ihn auch als
einen der grössten Exporterfolge der
Schweiz bezeichnen. 1988 siedelte
der Liestaler mit einem ETH-Masterabschluss in der Tasche an die EliteUni Stanford über, wo er doktorierte. Danach lehrte er für einige Jahre
an der University of California in
Santa Barbara, bevor er in den Kontakt mit einem interessanten Startup kam: Google. Auch der Liebe
wegen – seine Frau studierte noch in
Stanford – nahm er einen Job bei der
damaligen Garagen-Firma an. Hölzle
war der achte Angestellte von
Google, heute ist er der drittälteste
Mitarbeiter. Sein Schweizerdeutsch
ist nur wenig eingerostet. 25 Jahre
lang lebte Hölzle nicht mehr im
Land, aber er war oft zu Besuch:
Der 52-Jährige war die treibende
Kraft hinter dem Google-Standort in
Zürich. Der ist mit derzeit 1800 Mitarbeitern das grösste Google-Zentrum ausserhalb der USA und wird
weiter ausgebaut. Hölzle ist für die
technische Infrastruktur des Konzerns verantwortlich. Neben Effizienz-, Sicherheits- und Umweltfragen
– Google will alle Rechenzentren mit
erneuerbarer Energie speisen – ist
ihm das grösste Wachstumsfeld des
Silicon-Valley-Riesen unterstellt: das
Cloud Computing. Darunter wird
die Auslagerung von Daten, Anwendungen und Analysen in leistungsfähige Rechenzentren verstanden. Das
garantiert Aufallsicherheit und Zugriff von überall her. Bis 2020 will
Hölzle mehr Umsatz mit Cloud Computing machen als mit dem heute
dominierenden Anzeigengeschäft.
Nach exakt einer Stunde ist die Zeit
des Senior Vice President um. Hölzle
hat nach wie vor einen engen Zeitplan. Google hat noch viel vor. (EHS)
David Marcus
Facebook-Messenger-Chef
Als ihn Mark Zuckerberg 2014 zum
Essen einlud, glaubte David Marcus
(43) erst an eine Kooperation mit
dem Social-Media-Giganten. Stattdessen warb ihn Zuckerberg ab.
Marcus verliess seinen Posten als
Chef des Online-Bezahlsystems Paypal und wurde neuer Leiter des
Facebook-Messengers. Damit hat
sich Marcus in der obersten Liga des
Valley etabliert. Seine Ambitionen
sind gross: Der Ausbau des Facebook-Nachrichtendienstes soll es unnötig machen, die Seite zu verlassen. Medienunternehmen müssten
ihre Nachrichten direkt in den Feed
stellen, sodass man gar keine NewsSeiten mehr besuchen muss.
Roger Huldi
Direktor «W Hotel»
Er hat schon Silicon-Valley-Berühmtheiten, den Rapper Snoop Dogg und
sogar den US-Präsidenten empfangen: Roger Huldi (im Bild mit Barack
Obama) führt in San Francisco eines
der besten Hotels, das «W», gleich
neben dem Museum of Modern Art
und unweit der Einkaufsmeilen gelegen (404 Zimmer, 9 Suiten). Huldi,
aufgewachsen in Zürich und Vater
zweier Kinder (18 und 19), kam via
Australien und Hawaii nach Kalifornien. Er setzt auf Ökologie: Den Honig für die Gäste gibts von Bienen
auf dem Hoteldach. Eben erhielt
Huldis Haus vom US-Hotelverband
den Award «Property of the year».
Margrit Mondavi
Weindame und Kulturförderin
Es gleicht einer Bestseller-Romanze,
wie die Schweizerin Margrit Kellenberger (geboren im Appenzell, aufgewachsen im Tessin) zum Top-Namen in der Weinwelt kam und zur
Grande Dame der wichtigsten Weinregion der USA, dem Napa Valley,
wurde. In den 60er-Jahren kommt
sie mit Mann und Kindern nach Napa und arbeitet für den MondaviWeinpionier-Familienbetrieb. Sie
verliebt sich in Robert Mondavi,
1980 heiraten die beiden. Sie wird
zur Kunst- und Kulturförderin der
Region. Robert verstarb 2008, doch
die 90-jährige Margrit ist in Napa immer noch eine Grande Dame. (ALF)
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
7
nachrichten
Ausland-News
Erdogan weist Kritik an
Repressionen zurück
ANKARA Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan weist
die Kritik des Westens an seinem
Vorgehen zurück. «Kümmert euch
um eure eigenen Angelegenheiten»,
sagte er laut «Spiegel Online» am
Freitagabend an die Adresse der EU
und der USA. Erdogan beklagte sich
über die mangelnde Solidarität der
westlichen Politiker mit der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli.
Den USA warf er vor, mit der Beherbergung des Predigers Fethullah Gülen Partei für die Verschwörer gegen
den türkischen Staat zu ergreifen.
Der Präsident bezeichnet Gülen als
Drahtzieher des Putschversuchs.
Für eine Auslieferung verlangen die
USA stichhaltige Beweise dazu. Seit
dem gescheiterten Militärputsch vor
zwei Wochen führen Erdogan und
seine AKP-Regierung eine grosse
Säuberungsaktion in Militär, Justiz
und Verwaltung durch. Repressionen gewärtigen auch Medienschaffende und Wissenschafter. Gemäss
dem türkischen Innenministerium
sind über 18 000 mutmassliche Gülen-Anhänger verhaftet und fast
50 000 türkische Reisepässe für ungültig erklärt worden. (FB)
Neuer Anlauf für Unabhängigkeit Schottlands
«Everywhere around the world they’re coming to Stanford»: Die Elite-Uni ist ein Talente-Magnet und Brutstätte des Valleys.
Reuters/Beck Diefenbach
Die heimliche Weltmacht
Stanford, Ort der Innovation,
produziert Talente wie kaum
eine andere Hochschule.
Was die Schweiz von ihr lernen
kann – und was nicht.
VON YANNICK NOCK
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Nur 13 Buchstaben veränderten die Welt.
1998 besuchten die Studenten Larry Page
und Sergey Brin ihren Informatikprofessor
John Hennessy und zeigten ihm ein Programm, das sie geschrieben hatten – eine
Suchmaschine. Hennessy tippte 13 Buchstaben ein: Gerhard Casper, den Namen seines
Universitätspräsidenten. Dann geschah, was
sonst nie passiert. Yahoo und Altavista verwechselten den Namen stets mit Casper, dem
freundlichen Geist. Doch die neue Maschine
spuckte tatsächlich das richtige Ergebnis aus.
John Hennessy sitzt in seinem Büro und
lacht, als er die Geschichte erzählt. Mittlerweile ist er selbst Präsident von Stanford.
«Als ich das Resultat sah, wusste ich: Hier geschieht gerade etwas Grosses.» Es war die Geburtsstunde von Google.
Heute, 18 Jahre später, führen die beiden
Studenten eine der wertvollsten Marken des
Planeten. Und Stanford gehört nicht nur zu
den Top-3-Universitäten weltweit, sie ist zu
einer heimlichen Weltmacht geworden. Sie
produziert Spitzenkräfte am Fliessband. Ohne die Hochschule würde das Silicon Valley
nicht existieren, sie ist Talentschmiede, Innovationsantrieb und Gründungspate in einem.
US-Präsident Barack Obama nennt die Universität «das Herz des Silicon Valley».
Dutzende brechen ihr Studium ab
Studenten aus allen Kontinenten tummeln
sich auf dem riesigen Campus, selbst in den
Semesterferien. Nur sind die Gesichter dann
jünger. Aspiranten mit glänzenden Augen
hetzen über das Gelände, alle mit demselben
Traum: nach Stanford. Ein Start-up gründen.
Die Welt verändern.
Doch längst nicht alle sehen die Innovationskraft Stanfords als die Zukunft der Universitäten. Gelehrte wie Studenten kritisieren die Hochschule für ihren UnternehmerGeist. Am besten brachte es der «New Yorker» 2013 auf den Punkt: «Ist Stanford noch
eine Universität?», fragte das Magazin, weil
jährlich Dutzende Studenten ihr Studium abbrechen, um für ein Hightech-Start-up zu
arbeiten. Der «Alles ist möglich wir verändern die Welt»-Geist steht oft konträr zum
wichtigen, aber im Vergleich langweiligen
Hochschulabschluss.
John Etchemendy, Rektor von Stanford,
weiss um das Dilemma. Er ist das Gegenteil
von Präsident Hennessy. Der Rektor ist ruhig,
spricht leise und ringt manchmal um die
richtigen Worte. «Ich empfehle eigentlich allen Studenten, die mich um Rat fragen, ihren
Abschluss zu machen», sagt er. Die eine, grosse Idee, die Googles und Facebooks dieser
Welt, seien absolute Ausnahmen, mache er
seinen Studenten klar. Den Träumen im Weg
stehen will er aber nicht.
Nicht nur der ungeheure Unternehmerdrang der Studenten unterscheidet Stanford
von den Schweizer Universitäten. Private
Geldgeber heben die Universität auf Spitzenniveau. Proteste wie 2013 an der Universität
Zürich, als die UBS ein Forschungszentrum
mit 100 Millionen Franken sponserte, gibt es
hier nicht. Geisteswissenschafter Etchemendy kann die Kritik nachvollziehen, für falsch
hält er solche Gelder aber nicht. Wie könnte
er auch? Stanford stellt in Sachen Drittmittel
alles in den Schatten. Mit Spenden-Marathons wie «The Stanford Challenge» holt sich
die Universität Rekordsummen. Die über fünf
Jahre angelegte Aktion spülte 6,2 Milliarden
Dollar in die Kasse – Summen, von denen
Zwei Spitzenunis im Vergleich
Stanford ETH
Zürich
Gründungsjahr
1891
1855
Trägerschaft
Privat
Bund
Studenten
15 700
19 200
Professoren
1930
500
Mitarbeiter
12 600
9000
Betreuungsverhältnis 1 zu 1,08
1 zu 2
Studiengebühren
pro Jahr
40 000
1200
Jahresetat
5,5 Mrd
1,7 Mrd
Nobelpreisträger
30
21
Ranking weltweit
3
9
«Vielleicht
kommt das
nächste grosse Ding aus
der Schweiz.»
PATRICK AEBISCHER
PRÄSIDENT DER ETH
LAUSANNE (EPFL)
Schweizer Universitäten nicht mal zu träumen wagen.
Für Patrick Aebischer, Präsident der ETH
Lausanne (EPFL) und erfolgreichster Sponsorenjäger der Schweiz, ist Stanford ein Vorbild. «Sie haben Google, und sie haben Nobelpreisträger», sagt er. Präsident Hennessy
erhielt gar einen Ehrendoktor der EPFL. Der
Universität gelinge es, herausragende Basisforschung und erfolgreiche Spin-offs zu kombinieren, sagt Aebischer.
Die Bewunderung ist gegenseitig. Stanford-Rektor Etchemendy hebt die ETH Zürich und die EPFL hervor. Ihm imponiert,
dass vom Bund finanzierte Universitäten in
den weltweiten Rankings Topplätze besetzen, allen voran die ETH Zürich, die es in die
Top 10 schafft.
Zu Beginn keine Fächerwahl
Kritik äussert Etchemendy hingegen am Bachelor-System, wo es vielen Studenten nur
noch darum gehe, möglichst schnell möglichst viele Punkte zu sammeln. «Studierende
sollten die Zeit haben zu reflektieren und
herauszufinden, worin sie wirklich gut sind»,
sagt er. In Stanford beginnt ein Student typischerweise mit einem Grundstudium, das
ihm noch keine Fächerwahl abverlangt. Das
kommt erst nach zwei Jahren. Ein Modell, an
dem sich auch die Schweiz orientieren will.
Die Universitäten planen unter dem Begriff
«Bologna 2020», die erste Phase des Studiums – den Bachelor – neu auszurichten. Künftig sollen Studenten nach dem Bachelor als
Grundstudium mehrere Master zur Auswahl
haben, nicht nur ein paar wenige. «Bevor sie
nicht ein Jahr auf dem Campus und in den
Vorlesungen verbracht haben, wissen junge
Studierende doch gar nicht, was ihnen wirklich zusagt», sagt Etchemendy.
Doch könnte die Schweiz überhaupt mit
dem Silicon Valley konkurrieren? «Den reinen
IT-Kampf haben wir verloren», sagt Aebischer.
In einem Bereich habe die Schweiz aber einen
grossen Vorteil: in der Gesundheit. «Mit Novartis, Roche und Nestlé stehen globale Player
vor der Haustür, das nötige Ökosystem ist also
vorhanden.» Aebischer träumt von einem
Health Valley in der Schweiz. Unmöglich sei
das nicht. «Die wahre Kraft des Silicon Valley
liegt darin, dass alle an Wachstum und an den
Erfolg glauben», sagt Aebischer. «Wenn wir
das auch tun, kommt das nächste grosse Ding
vielleicht aus der Schweiz.»
GLASGOW In Schottland beginnt
sich eine neue Unabhängigkeitsbewegung zu formieren. Gestern demonstrierten in der Innenstadt von
Glasgow bis zu 4000 Personen und
schwenkten die schottische Nationalflagge. Sie verlangen laut «BBC
News» ein neues Referendum über
die Unabhängigkeit von Grossbritannien. Die Schotten hatten sich 2014
für den Verbleib im Vereinigten Königreich ausgesprochen. Doch bei
der Brexit-Abstimmung vom 23. Juni
dieses Jahres stimmten 62 Prozent
der schottischen Wähler für den
Verbleib in der EU. Deshalb hält
auch die schottische Regierung eine
weitere Abstimmung für nötig. (FB)
16 Tote nach Absturz
von Heissluftballon
LOCKHART Ein Heissluftballon mit
16 Personen an Bord ist gestern im
Flug in der Nähe von Lockhart in Texas (USA) in Flammen aufgegangen
und in der Folge abgestürzt. Wie
«NBC News» unter Berufung auf die
lokalen Behörden schreibt, sind
nach ersten Erkenntnissen alle Passagiere zu Tode gekommen. Warum
des Flugobjekt Feuer fing, ist noch
nicht bekannt. Lockhart liegt in Zentral-Texas, rund 50 Kilometer südlich der Stadt Austin. (FB)
Gewinnzahlen
Schweizer Zahlenlotto vom
30.7.2016
7 8 11
13 16 39
Glückszahl
4
Replay
9
Die Gewinne
6+
0 à CHF
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4
1 650 à CHF
3+
5 739 à CHF
3
30 676 à CHF
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1 000.00
199.85
87.70
25.50
9.50
Jackpot 6,4 Mio. Franken
Joker
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9 à CHF
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2
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2
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177 329.00
10 000.00
1 000.00
100.00
10.00
Euro Millions vom 29.7.2016
1 21 26 40 50
2/4 Sterne
8 nachrichten
25
Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Das neue Leben
in der Uber-City
In San Francisco hat der App-Fahrdienst eine
andere Ausgangslage als in der Schweiz.
Im Alltag von San Francisco zählt Uber zu den wichtigsten Verkehrsmitteln.
VON ANDREAS MAURER
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In San Francisco gibt es ein Zeitalter
vor und nach Uber. Eine vierzigjährige
Geschäftsfrau aus dem Westen der
Stadt erzählt, wie es früher war. Für Taxifahrer sei eine Leerfahrt an den
Stadtrand zu wenig lukrativ gewesen.
«Sogar wenn ich ein Flughafentaxi Tage
im Voraus reserviert hatte, kam es vor,
dass es nie vorfuhr.» Manche Taxifahrer kehrten auf dem Hinweg um, wenn
ihnen am Strassenrand ein anderer
Kunde zuwinkte. Der öffentliche Verkehr komme für eine Fahrt ins Stadtzentrum nicht infrage. Die Busse verkehren unzuverlässig. Manche haben
nicht einmal einen Fahrplan.
«Uber ist das Beste, was San Francisco passieren konnte», sagt die Frau.
Der günstigere Preis spielt für sie keine
INSERAT
Rolle. Sie bestellt täglich via App ein
Auto des Fahrdienstes, weil der Service
besser ist. Ein Uber-Fahrer kann sich
keine schlechte Laune leisten. Sonst
verpassen ihm die Kunden mit einem
Klick eine schlechte Bewertung.
Der Untergang des Taxikartells
Die Taxifahrer von San Francisco konnten mit ihrem schlechten Ruf gut leben.
Die Stadt sorgte mit hohen Gebühren
und einer Limitierung der Lizenzen für
ein Unterangebot. Für Chauffeure, die
eine Taxilizenz ergattern konnten,
herrschten paradiesische Zustände. Ein
Taxifahrer berichtet: «Früher fuhr ich
durch die Strassen von San Francisco,
und überall winkten mir die Leute zu
und riefen ‹Taxi!›.» Heute steht er am
Strassenrand neben seinem leeren Wagen und ruft den Leuten «Taxi!» zu. Um
auf den gleichen Lohn wie früher zu
kommen, arbeite er zwölf statt sieben
Stunden pro Tag. Um am Flughafen einen Kunden zu finden, warte er drei
Stunden statt dreissig Minuten.
Disruption, das Zauberwort des Silicon Valley, bedeutet für Uber: Die neue
Technologie hat die Mobilität in San
Francisco revolutioniert, weil sie viel
besser ist als das bestehende Angebot
und einiges günstiger. Wie andere
Techfirmen hat Uber den Lebensalltag
in San Francisco verändert. Im Unterschied zu Google oder Facebook ist
Uber weltweit aber nicht nur virtuell,
sondern auch physisch präsent.
In San Francisco ist Uber mehr als eine Alternative zu Taxis. Der Taximarkt
der Stadt wurde bei der Gründung von
Uber vor sieben Jahren auf 140 Millionen Dollar geschätzt. Uber soll mittler-
weile das Fünffache erreicht haben. Die
Hälfte aller Uber-Fahrten in San Francisco wird über den neusten UberDienst «Carpool» abgewickelt. Die Fahrzeuge werden mit mehreren Kunden
gefüllt, die leichte Umwege in Kauf nehmen. Auch Pendler werden zu Chauffeuren: Sie nehmen auf dem Arbeitsweg Uber-Kunden mit. So verdienen sie
Geld und können die für Carpools reservierte Spur auf der Autobahn benützen. Das Angebot soll auch in der
Schweiz lanciert werden.
Das nächste Uber-Zeitalter
Der Markt hat in San Francisco ein
Staatsversagen gelöst. In Zürich oder
Basel wächst Uber nicht nur wegen juristischer Probleme langsamer als in
San Francisco. In der Schweiz ist das
Potenzial kleiner, weil die Konkurrenz
Keystone/Montage MTA
besser ist. Der öV funktioniert, und die
Taxis kommen zur vereinbarten Zeit.
Spätestens mit den nächsten Entwicklungsschritten wird Uber auch den Alltag in der Schweiz stärker prägen. Paris
und London sind die ersten europäischen Städte, in denen Uber auch Essenslieferungen
anbietet.
Weitere
Transportangebote von Blumen bis zu
Paketen sind in Vorbereitung.
In der Uber-Zentrale in San Francisco
werden noch viel grössere Pläne geschmiedet. Sobald selbstfahrende Autos im Verkehr sind, will Uber in diesen
Markt einsteigen. Privatpersonen und
Firmen sollen selbstfahrende Autos für
Uber als rollende Geldmaschinen
durch die Städte kurven lassen. Im Silicon Valley ist man optimistisch: Schon
in fünf Jahren soll der Schritt in das
nächste Uber-Zeitalter erfolgen.
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
ausland
Ausgegrenzt in der
«linksten Stadt der Welt»
9
DRUCK AUF MERKEL WEGEN TERROR
Schaffenskrise
einer Kanzlerin
San Franciscos Republikaner fürchten die Ächtung. Und das Silicon Valley fürchtet Trump.
Im politischen Berlin wurden diese
Woche so einige Wetten abgeschlossen. Wie lange würde es wohl dauern, bis die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela
Merkel wieder Druck von der kleinen Schwesterpartei CSU bekommt?
Nach 24 Stunden war es so weit.
«Mich persönlich hat das nicht überzeugt», verkündete Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) und
fügte gleich noch hinzu, dass sich
seine Meinung «ziemlich» mit der
des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs Horst Seehofer
decke.
Mit «das» meinte Söder den grossen Auftritt der Kanzlerin in Berlin.
Jedes Jahr in den Sommermonaten
stellt sie sich einmal ausführlich der
Presse. Eigentlich war der diesjährige Termin Ende August angesetzt.
Doch dann passierten die ersten islamistischen Anschläge in Deutschland: In Würzburg attackierte ein 17Jähriger aus Afghanistan oder Pakistan Passagiere in einem Zug, in Ansbach (Bayern) verletzte ein Syrer bei
einem Selbstmordattentat 15 Menschen. Beide waren als Flüchtlinge
nach Deutschland gekommen. Ein
paar Tage später unterbrach Merkel
ihren Urlaub in Brandenburg und
gab früher als geplant in Berlin ihre
grosse Pressekonferenz.
Und da kam auch jene Frage, die
zu erwarten gewesen war, weil sie
das ausdrückt, was viele Menschen
in Deutschland nun denken. «Was
«Das war ein
fundamentaler Fehler.»
BAYERNS FINANZMINISTER MARKUS SÖDER
(CSU) ÜBER MERKELS FLÜCHTLINGSPOLITIK
Republikaner Donald Trump: Keine Chance in San Francisco.
Key
Demokratin Hillary Clinton: Viele sehen in ihr ein Übel – aber ein kleineres.
VON OTHMAR VON MATT
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Er stellt die US-Fahne mitten in den
Raum. Dann fordert Jason P. Clark, der
Vorsitzende der Republikaner San
Franciscos, zum Treuegelöbnis gegenüber der US-Fahne auf. 17 Männer erheben sich, legen ihre rechte Hand aufs
Herz: «Ich schwöre Treue auf die Fahne
der Vereinigten Staaten von Amerika
und die Republik, für die sie steht, eine
Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.»
Unteilbar? Mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden? So unverbrüchlich
wie einst scheint das nicht mehr zu
sein im Amerika von heute. Die ungewöhnliche Runde, die sich in einem
Hinterzimmer der «Sausage Factory» in
der Castro Street versammelt hat, wirkt
ein wenig wie eine klandestine Tagung.
Es sind lauter homosexuelle Republikaner aus San Francisco, die sich für ihr
monatliches Log Cabin Meeting treffen.
Es nennt sich so in Erinnerung an Abraham Lincoln, den ersten republikanischen US-Präsidenten der Geschichte.
Er war in einer Log Cabin, einer Blockhütte, zur Welt gekommen.
Der konspirative Charakter ist kein
Zufall. Republikaner, vor allem Wähler
von Donald Trump, müssen ihre Gesinnung im San Francisco von heute verheimlichen. Ein Outing hätte unabsehbare gesellschaftliche und berufliche
Folgen. Die Republikaner fürchten ihre
Ächtung.
Politisch sind die Republikaner hier
seit Jahrzehnten marginalisiert. Bei den
Präsidentschaftswahlen von 2012 kamen sie auf nur 47 076 Stimmen oder
13 Prozent Wähleranteil. Das ist nichts
gegen die 301 723 Stimmen oder 83,4
Prozent Anteil der Demokraten.
Sechsmal konnten die Republikaner
seit 1904 die Präsidentschaftswahlen in
San Francisco gewinnen, letztmals vor
60 Jahren. Und 1964, kurz vor der
68er-Bewegung, stellten sie den letzten
Stadtpräsidenten. Inzwischen sind sie
in die Bedeutungslosigkeit abgesunken.
«San Francisco ist die linkste Stadt der
Die Republikaner von San Francisco in der «Sausage Factory».
Welt», sagt Fred Schein, 73. Er war bis
vor kurzem Präsident der Log Cabin
San Francisco. Es ist die lokale Gruppe,
welche die grösste republikanische Organisation für die Rechte von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen und Transgendern (LGBT) begründet hat. «Ich kenne
keine linkere Stadt und kein linkeres
Land auf der Welt. Schweden, Dänemark und Norwegen sind konservativer
als San Francisco.»
«Volksrepublik San Francisco»
Ähnlich sieht das Gene Epstein, 41, Senior Marketing Manager im Silicon Valley, der in San Francisco wohnt. «Meine Freunde sprechen nur noch von der
‹Volksrepublik San Francisco›», sagt er.
«Weil es hier nur noch eine Partei gibt,
die Demokraten. Das ist wie einst in
der DDR.» Epstein muss es wissen. Er
wuchs in der Sowjetunion auf, wanderte in die USA aus und verenglischte dafür seinen Namen.
Inzwischen hat er nicht nur den Namen an die örtlichen Verhältnisse angepasst. Er gibt sich auch politisch höchst
zurückhaltend. Er hütet sich davor,
sich in San Francisco als Republikaner
zu outen. Das sei zu heikel, es drohe
ATT
ihm Ausgrenzung. «Dass ich homosexuell bin, kann ich an der Arbeit offen deklarieren», sagt er. «Dass ich Republikaner bin, würde ich hingegen nie eingestehen.» Selbst Bekannte wissen davon
nichts. «Ich weihe nur langjährige
Freunde ein.» Er sei zu «100 Prozent»
einverstanden damit, was die Transgender-Aktivistin Caitlyn Jenner während des Konvents der Republikaner
vor eineinhalb Wochen gesagt hatte:
«Es ist viel einfacher, ein Coming-out
als Transgender zu machen denn als
Republikaner.» Jenner war Goldmedaillen-Gewinner der Olympischen Spiele
von 1976 im Zehnkampf. 2015 outete
sie sich als Transfrau.
Epstein ist nicht der einzige Republikaner aus San Francisco, der seine politische Gesinnung aus Angst vor Repressionen verheimlicht. Viele gehen genauso vor. Wie der renommierte Wirtschaftsjournalist Ralph* aus San Francisco. Er will anonym bleiben. Ralph
bezeichnet sich selbst als «liberalen Republikaner». Im Gegensatz zu Epstein
ist für ihn klar, dass er Trump wählt. Er
glaubt an dessen Verhandlungsfähigkeiten. Im Büro spreche er aber nicht über
seine politische Gesinnung, sagt er.
Key
Und schon gar nicht, dass er Trump
wählen möchte. «Das käme nicht gut
an in einer Stadt wie San Francisco.»
Für Gene Epstein zeigt das, dass die Polarisierung ein ungesundes Mass angenommen hat. Er gibt den Medien die
Schuld am Hassklima. «Sie stellen uns
Republikaner seit Jahrzehnten als Rassisten und Fremdenfeinde dar», sagt er.
Sie zeichneten mit System das Bild der
«bösen Partei der Reichen».
In San Francisco, vor allem im Silicon Valley, wächst die Sorge über einen
allfälligen US-Präsidenten Trump. Umso mehr, als diese Woche eine CNNWählerumfrage Trump erstmals vor
Hillary Clinton sah. Die Voten über
Trump fallen nicht sehr wohlwollend
aus. Der hohe Manager eines Tech-Konzerns sagt lakonisch: «Donald Trump?
Ich weiss nicht, wie man den Namen
schreibt.» Und ein Stanford-Professor
hält fest: «Donald Trump wäre eine Katastrophe. Eine Katastrophe für die
ganze Welt.» Im Silicon Valley nennt
man Trump inzwischen in einem Atemzug wie den Brexit in Grossbritannien.
Man hört den Vergleich mit Boris Johnson. Und sogar mit Marine Le Pen.
145 Manager aus dem Silicon Valley
sprachen sich in einem offenen Brief
gegen Trump aus. Er stehe für «Zorn,
Fanatismus und Angst vor neuen Ideen
und Leuten und die grundsätzliche
Idee, dass die USA schwach und auf
dem absteigenden Ast» seien.
Ganz anders sieht das eine andere
Grösse des Silicon Valley. Paypal-Gründer und Facebook-Verwaltungsrat Peter
Thiel unterstützt Trump. Er war es,
dem es als erstem Redner an einem republikanischen Parteitag überhaupt
vorbehalten war, offen über seine Homosexualität zu reden. «Ich bin stolz,
schwul zu sein. Ich bin stolz, Republikaner zu sein», rief Thiel ins Rund –
und erntete Standing Ovations.
Thiel war für die gebeutelten Republikaner von San Francisco ein kleiner
Lichtblick in eher düsteren Zeiten.
* Name der Redaktion bekannt
sagen Sie», fragte eine niederländische Journalistin Merkel, «wenn Ihnen jemand auf der Strasse vorwirft,
die Willkommenskultur sei an den
Anschlägen von Würzburg und Ansbach schuld?» Merkels Antwort war
knapp: «Das Verweigern der Humanität» hätte womöglich noch gravierendere Folgen gehabt.
Sie sprach auch erneut jenen Satz,
den sie schon vor einem Jahr gesagt
hatte und der in die Geschichtsbücher eingegangen ist: «Wir schaffen
das.» Doch die Zweifel daran werden immer lauter. Merkels Willkommenskultur, die mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland
brachte, stand bereits zu Jahresanfang auf dem Prüfstand. Viele, die
den Kurs der Kanzlerin zunächst
mitgetragen hatten, waren von den
sexuellen Übergriffen auf Frauen
durch Flüchtlinge in der Silvesternacht in Köln so schockiert, dass sie
sich von Merkel abwandten. Doch
Merkel konnte dem Sturm trotzen,
weil die Zahl der Neuankommenden
durch die Schliessung der Balkanroute rapide zu sinken begann. Nun
aber geht es um eine neue Dimension der Angriffe und der Druck auf
Merkel wächst täglich.
Es sei ein «fundamentaler Fehler»
gewesen, die Flüchtlinge zum Teil
unkontrolliert ins Land gelassen zu
haben, kritisiert Söder. Natürlich
werde man Menschen in Not weiterhin helfen. «Aber bei dem Thema ist
Blauäugigkeit wirklich das falsche
Konzept, sondern der erste Ansatz
heisst Sicherheit.» Nicht nur die Alternative für Deutschland (AfD), sondern auch Rechtspopulisten aus
ganz Europa wie Geert Wilders (Niederlande) und Heinz-Christian Strache (Österreich) fallen über Merkel
her. Auch in CDU-Kreisen ist man
höchst alarmiert, gleichzeitig aber
hilflos. Und so hegt man zwischen
Kanzleramt, Bundestag und Parteizentralen nicht nur einen menschlichen, sondern auch einen politischen Wunsch: Dass in Deutschland
nicht auch noch ein wirklich grosser
islamistischer
Terrorangriff
geschieht, so wie in Paris oder Nizza,
wo es Dutzende Tote gegeben hat.
BIRGIT BAUMANN, BERLIN
morgen
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
leben & wissen
DER PATE DES SILICON VALLEY
John Hennessy ist
Präsident der EliteUniversität Stanford.
Seiten 16/17
Das Internet wird begehbar
Das Silicon Valley ist im Bann einer neuen Technologie.
Wie die virtuelle Realität unsere Welt verändern wird.
VON RAFFAEL SCHUPPISSER
Illustration: Viktor Koen
25
Jah re Int ernet
G
rosses entsteht oft in
der Garage. Steve Jobs
hat den Apple-Computer in der Garage entwickelt, Bill Gates das
Betriebssystem Microsoft und Larry Page
zusammen mit Sergey Brin die Suchmaschine Google. Die wohl letzte
grosse Garagen-Erfindung stammt
von Palmer Luckey. 2011 hat der damals 19-Jährige in der Garage seiner
Eltern in Los Angeles die Cyberbrille
Oculus Rift entwickelt. Setzt man sie
auf, hat man das Gefühl, man stehe
mitten in einer andern Welt, in einer
virtuellen Realität.
All diese Erfinder haben eins gemeinsam: Sie haben nicht nur in der
Garage eine Firma gegründet. Sie haben eine ganze Industrie begründet.
Mark Zuckerberg – der Facebook
übrigens nicht in der Garage, sondern
im Schlafzimmer lanciert hat – meinte
unlängst: «Die virtuelle Realität ist die
nächste Plattform.» Nachdem das
Smartphone den Bildschirm auf Hosentaschenformat geschrumpft hat,
ist er nun dank Virtual Reality (VR)
grenzenlos gewachsen: Zum ersten
Mal starren wir nicht mehr auf eine
rechteckige Fläche, sondern sind Teil
einer digitalen Welt.
Vor zwei Jahren hat Facebook Palmer Luckys Firma Oculus für 2 Milliarden Dollar gekauft. Kein schlechter Deal, bedenkt man, dass nun alle
grossen Technikfirmen mit Hochdruck an eigenen Brillen arbeiten.
Und unzählige Start-ups VR-Applikationen entwickeln. «Wer eine Idee hat,
der findet schnell Risikokapital. Das
geht im Moment fast zu einfach», sagt
Toni Schneider. Der Schweizer Investor lebt seit knapp 30 Jahren im Silicon Valley. Seinen ersten Job fand er
in den 90er-Jahren bei einer VR-Firma
– damals war die Technik aber noch
nicht weit genug, und das Projekt
wurde wieder eingestellt.
Das ist nun anders. Es gibt bereits
zahlreiche Apps für die Brillen Oculus
Rift und HTC Vive. Viele davon sind
Games. Doch dabei wird es nicht bleiben. «Ich bin überzeugt, dass soziale
VR-Anwendungen sehr erfolgreich
werden», sagt Schneider. Freunde,
die auf verschiedenen Kontinenten leben, würden sich in Zukunft in der
virtuellen Realität treffen und gemeinsam Zeit verbringen. Telefonkonferenzen würden nicht mehr über
Skype geführt, sondern in der virtuellen Realität abgehalten.
Ein Start-up, das die virtuelle Realität zu einem sozialen Ort macht, ist
Altspace VR aus dem Silicon Valley.
Fortsetzung auf Seite 12
INSERAT
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12 morgen
Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Im Bett
mit einem
Pornostar
So real waren Pornos noch nie: Virtual Reality
läutet eine neue Sex-Ära ein. In San Francisco
trifft sich die Branche und plant die Zukunft.
So sieht man einen Erotik-Film über eine Virtual-Reality-Brille, hier bei einer Präsentation in Cannes.
VON SARAH SERAFINI
UND BENJAMIN WEINMANN
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In San Francisco traf diese Woche die
Pornoindustrie auf die Tech-Branche.
Im über hundertjährigen, schlossähnlichen Gebäude von Kink, einer der
grössten Produktionsfirmen für Fetisch-Filme, spielt ein DJ elektronische
Musik. Der Gastgeber untermauert
mit der opulenten Dekoration – roter
Spannteppich, schwere Vorhänge und
protzige Möbel – die Goldgräber-Stimmung im Raum. In den letzten Jahren
litt die Pornobranche unter der Rezession und Websites wie Youporn und
Pornhub, die ihre Inhalte gratis zur
Verfügung stellten. Wurden in Spitzenjahren bis zu zehn Milliarden Dollar umgesetzt, so sind es jetzt laut
Branchenkennern halb so viel. Doch
nun scheint es wieder aufwärtszugehen. Die grosse Hoffnung ruht auf der
Virtual-Reality-Technologie (VR).
Da ist die Pornodarstellerin im kurzen, eng anliegenden Kleid auf hohen
Hacken. Daneben der schwule Filmproduzent, der den Gästen zuprostet.
Noch eher im Hintergrund hält sich
Fortsetzung von Seite 11
«Wir wollen das beste gemeinsame Erlebnis für VR ermöglichen, das es gibt», sagt
Bruce Wooden von Altspace VR. Die App
ist in einer ersten Version bereits für alle
VR-Brillen verfügbar. Altspace ist der Ort,
an dem sich die ersten VR-Enthusiasten
mit ihren Avataren treffen, sich über Mikrofon unterhalten und zusammen Spass
haben. Manchmal legt auch ein DJ auf,
oder es tritt ein Künstler auf. Als der amerikanische Komiker Reggie Watts in Altspace die virtuelle Bühne betrat, waren
über 1000 Avatare im Publikum.
Noch sind die Brillen klobig, teuer und
setzen einen leistungsstarken PC voraus.
Doch die Computertechnologie entwickelt
sich bekanntlich exponenziell. Man
braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die dritte oder vierte Generation der Brillen sowohl angenehm zu
tragen ist als auch ohne PC auskommt,
weil der Prozessor bereits integriert ist.
«Haben die VR-Brillen erst einmal den
Massenmarkt erobert, wird Altspace zu
einer stark bevölkerten Metropole werden», sagt Bruce Wooden, und seine dunklen Augen leuchten.
Zeit, mit Bruce Wooden nach Altspace
zu reisen.
Das zweite Second Life
In der Realität sieht der VR-Nerd mit seinen Rastalocken, der schwarzen Wollmütze und der randlosen Brille ein bisschen
wie ein intellektueller Rapper aus. In der
virtuellen Realität wird er von einem comicartigen Avatar mit etwas zu eckigem
Kopf verkörpert. Und dennoch: Seine
ein älterer Mann mit weissem Hemd
und bunter Krawatte. Er entwickelt
VR-Brillen und ist zum ersten Mal an
einem Event wie diesem. So unterschiedlich sie auch sind, sie alle sind
am selben Thema interessiert: Porno
trifft auf Virtual Reality. Was das
heisst, demonstriert Anna Lee, Präsidentin der kanadischen Holofilm Productions, an ihrem Stand.
Im Schlafzimmer dabei
Die VR-Brille ist schwer und drückt
auf die Nase. Auch, dass rundherum
fremde Menschen stehen, ist nicht gerade entspannend. Doch als der Film
anläuft, gerät das störende Umfeld in
den Hintergrund. Zwei Blondinen in
Spitzenunterwäsche sitzen auf einem
samtbezogenen Sofa und beginnen
sich auszuziehen und lächeln dem Betrachter lasziv ins Gesicht. Das sieht so
unmittelbar aus, dass es einem die
Schamesröte ins Gesicht treibt. Vor allem dann, wenn sich die Darstellerin
umdreht und ihren nackten Po in die
Kamera hält und der Zuschauer sich
nur wenige Millimeter davon entfernt
wähnt.
Stimme, die Art und Weise, wie er seinen
Kopf bewegt, mit den Händen gestikuliert,
ist unverkennbar.
Altspace besteht aus verschiedenen Räumen: Einer sieht aus wie aus einem Science-Fiction-Film, ein anderer ist einer mittelalterlichen Taverne nachempfunden.
Man kann hier zum Spass fechten und
Brettspiele spielen. In einem anderen Raum
befindet sich eine grosse Leinwand, auf der
man sich Youtube-Videos anschauen kann.
Und ein weiterer Raum sieht aus wie ein
Museum. An den Wänden sind Bilder aufgemacht, die ein Künstler in seinem TumblerBlog veröffentlicht hat. Statt dass man sich
am Computer durch die Bilder klickt,
schreitet man um sie herum, betrachtet sie
aus verschiedenen Perspektiven. Das Internet wird zu einem begehbaren Ort.
Damit beginnt eine Vision Realität zu
werden, die Science-Fiction-Autoren wie
William Gibson («Neuromancer») oder
Neal Stephenson («Snowcrash») in ihren
Büchern vorhergesagt haben: Eine Welt,
die bloss aus Bits und Bytes besteht, sich
aber real anfühlt.
Philip Rosedale träumt seit seiner Kindheit davon. Bekannt wurde der amerikanische Internet-Unternehmer als Gründer von Second Life, jener Online-Parallelwelt, die einst ein Millionenpublikum
in Bann zog. Mittlerweile arbeitet er in
seinem Loft-Büro in San Francisco am
Nachfolger High Fidelity. «Jetzt endlich
ist die Technologie so weit, um das möglich zu machen, was ich schon mein ganzes Leben lang tun wollte», sagt der 47jährige Rosedale und fährt sich mit der
Hand durch sein mittlerweile grau gewordenes Haar.
Anna Lee produziert seit einem Jahr
VR-Pornos. Sie sagt: «Meine Träume
werden gerade wahr. Unsere Umsätze
verdoppeln sich jeden Monat.» Es wäre
nicht das erste Mal, dass die Pornoindustrie eine Vorreiterrolle einnimmt
bei der Verbreitung einer neuen Technologie. Sie war ein wesentlicher Treiber bei Erfolgsgeschichten von Videokassetten, Blu-ray Discs und den Internetformaten. Die beiden Branchen bedingen und fördern sich ständig.
Besonders viel Aufmerksamkeit geniesst an diesem Abend Ela Darling.
Die Darstellerin ist aus der Porno-Metropole Los Angeles angereist und gilt
als Branchenpionierin. Seit zwei Jahren produziert die 30-Jährige VR-Pornos in Form von bis zu dreistündigen
Live-Übertragungen. Die Kamera habe
ihr Businesspartner, ein Programmierer, entwickelt. Und inzwischen arbeiten rund 20 weitere Frauen für sie.
Für Darling ist klar, dass VR nicht
bloss ein Trend ist, so wie etwa der
3-D-TV. «VR-Filme bieten viel mehr Nähe und Intimität.» Dies habe auch Folgen für das Verhalten ihrer Fans. Bei
früheren Webcam-Shows, bei denen
Der neue Steve Jobs
Palmer Luckey, der Erfinder der Virtual-Reality-Brille Oculus Rift, hat es bereits auf das Cover des
«Time Magazine» geschafft. Warum Virtual Reality unsere Gesellschaft
verändern wird, titelte das
Magazin aus New York.
ihr die Zuschauer schreiben konnten,
seien sie viel ungezügelter gewesen.
«Jetzt sind sie respektvoller, weil sie
sich mitten in meinem Schlafzimmer
fühlen, von Angesicht zu Angesicht.»
Natürlich komme es auch vor, dass
sich mancher in mich verliebt.» Zu ihren Abonnenten gehörten vor allem
Amerikaner. Ein paar Schweizer seien
aber auch dabei.
Folgen für den realen Sex
Für die Vertreter von «Ruby VR» ist der
Porno-Event noch immer ein Neuland,
wie Mahmoud Mattan erklärt. Zwar
stelle man schon länger VR-Brillen aus
Karton für Handys her. Doch erst seit
kurzem wage sich die Firma damit
auch auf den Pornomarkt. «Inzwischen haben wir über 100 000 Stück
verkauft.» Einfache Modelle gibt es ab
2 Dollar, teurere für 35. Damit sind sie
deutlich günstiger als die professionelleren Modelle von Samsung oder der
Facebook-Tochter Oculus, die mindestens 100 Dollar kosten.
Damit VR den Mainstream-Durchbruch schaffe, müssten noch mehr
Leute eine Brille besitzen, sagt Mat-
Dass die Parallelwelt Second Life, in der
Menschen Häuser bauen und Geschäfte eröffnen können, zu keinem nachhaltigen
Erfolg wurde, dafür sieht Rosedale zwei
Gründe. Erstens haben die Menschen doch
nie ganz in die Welt eintauchen können,
sondern bloss wie bei einem Computerspiel bloss in einen Bildschirm gestarrt.
Zweitens haben sie nicht mit ihren Händen
mit der Welt interagieren können, sondern
bloss mit Maus und Tastatur.
«All das wird damit anders», sagt Rosedale und zeigt auf eine VR-Brille und zwei
neuartige Touch-Controller, die neben ihm
auf einem Tisch liegen. Die Brille gibt
einem das Gefühl, man sei tatsächlich in
der Parallelwelt, und die Controller dienen
als Hände; man kann damit Gegenstände
aufheben, damit beim Reden gestikulieren
und einander die Hände schütteln.
Zeit, mit Philip Rosedale nach High Fidelity zu reisen.
Wer schafft den Durchbruch?
Während Rosedale beziehungsweise sein
etwas jüngeres Abbild durch High Fidelity
schreitet, beginnt er zu erzählen: «Diese
Welt kann so wichtig werden wie die richtige Welt, vielleicht sogar noch wichtiger.»
Rosedale vergleicht die momentane VREntwicklung mit der Smartphone-Revolution. In sieben bis zehn Jahren würden
VR-Brillen so verbreitet sein wie heute
Smartphones. «Dann werden in dieser
Welt eine Milliarde Menschen leben», sagt
der High-Fidelity-Entwickler und macht
mit seiner Hand eine ausufernde Bewegung über das noch brachliegende digitale
Land, das bis in die Unendlichkeit reicht.
Platz gibt es hier auf jeden Fall genug.
AFP/Valery Hache
tan. In den USA hatte kürzlich die
«New York Times» günstige Kartonbrillen an rund 1,5 Millionen Kunden
gratis abgegeben. «Die Frage ist auch,
wann Hollywood erste VR-Kinofilme
produzieren wird.» Der neue «Ghostbusters»-Film habe zumindest online
bereits mit kleineren VR-Clips geworben. Facebook und Google würden
zurzeit massiv in die Weiterentwicklung von VR investieren. «Nach dem
Radio kam das Fernsehen, dann das
Internet und das Smartphone. Jetzt
steht die Ära der Virtual Reality vor
der Tür», sagt Mattan.
In den kommenden Monaten wird
das VR-Angebot auf Pornokanälen rasant steigen, darin sind sich die Besucher an diesem Abend einig. Doch wie
wird sich das neue Medium auf das Sexualverhalten in der realen Welt auswirken? Die Reise in die virtuelle Welt
der unbegrenzten Porno-Möglichkeiten wird noch intensiver, noch echter.
Als Nächstes wird die Verknüpfung
des Erlebten auf der Brille mit sensorischen Sexspielzeugen angestrebt. Der
Kampf um echten und realen Sex hat
erst begonnen.
Jeder Mensch, jede Firma, jede Schule,
jedes Land kann hier auf einem Grundstück sein Tun auf die virtuelle Realität
ausweiten. High Fidelity basiert auf dem
Open-Source-Prinzip. Jeder kann sich das
Programm herunterladen und selber eine
Welt erschaffen. Rosedale und sein Team
stellen bloss das Programm zur Verfügung
und verwalten die virtuellen Adressen – so
wie das Network Information Center die
Domains des Internets vergibt.
Geht es nach Rosedale, wird High Fidelity nicht einfach eine App, sondern etwas
viel Grösseres: nämlich die Infrastruktur
eines neuen, begehbaren Internets.
Virtual Reality hat das Potenzial, zu einer disruptiven Technologie zu werden,
also Bestehendes völlig zu verändern.
Kürzlich prophezeite die Technikbibel
«Wired»: «Der VR-Gewinner wird die
grösste Firma in der Geschichte werden.»
Die Firma könnte High Fidelity heissen.
Oder Altspace VR. Oder, und das ist nicht
unwahrscheinlich, ganz anders. Vielleicht
wurde sie noch gar nicht gegründet.
Dass sie aber Google oder Facebook
heisst, das hält zumindest Toni Schneider
für sehr unwahrscheinlich. «Bisher hat jede grosse Tech-Revolution eine neue,
mächtige Firma hervorgebracht», sagt der
Investor und Silicon-Valley-Kenner.
Im Hauptsitz von Facebook, dort wo
jetzt Palmer Luckey und sein Team an der
VR-Zukunft arbeiten, hängt noch immer
ein Firmenschild von Sun Microsystems.
Dem einstigen Computerriesen gehörte
der Campus, ehe er einging. Das Schild
soll die Facebook-Mitarbeiter daran erinnern, wie schnell alles vorbei sein kann,
wenn man einen Trend verpasst.
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
morgen 13
Ctrl Alt Delete: Demokratie
Das Silicon Valley hat eine Vision: Die politikbefreite Gesellschaft. Enden wir in einer Diktatur der Daten?
Mitarbeiter mit Laptop auf dem Dach des Facebook-Campus im Silicon Valley.
VON CHRISTOF MOSER
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Falls die Welt da draussen untergeht?
Ein Lächeln huscht über das Bubengesicht von Kyle Gerstenschlager,
dem PR-Mann von Facebook, der uns
auf dem Firmengelände herumführt:
«Wir würden hier locker überleben!»
Das neue, gigantische, 40 000
Quadratmeter grosse Hauptquartier
des sozialen Netzwerks am Hacker
Way 1 in Menlo Park südlich von San
Francisco bietet Mitarbeitern alles,
damit sie möglichst ungestört von
Privatleben und Alltagssorgen ihrer
Arbeit nachgehen können: Arzt- und
Zahnarztpraxen, Coiffeursalons,
Bibliotheken, Fitnesscenter, Restaurants, Banken. Öffentlicher Verkehr?
Braucht hier niemand. Busse holen
die Belegschaft morgens am Wohnort ab und fahren sie abends wieder
zurück. Selbstverständlich auf der
Fastlane, vorbei an den Staukolonnen auf den chronisch überlasteten
Highways des Golden State und weit
weg von der heruntergekommenen
staatlichen Bahninfrastruktur in der
Bay Area.
Der Staat ist fern – und langsam
Die Tech-Mitarbeiter – nicht nur bei
Facebook, sondern auch im Nachbarstädtchen Mountain View bei
Google oder bei Twitter und Uber in
San Francisco – leben in einer eigenen Welt. Verlassen sie für einmal
das Firmengelände, vergessen sie zuweilen, nach dem Einkaufen an der
Ladenkasse zu bezahlen, weil sie gewohnt sind, dass sie sich alles gratis
nehmen können. Hier interessiert
man sich vor allem für das Unternehmen und sich selbst (in dieser Reihenfolge), aber kaum für Politik oder
gesellschaftliche Probleme, jedenfalls
nicht auf lokaler Ebene – warum
denn auch? Die Benutzeroberfläche
ihrer Welt wird nicht staatlich, sondern weitestgehend privat finanziert
und betrieben. Das geht so weit, dass
man sich fast etwas wundert, warum
die Ampeln an den Strassenkreuzungen um die Facebook-Zentrale wie
überall sonst auf Grün springen und
keinen Daumen nach oben anzeigen,
wenn die Fahrbahn frei wird.
Staatsferne gilt als einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren des Silicon Valley. So sagt der deutsche
Informatiker und Robotik-Spezialist
Sebastian Thrun, der bei Google die
sagenumwobene Forschungsabteilung Google X leitet (und seit 2014 im
Verwaltungsrat der Credit Suisse
sitzt), dass im Hightech-Tal an der
US-Westküste vor allem deshalb so
grenzenlos viel möglich ist, weil die
Regierung im fernen Washington mit
ihren langsamen demokratischen
Prozessen gesetzgeberisch immer
weit hinter den technischen Entwicklungen hinterherhinke. Das Motto
der Gründer und Erfinder im Silicon
Valley lautet denn auch: «Ask for forgiveness, not for permission», was so
viel heisst wie: Mach mal, und wenns
schiefgeht, kannst du immer noch
um Entschuldigung bitten.
Darauf bauen ganze Geschäftsmodelle auf, zum Beispiel jenes des Online-Fahrdienstvermittlers Uber, der
mit seiner App ins regulierte Taxigewerbe eindringt und damit weltweit
mit Zulassungsbehörden in Konflikt
gerät. Bewilligungen und Regulationen? Sind in der Uber-Welt schlicht
nicht vorgesehen. Entschuldigungen
allerdings auch nicht.
Redet man mit Uber-Entwicklern
am Firmenhauptsitz in San Francisco, machen diese keinen Hehl daraus, mit ihrem boomenden Geschäftskonzept gezielt disruptiv –
also zerstörend – gegen staatliche Regulierungsbestimmungen vorgehen
zu wollen. Und sie sehen sich dabei
nicht zuletzt deshalb im Recht, weil
sie bei der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur vielerorts ein Politikversagen orten.
Gefährliche Vision: Aushöhlung
der Demokratie durch Big Data
Was der Staat zum Beispiel im Grossraum San Francisco seit den 1970erJahren nicht mehr zu schaffen
scheint – ein modernes, qualitativ gutes öffentliches Verkehrsnetz für die
Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen –, will Uber schaffen: besser
und erst noch viel billiger. Alles, was
die Firma dafür braucht, sind möglichst viele Kunden mit einem Smartphone in der Hosentasche und ihrer
App auf dem Screen. Unerwähnt lassen die digitalen Vordenker allerdings, dass die marode Verkehrsinfrastruktur in Kalifornien mit einer
Politik zu tun hat, die ihnen entgegengekommen ist. Just in den 1970ern hat der spätere US-Präsident Roland Reagan als republikanischer
Gouverneur von Kalifornien mit seiner Steuerpolitik zugunsten der Unternehmen der Staatskasse viel Geld
entzogen, was den Tech-Firmen bis
heute beim Steuernsparen hilft, dem
Staat seither aber nicht beim Modernisieren der Infrastruktur.
Damit schliesst sich ein Kreis,
der seine Wirkung erst noch mit
voller Wucht entfalten soll. Die
Vordenker im Silicon Valley wollen
Staat und Politik längst nicht mehr
nur wegdimmen, sondern gänzlich
ausschalten.
Paypal-Gründer Peter Thiel zum
Beispiel, der sagt: «Ich glaube nicht
mehr daran, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind.» Es gehe
darum, neue Lebensräume zu finden, um der Politik zu entfliehen,
schrieb er 2009 in einem Essay, der
Patrick Züst
in der steilen These gipfelte, das
Wahlrecht für Frauen habe Kapitalismus und Demokratie zu einem Widerspruch gemacht. Ein Jahr zuvor
spendete Thiel 500 000 Dollar ans
«Seasteading Institute», von dessen
Mitbegründer Randolph Hencken
das Zitat überliefert ist: «Die Demokratie ist eine 230 Jahre alte Technologie. Können wir nicht mal etwas
Neues versuchen?» Seither lassen
Thiel und Co. nicht locker mit der
Idee, Mikrogesellschaften auf
schwimmenden Inseln zu gründen,
die sich allen bestehenden staatlichen Regeln entziehen sollen.
Doch viel gefährlicher als die abenteuerlichen Visionen der HightechExzentriker ist die Aushöhlung der
Demokratie durch Big Data, die
längst im Gang ist – und inzwischen
auch von Technologievisionären wie
Apple-Mitbegründer Steve Wozniak
oder Microsoft-Gründer Bill Gates als
«ernste Gefahr für die Menschheit»
bezeichnet wird.
Jedes Jahr verdoppelt sich die Menge der Daten, die wir produzieren,
was konkret bedeutet: Allein 2016
kommt eine Datenmenge hinzu, die
wir zuvor in der ganzen Menschheitsgeschichte produziert haben.
Mittels Algorithmen sollen diese Daten zur Automatisierung der Gesellschaft genutzt werden und die Politik
mit Technik überflüssig machen. Silicon-Valley-Ikone Tim O’Reilly nennt
dies «algorithmische Regulierung»:
Alles soll «smart» werden – Autos,
Strassen, Städte. Die Vision: Niemand soll mehr Gesetze brechen
können, weil Big Data das Brechen
von Gesetzen verhindert.
Ferne Zukunft? Keineswegs. Der
bekannte Internet-Vordenker und Silicon-Valley-Kritiker Evgeny Morozov
nennt als bereits existierendes Beispiel Handys, die erkennen, ob sie
verbotenerweise am Steuer eines
Autos benutzt werden – und in diesem Fall automatisch ihren Dienst
verweigern. Bald schon sollen auch
Kreditkartenbetrug und Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sein:
Die Daten verraten, wer mehr ausgibt, als er oder sie zu verdienen angibt.
Bereits angewendet und fast gänzlich unbestritten ist Big Data in der
Terrorismusbekämpfung: Geheimdienste wie die NSA sammeln für
nichts anderes als die frühzeitige Erkennung von terroristischen Aktivitäten die Daten von uns allen. Morozov
warnt davor: Statt die Ursachen von
Problemen zu bekämpfen – was die
Kernaufgabe der Politik sein sollte –,
werden Regierungen in Zukunft nur
noch die Auswirkungen der Probleme steuern.
Werte der Politik kommen
unter die Räder
Statt darüber nachzudenken, was zu
Terrorismus führt – soziale Ungleichheit zum Beispiel –, werden nur noch
deren Auswirkungen bekämpft.
Was beim Terrorismus die wenigsten
stören dürfte, wird sich schon bald
auf andere Bereiche ausdehnen.
Übergewicht? Kein Problem mehr
der Nahrungsmittelindustrie und
ihren Zuckerzusätzen, sondern nur
noch ein Problem des persönlichen
Verhaltens.
Unter die Räder kommen damit
Werte, die der Politik zugrunde
liegen sollten. Die Frage: Was wollen
wir als Gesellschaft – und warum?
Solche Überlegungen sind ineffizient
und werden wegoptimiert. So
gelange man zur technokratischen
Utopie von politikfreier Politik,
sagt Morozov – und in eine Diktatur
der Daten.
Wollen wir das?
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14 morgen
Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Das Tech-Monster treibt
Mietpreise in Rekordhöhe
Nirgendwo in den USA sind die Wohnkosten so hoch wie in San Francisco. Die Wut steigt.
VON FABIENNE RIKLIN, BENJAMIN
WEINMANN UND ANDREAS MAURER
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Doktorand wohnt in der Garage
Die günstigste Wohnung von San Francisco mit Bad und WC liegt in der Nähe
des Golden Gate Park. Das sagt zumindest deren Mieter Jean-Denis Benazet
(36), ein Molekularbiologe aus Frankreich. Für seine Forschung an der University of California verdient er 3000
Dollar. 1600 Dollar zahlt er für sein Studio, eine ehemalige Garage, welche die
Vermieterin illegal umgenutzt hat. Die
Miete verlangt sie bar auf die Hand.
Ungemütlich ist das Studio, weil die
Kloake der anderen Hausbewohner regelmässig aus der Toilette und der Dusche quillt. Nachts hält ihn die Frau des
oberen Stockwerks wach, die schlaflos
ihre Runden dreht. Als würde er mit
einer riesigen Ratte leben, sagt er. Mit
Nagetieren kennt sich Benazet aus.
Rund 2000 Mäuse habe er mit seinen
Versuchen bisher getötet. Der Biologe,
> Disruption
Danach strebt jedes Start-up. Disruptive Technologien sollen mit einem
neuen, innovativen Ansatz ganze
Märkte revolutionieren und bestehende Produkte komplett ersetzen. So hat
die DVD die klassische VHS-Kassette
verdrängt, so greift Uber derzeit das
Taxi-Gewerbe an.
> Künstliche Intelligenz
Ein Computer, der selbstständig lernt.
Das ist nicht nur die Basis für so manchen Science-Fiction-Film, sondern
auch die Grundlage für Maschinen, die
sich neuen Situationen dynamisch und
selbstständig anpassen können. So ergeben sich komplett neue technische
Möglichkeiten – vom selbstfahrenden
Auto bis hin zum autonomen und in
der Gesellschaft integrierten Roboter.
●
Es riecht nach Urin und Marihuana,
Menschen in zerlumpten Kleidern kauern in Hauseingängen und Bushäuschen: Im Tenderloin-Quartier in
San Francisco, unweit der Touristenströme, stehen Obdachlose an jeder
Ecke. Über 6600 Menschen leben hier
auf der Strasse, prozentual zur Bevölkerung so viele wie in keiner anderen
Stadt der USA. Ihr Hass gilt den gut verdienenden Mitarbeitern aus dem Silicon Valley. «Kill Tech Zilla» lautet der
Aufruf auf einer Graffiti-Wand im Mission-Quartier, in Anlehnung an das
Godzilla-Filmmonster.
Die «Monster» aus dem Valley können jede noch so hohe Miete bezahlen.
Die meisten Ingenieure wollen nicht in
Kleinstädten wie Palo Alto, Menlo Park
oder Mountain View leben, wo Facebook, Google und Co. ihren Hauptsitz
haben, sondern in der pulsierenden
Grossstadt. Sie lassen sich täglich mit
firmeneigenen Bussen zur Arbeit chauffieren. Die Miet- und Immobilienpreise
in der ehemaligen Hippie-Metropole
sind explodiert.
In den vergangenen Jahren wurde
die Mittelschicht aus der Stadt verdrängt. Lehrer, Polizisten, Krankenschwestern können es sich nicht mehr
leisten, hier zu leben. Sie verdienen oft
nicht mehr als 60 000 Dollar pro Jahr.
Zu wenig für ein Leben in der City. Eine
vierköpfige Familie benötigt gemäss
dem Insight Center for Community
Economic Development 90 000 Dollar
Jahreseinkommen, um die Grundbedürfnisse zu decken. Einige halten sich
mit zwei oder gar drei Jobs über Wasser, andere ziehen in Vororte und nehmen über einstündige Arbeitswege auf
sich. Die Stadt hat es verpasst, in die
Höhe zu bauen. So fehlen heute rund
40 000 Wohnungen für mittlere und
tiefe Einkommen.
Am augenfälligsten sind die Folgen in
der Tenderloin. Sabur (60) verbrachte
den grössten Teil seines Lebens auf der
Strasse, heute lebt er in einer Sozialwohnung. Er zeigt auf einen Wohnblock: «Den haben sie neu renoviert.
Jetzt kostet eine Zwei-Zimmer-Wohnung 3500 Dollar. Wie soll ich dies mit
meiner Sozialhilfe bezahlen?» Sabur
liess sein Baseball-Stipendium wegen
Drogen und Alkohol sausen. «Wers einmal verbockt hat, der schafft es nicht
mehr zurück – vor allem nicht als
Schwarzer.» Sabur hat sich aufgegeben.
Am Abend stellt er sich jeweils mit
Hunderten anderen Obdachlosen in eine Schlange für eine warme Mahlzeit.
Meist gibt es Reis mit Bohnen. Glutenfreie Burrito für 20 und Bierstangen für
8 Dollar bezahlen neureiche Mittzwanziger nur wenige Strassen entfernt im
Mission District, einem ehemaligen Unterschichtsviertel, das inzwischen gentrifiziert wurde.
Die wichtigsten
Begriffe des
Silicon Valley
> Venture-Capital
Damit ein Start-up den Sprung von
der Garage in die ganze Welt schafft,
braucht es Geld. Risikokapital – oder
eben Venture-Capital – von privaten
Unternehmern ermöglicht den Aufbau
der eigenen Firma und ist damit der
finanzielle Motor für Innovationen.
2015 wurden im Silicon Valley 34 Milliarden Dollar investiert.
> Augmented Reality
Während die Virtual Reality eine komplett künstliche Welt erzeugt, wird bei
der Augmented Reality (Erweiterte
Realität) die Welt digital ergänzt. Das
aktuellste Beispiel dafür ist die Smartphone-App «Pokémon Go». In Zukunft
sollen virtuelle Elemente auch über
Brillen oder gar über künstliche Kontaktlinsen eingeblendet werden.
> Cloud
Die digitalen Wolken stellen die
nächste grosse Revolution in der Informatik dar. Computerleistung soll
sich zukünftig fast komplett von der
lokalen Hardware lösen und ähnlich
wie Strom nur noch auf Nachfrage
bezogen werden. Das hat nicht nur
einen Einfluss auf das Speichern von
Daten (Dropbox, GoogleDrive), sondern vor allem auf das effiziente Ausführen von Programmen.
Oben: Graffiti als Ausdruck der Wut gegenüber den reichen Silicon-Valley-Angestellten. Unten links: Immobilienmaklerin
Amy Clemens. Unten rechts: Der Molekularbiologe Jean-Denis Benazet wohnt in einer umgebauten Garage.
HO/BWE/RIK
der in Basel doktorierte, sagt: «Selbst
die Mäuse haben in San Francisco weniger Platz als im Basler Labor.» Während seiner Studentenzeit in Basel habe
er problemlos eine günstige Wohnung
gefunden. Danach zog er nach Boston,
Los Angeles und New York. «Ich würde
nicht sagen, dass die Wohnung in
San Francisco meine bisher schlechteste ist. Es ist die einzig schlechte», sagt
er. In diesen Tagen zieht er zu seiner
Partnerin nach New York. Seine Vermieterin hat sofort einen Nachmieter
gefunden. Die Abwasserleitungen hat
sie nicht saniert.
Szenenwechsel: An der Bush Street
Nummer 900 leben die Menschen
nicht auf der Strasse oder in Garagen.
Die Umgebung strahlt zwar keinen besonderen Luxus aus, doch im mehrstöckigen Apartment-Komplex werden die
Bewohner von einem Concierge begrüsst. In der Miete inbegriffen sind ein
geheizter Swimmingpool, ein Fitnesscenter und ein Parkplatz. Aktuell steht
eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mit
Mini-Balkon zum Verkauf. Vor zehn Jahren hat ein Ehepaar diese für 400 000
Dollar gekauft. Jetzt ist sie für 689 000
Dollar ausgeschrieben – ein Schnäppchen für diese Gegend. Am Schluss
werden es mehr sein. Denn die zuständige Immobilienmaklerin Amy Clemens
weiss: «Die Interessenten überbieten
sich, manchmal sogar um bis zu hun-
dert Prozent, und bezahlen in bar.» Clemens nennt das «Aggressive Pricing».
Und wer kommt zum Zug? Am häufigsten kämen Investoren, die die Wohnung weitervermieten wollen, sagt Clemens. «Oft sind es auch reiche Eltern,
die ihren Kindern eine sichere Wohnung kaufen möchten, wenn sie aufs
College gehen. Und natürlich ‹Techies›,
die im Silicon Valley arbeiten.»
Um einen möglichst hohen Preis zu
erzielen, wurde ein «Staging» durchgeführt: Eine externe Firma brachte die
Wohnung auf Vordermann. Die privaten Möbel werden für Fotos und Führungen ausgetauscht. «Das wird in 80
Prozent aller Fälle gemacht», sagt Clemens. Auch im Apartment an der
Bush-Street sieht alles blitzblank aus.
Auf dem Salon-Tischchen liegt ein
Hochglanzbuch mit dem Titel «Great
Yachts and their Design».
Mehr Arme und mehr Reiche
Laut dem Immobiliendienst Zumper
sind die Mieten in den USA nirgendwo
höher als in San Francisco, mit einem
Median-Preis von 3590 Dollar für eine
Zwei-Zimmer-Wohnung. Damit hat die
Bay Area sogar New York überholt.
Doch nicht nur die Mietpreise sind
hoch. Gemäss der Immobilienfirma Paragon ist der Median-Preis für ein Haus
in San Francisco mit 1,36 Millionen Dollar sechsmal höher als im Rest der USA.
Dabei sind die Häuser nicht etwa hochwertiger oder luxuriöser. Einzig die
Nachfrage führte zu dieser exorbitanten Wertsteigerung. Ein Beispiel: Ein
nach dem Zweiten Weltkrieg für 5000
Dollar errichtetes Haus in der GoogleStadt Mountain View wird heute auf 2,5
Millionen geschätzt.
Nicht wenige sprechen bereits von
der nächsten Immobilienblase. Angenommen wird, dass das Wachstum zumindest stagniert. Dennoch sind zahlreiche Projekte für Luxus-Apartments
in der Pipeline. Manche davon nicht
nur mit Fitnesscenter und Pool. Der
neuste Trend: Velo-Garagen und Hunde-Waschsalons.
Trotz mehreren Initiativen der Stadt
wächst der Unterschied von Arm und
Reich weiter: Die Zahl der Empfänger
von Lebensmittelmarken hat ein ZehnJahres-Hoch erreicht und die Zahl der
Obdachlosen ist in zwei Jahren um 20
Prozent angestiegen.
Die Bewohner der Bush Street werden regelmässig von der Realität eingeholt. Es kommt zu Einbrüchen. «Das
sind keine professionellen Banden», erzählt eine Mieterin, «sondern Drogenjunkies aus der Tenderloin.» Die Sicherheitsleute seien jeweils rasch zur Stelle.
Neunzehn Überwachungskameras im
Gebäude registrieren sofort, wenn die
Nachbarn des Elendsviertels in die Luxuswelt eindringen.
> Pivoting
Wenn ein Geschäftsmodell nicht
funktioniert, dann wird es angepasst.
Im Silicon Valley wird dieses Pivoting
– also das konzeptionelle «Umschwenken» – nicht nur akzeptiert,
sondern sogar geschätzt. Allgemein
wird die Meinung vertreten: Wer
noch nie gescheitert ist, kann auch
keinen Erfolg haben.
> Fintech
Die disruptiven und innovativen Ideen
aus dem Silicon Valley machen vor
keiner Branche halt. Als Fintech werden Technologien bezeichnet, die in
der Finanzwelt angesiedelt sind und
die klassischen Banken konkurrenzieren sollen.
> Inkubator
Hier werden erfolgreiche Start-ups gezüchtet. Inkubatoren sind private oder
staatliche Organisationen, die junge
Firmengründer aktiv beim Aufbauen
ihres Unternehmens unterstützen – sei
es mit Büroräumen, NetworkingEvents oder individuellem Coaching.
> Hackathon
Bei den immer populärer werdenden
Veranstaltungen steht der Computercode im Mittelpunkt. Programmierer
treffen sich, um gemeinsam während
einer bestimmten Zeit an einem digitalen Problem zu arbeiten. Das können
Stunden oder Tage sein. Der grösste
Hackathon Europas wird im September in Zürich stattfinden.
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
das grosse interview 16
17
«Studenten sind heute viel klüger als früher»
Er gilt als Pate des Silicon Valley: John
Hennessy, Präsident der Elite-Universität
Stanford und Google-Verwaltungsrat,
unterrichtete viele der grossen
Technikpioniere. Im Interview spricht er
über Gründergeist, die ETH und räumt einen
riesigen Fehler ein.
Die fast monopolistische Dominanz
Googles ist dennoch ein Problem.
Sie dürfen nicht vergessen, dass solche
Firmen trotz ihrer Dominanz schnell
ersetzt werden können. In der Technologie gilt «easy come, easy go». Wenn
jemand eine bessere Idee oder eine
bessere Lösung findet, verliert man
schnell seinen Platz an der Sonne. IBM
war einst Platzhirsch, auch Microsoft
oder Yahoo. Und heute? Die Dinge ändern sich unglaublich schnell. Nur wer
sich weiterentwickelt, hält seine Vormachtstellung.
VON YANNICK NOCK, PATRIK MÜLLER (TEXT) UND PATRICK ZÜST (FOTO)
Das Büro ist ein Chaos. Offene Pappkartons versperren den Weg, Bilder und
Bücher liegen auf dem Boden. Mittendrin: John Hennessy, 63 Jahre alt, enthusiastisch wie ein Erstsemesterstudent.
«Kommen Sie rein», ruft er. «Aaah, die
Schweiz, ein tolles Land!» Hennessy tritt
nach 16 Jahren als Stanford-Präsident
zurück und räumt gerade auf. Er wechselt aber nur das Büro, der Universität
bleibt er erhalten. Hennessy hat die digitale Revolution geprägt wie kaum ein
anderer. Im Gespräch erzählt er von seinen Erlebnissen mit Apple-Ikone Steve
Jobs, den Google-Gründern und mit USPräsident Barack Obama.
Mr. Hennessy, welche Eigenschaft
unterscheidet Stanford von anderen
Spitzenuniversitäten der Welt?
John Hennessy: Es ist unsere Kultur:
die Mischung aus tiefgreifender Innovation und Unternehmergeist. Sie
durchdringt den gesamten Campus.
Wir lieben Veränderung, wir lieben es,
Pioniere zu sein. Wenn sich ein neues
Forschungsfeld auftut, wollen wir dabei sein.
Würde es das Silicon Valley ohne
diese Pionierfreude überhaupt
geben?
Stanford war sicher der Schlüssel.
Trotzdem müssen wir realistisch bleiben: Wenn wir nicht da gewesen wären, hätte wahrscheinlich eine andere
Universität unsere Rolle übernommen.
Das Silicon Valley wäre dann aber in einem anderen Teil des Landes. Trotz
der digitalen Revolution spielt die geografische Nähe eine riesige Rolle. Die
direkte Interaktion ist nicht zu ersetzen. Das sah man schon bei AppleGründer Steve Jobs. Seine ersten Erfahrungen sammelte er in unserem Computer-Club auf dem Campus. Und er ist
nicht der Einzige. Talente aus der ganzen Welt kommen nach Stanford. Und
was tun sie danach? Sie bleiben und arbeiten in einem Radius von 50 Meilen
um unseren Campus, bei Google, Facebook und den anderen Unternehmen.
Sie sind Stanford über Jahrzehnte
treu geblieben, leiten die Universität seit 16 Jahren. Wie haben sich
die Studenten über diesen langen
Zeitraum verändert?
Studenten sind heute viel klüger als früher. Sie waren schon immer schlau,
trotzdem ist das Niveau heute ein anderes, besonders was die Technik-Kenntnisse angeht. Das gilt nicht nur für
Stanford, sondern für das ganze Land
und ganz Europa. Ausserdem sind sie
deutlich entschlossener.
Das klingt, als wäre die heutige
Generation in allem besser.
Naja, sie sind auch ungeduldiger geworden. Sie wollen Veränderung, und sie
wollen sie schnell. Doch echter Wandel
dauert manchmal länger.
Sie haben den Aufstieg des Valley
an vorderster Front erlebt. Was
wurde versäumt?
Wir haben einen grossen Fehler begangen. Die Welt wäre heute ein anderer
Ort, wenn es uns gelungen wäre, in der
Frühphase des Internets ein gutes Zahlungssystem für Inhalte zu schaffen.
Damals wäre es einfacher gewesen, die
Gratiskultur gar nicht erst aufkommen
zu lassen. Wir hätten ein funktionierendes Business, statt dem, was wir heute
haben – ein «Hey seht, alles ist gratis!»
Trotzdem scheinen alle so rasch
wie möglich ins Business einsteigen
zu wollen.
Richtig, das ist ein Ergebnis der Googleund Facebook-Ära. Der Aufstieg der sozialen Medien hat die Studenten in ihrem Denken geprägt. Fünf Personen
können in einer Garage etwas austüfteln – und boom! – die Welt erobern.
Früher lag die Stärke eines Unternehmens oft auf einer tiefgreifenden Überlegenheit ihrer Technik. Ein Drittel der
Firmen war mit ihrem Produkt erfolgreich. Heute gibt es nur wenige Unternehmen mit einem überwältigenden
Marktanteil. 95 Prozent der anderen
Start-ups verschwinden wieder. Besonders schwierig ist es in der Welt der sozialen Medien. Man weiss nie, welche
Entwicklung abheben wird. Das macht
es schwierig, den Wert einer Technologie zu erkennen.
«Das ist eine unglaubliche Demonstration
der Schweizer
Bildungsstärke.»
Wir hätten einen Weg finden müssen,
wie man schnell und effektiv für Inhalte wie einen Zeitungsartikel bezahlt.
Auch ich mache mir Sorgen, um den
Relevanz-Gehalt im Netz. Was ist das
Netz ohne echte Inhalte wirklich wert?
Bei Google scheinen Sie den Wert
schnell erkannt zu haben: Ihre
Studenten Larry Page und Sergey
Brin kamen mit der Suchmaschine
zuerst zu Ihnen.
Ich hatte diesen Aha-Moment, wie
schon einige wenige Male davor. Bei
Yahoo zum Beispiel, als man das erste
Mal eine Pizza im Netz bestellen konnte. Da erkannte ich, wofür das Web
wirklich gebraucht werden würde. Es
geht nicht um Wissenschafter, die sich
Wie wird die Gesellschaft von
dieser Entwicklung beeinflusst?
Man sieht doch bereits, wie Newsportale Artikel auf ihre Leser zuschneiden,
man bekommt nur noch das zu lesen,
was man ohnehin denkt. Die Leute
werden nicht mehr herausgefordert.
Auf der Strecke bleiben lokale Zeitungen, die früher die meisten Stelleninserate in ihren Blättern hatten, mehr als
die «New York Times». Dann kam das
Stellenportal «Monster.com» und wuuumm (wirft die Hände horizontal auseinander). Nichts mehr. Hier haben wir
einen Fehler gemacht.
«IBM war einst Platzhirsch, auch Microsoft
oder Yahoo. Und
heute? Die Dinge
ändern sich unglaublich schnell.»
Sie sind Optimist. Kann das
einer Ihrer Studenten wieder
hinbekommen?
Wir werden es auf jeden Fall versuchen. Aber es wird ein harter Weg.
schnell Papiere zusenden wollen, was
ja die Idee des Cern war. Es geht darum, den Alltag der Menschen leichter
zu machen. Ähnlich ging es mir bei
Google, weil sie jede andere Suchmaschine in den Schatten stellte. Ich dachte nur: Holy Moses! Die beiden haben
eine fantastische Idee!
Sie selbst wurden Google-Verwaltungsrat und sind es bis heute geblieben. Nicht nur die Medien, auch
die Forschungsgemeinschaft kritisiert Ihre Nähe zum Unternehmen:
Sie würden damit die Unabhängigkeit der Forschung gefährden.
Gemeinsam für
mehr Innovation und immer für
einen guten Spruch
zu haben: Stanford-Präsident
John Hennessy
(Mitte) 2015 mit
US-Präsident
Barack Obama und
Apple-CEO Tim
Cook.
Keystone
Ich verstehe die Bedenken, weil es tatsächlich zu Interessenkonflikten kommen kann. Deshalb glaube ich an totale
Transparenz. Jeder weiss, dass ich Verwaltungsratsmitglied bin. Ausserdem
trete ich in den Ausstand, wenn es um
eine konkrete Zusammenarbeit zwischen Google und Stanford geht. Die
Universität bleibt unabhängig.
John Hennessy vor seinem Büro an der Universität Stanford: «Wir lieben es, Pioniere zu sein.»
Wir stecken mitten in der vierten
digitalen Revolution. Wie können
Eltern ihre Kinder am besten
auf das vorbereiten, was sie in der
neuen Welt erwartet?
Das wichtigste, was sie ihren Kindern
vermitteln können, ist die Freude am
Lernen. Bringen Sie ihnen das Lesen
bei, so, dass es ihnen Spass macht.
Neues Wissen ist keine Qual. Wenn Kinder das Gefühl bekommen, dass Lernen nur mit einem öden Klassenzimmer zusammenhängt, werden sie keine
Freude verspüren. Sie müssen sich selber fragen: Warum funktioniert etwas,
Der Pate des Valley
Sein Start in Stanford war alles andere als mustergültig.
Als John Hennessy (63) kurz
nach seinem Abschluss von
der State University of New
York (at Stony Brook) 1977
nach Stanford zu einem Vorstellungsgespräch reiste,
kam er zu spät – er hatte
sich auf dem riesigen Gelände verlaufen. Danach ging es
für den Professor für Elektrotechnik und Informatik
aber stetig aufwärts. Er bildete einige der bekanntesten Technikpioniere aus,
wurde Rektor und im Jahr
2000 schliesslich Präsident
der Universität. Er gilt als
der beste Sponsorenjäger
der Welt und Pate des Sillicon Valley. Sitzungen beendet er mit «Charge» – zum
Angriff. Im September tritt
er als Präsident zurück,
bleibt der Elite-Universität
aber erhalten. Hennessy ist
mit seiner Schulliebe Andrea
Berti verheiratet, sie haben
zwei erwachsene Söhne.
wie es funktioniert? Das heisst nicht,
dass sie alle Fächer mögen müssen,
aber sie sollen nie den Spass verlieren.
Das ist die Basis. Wie aber können
sie sich danach im stärker werdenden Wettbewerb behaupten?
Ach wissen Sie, die Kinder sollen etwas finden, das sie lieben und in dem
sie gut sind. Die zwei Faktoren hängen ohnehin zusammen. Sie werden
nie etwas lieben, wenn sie nicht besonders gut darin sind. Nur dann
kann man sich selbst ans Limit
puschen. Ich sage den Erstsemestern
immer: Findet etwas, dass ihr so gerne macht, dass ihr am Samstagmorgen freiwillig aufsteht, um es zu tun.
Wer das gefunden hat, kann eine Karriere starten, die er wirklich geniesst.
Das ist doch eines der grossen Ziele
im Leben.
Wie sehen Sie die Schweizer
Bildungslandschaft und ihre
Universitäten?
Ich kenne natürlich die ETH und die
EPFL (ETH Lausanne), dort bin ich sogar Ehrendoktor. Das sind ganz tolle
Institutionen. Ich bewundere, dass
ein so kleines Land gleich zwei der
besten technischen Universitäten Europas hervorgebracht hat. Das ist eine
unglaubliche
Demonstration
der
Schweizer Bildungsstärke. Auch die
Universität Zürich ist hervorragend.
Immer wenn ich in Zürich bin, spüre
ich, dass es eine Stadt ist, die auf Bildung besonderen Wert legt.
Was kann Stanford von den
Schweizer Universitäten lernen?
Unsere Systeme sind natürlich grundverschieden, was mir aber aufgefallen
ist: Schweizer Studenten sind während einer Vorlesung unglaublich aufmerksam (lacht). Nie habe ich eine
Vorlesung gehalten und musste sehen, wie einer sein iPhone zückt. Davon könnten sich die Amerikaner eine
Scheibe abschneiden.
Sie haben die Unterschiede im
System angesprochen. Private
Geldgeber werden an Schweizer
Hochschulen sehr skeptisch
gesehen. Ist das ein Fehler?
Wir sind eine Privatuniversität, ohne
Sponsoren und Philanthropen könnten wir nicht überleben. Die Herausforderung aller Hochschulen ist es, ihre Werte sicherzustellen, wenn sie pri-
vate Gelder bekommen. Das gelingt
uns, weil wir selber die Ziele festlegen
und dann mit Geldgebern reden. Es
ist unsere Entscheidung. Europa setzt
viel stärker auf die Finanzierung
durch den Staat, das hat bei euch gut
funktioniert. Trotzdem müssen sich
wohl nun auch eure Universitäten die
Frage stellen: Brauchen wir mehr
Drittmittel oder können wir uns auch
die nächsten 30 Jahre auf die Regierung verlassen? Denn es dauert Jahrzehnte, bis die Spender-Mentalität in
einer Hochschule verankert ist.
Sie loben die Schweizer Hochschulen, und in unserem Land ist
auch Kapital vorhanden, Firmengründungen sind nicht allzu
schwierig. Warum gelingt es der
Schweiz nicht, ein kleines Valley
zu gründen?
Nun, es ist nicht ganz einfach, in euer
Land einzuwandern. Bei Google oder
Facebook sieht man Menschen aus allen Ecken der Welt. Das Valley ist ein
Magnet. Diese Offenheit ist ein grosser Vorteil für die USA. Der, der die
besten Talente hat, hat auch die besten Chancen und Voraussetzungen.
Trotzdem ist Google Zürich zu einem
Magnet für Talente geworden. Die
Stadt fühlt sich international an.
Am 1. September treten Sie als
Präsident zurück, fördern dann
aber ein ambitiöses Projekt.
Was können Sie über das KnightHennessy-Programm verraten?
Der Welt fehlen die grossartigen Anführer. Das gilt sicher in der Politik,
aber auch in Teilen der Wirtschaft
oder in Non-Profit-Organisationen.
Unser Ziel ist es nun, die besten Studenten aus aller Welt auf unseren
Campus zu holen und sie auf die kommende Herausforderung vorzubereiten. Wir wollen ihre Führungsqualitäten stärken.
Also träumen Sie davon, den
nächsten Präsidenten der
Vereinigten Staaten auszubilden?
Wieso nicht? Präsident Obama war
erst letzten Monat hier, er liebt den
Campus, denn er liebt Innovation.
Aber es geht nicht nur um die USA,
nehmen Sie zum Beispiel Afrika. Dort
brauchen wir mit Sicherheit grosse
Anführer, um all die Probleme zu lösen. Ich hoffe, dass wir in 20 oder 30
Jahren zurückblicken und sagen können, dass wir erfolgreich waren.
25
18 gestern
Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Wie das Silicon ins Valley kam
Hippie-Kultur, die US-Army und ein verräterischer Genfer trugen zur Entstehung der Technologie-Brutstätte bei.
VON PASCAL RITTER
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Das Silicon Valley, das Zentrum der
Technologiefirmen, hat einen doppelt
irreführenden Namen. Die Region, in
der sich innerhalb weniger Quadratkilometer Weltkonzerne wie Facebook,
Google oder Cisco befinden, ist eher eine Ebene als ein Tal. Im Westen wird
sie durch Hügel begrenzt, die sich an
der Pazifikküste erheben. Im Osten
grenzt das Gebiet an die Bucht von San
Francisco. Der Begriff Silicon erinnert
im Deutschen an Gesichtscreme oder
Brustimplantate, steht aber für das Element Silicium, ein sogenannter Halbleiter. Es wird in Mikrochips verbaut. Silicium-Plättchen, in die Schaltkreise eingelassen sind, bilden die Grundlage für
moderne Computer und Smartphones.
Um diese Chips entwickelte sich ab den
späten 1950er-Jahren eine Industrie
südlich der kalifornischen Metropole
San Francisco.
Die Erfinder dieser Technik, die sogenannten «Traitorous eight» (deutsch:
die verräterischen acht), werden wie
Helden gefeiert. Gordon Moore, Julius
Blank, Victor Grinich, Eugene Kleiner,
Jay Last, Robert Noyce, Sheldon Roberts und Jean Hoerni gelten als Gründerväter des Silicon Valley. An die
Westküste gebracht hatte sie der Physiker William Shockley im Jahr 1956.
Sein Ziel war es, seine Transistorentechnik, für die er im gleichen Jahr den
Nobelpreis erhalten hatte, weiterzuentwickeln. Doch der umtriebige Chef und
seine jungen Mitarbeiter verstanden
sich nicht. Es kam zum Bruch. Der Verrat der «Traitorous eight» bestand in
der Gründung einer Konkurrenzfirma:
Fairchild Semiconductors. Es war ein
sehr erfolgreicher Verrat. Fairchild
wurde zum ersten Massenproduzenten
von Mikrochips. Stanford-Historikerin
Leslie Berlin betont, dass das gute Zusammenspiel der verschiedenen Forscher Fairchild erfolgreich machte.
Dass eine Idee des Schweizers Jean
Hoerni den Durchbruch brachte, ist
aber unbestritten.
Ein Genfer im Valley
Hoerni, 1924 in Genf geboren, studierte
Mathematik und promovierte in Physik. In Cambridge machte er einen
zweiten Doktor in Physik. 1952 wechselte er ans California Institute of Technology, wo er Shockley kennen lernte. Bei
Fairchild entwickelte er ein Verfahren,
das es erlaubte, Mikrochips in Massen
zu produzieren.
Im Computer History Museum unweit des Google-Geländes in Mountain
View, zwischen dem Highway 101 und
einem Forschungsgelände der Nasa,
werden Notizbücher, Skizzen und Entwürfe der «Traitorous eight» wie Reliquien ausgestellt. Nicht einmal die Theke der Bar fehlt, an der die Jungs ihr
Bier tranken. Das Silicon Valley war
von Anfang an auch Lifestyle. Ein Glaubenssatz der Tech-Branche lautet bis
heute: Ideen entstehen nicht im Einzelbüro, sondern beim Austausch mit anderen. Den Bartheken von damals entsprechen die Begegnungszonen samt
Hotdog-Wagen, Pingpong-Tisch oder
Glace-Stand, die heute in keinem TechUnternehmen fehlen.
Die Distanz zu den Businesszentren
an der Ostküste wie der Wall Street, die
INSERAT
Die «Traitorous eight»: Gordon Moore, Sheldon Roberts, Eugene Kleiner, Robert Noyce, Victor Grinich, Julius Blank, Jean Hoerni und Jay Last (1960).
Keystone / Magnum / Wayne Miller
Start-up-freundliche Stanford-Universität und die kalifornische Hippie- und
Do-it-yourself-Kultur gelten als Faktoren, welche den Entwicklern den nötigen Freiraum gaben, um revolutionäre
Erfindungen hervorzubringen.
Kluge Köpfe und Freiräume reichten
nicht aus, um aus dem verschlafenen
Obstanbaugebiet Santa Clara ein Technologiezentrum zu machen. Es brauchte auch Geld, viel Geld. Heute kommt
es von Investoren, die profitabel anlegen wollen, damals kam es von der Armee. Die Region war im Zweiten Welt-
krieg ein Zentrum der amerikanischen
Luftwaffe. Um die Flugfelder siedelten
sich Elektronikfirmen an. Und der Hunger nach Technik liess nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nach. Im Gegenteil.
Die USA und die Sowjetunion lieferten sich einen Wettlauf der Aufrüstung.
Es herrschte Kalter Krieg. Dabei spielte
nicht nur die Explosivkraft von Wasserstoff- oder Atom-Bomben eine Rolle,
sondern auch Rechenleistung. Nur wer
es schaffte, Flugbahnen und Geschwindigkeiten in Millisekunden zu berechnen, war auch eine ernstzunehmende
Bedrohung für den Gegner. Die USA
wähnten sich noch in den frühen
1950er-Jahren in der Gewissheit, dem
Kommunismus technologisch überlegen zu sein. Doch am 4. Oktober 1957
wurde der Sputnik I in die Umlaufbahn
katapultiert. Der erste Satellit startete
nicht in Cape Canaveral, sondern im
kasachischen Baikonur. Das war ein
Schock für die USA. Denn eine russische Rakete, die einen Satelliten in die
Umlaufbahn schiesst, kann auch eine
Bombe bis nach Washington tragen.
Die US-Behörden intensivierten ihre
Die Nachahmer
Fotos: Key, HO
●
Zürich
Tel Aviv
New York
London
Einer der grössten Entwicklungsstandorte von Google
ausserhalb der USA ist in
Zürich. Damit weht ein
Hauch von Silicon Valley an
der Limmat, die Initiative
«Digital Zurich 2025» will
ihn verstärken. Zürich soll
zum Tech-Hub werden. Ringier-Chef Marc Walder gelang es CEOs, Politiker und
Professoren für das Anliegen
zu gewinnen.
Silicon Wadi wird die Region
um Tel Aviv an der israelischen Küste genannt. Hatte
das Land kaum Hardware
entwickelt, spielt es im Bereich Software eine Rolle. So
wurde etwa der Nachrichtenübermittlungsdienst ICQ
von der israelischen Firma
Mirabilis entwickelt. Firmen
wie IBM, Intel oder HP beschäftigen Hunderte Entwickler im Silicon Wadi.
Distanz zur Wall Street galt
mal als Vorteil des Silicon
Valley. Die Investoren sind
den Programmierern aber
längst gefolgt, und die Coder folgten dem Geld und
kamen zur Wall Street. Teile
von New Yorks Business District werden als Silicon Alley
bezeichnet. Googles zweitgrösstes Büro ist dort sowie
der Hauptsitz der Telekomfirma Verizon.
Silicon Roundabout wird die
Tech-Industrie an der Themse genannt. Um den Platz
Old Street Roundabout im
Hackney-Quartier siedelten
sich die englischen Start-ups
an. Universitäten und die Politik unterstützen die Entwicklung offiziell. Aus London stammt etwa der Musikdienst Last.fm. Amazon und
Google lassen in der Stadt
der Queen entwickeln.
Forschungstätigkeit. Firmen wie Fairchild profitierten vom Hunger der Armee nach Elektronik und Innovation.
Die «Traitorous eight» blieben nicht
lange zusammen. 1968 gründeten Gordon Moore und Robert Noyce die Firma Intel, die sich zum Prozessor-Giganten entwickelte. «Moores Law», das Gesetz, wonach sich die Rechenleistung
von Prozessoren regelmässig verdoppelt bei gleichen Produktionskosten,
war in vollem Gang.
Auslagerung nach Asien
Als der Journalist Don Hoefler am 11. Januar 1971 den Begriff Silicon Valley (eine Anspielung auf den Werbe-Slogan
von Santa Clara: «The Valley of Heart’s
Delight») zum ersten Mal in einem Zeitungsartikel zu Papier brachte, hatte
sich die Anzahl Techfirmen vervielfacht. 1976 gründete Steve Jobs Apple
und machte den Computer zum Massenprodukt. Das Valley blieb noch bis
in die 1980er-Jahre ein Industriegebiet.
Auch mit entsprechenden Folgen für
die Umwelt. Heute werden iPhone und
PC in Asien produziert, wo die Löhne
niedrig und die Umweltgesetze lasch
sind. In den Industriebrachen haben
sich Programmierer eingenistet und
tüfteln an Apps und Programmen.
Übrigens: Der Genfer Hoerni blieb
nicht lange bei Fairchild. Schon nach
wenigen Jahren verliess der die Pionierfirma und gründete ein neues Unternehmen. Es ist auch diese Nonchalance, alte Projekte hinter sich zu lassen und neu anzufangen, die das Phänomen Silicon Valley ausmacht.
19 meinung
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Und wenn Donald Trump
Schweizer wäre?
Othmar von Matt,
Politikchef
Die Nachricht:
Letzte Woche nominierte der Parteikonvent der Republikaner Donald Trump als Präsidentschaftskandidaten. Diese Woche hoben die Demokraten Hillary Clinton auf den Schild.
Der Kommentar:
Ging es in den Gesprächen in San Francisco oder im Silicon Valley um Donald Trump, kam irgendwann die
Schweiz ins Spiel. «Könnt ihr Trump nicht in die Schweiz
mitnehmen?», fragte ein US-Professor. Und eine Lehrerin
wollte wissen: «Hätte Trump in der Schweiz eine Chance,
gewählt zu werden?» Hinter der Frage, die wie eine harmlose Spielerei daherkommt, steckt Fassungslosigkeit. Wie
nur konnte es so weit kommen, dass Trump ernsthafte
Chancen hat, 45. US-Präsident zu werden?
Hätte Donald Trump eine Chance, Bundesrat zu werden?
Ein Mann, der sich selbst als mehrfacher Milliardär bezeichnet, bei dem die Öffentlichkeit aber nicht weiss, ob er
nicht tatsächlich nur millionenschwer ist? Ein Mann, der
als Unternehmer viermal in Konkurs ging? Ein Mann, der
nie ein politisches Amt ausübte? Ein Mann, der eine Mauer
bauen will? Ein Mann, der als pathologischer Lügner gilt?
Ein Mann, der permanent beleidigt? Ein Mann, dessen Bekanntheit auf seiner Rolle als «Hire-and-Fire»-Gastgeber
der TV-Reality-Show «The Apprentice» fusst? Ein Mann,
der nur ein Lebensmotto zu haben scheint: «Ich.»
Silvan Wegmann zur Woche.
Gastbeitrag von Ruedi Noser
Es braucht New Switzerland
1845 gründeten 150 Auswanderer aus dem Glarnerland, meinem Geburtskanton, New Glarus
in Wisconsin (USA). Sie waren
gezwungen, in eine neue Welt
aufzubrechen. Ich bin stolz auf
meine Vorfahren: Wer eine
solche Reise ins Unbekannte
macht, auch wenn die Not gross
ist, muss mutig sein. Diese Leute
waren die Opfer der ersten industriellen Revolution, die
Handweber und Spinner überflüssig machte. Sie wurden
durch Webmaschinen und
Spinnmaschinen ersetzt. Textilfabriken sprossen im 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden. Trotzdem blieb die Schweiz
ein Auswanderungsland, denn
die Technologie der Textilindustrie wurde importiert; man wendete sie an, und sie schuf wenig
Arbeitsplätze. 1880 arbeiteten
63 Prozent aller Industrie-Erwerbstätigen in der Textilbranche, 40 Jahr später waren es
noch 22 Prozent. Trotz vielen
Einzelschicksalen blieb die ganz
grosse Katastrophe aus, wie wir
sie rund 100 Jahre früher erlebt
haben. Sie blieb nicht nur aus,
die Schweiz wurde in dieser Zeit
gar vom Auswanderungs- zum
Einwanderungsland.
Parallel zu dieser schicksalhaften Wirtschaftsgeschichte entstand unsere ETH. 1855 wurde
sie gegründet, 1886 das Chemieund 1890 das Physikgebäude,
dann 1900 das Maschinenlabor
in Betrieb genommen. In der
Folge entwickelte sich die Chemie- und Maschinenindustrie.
Die Schweiz wandelte sich von
der Produktions-Anwenderin
zur Produktions-Entwicklerin.
Unternehmerisch gesprochen:
Die Investition in die
Elitenbildung von der ETH
zahlte sich aus. Hatte die
Schweiz die erste industrielle
Revolution noch verpasst und
wurde in der Folge komplett von
England dominiert, war man für
die zweite industrielle Revolution gewappnet.
Ruedi Noser
ist Unternehmer in der
IT-Branche und FDP-Ständerat des Kantons Zürich.
Er engagiert sich bei der
Initiative «Digital Zurich
2025».
«Ideen, wenn nicht
x-fach abgesichert,
sind uns suspekt.»
Heute stehen wir mit der Digitalisierung an einer ähnlichen
Wegscheide wie im 19 Jahrhundert. Es gibt in der IT etwa
200 000 Fachkräfte. Wie damals
in der Textilindustrie sind die
meisten von ihnen Anwender
dieser Technologien, die nicht
aus der Schweiz stammen, ja
auch nicht aus Europa. Obschon
viele bahnbrechende Erfindungen im Bereich der Digitalisierung hier stattgefunden haben,
verloren wir in den 70er- und
80er-Jahren die ganze Computerindustrie und in den 90erund 2000er-Jahren die gesamte
Telekommunikation. Profitiert
haben in erster Linie die USA.
Heute muss man konstatieren,
dass Europa und die Schweiz die
erste Halbzeit der Digitalisierung
verloren haben. In der zweiten
Halbzeit geht es nun um den
Wettbewerb der Wertschöpfung
und damit um nichts weniger als
unseren Wohlstand. Und wir
sind mannigfaltig gefordert.
Zuerst müssen wir als Gesellschaft verstehen, was die Digitalisierung wirklich alles verändert. Wenn man im 20. Jahrhundert eine Firma aufbauen wollte,
musste man Kapital, Boden und
Arbeitskräfte haben. All das war
zum einen knapp, zum anderen
– wenn man es denn hatte – wurde es sofort besteuert. In der
Digitalisierung gelten andere Regeln. Während man im 20. Jahrhundert mit einer Idee ohne
Kapital nichts erreichen konnte,
gilt jetzt, dass du mit Kapital
ohne die richtige Idee nichts erreichen kannst.
Und gerade unsere Kultur wird
dadurch fundamental herausgefordert. Überragendes und Elitäres ist uns fremd, Ideen, wenn
nicht x-fach abgesichert, suspekt. Wer eine Idee erfolgreich
realisiert, wird beneidet, wer
scheitert, ist out. Das Geheimnis
des Silicon Valley, so sagt man,
ist unter anderem die Art und
Weise, wie man dort mit dem
Scheitern umgeht: «Toll, dass du
es versucht hast!» Unser Wille
zur Perfektion und unsere intolerante Fehlerkultur stehen der
digitalen Kultur zuwider.
Neben der kulturellen besteht
für uns eine institutionelle Herausforderung. Mit der Vermögenssteuer haben wir den Neid
in unserem Staatsgebilde buchstäblich institutionalisiert: Die
Schweiz ist das einzige Land, das
Ideen besteuert, bevor sie überhaupt einen Gewinn erzielen.
Und die Vermögenssteuer verhindert oft, dass ein Einzelner
eine grosse Firma besitzen kann.
Wenn die Digitalisierung aber
das Jahrhundert der Ideen ist,
dann muss es möglich sein, dass
Menschen mit ihren Ideen grosse Firmen aufbauen und auch
besitzen können, ohne dass der
Fiskus sie enteignet.
Die zweite industrielle Revolution hat die Schweiz stark gemacht, weil wir nach der ersten
in die Elitenbildung investiert
haben. Seit damals haben wir
sehr viel in die Breitenbildung
investiert. Wir sind vermutlich
das Land, in dem jeder Jugendliche die Chance hat, die optimale
Ausbildung zu bekommen, mit
der er am besten durch das Leben kommt. Jedenfalls weit besser als in den USA. Diese breite
Ausbildung bietet uns die Chance, kombiniert mit den richtigen
Talenten auch bei der digitalen
Revolution zu den Gewinnern zu
gehören. Verlangt wird aber,
dass wir die Voraussetzungen
schaffen, damit diese Talente in
der Schweiz bleiben oder wie
vor 150 Jahren in die Schweiz
kommen. Darum braucht es
eine Initiative im Bundesrat, die
prüft, was zu machen ist, damit
wir diese Talente haben und
auch behalten können. Es
braucht keine Industriepolitik
dazu. Eine richtige Bildungspolitik, die die Schweiz zum digitalen Hub von Europa macht, und
eine Steuerpolitik, die wieder
Unternehmertum im grossen Stil
zulässt – das würde als Rahmenbedingungen reichen.
In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts haben wir Mut bewiesen. Auch heute brauchen
wir wieder Mut und einen grossen Effort. Weniger aus der Not,
wie damals die Glarner, die auswanderten, um New Glarus zu
gründen. Wir brauchen den
Mut, die richtigen Entscheide zu
treffen, damit in der Digitalisierung ein New Switzerland entstehen kann – und zwar hier bei
uns und nicht im Silicon Valley,
in das unsere Talente auswandern. Die Schweiz muss mit
ihrer Kultur die Digitalisierung
prägen wollen. Wir können sie
nicht nur den US-Konzernen
überlassen, wir müssen solche
Konzerne in die demokratische
Schweiz holen. Es braucht
mehr als die 150 Auswanderer,
um New Switzerland zu schaffen. Darum: Machen Sie dort
mit, wo Ihr Beitrag verlangt
wird. Werden Sie ein Teil von
NewSwitzerland.org
In der Schweiz gleicht Trump am ehesten Lega-Gründer
Giuliano Bignasca: Er war ein sozial-national ausgerichteter, unflätiger, aber politisch erfolgreicher Selfmade-Man.
Bignasca hätte aber nicht den Hauch einer Chance gehabt, Bundesrat zu werden. Zu ernsthaft wird in der
Schweiz Politik betrieben. Zu gefestigt ist die direkte Demokratie. Und zu wenig polarisiert ist das Land im Vergleich zu den USA von heute. Einen Trump-Vorläufer gibt
es in unmittelbarer Nähe aber sehr wohl: Silvio Berlusconi. Wohin das geführt hat, lässt sich in Italien besichtigen.
[email protected]
Sündenböcke
und Drückeberger
Henry Habegger,
Redaktor
Die Nachricht:
Die grüne Aargauer Regierungsrätin und Asylverantwortliche Susanne Hochuli kandidiert nicht für eine weitere
Amtszeit. Sie wolle Leben und Agenda wieder selbst
bestimmen.
Der Kommentar:
Während acht Jahren war Susanne Hochuli in der Aargauer Regierung unter anderem für das Asyldossier
zuständig. Für die übrigen Parteien waren das recht angenehme Jahre. Wenn etwas schieflief, war Hochuli der Sündenbock. Gab es 2014 etwa lauten Krach um ein Bundeszentrum, forderte die SVP den Rücktritt der Regierungsrätin. Das «Volk» sei wütend.
Die grüne Regierungsrätin befand sich damit in der gleichen Lage wie auf Bundesebene die SP-Frau Simonetta
Sommaruga. Auch sie ist Dauerbeschuss vorwiegend von
rechts ausgesetzt, auch sie macht alles falsch, wenn es
nach ihren Kritikern geht. Das ist natürlich billig, denn in
diesem Dossier kann man fast nichts richtig machen. Erst
recht nicht, wenn man es allen recht zu machen versucht.
Die Migrationsströme sind so schnell nicht aufzuhalten,
die Flüchtlingsbewegungen ebenso wenig. Dabei machen
weder Hochuli noch Sommaruga eine besonders linke
Flüchtlingspolitik, was ihnen auch Kritik aus den eigenen
Reihen einträgt. Sommaruga baut das Asylprozedere in
eine schon fast beängstigend perfekte Maschinerie um,
bei der Menschlichkeit schnell mal zu kurz kommt. Mit ihrer Eritrea-Reise etwa ist Hochuli in eine Falle getappt,
die ein Regime ihr gestellt hat.
Aber das alles ist leicht gesagt. Wie beim Bund, wo sie
den Drückeberger gab, wäre es auch auf Kantonsebene an
der SVP, die Verantwortung für das Asyldossier zu übernehmen. Wer immer alles besser weiss, muss irgendwann
hinstehen und zeigen, dass er es besser macht.
[email protected]
wirtschaft
Schweiz am Sonntag
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SILICON VALLEY
Wo die wertvollsten
Unternehmen
ihren Sitz haben.
Seiten 22/23
Pilotanlage für neue Therapieformen gegen Krebs: Für die Forschung der Schweizer Chemie ist das Silicon Valley wichtig geworden.
Keystone
Die Schweizer im Silicon Valley
Schweizer Pharmariesen sind bereits dick im Geschäft – neu wagt auch ein Uhrenkonzern den Sprung.
VON BEAT SCHMID UND STEFAN EHRBAR
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Es kann kein Zufall sein, dass das
Schweizer Uhrenunternehmen TAG
Heuer ausgerechnet Santa Clara ausgesucht hat. Die Stadt mit gut 100 000
Einwohnern ist so etwas wie der Geburtsort des Silicon Valley. Hier befindet sich der Hauptsitz von Intel, des
Computerchip-Produzenten, der 1971
mit dem Intel 4004 den ersten integrierten 4-Bit-Prozessor auf den Markt
brachte, der die Computertechnologie
revolutionierte.
45 Jahre später macht sich nun also
das erste Schweizer Uhrenunternehmen auf in den Westen. TAG-HeuerChef Jean-Claude Biver sagt zur
«Schweiz am Sonntag»: «Ab November
wird auch TAG Heuer in Santa Clara
zehn bis zwölf Ingenieure beschäftigen.
Es wird unsere erste technologische
Niederlassung im Silicon Valley sein»,
sagt der Manager, der beim Luxuskonzern Louis Vuitton für sämtliche Uhrenmarken zuständig ist. Die Welt inklusive die Uhrenindustrie müsse weiter, ist
Biver überzeugt. Die Ingenieure werden direkt im weitläufigen Intel-Campus Quartier beziehen. Für Biver ist der
Gang ins Silicon Valley eine logische
Konsequenz. Letztes Jahr lancierte er
eine erste Smartwatch, die mit Chips
von Intel arbeitet. Wenn er eigene Leute vor Ort hat, sind sie näher dran und
können schneller reagieren.
TAG Heuer ist eines von Dutzenden
Schweizer Unternehmen, die im Valley
ihre Zelte aufgeschlagen haben. Anfang
der 1980er-Jahre war es der Computermauspionier Logitech, der in das damals kaum besiedelte Gebiet vorstiess.
Die Firma wurde in der Westschweiz
gegründet, wo immer noch der Hauptsitz liegt, doch das operative Zentrum
befindet sich in Newark, südlich von
Oakland.
Auf der anderen Seite der Bay, in Foster City, findet sich die kleine Softwarefirma Balluun. Auch sie hat ihren rechtlichen Sitz in der Schweiz, doch getüftelt wird im Silicon Valley. Laut Chef
Roland Kümin sind die «Leute hier neugierig, offen und geprägt von einem
starken Optimismus». Anders in der
Schweiz, wo man «immer noch zuerst
die Gefahren und Risiken» sehe. «Das
paralysiert», so Kümin, der zwischen
der Schweiz und dem Silicon Valley
pendelt.
Kümin will mit seiner Firma disruptive Energien freisetzen. So soll Balluun
Firmen auf clevere Weise zusammenbringen, sodass teure Auftritte an Messen schlicht nicht mehr nötig sind. Das
Unternehmen hat vor kurzem eine Finanzierung über 40 Millionen Franken
erhalten und will nun das Entwicklerteam im Valley «massiv ausbauen».
Seit 13 Jahren ist der Bund dabei
Den Austausch zwischen Schweizer Firmen, der Wissenschaft und dem Silicon
Valley hat sich die Organisation Swissnex auf die Fahne geschrieben. Vor 13
Jahren eröffnete die zu einem Drittel
vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation und dem De-
partement für Auswärtige Angelegenheiten finanzierte Organisation ihren
Aussenposten in San Francisco. Vor
kurzem hat die Organisation neue,
grosszügigere Räumlichkeiten bezogen.
Noch riecht es nach frischer Farbe; die
meisten Arbeitstische sind allerdings
unbesetzt. In einem Teil des loftartigen
Raumes ist aber schon etwas los. Da sitzen Mitarbeiter von Nestlé vor ihren
Computerbildschirmen. Der Nahrungsmittelmulti will die quirlige Startup-Szene vor Ort beobachten können.
Auch die Swisscom hat einen Horchposten eingerichtet. Seit 1998 beobachten Mitarbeiter in Menlo Park die Entwicklung. Unter dem früheren Chef
Carsten Schloter verfolgte die Swisscom ehrgeizige Pläne und begann mit
der Entwicklung von Cloud-Lösungen.
Doch mittlerweise sind die Bemühungen eingeschlafen. Die Swisscom verlegte den Fokus auf Partnerschaften
mit Start-ups und Trend-Scouting. Der
Outpost läuft auf Sparflamme. Gerade
zehn Mitarbeiter beschäftigt die Swisscom vor Ort. Ein Ausbau, so SwisscomSprecher Joseph Huber, sei nicht geplant.
Mehr Aktivität legen Schweizer Pharmafirmen an den Tag. Sie beschäftigen
Zehntausende Personen in der Bay
Area und übertrumpfen damit die
Schweizer IT-Branche bei weitem. Der
wahrscheinlich grösste Schweizer Arbeitgeber in der Region ist Roche. 2009
übernahmen die Basler die Biotech-Firma Genentech vollständig. Über 10 000
Angestellte beschäftigen die DNA-For-
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Jah re Int ernet
CH-Firmen in der Bay Area
Firma
Standort
Branche
Actelion
South San
Francisco
Pharma
Balluun
Foster City Software
Faceshift AG San
Francisco
Avatar
Software
Genentech
(Roche)
San
Francisco
Pharma
Kaywa AG
San
Francisco
Mobile
Apps
Keylemon SA Campbell
Face recognition
Koemei SA
San
Francisco
VideoSuche
Logitech
Newark
Hardware
Novartis
diverse
Standorte
Pharma
Roche
PleasanPharma
ton/diverse
Scandit Inc.
San
Francisco
Swisscom
Menlo Park Telekom
TAG Heuer
Mobile
barcode
Santa Clara Uhren
Quelle: eigene Darstellung/swissnex
scher zurzeit im Süden von San Francisco. Darüber hinaus arbeiten 800
Mitarbeiter im nahe gelegenen Pleasanton für die Roche Molecular Diagnostics, weitere 500 sind für Roche Sequencing an diversen Standorten in der
Bay Area tätig.
Basler Pharma gibt Gas
Die Region sei ein «sehr wichtiger
Standort im innovationsgetriebenen
Unternehmen», sagt eine Sprecherin.
Grund dafür seien die Dichte von Risikokapitalgebern und Hightech-Unternehmen sowie das ausgeprägte akademische Netzwerk. Das ermögliche unterschiedliche Kooperationen oder Akquisitionen. Die Pharmafirmen wachsen im Silicon Valley vor allem durch
Übernahmen: Erst letztes Jahr übernahm Roche Geneweave, eine Diagnostikfirma mit Sitz in Los Gatos.
Eine ähnliche Strategie verfolgt Novartis: 2006 hatte der Konzern eine
Mehrheit an der Biotech-Firma Chiron
mit über 5000 Mitarbeitern nahe San
Francisco übernommen. 2008 akquirierte Novartis einen grossen Teil der
Lungen-Forschung des Nektar-Konzerns und damit weitere 140 Mitarbeiter in der Bay Area.
Das Silicon Valley ist wichtig für
Schweizer Firmen, auch wenn sie im
IT-Bereich hier wenig zu melden haben. Anders sieht es in Branchen aus,
in denen die Schweiz ohnehin stark ist
– allen voran im Bereich Gesundheit.
Hier hilft das Valley, dass sie noch stärker werden.
22 wirtschaft
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Jah re Int ernet
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Die grösst en Firmen im Silicon Valley
SAN
FRANCISCO
Brisbane
Hillsborough
Redwood
Shores
Palo Alt o
Stanford
Alviso
Mount ain
View
Sant a Clara
Sunnyvale
SAN JOSE
Cupert ino
Die 25 wert vollst en Unternehmen
in Milliarden Franken
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Apple
Alphabet (Google)
Facebook
Oracle
Int el
Cisco
Gilead Sciences
Salesforce.com
PayPal Holdings
Adobe Syst ems
Ne t fl ix
Yahoo
Hewlett Packard Ent erprise
Tesla Mot ors
570
530
355
170
164
153
10 5
49
47
46
43
34
30
30
15.
16.
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19.
20 .
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25.
eBay
Int uit
Applied Mat erials
Equinix
Int uitive Surgical
VMware
HP
Elect ronic Arts
Nvidia
SanDisk
LinkedIn
Uber
Genent ech (Roche)
27
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22
22
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20
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15
(nicht börsenkotiert)
(nicht börsenkotiert)
GRAFIK: MTA/ SAS
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wirtschaft 23
COMPUTERSPIEL
Das Tal der Milliarden
Die wertvollsten Firmen der Welt sind zwischen San Francisco und San José angesiedelt.
VON BEAT SCHMID
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Aus dem Silicon Valley stammen die
wertvollsten Firmen der Welt. Die ersten drei – Apple, Googles Mutterkonzern Alphabet und Facebook – kommen auf einen Unternehmenswert von
fast 1,5 Billionen Dollar (1500 Milliarden). Allein der Computerkonzern
Apple wird derzeit mit 570 Milliarden
an der Börse bewertet, Alphabet mit
530 und Facebook mit 355 Milliarden
Dollar. Zum Vergleich: Für die beiden
Schweizer Pharmaunternehmen Roche
und Novartis müsste ein Käufer 212 und
209 Milliarden Franken auf den Tisch
legen. Die beiden Grossbanken UBS
und Credit Suisse gibt es zum Aktionspreis von 51 und 23 Milliarden Franken
– zusammen sind sie achtmal weniger
wert als Apple.
Sind diese astronomisch anmutenden Bewertungen noch gerechtfertigt,
oder erleben wir gerade eine gigantische Bewertungsblase? Aus fundamentaler Sicht sind diese Bewertungen
nicht aus der Luft gegriffen. Zum Beispiel Apple: Der iPhone-Hersteller veröffentlichte diese Woche zwar einen
Gewinnrückgang um 27 Prozent auf 7,8
Milliarden Franken. Aber weil die Analysten düsterere Zahlen erwartet hatten, zogen die Aktien dennoch deutlich
an. Der Rückgang der iPhone-Verkäufe
war weitgehend im Kurs eingepreist.
Die Apple-Titel handeln derzeit zum
11-Fachen des Gewinns. Damit liegt die
Apple-Aktie 35 Prozent unter dem Leitindex S&P500. Zudem hat der Konzern
ein 250 Milliarden Dollar schweres Aktienrückkaufprogramm am Laufen.
Man könnte also durchaus argumentieren, dass Apple unterbewertet ist.
Wertzuwachs oft spektakulärer
als in der Dotcom-Phase
Die phänomenale Entwicklung der Börsenkurse setzte nach der Finanzkrise
im Jahr 2008/09 ein. Der Wertzuwachs
fällt dabei zum Teil noch spektakulärer
als während der berüchtigten DotcomPhase um die Jahrtausendwende. Da-
mals zählen Firmen wie Microsoft und
Cisco zu den wertvollsten Technologiefirmen der Welt. Das Erstaunliche an
der jüngsten Entwicklung ist, dass es
den jungen Firmen immer schneller gelingt, sehr grosse Börsenwerte zu generieren. Um auf eine Kapitalisierung von
350 Milliarden zu kommen, brauchte
Apple 31 Jahre. Bei Microsoft dauerte
die Phase 13 Jahre, bei Google noch 9
Jahre und bei Facebook lediglich 4 Jahre nach dem Börsenstart.
Chefs von der Angst getrieben,
den Wendepunkte zu verpassen
Der kometenhafte Aufstieg junger Firmen sorgt für einen konstanten Stresspegel bei den Chefs der etablierten
Grosskonzerne. Ständig werden sie von
der Angst verfolgt, von einem jungen
Konkurrenten überholt zu werden.
«Nur die Paranoiden überleben», lautete einst der Titel eines Bestsellers von
Andrew Grove, dem langjährigen Chef
des Prozessorriesen Intel. Es erschien
im Jahr 1997 und hat nichts von seiner
Gültigkeit verloren.
Spürbar ist die Paranoia, wichtige
Wendepunkte zu verpassen, auf Schritt
und Tritt im Silicon Valley. Auch auf
dem Campus von Facebook, dem
schnell wachsenden Social-Media-Unternehmen, das diese Wochen einen
spektakulären Gewinnsprung auf 2,1
Milliarden Dollar für das letzte Quartal
meldete.
Facebook-CEO Mark Zuckerberg
wollte ein Zeichen setzen. Als es dem
Social-Media-Unternehmen wegen des
schnellen Wachstums in den alten Büros zu eng wurde, übernahm es das Firmengelände von Sun Microsystems,
einer einst umjubelten High-End-Computerfirma, die extrem zuverlässige
und ultraschnelle Server und Workstations produzierte.
Doch das Unternehmen schlitterte in
die Krise und wurde schliesslich vom
Datenbank-Riesen Oracle geschluckt.
Zuckerberg verfügte, dass das alte SunLogo am Gebäude stehen blieb – als
Mahnmal, dass der Erfolg, sei er auch
noch so spektakulär, nicht gegeben ist.
Innovativer, schneller, reicher – das
ist die Maxime des Silicon Valley. Bereits ganz junge Unternehmer müssen
sich diesem Gesetz unterwerfen, wenn
sie auch nur den Hauch einer Chance
haben wollen. Am Anfang eines Startups stehen meist zwei, drei junge Ingenieure, die Tag und Nacht an einem
Prototyp tüfteln.
Sobald die Idee Gestalt annimmt,
kommt das grosse Geld ins Spiel. An
der Sand Hill Road in Palo Alto sitzen
die grössten Geldgeber der Silicon-Valley-Geldmaschine. Sie laden die Jungunternehmer in schicke Sitzungszimmer ein, wo sie die einmalige Chance
bekommen, ihre Pläne zu präsentieren.
Haben sie Glück, erhalten sie von
diesen Venture-Capital-Firmen – im Valley werden sie VCs genannt – die ersten
paar hunderttausend Dollar. Die Risikokapitalgeber händigen das Geld nicht
aus Nächstenliebe aus, sondern aus
knallhartem Kalkül, um möglichst früh
Schnelle Brüter
Anzahl Jahre nach Börsengang, bis der
Firmenwert 350 Milliarden Dollar erreichte
Facebook
Alphabet
Cisco Systems
Microsoft
Amazon.com
4
9
10
13
18
31
Apple
QUELLE: FACTSET
GRAFIK: MTA/SAS
den Fuss in einer Firma zu haben,
die zum nächsten Google oder Facebook werden könnte. Wenn alles gut
läuft, folgt nach diesem ersten «Seed»Geld eine erste richtige Finanzierungsrunde, dann die zweite und dann die
dritte. Spätestens dann wird über einen
Börsengang gesprochen beziehungsweise einen Verkauf an einen Konkurrenten.
Bei jeder Finanzierungsrunde erhöht
sich dabei der Firmenwert. Wenn ein
Gründer in einer ersten Runde 10 Prozent der Firma für eine Million
Dollar verkauft, beträgt der Wert
der Firma somit 10 Millionen Franken.
Je nachdem, wie attraktiv eine Firma
ist und wie viele Investoren Schlange
stehen, können die Bewertungen ziemlich schnell in astronomische Höhen
schnellen.
Uber kann das Wachstum teils
aus eigener Kasse finanzieren
So zum Beispiel beim Fahrtenvermittlungsdienst Uber: Zuletzt hat ein saudischer Staatsfonds 3,5 Milliarden Dollar
in die Firma investiert, was den Unternehmenswert von Uber auf 62 Milliarden Dollar hochschraubte. Damit hat
die Firma aus San Francisco so viel
Geld in der Kasse, dass sie in der nächsten Zeit gar keinen Börsengang ins Auge fassen muss. Das Wachstum kann sie
zum Teil aus der eigenen Kasse finanzieren: In den 20 wichtigsten Märkten
schreibt sie einen Gewinn von einer
Milliarde Dollar.
Momentan gibt es keine Anzeichen,
als würde der Boom im Silicon Valley
bald zu Ende gehen. Im Gegenteil:
Die weltweit tiefen Zinsen werden eher
dazu führen, dass noch mehr Kapital
ins Tal zwischen San Francisco und
San José fliessen wird. Denn weltweit
suchen Investoren verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten, die Renditen versprechen, die über den (Negativ-)
Zinsen von Staatsanleihen liegen. Das
Silicon Valley ist der Ort, wo nicht
nur Ideen sprudeln, sondern auch das
Geld.
Der Kampf um die Wolke
Google, Microsoft und
Amazon streiten sich
um die Cloud – ein 1000Milliarden-Dollar-Markt.
Hälfte des Betriebsgewinns kommt inzwischen aus diesem hochprofitablen
Segment.
Jeff Bezos, der Amazon-Gründer und
CEO, wurde belächelt, als er vor über
zehn Jahren ins Cloud-Geschäft einstieg. Jetzt lacht niemand mehr, vor allem bei Microsoft und Google nicht,
den beiden grössten Konkurrenten im
Cloud-Geschäft. Bezos hat einen nicht
unerheblichen Vorteil gegenüber den
beiden anderen Tech-Firmen. Als
Händler ist er ein Meister darin, mit
hauchdünnen Margen zu operieren.
Microsoft und vor allem Google ist dies
weitgehend fremd.
VON BEAT SCHMID
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Auch 20 Jahre nach der Gründung
steht Google vor allem für seine Suchmaschine. Das Unternehmen hat schon
einige Versuche unternommen, dies zu
ändern. Nicht zuletzt ist die Umbenennung des Konzerns auf Alphabet Ausdruck davon, nach neuen Ufern aufbrechen zu wollen. Nachdem die Firma
vor ein paar Jahren den Social-MediaTrend verpasst hatte, will die Firma
beim nächsten grossen Ding nichts anbrennen lassen. Es geht dabei um die
Speicherung von Daten in der sogenannten Cloud.
Um was geht es? Noch heute speichern die meisten Privatpersonen und
Unternehmer ihre Daten und Computerprogramme auf Notebooks oder Servern. Weil Internetverbindungen immer schneller werden, wird es immer
einfacher, Daten und Programme in
der Datenwolke, eben der Cloud, zu
verwalten. Der Trend ist nicht neu,
schon gegen Ende der 1990er-Jahre gab
es E-Mail-Programme wie Hotmail oder
Konkurrenten: Amazon-Gründer Jeff Bezos und Google-Chef Eric Schmidt. Key
Yahoo-Mail, welche die Daten der Nutzer auf zentralen Servern speicherten –
meist kostenlos. Neu ist, dass Private
und auch Unternehmen fast ihre gesamten Informatikbedürfnisse aus der
Cloud beziehen können. Dies hat natürlich seinen Preis. Die Umsätze, die
Cloud-Dienstleister erzielen, gehen derzeit durch die Decke.
Der grösste Anbieter ist aber nicht
Google, sondern Amazon, der vor allem als Online-Buchhändler und Detailhändler bekannt geworden ist. Diese
Woche legte das Unternehmen seine
Quartalszahlen vor. Es bot dabei eine
handfeste Überraschung: Gegenüber
dem Vorjahresquartal verneunfachte
die Firma den Gewinn auf über 850
Millionen Dollar. Das Verblüffende an
den Zahlen war, dass der Anstieg trotz
unvermindert hohen Investitionen zustande kam. Zu einem guten Stück geht
das auf steigende Erträge bei den
Cloud-Diensten zurück, mit denen
Amazon im letzten Quartal 2,89 Milliarden Dollar Umsatz machte. Fast die
Höchste Zeit für Google, neue
Umsatzquellen zu erschliessen
Ihr Geschäft ist seit je enorm margenträchtig. Besonders bei Google, das 90
Prozent des Umsatzes mit dem Verkauf
von Werbung macht. Man scheint sich
einfach darauf zu verlassen, dass die
hochmargigen Online-Ads auch in Zukunft die Kassen füllen werden. Doch
zumindest beim Wachstum hat Facebook Google abgelöst. Es ist höchste
Zeit für Google, neue Umsatzquellen zu
erschliessen. Ein hoher Manager beziffert den Markt für Cloud-Lösungen auf
weltweit über 1000 Milliarden Dollar.
Selbst wenn Google nicht Marktführer
wird, dürfte etwas abfallen.
«Pokémon Go»
verunsichert
Tech-Giganten
Es ist ein Hype, wie ihn die Welt
noch nie gesehen hat. Innerhalb von
drei Wochen luden mehr als 75 Millionen Smartphone-Nutzer als Spiel
«Pokémon Go» herunter. Es ist damit das erfolgreichste Computerspiel, das die Welt je gesehen hat.
Im Silicon Valley ist dieser phänomenale Erfolg inzwischen ein heiss
diskutiertes Thema. Es gibt kaum
ein Gespräch unter Internet-Unternehmern, in dem nicht über «Pokémon Go» gesprochen wird. Dabei
wird das weltweite Phänomen mit in
Parks herumirrenden Jugendlichen
mit Handy vor der Nase nicht etwa
belächelt, sondern sehr ernst genommen. Das Spiel elektrisiert und
verunsichert die Branche zugleich.
«Es ist unglaublich, wie es die Entwickler geschafft haben, in so kurzer
Zeit so viele Menschen zu erreichen
– und das mit lediglich 50 Mitarbeitern», sagt ein Manager. Andere Firmen wie Facebook oder Snapchat
hätten dafür viel länger gebraucht
und mit wesentlich mehr Personal.
Wer so schnell wächst, zieht die
Aufmerksamkeit auf sich – eine der
wichtigsten Währungen im Silicon
Valley. Und wer einen Hype kreiert,
gilt als attraktiv für talentierte Mitarbeiter, zieht Investoren an und Werbegelder.
Das Spiel wurde von der Softwarefirma Niantic ausgedacht. Das Interessante an dieser Firma ist, dass sie
bis vor kurzem dem Google-Konzern
Elektrisiert
die Branche:
«Pokémon
Go».
HO
Alphabet gehörte. Doch der Gigant
entliess das Unternehmen in die
Freiheit. Das war ein kluger Schachzug. Denn erst durch seine Unabhängigkeit habe Niantic eine Kooperation mit Nintendo überhaupt abschliessen können, sind sich Beobachter sicher. Dem japanischen
Computerspiel-Spezialisten gehören
die Rechte an den Pokémon-Figuren. Viele Firmen hätten schlicht
Angst, mit dem Suchgiganten zu kooperieren, da er ihnen zu gross und
zu mächtig erscheine.
Der Erfolg von Niantic entlarvt
aber auch eine Schwäche von Alphabet. Das Unternehmen fördert unter
seinem Dach zwar viele kleine Firmen mit teilweise verrückten Ideen,
aber es gelingt ihm kaum, aus diesen
Jungfirmen neue Stars zu formen.
Wenn sie ausserhalb mehr Kreativität entwickeln können, lässt Google
sie besser ziehen. BEAT SCHMID
INSERAT
25
24 wirtschaft
Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Leserfragen an den
Geldberater
Sämtliche Leserfragen werden beantwortet.
Schreiben Sie Geldberater
François Bloch ein E-Mail an:
[email protected].
> Wie sehen Sie die Perspektiven der
Sonova-Aktie? Ich liege jetzt mit meinem Durchschnitt ca. 3 Fr. im Minus.
Wäre es allenfalls ratsam, diesen Verlust zu realisieren und in eine Ihrer
Empfehlungen, Burkhalter oder Kardex, zu investieren?
Dieser Verlust ist kein eigentlicher
Dammbruch, viel wichtiger scheint ,
wie die Aussichten von Sonova in der
Zukunft sind. Das Produkteangebot
hat sich in meinen Augen über die
letzten drei Jahre massiv verbessert.
Daher ist ein Verkauf nicht opportun.
Wie Sie mir auf Nachfrage mitgeteilt
haben, besitzen Sie Sonova-Aktien im
Wert von über 30 000 Franken. Damit
steht dem gedeckten Call-Verkauf
über 6 Monate mit einem Ausübungspreis bei 130 Franken nichts im Weg.
Durch die einkassierte Prämie sollte
Ihr Verlust damit vollständig aufgeholt
sein. Haben Sie ein bisschen Sitzleder,
Sonova ist kein Topfavorit von mir,
aber auch keine schlechte Firma, wo
Handeln sofort angesagt ist.
Mit Stil, aber ohne Erfolg: Wartesaal im Bahnhof von Palo Alto.
Patrick Züst
Amerika entdeckt den TGV
Kalifornien plant die Verkehrsrevolution nach europäischem Vorbild. Doch das
Projekt steht auf der Kippe.
VON STEFAN EHRBAR
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Jeff Morales muss wieder einmal erklären,
weshalb er sein Geld wert ist. Es ist früher
Dienstagmorgen in einem nüchternen Sitzungssaal in San José, als der Chef der California High Speed Rail Authority (HSR) vor
die Mitglieder der Handelskammer Silicon
Valley tritt. Morales spricht ruhig und
überlegt. Sein Projekt ist Superlativ genug.
65 Milliarden US-Dollar sollen bis 2029
in den Bau einer 800 Kilometer langen
Zugstrecke zwischen Anaheim, Los Angeles und San Francisco fliessen. Später
könnten auch San Diego im Süden und Sacramento im Norden erschlossen werden.
Es ist das grösste Infrastrukturprojekt Kaliforniens seit 60 Jahren, ein Plan nach europäischem Zuschnitt, mit Vorbildern in
Deutschland, Frankreich und Italien. Das
Problem: Erst etwa ein Fünftel der Gelder
ist beisammen. Damit wird der erste Abschnitt zwischen San Jose und Bakersfield
gebaut. Ab 2025 rollen dort die Züge. Für
den Rest braucht Morales’ Behörde Geld.
Rod Diridon, Ex-Politiker und Leiter
eines Forschungsinstituts, soll das Projekt
an diesem Morgen begründen. Er spricht
vom Klimawandel. Die Wirtschaftsvertreter klatschen müde. Wegen Moral-Appellen
steigt kein Mensch auf den Zug um.
Morales weiss das. Wenn er über HSR
spricht, streicht er anderes heraus: Effizienz, Geschäftsgelegenheiten, Chancen für
die Stadtentwicklung. Schon heute pendeln
Leute zwischen dem Central und dem Silicon Valley, weil sie sich das Wohnen im
Technik-Tal nicht leisten können. Drei Stunden braucht ein Weg. Mit der neuen Linie
werden es 40 Minuten sein. Die Fahrt auf
der kompletten Strecke zwischen Los Angeles und San Francisco soll dereinst unter
drei Stunden dauern und etwa 80 Dollar
kosten. Wenn die Linie erst einmal steht, ist
Morales überzeugt, werden die Leute sie
nutzen. «Die Mehrheit trifft praktische Entscheidungen», sagt er. «Wall-Street-Banker
in New York nutzen die U-Bahn nicht, weil
sie sich gern in überfüllte Wägen zwängen.
Sondern weil es die praktischste Art ist, sich
fortzubewegen.»
Ideologie gegen die Eisenbahn
Das Projekt könnte ein Revival der Bahn in
den USA einleiten. Mit dem Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand sie in der Versenkung. Jede Mittelstandsfamilie konnte sich bald ein
Auto leisten. 1956 unterzeichnete
Präsident Eisenhower den Highway
Act. Mit ihm gaben sich die USA ein
modernes Autobahn-Netz. Die meisten Bahngesellschaften schlossen in
Folge, die verbliebenen konzentrierten
sich auf wenige Strecken. Zwar werden
etwa 40 Prozent der Fracht innerhalb
der USA per Bahn verschickt. Menschen
aber nutzen das Auto oder das Flugzeug.
Die staatliche Bahngesellschaft Amtrak
mit ihrem landesweiten Netz befördert
in einem Jahr so viele Passagiere wie die
SBB in einem Monat.
Die Politik kümmerte sich lange nicht um
die Probleme. In Kalifornien änderte sich
dies, als unter dem republikanischen Gou-
Peter Spuhler
möchte die
Züge für die
kalifornische
TGV-Linie
bauen.
Mario Heller
verneur Pete Wilson 1998 die HSR gegründet wurde. Ein Urnengang fand zehn Jahre
später statt, die Kalifornier sagten mit 52,7
Prozent Ja zum Staatsbeitrag von knapp 10
Milliarden US-Dollar. Seit letztem Jahr erhält HSR zudem Gelder aus einem Emissionsprogramm. Weitere Geldquellen erschloss sich das Projekt auf eher glückliche
Weise: 2008 zogen mit Barack Obama und
Joe Biden zwei öV-affine Politiker ins Weisse
Haus. Sie skizzierten die Vision von Hochgeschwindigkeits-Netzen im ganzen Land.
Über 3 Milliarden Dollar investierte Washington seither in die HSR. Von solchen
Geldern könnten alle Bundesstaaten profitieren. Aus ideologischen Gründen verzichteten aber viele darauf, etwa Florida, Ohio
und Wisconsin. Und so bleibt das Projekt in
Kalifornien vorerst das Einzige im Land.
Vom Projekt profitieren könnte eine
Schweizer Firma. Der Bahnbauer Stadler
von Peter Spuhler hat angekündigt, HSRZüge bauen zu wollen. Der Hochgeschwindigkeits-Markt spielt im Geschäft der Thurgauer noch keine grosse Rolle, ist aber interessant. Ob Stadler zum Zug kommt, ist
unklar. Die Ausschreibung beginnt erst, die
Konkurrenz ist hart. Unsicher ist auch, ob
2029 tatsächlich Züge zwischen San Francisco und Los Angeles verkehren. Geplant
ist, die Betreiberrechte an eine private Firma zu verkaufen und mit dem Erlös den
Bau der kompletten Strecke zu finanzieren.
Das Feedback sei sehr gut, sagt Jeff Morales. Aber unterschrieben sei noch nichts.
Kalifornien nimmt den europäischen
Weg. Der Optimismus bleibt amerikanisch.
Man werde die besten Ideen der ganzen
Welt nehmen und miteinander verbinden,
sagt der HSR-Chef. «Wir werden technologisch führend sein.»
Der Verkehr fliesst nie in Kalifornien
Kalifornien hat ein grosses Verkehrsproblem. Die Lösungen im Silicon Valley sind trotzdem eher altbacken.
VON STEFAN EHRBAR
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Im Silicon Valley sitzen die hellsten Köpfe der Welt. Aber wenn sie ein Verkehrsproblem lösen sollen, fällt ihnen nichts
Schlaueres ein als Doppelstockbusse. Im
Sekundentakt fahren diese an Feierabend von den Hauptsitzen von Google
oder Facebook in Richtung San Francisco – und verschlimmern damit die Situation auf den notorisch überfüllten Highways noch. In San Francisco und Los
Angeles verlor ein durchschnittlicher
Pendler letztes Jahr 80 Stunden im Stau,
schreibt das Texas Transportation Institute. Nur Washington D. C. schneidet
schlechter ab.
Und die Verkehrssituation in Kalifornien wird immer übler: Noch vor fünf
Jahren lag diese Zahl in Los Angeles bei
61 Stunden. Auch in der Luft ist der Verkehr geschäftig. 124 Flüge verkehren
täglich zwischen Los Angeles und San
Francisco. Die Hochgeschwindigkeits-Linie der Bahn (siehe oben) dürfte diese
Zahl dramatisch senken. Das zeigt die
Erfahrung mit vergleichbaren europäischen Projekten. Trotzdem gibt es wenig Opposition aus der Airline-Branche.
Der Flughafen San Francisco weibelt für
das Projekt, bezeichnet es gar als «dritte
Landebahn». Er kann nicht ausgebaut
werden und möchte die Kapazität lieber
für Langstreckenflüge nutzen.
Die Ursachen für die Verkehrskrise in
Kalifornien sind vielfältig. Die kalifornische Wirtschaft boomt. Der Bundesstaat mit heute 40 Millionen Einwohnern erwartet bis 2060 eine Bevölke-
rungszunahme um 12 Millionen. Im Silcon Valley kommt hinzu, dass die Mitarbeiter der dezentral gelegenen Firmen oft lieber in der Grossstadt San
Francisco wohnen. Andere wiederum
können sich das Valley nicht mehr leisten und müssen deshalb länger pendeln. Kalifornien setzt nun stark auf
den öffentlichen Verkehr. In San Francisco etwa wird im November über ein
3,5-Milliarden-Dollar-Paket abgestimmt,
mit welchem die S-Bahn-ähnliche BART
ausgebaut und verlängert werden soll.
> Habe schon viel Geld mit Ihren
Tipps verdient. Ich habe noch 23 000
Fr. zum Anlegen. Was würden Sie mir
raten? Actelion oder VAT N?
Ich halte von beiden Firmen sehr viel.
Wobei meine Präferenz bei der Actelion liegt, und dies seit mehreren Jahren. Der Basler Biotechwert verspricht
noch ein nettes Aufwärtspotenzial,
während bei VAT momentan die Luft
draussen ist nach dem phänomenalen
Start an der Schweizer Börse seit dem
IPO. Kaufen Sie 100 Actelion-Aktien,
und verschreiben Sie diese auf sechs
Monate. Dadurch erhalten Sie ein optimales Rendite-Risiko-Profil.
> Ich habe bei der XYZ Bank ein grösseres Wertschriften-Depot, 25 verschiedene Titel. Unter anderem habe
ich 60 Givaudan-Aktien, Einstandspreis 484 Fr. Nun meine Frage: Ist mit
Givaudan etwas nicht in Ordnung?
Denn die Analysten der XYZ-Bank
empfehlen mir, die Aktien zu verkaufen und in attraktivere Anlagen zu investieren. Was soll ich machen?
Die Beweggründe der XYZ Bank
(Name der Bank ist der Redaktion
bekannt) sind mir schleierhaft. Ich
würde begeistert sein, die Werte von
Givaudan zu einem solchen Einstandspreis in meinem Portfolio zu halten.
Sicherlich ist Givaudan nicht der TopPerformer an der Schweizer Börse,
aber Qualität und Aussichten sind
einzigartig. Lassen Sie sich nicht
ins Bockshorn jagen, behalten Sie
Ihre Positionen.
Rappenspalter:
Tipps von François Bloch
Faszinierend
> Heute geht es nach Hamburg, und dabei bin ich auf ein Hotel gestossen an
ausgezeichneter Lage. Aber viel spannender finde ich das Design – faszinierend. Darf ich vorstellen: das Hotel East,
ein Vier-Sterne-Superior-Hotel
(www.east-hamburg.de) mitten in
St. Pauli. Dabei gibt es ein paar Tricks,
wie Sie billiger in dieses Hotel gelangen.
a) Buchung auf der hoteleigenen Website, wo Sie bis zum 31. August 2016
einen Rabatt von nahezu 20% erhalten
mit dem Buchungscode THX_Summer1.
Oder b): Sie gehen auf die Website von
secretescapes.de. Im Preis inbegriffen
ist sogar der Zugang zum Spa und
Fitness-Zentrum. Fazit: Schon die Lobby
des Hotels begeistert. Die Zimmer sind
vom Design her ein Hingucker, und mit
dem Standort der Unterkunft ist ein
Wochenendtrip nach Norddeutschland
ein Genuss. Aktueller Tiefstpreis:
135 Franken pro Nacht.
Anlagenote: 9,9/10
sport
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
31
OLYMPISCHE SPIELE
Für Usain Bolt und Co.
heisst es bald: Rio, wir
kommen!
Seiten 35 bis 37
Facebook-Stars: Dieses Foto
gefällt 6,1 Millionen Menschen
Im Fussball werden die Tore auf dem Rasen geschossen. Doch die virtuellen Treffer im Internet sind
marketingstrategisch ebenso wichtig. Und der König im World Wide Web ist? Genau: Cristiano Ronaldo.
VON THOMAS RENGGLI
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Wer ist der beste Fussballer der Gegenwart? Eine Kurzumfrage unter den Ballkünstlern Cristiano Ronaldo, Lionel
Messi und Neymar würde vermutlich
drei verschiedene Antworten liefern.
Zlatan Ibrahimovic freilich hätte dafür
nur ein müdes Lächeln übrig und
würde sagen: «Jag är Zlatan» («Ich bin
Zlatan»).
Ein Blick in die virtuelle Realität ergibt aber ein klares Bild: Neu-Europameister Cristiano Ronaldo schwebt in
einer eigenen Umlaufbahn – mit rund
116 Millionen Fans auf Facebook und 45
Millionen Followern auf Twitter. Trotz
Twitter-Verweigerung landet Messi mit
rund 87 Millionen Facebook-Fans auf
Platz zwei. Dahinter steht Neymar
(rund 58 Millionen Fans auf Facebook
und 23 Millionen Follower auf Twitter).
Der schwedische Lautsprecher Zlatan
Ibrahimovic agiert auf dem Parkett der
sozialen Medien ähnlich glücklos wie
zuletzt an der Euro in Frankreich – gut
25,5 Millionen Facebook-Fans und vier
Millionen Follower auf Twitter. Im World
Wide Web der Superstars ist Zlatan ein
Wasserträger.
Ronaldo wie Shakira
Als Ronaldo im Herbst 2014 der erste
Sportler war, der auf Facebook die
100-Millionen-Grenze knackte, war dies
dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin
«Forbes» eine grosse Schlagzeile wert.
Zuvor hatte nur die Popsängerin Shakira
diesen Wert überschritten. «Forbes»
schrieb über Ronaldo vom «Social Media
Superstar». Der Geadelte selber sagte:
«Ich bin sehr geehrt, die 100-MillionenMarke erreicht zu haben. Dieser Wert ist
ein Meilenstein in meiner Karriere und
erlaubt mir, mich mit allen Fans rund um
die Welt zu unterhalten. Die grossartige
Unterstützung inspiriert mich und ich
danke allen.»
Es ist davon auszugehen, dass dieser
Kommentar aus der Feder von Ronaldos
Management stammte. Denn seine Berater können am besten abwägen, wie
wertvoll die Popularität in der virtuellen
Welt für die Sponsorenverträge ist. Verweist Ronaldo auf Facebook oder Twitter
auf eine Mitteilung seiner Partner (Nike,
Tag Heuer, Emirates oder Samsung),
geht das per Mausklick um den Globus.
Die Fans allerdings wollen noch lieber
hinter die Fassade blicken: Ronaldos
populärster Post auf Facebook ist ein
Foto mit seinem Sohn. Es generierte
6,1 Millionen «Likes».
Im Kosmos der «Likes» und «Tweets»
spielen auch die Schweizer mit. Der
hiesige Sportler mit den meisten
virtuellen Freunden ist Roger Federer –
14,6 Millionen auf Facebook, 6 Millionen
auf Twitter. Doch schon eine Liga tiefer
kommt dem gezielten Umgang mit
sozialen Medien eine immer wichtigere
Rolle zu. Der Bündner Giusep Fry, einer
der führenden Schweizer Sportmanager,
bezeichnet die Präsenz im Internet
kommerziell als «matchentscheidend»:
«Es gibt Firmen, die wollen mit einem
25
Jah re Int ernet
Sportler mit weniger als 100 000 Facebook- und Twitter-Freunden nicht zusammenarbeiten.»
Mountainbike-Weltmeister (und FryKlient) Nino Schurter kann auf den
«Support» von 264 000 FacebookFreunden zählen. Und weil er sich im
WWW ähnlich geschickt bewegt wie
auf der Rennstrecke und proaktiv auf
seine Sponsoren verweist, zahlt sich dies
für alle Beteiligten aus. «Viele Partner
lassen sich eine gewisse Anzahl Posts
vertraglich zusichern», sagt Fry. Zu
Schurters Partnern gehört die Tessiner
Bank Cornèrcard. Marketingchef Beat
Weidmann bestätigt Frys Aussage:
«Wenn eine Interaktion mit den Kunden
entsteht, ist das besonders wertvoll.
Deshalb platzieren wir oft Wettbewerbe
oder Videos auf Facebook oder Instagram.» In konkreten Zahlen kann Weidmann den Wert aber nicht benennen:
Cristiano Ronaldo posiert mit seinem Sohn im Badezimmer: Der private Schnappschuss begeistert weltweit
Facebook
über sechs Millionen Menschen.
«Wir transportieren Emotionen und erreichen so potenzielle Kunden auf einer
persönlicheren Ebene als mit Inseraten
oder TV-Spots – eine Erhebung über die
finanzielle Relevanz haben wir aber
nicht.»
Im Schweizer Fussball dominiert der
FC Basel auch in den sozialen Medien.
Mit 1,9 Millionen Facebook-Freunden
weist er eine dreimal so grosse Popularität auf wie die neun anderen SuperLeague-Klubs zusammen. Seit dem
1. Januar beschäftigt der FCB einen
Social Media Manager: Simon Walter.
«Als grosser Klub kann man es sich nicht
erlauben, abseits zu stehen – gerade
weil einzelne Sponsoren die Präsenz
auf Facebook, Twitter, Instagram und
Snapchat erwarten», sagt der FCBInternet-Fachmann. Dabei gehen die
Ansprüche aber auseinander. Während
etwa Adidas in den sozialen Medien
sehr offensiv agiert, hält sich Novartis
vornehm zurück.
Die Ägypter lieben den FC Basel
Dass die Zusammensetzung der Facebook-Freundschaften einer gewissen
Zufälligkeit untersteht, zeigt gerade das
Beispiel des FCB. Als der Verein 2012 den
Ägypter Mohamed Salah unter Vertrag
nahm, stieg die Basler Popularität in
Ägypten sprunghaft. Noch heute sind
überproportional viele Internet-Freunde
des FCB in Kairo und Umgebung zu
Hause.
Egal ob Rhein, Nil oder Isar. Hüben
wie drüben macht man die Erfahrung,
dass ein grosser Freundeskreis im
Internet wirtschaftlichen Vorteil verspricht – gerade bei ausländischen Topstars. Spieler wie Mesut Özil von Arsenal
oder David Alaba von Bayern verdanken
viele ihrer persönlichen Werbeverträge
dem Auftritt in den sozialen Medien. So
ist es nicht verwunderlich, dass ein
Markt für Facebook-Freunde und TwitterFollower besteht. Die Firma «Social
Media Daily» beispielsweise verkauft
1000 Follower (plus je 50 Favorisierungen
und Retweets) für 39 Euro. Auch im
Internet gilt: Nicht jeder Freund ist ein
echter Freund – und Liebe ist auch
käuflich.
So hat die beste Facebook-Beziehung
ihre menschlichen Grenzen. Können
nicht positive Botschaften und Erfolgsmeldungen verbreitet werden, steigt die
Gefahr von anonymen Verunglimpfungen
und virtuellen Pöbeleien. Doch letztlich
gilt überall eine einfache Gleichung: Nur
wer im Stadion das Tor trifft, kann auch
im Internet jubeln. Denn die virtuelle
Welt ist unbarmherzig: Nach dem
sportlichen Regen kommt der Shitstorm.
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
mobil 39
Wie das Auto intelligent wurde
Vom Radio über die Verkehrsmeldung bis hin zum intelligenten Fahrzeug: Das Internet verändert das Auto.
VON PHILIPP AEBERLI
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Am Anfang war das Auto. Mehr eine
motorisierte Kutsche. Doch schon bald
entwickelte es sich zum komfortablen
Fortbewegungsmittel. Der Gedanke,
Unterhaltung ins Auto zu bringen, kam
schon bald auf. Anfang der 1920er-Jahre
wurden die ersten Radios im Ford
Model T verbaut. 1927 wurde erstmals
ein Radio als offizielles Zubehör ab Werk
angeboten: der «Philco Transitone» bei
Chevrolet. In Europa brachte Blaupunkt
den ersten Radio auf den Markt. Er wog
15 Kilogramm und kostete 465 Mark –
rund ein Drittel des ganzen Autos. Purer
Luxus also.
Dass man den Radio als Informationsquelle für den Fahrer nutzen kann,
lag auf der Hand. Einen grossen Schritt
in diese Richtung machte man am
1. Juni 1974. Das «Autofahrer-RundfunkInformationssystem» erlaubte die automatische Erkennung von Verkehrsmeldungen, sodass man vor einem Stau
rechtzeitig gewarnt wird.
Den Grundstein für die nächsten
Schritte legte das Navigationssystem,
das ab Anfang der 1990er-Jahre aufkam.
Im 7er brachte BMW 1994 als erster
Hersteller Europas das Navi ab Werk
auf den Markt. Das gab dem Autoradio
eine zweite Dimension: Er konnte nun
grafisch informieren. Über die Rundfunkwellen konnte er schon bald Verkehrsdaten empfangen und die Route
entsprechend optimieren.
Vom Zusatz zum Mittelpunkt
Bis anhin war die Radio-Navigationseinheit allerdings nur ein Zusatz, der, bis
auf die Stromversorgung, unabhängig
vom Auto funktionierte. Nachträglich
verbaut und grundsätzlich frei austauschbar. Das änderte sich ab 2001,
als BMW mit dem «iDrive»-System erstmals sämtliche Fahrzeugfunktionen
über den zentralen Monitor zugänglich
machte. Der Monitor, der davor nur als
Zusatz für Unterhaltung und Navigation
im Auto war, wurde damit zum zentralen
Element, zum Hirn des Autos.
Die Verkehrsmeldungen gelangten
aber weiterhin über Radiofrequenzen
ins Auto. Doch nun ist das Ende der
UKW-Zeit auch in der Schweiz absehbar. Was folgt dann? Radio wird digital
über DAB+ übermittelt, den Rest macht
das Internet. Es kommt per SIM-Karte,
die der Kunde meist selbst besorgen
muss, oder per W-LAN-Verbindung
über das Smartphone ins Auto. Und es
eröffnet völlig neue Möglichkeiten. Die
Verkehrsmeldungen können in Echtzeit
empfangen werden, diese Daten stellen
verschiedene Betreiber zur Verfügung.
Für möglichst genaue Daten macht
beispielsweise TomTom jedes Navi zum
Datensammler: Die Bewegungen der
Geräte werden anonymisiert ausgewertet, sodass Staus exakt erfasst werden
können.
Nebst den Verkehrsmeldungen bringt
das Internet im Auto aber noch eine
ganze Menge von weiteren Möglichkeiten. Bei VW nennt sich dieses Angebot «CarNet». Das klassische Navi wird
dadurch um einige nützliche Zusatzfunktionen erweitert. So steht beispielsweise eine Online-Zielsuche zur
Verfügung. Man kann also beispielsweise
nach einer Firma in einem bestimmten
Ort suchen – das erspart den Umweg,
sich erst die genaue Adresse zu suchen.
Am Zielort können, sofern die Daten
zur Verfügung stehen, freie Parkplätze
angezeigt werden, das Wetter für die
nächsten Stunden oder die nächsten
Tankstellen mit Spritpreisen und Infos
wie Öffnungszeiten oder Ähnliches.
Es sind Angebote, die sich in Zukunft
immer weiter entwickeln sollen. Denkbar ist beispielsweise auch eine vorausschauende Routenberechnung. Denn
die Verkehrsmeldungen in Echtzeit
sind, realistisch betrachtet, zu langsam.
Wer um 6 Uhr morgens in Zürich losfährt, bekommt freie Fahrt angezeigt.
Ist man aber um kurz nach sieben vor
den Toren Berns, staut sich da womöglich schon der morgendliche Pendlerverkehr. Deshalb soll das Navigationssystem in Zukunft auf Statistiken zurückgreifen können, die ebendieses
Szenario voraussagen können. Aufgrund immer genauer werdender GPSOrtung soll der Stau zudem noch genauer erfasst werden können – bis auf
die Fahrspur genau. So können Verkehrsbehinderungen noch genauer umfahren werden.
Die Umwelt wird zur virtuellen Realität: Informationen werden in Zukunft direkt auf die Scheibe projiziert.
Mehr Kommunikation
Die Kommunikation, und das ist ein
weiterer Schritt hin zum autonomen
Fahren, soll aber in Zukunft nicht mehr
nur zwischen Auto und Server erfolgen.
Die Autos der Zukunft kommunizieren
auch untereinander. Das kann die Fahrt
sicherer und angenehmer machen. So
kann ein Auto am Stauende andere
Autos in der Umgebung warnen. Dasselbe ist bei Pannen, Unfällen oder Gefahren auf der Strasse denkbar. Polizei,
Feuerwehr und Ambulanz können in
Zukunft nicht nur per Sirene, sondern
auch mit einem digitalen Signal warnen
und sich so deutlich früher bemerkbar
machen; ob nun ein Mensch oder ein
Computer das Auto steuert, spielt dabei keine Rolle.
Fest steht aber, dass sich der Autoradio immer mehr vom Unterhalter zum
Hirn des Autos wandeln wird.
Das Auto kann auf immer mehr Daten zugreifen. Eine moderne Luxuslimousine verfügt daher über gut 200 Steuergeräte.
Die Brücke ins Netz
VON PHILIPP AEBERLI
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Jeder hat ein Smartphone, kann man
salopp sagen. Statistisch untermauert
sind es rund 2 Milliarden intelligente
Telefone auf der Welt, wobei in den
nächsten drei Jahren nochmals gut
600 Millionen dazukommen dürften.
Für die Autohersteller ist es also unerlässlich, das Smartphone auch ins Auto
zu bringen. Denn dieses Gerät, das wir
fast immer mit uns herumtragen,
wurde zum Teil unseres Lebens, zur
Gewohnheit, auf die wir nicht mehr
verzichten wollen – auch beim Fahren
nicht. Das birgt Chancen und Risiken:
Einerseits kann das Smartphone mit
verhältnismässig geringem Aufwand
viele Funktionen ins Auto bringen,
andererseits kann es auch eine erhebliche Ablenkung bedeuten. Deshalb ist
es wichtig, dass sich die Hersteller um
die Smartphone-Integration im Auto
kümmern. Die neueste Infotainment-
Die bekannte Bedien-Oberfläche bleibt auch im Auto erhalten.
Generation im Volkswagenkonzern ist
dank Apple Carplay, Android Auto und
MirrorLink mit rund 80% aller Geräte
kompatibel und kann deren Inhalte auf
dem Monitor anzeigen. Die Steuerung
VW
Nachrichten
Smartphone und Auto
wachsen zusammen
Mit dem Smartphone tragen wir das Internet immer bei uns. Auch im Auto.
●
BMW
VW
erfolgt wo immer möglich über die
Spracheingabe, die Darstellung auf
dem Touchscreen wird möglichst
gross und simpel gestaltet. Zudem bestimmen die Hersteller, welche Apps
ins Auto kommen: Soziale Netzwerke,
Messenger oder gar Pokémon? Bestimmt nicht! Aber dank Karten,
Telefon, Musik oder Hörbüchern kann
man viele Vorzüge aus dem Internet
übers Smartphone nutzen, ohne teure
Sonderausstattung im Auto zu haben.
Die entsprechende Smartphone-Verbindung ins Auto ist bei vielen Herstellern kostenlos oder für wenige
hundert Franken Aufpreis zu haben.
Eine Investition, die sich auch für die
Zukunft lohnt, da das Smartphone dank
Updates immer auf dem neusten Stand
bleibt.
Nur die Internetverbindung muss
man haben, wenn man beispielsweise
die Navigation nutzen will. Gerade für
die Urlaubsfahrt ins Ausland ein
Punkt, der nicht zu unterschätzen ist.
Hier sollte man sich besser vorgängig
informieren. Aber das sollte ohnehin
jedem Smartphone-Nutzer bekannt
sein.
BMW Ab August ist der BMW Connected
Service auch in der Schweiz verfügbar.
Der Dienst verbindet das Auto mit dem
Smartphone. So können nicht nur
Informationen wie Tankfüllung und
Reichweite auf dem Handy angezeigt
werden, sondern auch Navigationsziele
vom Telefon an das Auto geschickt
werden. Dabei kann auch auf Kontakte
und Kalender im Telefon zugegriffen
werden. Praktische Zusatzfunktion: Die
App überprüft die aktuelle Verkehrssituation und teilt dem Benutzer mit,
wenn dieser sich auf den Weg machen
sollte, um pünktlich zum nächsten geplanten Termin zu erscheinen. Zudem
kann die App auch den Weg vom Parkplatz bis zum tatsächlichen Ziel anzeigen. Praktisch, wenn man in einer
fremden Stadt nicht direkt am Ziel
parkieren kann. Das System ist in den
USA schon seit Ende März im Einsatz
und erhielt für Europa schon erste Verbesserungen. Künftig sind weitere
Funktionen geplant. (PD)
kultur
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
& freizeit
41
MIRGA GRAŽINYTĖ-TYLA
Die Kapellmeisterin
verrät Erfolgsrezept und
Fallstrick von Dirigentinnen-Karrieren.
Seite 42
Shops und Beatniks in der Haight Street in San Francisco.
Getty Images/Jean-Pierre Lescourret
Das Erbe der Hippies
Vor bald 50 Jahren entwickelte sich San Francisco zur Hochburg der Hippie-Bewegung.
Von ihrer Ideologie ist mehr übrig geblieben, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.
SARAH SERAFINI
H
aight Street, San Francisco, 1967. Hunderttausend Menschen folgen der Hymne des
Sängers Scott McKenzie, stecken sich Blumen is Haar und strömen in die Hochburg der Hippies. «If
you’re going to San Francisco, be sure
to wear some flowers in your hair.» Es
ist der Summer of Love, der Höhepunkt der Blumenkinder-Bewegung.
Der Stadtteil Haight-Ashbury hat sich
zum Treffpunkt der rebellischen Jugend, der Musiker und der Kiffer entwickelt. Am Ende der Haight Street, dort
wo der Golden Gate Park beginnt, spielen Rockstars wie Jimi Hendrix, Janis Jo-
plin oder The Grateful Dead gratis Konzerte. Vor der Bühne tanzt Allen Ginsberg, der bekannte amerikanische Poet
und intellektuelle Kopf der Beat-Generation, mit Tausenden anderen jungen
Menschen auf LSD.
Mitten unter ihnen war damals Pam
Brennan. Die heute 61-Jährige ist eine
der letzten Original-Hippies, die immer
noch am Ort des Geschehens wohnt, in
einem Haus gleich unter der Haight
Street. Brennan trägt ein schwarz verwaschenes Beatles-Fan-Shirt. Von den
Ohren baumeln kleine Anhänger in der
Form einer Schwalbe. Mit einer raschen Handbewegung streicht sie sich
die dunklen Fransen aus dem Gesicht.
Während des Summer of Love war sie
12 Jahre alt. Mit ihrer Familie war sie
nach San Francisco gereist. «Vor Staunen blieb mir der Mund offen stehen»,
sagt sie. «Die Haight Street war so voller Leute, dass wir in unserem Auto weder vor noch zurück kamen.» Überall
habe es nach Gras gerochen, Musik lief
an jeder Ecke, und die Menschen hätten sie angelächelt. «Es war magisch.
Ohne dass ich Gras geraucht hätte, war
ich high von dieser Atmosphäre.»
Kommerz und Zerfall
Sie wusste, dass sie sobald wie möglich
hierhinziehen wollte. Wenige Jahre später lebte sie in Haight-Ashbury in ihrer
ersten Kommune. Freie Liebe, Nacktheit, Drogen, politische Diskussionen
25
Jah re Int ernet
seien an der Tagesordnung gewesen.
«Ich fühlte mich einer Bewegung zugehörig, die sich anfühlte, als könne sie
wirklich etwas verändern», sagt sie.
Der Zerfall der Hippie-Bewegung begann nach dem Woodstock-Festival. Im
August 1969 feierte eine halbe Million
Blumenkinder ihre Rockstars. Aus der
rebellischen Jugendbewegung war eine
kommerzielle Populärkultur geworden.
Die politische Botschaft hinter den langen Haaren und den farbigen Gewän-
dern verschwand allmählich. Überschattet von der Mordserie des Kommunen-Führers Charles Manson und
dem Tod eines Zuschauers während eines Rolling-Stones-Konzerts verlor die
Bewegung an Glanz. Als dann mehrere
Hippie-Vorbilder, darunter Janis Joplin,
Jim Morrison und Jimi Hendrix, an einer Überdosis Heroin starben und 1975
der Vietnam-Krieg endete, war die Flower-Power vorbei.
Die Faszination durch die Hippies
bleibt jedoch bis heute bestehen. Noch
immer pilgern täglich Hunderte Touristen in das Viertel Haight-Ashbury. Doch
von den alten Idealen der Hippies ist
Fortsetzung auf Seite 42
42 kultur
Fortsetzung von Seite 41
hier heute nurmehr wenig zu spüren.
Das Hippie-Sein wird als Touristenattraktion vermarktet. Die Häuserfassaden sind im psychedelischen LSD-Look
bemalt, im «Day Dreamer Smoke Shop»
stehen Hanfpfeifen im Schaufenster,
in den sich aneinanderreihenden Second-Hand-Läden werden muffig riechende Batikgewänder anprobiert und
Jesus-Latschen verkauft. Touristen bleiben an der Ecke Haight und Ashbury
Street stehen, um ein Foto vom Strassenschild zu machen.
Nur wenige Meter von hier bildet sich
eine Menschentraube vor einem rosa
viktorianischen Haus. Eine Zeit lang bewohnte Janis Joplin den ersten Stock.
Schräg gegenüber lebte die Band The
Grateful Dead. Nach dem Summer of
Love verschwanden sie aus der Stadt,
wie auch die meisten anderen der
100 000 Hippies. Übrig blieben die Jugendlichen, die von zu Hause ausgerissen waren, um der Bewegung beizuwohnen. Viele landeten als Obdachlose
auf der Strasse.
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Der liebe Gott und der Dirigent
können nur Männer sein
So lautet das ungeschriebene Gebot der Klassik. Zeit, dem rätselhaften Phänomen auf
den Grund zu gehen, zumal das Lucerne Festival 2016 auf Dirigentinnen setzt.
Suche nach dem letzten Spirit
In Haight-Ashbury scheint von dem
Hippie-Spirit nicht viel übrig geblieben
zu sein. Doch noch immer gibt es vor
allem jüngere Menschen, die es hierhinzieht, auf der Suche nach dem bisschen Magie von 1967. Im Golden Gate
Park liegen sie in der Sonne auf dem
Hippie-Hügel. Zu dessen Fuss befindet
sich der Baum, unter dem Janis Joplin
gern sass. Manchmal kommen sie hier
zusammen und klopfen rhythmisch auf
ihren Trommeln.
«Selbstverständlich
bezeichne ich mich immer
noch als Hippie.»
PAM BRENNAN, ORIGINAL-HIPPIE
In der Vergangenheit gab es regelmässig Versuche, das Quartier von den
jungen Hippies und den Obdachlosen
zu säubern. Wie überall in San Francisco sind auch in Haight-Ashbury die Immobilienpreise derart in die Höhe gestiegen, dass sich hier Normalverdienende ein Haus nicht mehr leisten können. Immer mehr Ketten eröffnen an
der Haight Street ihre Filialen. Pam
Brennan engagiert sich in einem Nachbarschaftsrat, der gegen diese Aufwertungskampagnen ankämpft. «Selbstverständlich bezeichne ich mich immer
noch als Hippie», sagt Brennan. Nie habe sie aufgehört, für ein besseres Leben
und gegen den Status quo zu kämpfen.
Noch immer stellt sie sich gegen den
Mainstream mit seinen bürgerlichen
Wohlstandsidealen. In ihrem Haus lebt
sie in einer Gemeinschaft mit zehn anderen Personen und führt einen ökologischen Lebensstil. Drogen nehme sie
schon lange nicht mehr. Selten ziehe
sie noch an einem Joint. Lieber sei ihr
heute ein gutes Glas Wein.
Hippies wirken nach
Näher betrachtet, hat die Hippie-Bewegung in San Francisco deutlichere Spuren hinterlassen, als auf den ersten
Blick ersichtlich ist. So ist beispielsweise die Schwulen- und Lesbenbewegung
fester Bestandteil der Stadt. Auch dass
in unmittelbarer Nähe von San Francisco die weltweit grösste Dichte an technologischer Innovation entsteht, ist ein
Stück weit den Hippies zu verdanken.
Denn zur gleichen Zeit, als die Hippies
in der Stadt rebellierten, entstand im
Silicon Valley die Computerindustrie.
Wer tagsüber programmierte, ging
abends mit den Hippies an Konzerte.
Die zwei Szenen überlappten sich
und waren keinesfalls getrennte soziale
Welten. Über den Gründer von Apple,
Steve Jobs, ist bekannt, dass er eine
Zeit lang in einer Kommune lebte und
LSD ausprobierte. Die Hippies träumten von einer befreiten, individualisierten Gesellschaft ohne Hierarchien, Bürokratien und staatliche Ordnung. Im
Kommunenleben sollten Körper und
Geist eine Einheit bilden, ob beim Familienleben oder bei der Arbeit. Dass
in Grosskonzernen wie Facebook, Google oder Uber die Grenze zwischen
Freizeit und Arbeit immer mehr ineinanderfliesst und genau dies zum Erfolg
der Unternehmen beiträgt, ist ein Erbe
der Träume der Hippies.
Mirga Gražinytė-Tyla: «Mein Beruf besteht aus Musik und aus Kommunikation.»
VON ANNA KARDOS
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O Klassikbetrieb! Die Musik aus dem 19.
Jahrhundert und die Ansichten noch ein
gutes Stück älter?! Fast könnte man es
meinen: «Die Essenz eines Dirigenten ist
Stärke. Die Essenz einer Frau Schwäche», verkündete unlängst Juri Temirkanow, Chefdirigent der Sankt Petersburger Philharmoniker und Inhaber derselben Position bis 2006 auch beim Baltimore Symphony Orchestra. Das Fazit seiner maskulin-eloquenten Analogie ist
sogar für weibliche Gehirne verständlich:
«Frauen, Finger weg vom Dirigierstab!»
Je namhafter, desto männlicher
Immerhin in einem Punkt trifft der reaktionäre Orchesterleiter den Nagel auf den
Kopf: Wie er scheinen auch andere zu
denken. Viele andere. Oder können Sie,
liebe Leserin, lieber Leser, sich erinnern,
wann Sie zuletzt eine Dirigentin ein Sinfonieorchester haben leiten sehen? Diesen Sommer wird es mehr als eine Gelegenheit dazu geben. Wenn im Rahmen
des Lucerne Festival die Crème de la
Crème der internationalen Dirigentinnen
am Ufer des Vierwaldstättersees gastiert,
von der Pionierin Marin Alsop über die
Netzwerkerin Anu Tali bis zum Shootingstar Mirga Gražinytė-Tyla. Damit bricht
das Hochglanzfestival ein ungeschriebenes Gebot der Klassik: Je namhafter ein
Orchester, desto unwahrscheinlicher,
dass es von einer Frau geleitet wird.
Tatsächlich betraten in der 133-jährigen Geschichte der legendären New Yorker Metropolitan Opera bislang nur drei
Frauen das Dirigierpodest, und in
Deutschland sind von 131 musikalischen
Chefposten bloss 2 mit Frauen besetzt –
das ist eine schlechtere Frauenquote als
beim Kegelklub Schafisheim. Dirigieren
scheint so in etwa der männlichste Beruf
der Welt zu sein, übertrumpft nur noch
vom katholischen Priesteramt und dem
Trainerposten im Männerfussball.
Merkwürdig. Wie Testosteronbomben,
die den Dirigierstab als eine Variante des
legendären Fuchsschwanzes für sich
3
So viele Dirigentinnen haben es in der 133-jährigen
Geschichte der New Yorker
Metropolitan Opera aufs
Dirigierpodest geschafft.
pachten, wirken die Herren Orchesterleiter ja gemeinhin nicht. Liegt es also
schlicht und einfach am Musikstil, dass
Frauen in der Klassik so selten das Sagen
haben? Denn in der Sparte Pop schwimmen immer mehr weibliche Stars wie
Madonna, Miley Cyrus oder Adele obenauf. Sie dirigieren zwar nicht klassisch
mit Stab, dafür umgekehrt einen ganzen
Stab an Mitarbeitern.
Selbst wenn ihre Stimmen geschmeidiger sind als jene ihrer männlichen Kollegen, am Gesang allein, an den Rhythmen
und Harmonien kann es nicht liegen,
dass DER Pop neuerdings weiblich ist,
DIE Klassik jedoch nach wie vor männlich. Vielleicht beruht es vielmehr darauf, dass Popmusikerinnen keinen «fremden» Klangkörper dirigieren, sondern für
sich selbst stehen? Adele Laurie Blue Adkins ist Miss Boss des Unternehmens
«Adele» und auf den muskelbepackten
Schultern von Madonna Louise Ciccone
ruht das Musikimperium «Madonna».
Firma versus Philharmonie
Doch längst sind Frauen nicht mehr nur
in eigener Sache unterwegs, sondern leiten höchst erfolgreich Unternehmen,
Sheryl Sandberg etwa als Geschäftsführerin bei Facebook, die Schweizerin Barbara Kux im Vorstand von Siemens. Doch
während in der Schweizer Wirtschaft
sich immerhin 16 Prozent der Verwaltungsratsmandate und 6 Prozent der
Chefsessel in Frauenhand befinden, sind
das Zahlen, von denen Sinfonieorchester
nur träumen. Und manchmal scheint es,
dass sie davon eher albträumen. Weshalb
ist das so? Was ist so grundverschieden
an Philharmonie und Firma? Liegt es an
der Perspektive? Wie im Eisenbahn-Lied
von Mani Matter, wo die einen stets im
Voraus darauf schauen, was kommt,
während die anderen darauf zurückblicken, was war. Dementsprechend lauten
die Gebote der Geschäftswelt: Fortschritt, Entwicklung, Neuerung. Jene der
Klassik dagegen meist: Tradition, historische Authentizität, Rückblick. Wobei sich
mit den genialen alten Zöpfen eines
Dimitrijus Matvejevas
Haydn oder Mozart eben auch weniger
geniale alte Zöpfe verflechten. Beispielsweise die irrige Annahme, dass der liebe
Gott und ein Dirigent nur männlich sein
können.
Dabei zeigte unlängst eine beachtlich
gross angelegte Studie auf, dass Firmen
mit über 30 Prozent Frauen in der Geschäftsleitung den Reingewinn um bis zu
sechs Prozent steigern können. Ist der
Boss eine Bossin, seien die Mitarbeitenden engagierter, die Unternehmenskultur offener, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steige.
Davon können sich Sinfonieorchester
heutzutage eine Scheibe abschneiden.
Denn ausgerechnet in der Idee einer offenen Unternehmenskultur liegt der
Schlüssel, weshalb Frauen auf dem Dirigentenpodest noch immer selten sind.
Mirga Gražinytė-Tyla, 2013/2014 Kapellmeisterin in Bern und Andris Nelsons’
Nachfolgerin beim City of Birmingham
Symphony Orchestra, verrät in einem
Satz Erfolgsrezept und Fallstrick vieler
Dirigentinnen-Karrieren: «Mein Beruf besteht aus Musik und Kommunikation.»
Instrument der Dirigentin
Während nämlich Opernsängerinnen
und Klaviersolistinnen in vollem Besitz
ihrer instrumentalen Kräfte sind, sprich,
ihr Instrument nach eigenem Willen klingen lassen können, besteht das Instrument der Dirigentin aus dem Orchester.
Und wenn auch nur ein Drittel der Musiker ähnlicher Ansicht ist wie der eingangs zitierte Temirkanow, dann ist das
Instrument sprichwörtlich verstimmt.
Sodass selbst die begnadetste Orchesterleiterin damit nichts anfangen kann.
Kein Happy End also für Dirigentinnen? Aber sicher doch. Auf den alternden Polterer Juri Temirkanow folgte
beim Baltimore Symphony Orchestra
2007 eine starke Dirigentenpersönlichkeit. Es war niemand anders als Marin
Alsop. Und selbst Temirkanow muss
schulterzuckend eingestehen: Ihre Essenz ist Stärke – ob nun als Dirigentin
oder als Frau.
lifestyle 43
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
25 Jah re Int ernet
VON ALEXANDRA FITZ
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Daniel steht vor der Tür. Der 24-Jährige
hält unser Essen in den Händen. ThaiCurry und Thunfischtartar mit Avocado
und Mango. Daniel arbeitet für Caviar.
Das ist nicht etwa ein Restaurant, das
Essen ausliefert, so wie es Thai- und
China-Restaurants oder Pizzerien bisweilen anbieten. Caviar ist ein Lieferdienst, der via App bestellt wird. Eine
Plattform, die das Essen unzähliger
Restaurants mit hungrigen Mäulern zusammenbringt.
35 Minuten vorher haben wir uns auf
der App durch Menus von Hunderten
von Restaurants geklickt, um uns letztendlich für einen beliebten Thai in San
Francisco zu entscheiden. Per Kreditkarte haben wir bezahlt und gewartet.
Ganz einfach. Das Schwierigste war die
grosse Auswahl. Es hilft zu wissen, auf
welche Küche man Lust hat, am besten
aber weiss man schon das Restaurant.
Erschwert wird die Auswahl durch die
etlichen Mitkonkurrenten im FoodApp-Bereich.
Seit etwa zwei Jahren starten On-Demand-Apps (Apps auf Anfrage) in San
Francisco durch. Und sie werden immer
beliebter und zahlreicher. Zu verlockend ist es, alles, was man möchte, mit
ein paar Klicks auf dem Smartphone zu
bestellen. Sich nicht aus der Komfortzone zu bewegen, sondern italienisches
Essen, nervige Erledigungen, manikürte
Nägel, saubere Kleidung und eine blitzblanke Wohnung nach dem Motto «Finger auf den Touchscreen und fertig» zu
bekommen. Alles, was man dazu
braucht: Handy und Kreditkarte.
Dafür gibt’s ne App
ker gerufen. Massieren lassen in den eigenen vier Wänden? Kein Problem.
Zum Friseur? Braucht zu viel Zeit, er
soll nach Hause kommen. Mit dem
Hund Gassi gehen? Auch da hilft eine
App. Wag heisst sie. Damit kann man
einen Hundesitter bestellen und seine
Route mit dem Vierbeiner per GPS verfolgen. Ja, Herrchen und Frauchen bekommen sogar eine Benachrichtigung,
wenn ihr Labradoodle einen Baum besudelt und ihr Havaneser ein Häufchen
gemacht hat.
Hunger? Dreckige Wäsche? Chaos daheim?
In Städten wie San Francisco löst man die Probleme mit Apps.
Uber war aller Anfang
In den USA ist es alltäglich, dass Hundebesitzer ihre Vierbeiner nicht selber
ausführen, sondern einen professionellen Hundesitter engagieren. Und nicht
alle haben an dem neuen App-Trend ihre Freude. Jeff beispielsweise, der mit
seinem Partner eine Dogsitting-Firma
im Südwesten von San Francisco betreibt, ist skeptisch, was eine App wie
Wag betrifft. Es sei nicht wirklich gut,
wenn immer ein anderer Gassigeher
die Hunde ausführt, so könne man gar
nicht mit den Tieren arbeiten, ihnen
Manieren beibringen und Marotten abgewöhnen.
Die offensichtliche Inspiration für
diese Entwicklung ist der Fahrdienst
Uber. Auch diese On-Demand-App wurde in San Francisco gegründet. Das war
2009. Seitdem wächst Uber unanständig schnell und chauffiert in immer
mehr Ländern Menschen umher. Doch
die Firma belässt es nicht bei Personenfahrten. Man kann sich nun auch Essen
bestellen. Uber Eats heisst der Dienst,
den es in den USA und neu auch in
London und Paris gibt.
Handy, ich brauch Hilfe!
Doch fehlt da nicht was?
Shutterstock
Ein Grossteil der On-Demand-Services
entsteht in San Francisco. Hier um das
Silicon Valley herrscht Gründerstimmung. Und hier, wo junge Leute in Unternehmen wie Facebook und Google
arbeiten und beschränkte Freizeit haben, ist der Markt für zeitsparende
Apps gross. So könnte man die AppsOn-Demand auch als Services für Workaholics oder faule Städter bezeichnen.
In San Francisco funktionieren sie so
gut, weil die Stadt dicht besiedelt ist.
Und so im Umkreis von wenigen Kilometern genügend Leute einen bestimmten Dienst nachfragen.
Längst beschränken sich die Apps
nicht mehr nur auf den Food-Bereich.
Das Putzen und Aufräumen der Wohnung – sei es nach einer wilden Party
oder regelmässig, weil man selber zu
faul ist – kann man auch so erledigen
lassen. Die typischen Waschsalons, die
wir aus amerikanischen Filmen kennen, werden womöglich auch bald ausgestorben sein. Denn mit ein paar
Klicks kann man sich seine Schmutzwäsche daheim abholen lassen, damit
man sie frisch gewaschen und gebügelt
zurückkommt.
Ikea-Möbel, die zu schwer sind, um
sie allein zusammenzuschrauben? Per
App wird ein fremder Hobby-Handwer-
Geht nicht etwas Wichtiges verloren?
Der Kontakt untereinander? Das Witzeln mit dem Kellner, das Abtauchen in
eine andere Welt beim Friseur? Es ist
doch eine Belohnung, sich in einem dafür bereitgestellten Setting etwas Gutes
zu tun. Wir wollen doch aus dem Haus,
aus dem Büro, nicht ständig zwischen
Arbeit und Wohnung hin und her pendeln. Wer sich den Luxus leistet, eine
Haushälterin zu beschäftigen, schätzt
es zweifelsohne, wenn sie genau weiss,
was man will. Und schliesslich vertraut
man einem Menschen Haus, Schlüssel
und Hund an. Ist es da nicht von Vorteil, wenn man diese Person kennt?
On-Demand-Apps entlasten uns, aber
sie führen auch dazu, dass das Miteinander anonymer wird. Heute bringt Daniel das Essen, Morgen Samy meine
Wäsche, und Sara tätschelt samstags
meinen Hund. Während die TechNerds in Amerika prophezeien, dass
On-Demand sich noch stark entwickeln
und noch sehr viel weiter führen wird,
sind wir in der Schweiz noch traditioneller und zurückhaltender, was Apps
auf Anfrage betrifft. In amerikanischen
Grossstädten gehört Uber etwa zum
Alltag, bei uns sind Uber-Nutzer eine
kleine Gruppe. Noch.
Wenn die Mücken am 1. August keinen Stich haben
Manchmal braucht es nicht viel, um
glücklich zu sein. Ein lauschiges Plätzchen
im Garten etwa, einen Liegestuhl und eine Cola mit Röhrli. Daran nuckelte ich andächtig und stiess einen wohligen Seufzer
in die Abenddämmerung aus.
Manchmal braucht es nicht viel, um Glück
zu zerstören. Zwei Milligramm Körpergewicht reichen . Das bringt eine Culex pipiens auf die Waage, bekannt als gemeine
Stechmücke. Oder Blutsauger. Oder
Schlafkiller: Ich war gerade im Begriff,
wegzudösen, als mich ein besonders gemeines Exemplar angriff. Mit hysterisch
hohem Summton schwirrte die Mücke um
mich herum. Ein paar Minuten wildes Herumfuchteln später trat ich entnervt den
Rückzug in die Wohnung an.
Im Treppenhaus blieb der Blick des Nachbarn an meinen zerstochenen Beinen
hängen. «Hättest halt Mückenschutzspray
Bitte schön!
Rahel Koerfgen
Ein Franzose zum Nationalfeiertag: Der
Lippenstift Vinyl Cream von YSL.
HO
benutzen sollen», stichelte er. Na, vielen
Dank auch. Dieses Chemie-Zeugs ist mir
zuwider. Es riecht eklig (und vertreibt
nicht nur Mücken) und ist erst noch giftig:
Diese Sprays enthalten gesundheitsschädigende Stoffe. «Nicht alle», entgegnete der
Nachbar, winkte mich in seine Wohnung
und drückte mir eine grüne Flasche in die
Hand. «Dieser da kommt ohne Chemie
aus, und damit haben die Sauviecher keinen Stich.» Ich lese, dass der Mückenschutzspray von Para Kito (zwanzig Franken, in Drogerien und Apotheken) zu 100
Prozent pflanzlich ist. Die Wirkstoffe sind
so sanft, dass der Spray sogar bei Kleinkindern angewendet werden kann. Der
Geruch ist gewöhnungsbedürftig, aber das
nehme ich jetzt halt in Kauf.
Der Spray muss gleich den Härtetest bestehen: Zum Einsatz kommt er heute an der
Bundesfeier am Rhein. Dann werden nicht
nur die Basler, sondern auch die Mücken
in Festlaune sein. Am 1. August dann die
zweite Probe, zurück an den Schauplatz
des letzten Angriffs: Im Garten werde ich
den Grill anwerfen und im Kreise meiner
Freunde feine Schweizer Produkte schlemmen, etwa Cervelats, urchiges Brot und
Glace vom Bauernhof. Nur an meine Lippen kommt kein Schweizer, sondern ein
Franzose: Der Lippenstift Vinyl Cream von
Yves Saint Laurent (ab sofort erhältlich, 48
Franken) steht für volle Farben, sexy Lackglanz und langen Halt. Passend zum Anlass
wähle ich die Nuance Rouge Vinyle. Das ist
ein sattes Rot, so rot wie die Schweizerfahne, so rot wie Blut. Was das angeht,
werden die Mücken in meinem Garten in
Zukunft leer ausgehen. Dafür nehme ich
auch in Kauf, dass ich ein wenig komisch
rieche. Um glücklich zu sein, braucht es
manchmal halt doch ein wenig mehr.
kultur 44
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
San Francisco durch die Augen eines Cinephilen
und lernen die «wahren Werte» der
Such- und Geldmaschine Google kennen. Auch in der benachbarten Universität Stanford wurden Szenen gedreht.
New York hat die Brooklyn Bridge. London die Tower Bridge. Aber nur San
Francisco hat die Golden Gate Bridge,
das rote Pazifik-Tor in die Bay Area. Es
ist eines der meistfotografierten Wahrzeichen der Welt. Kein Wunder, ist auch
Hollywood von der ikonenhaften Brücke
mystisch angezogen und dreht immer
wieder in der Stadt der Hippies. So oft,
dass man inzwischen einen Stadtrundgang anhand von berühmten Szenen
machen kann, um einen Eindruck von
der Gegend zu erhalten.
. . . and cut!
Benjamin Weinmann
Wer sich gleich zu Beginn mit dem Silicon-Valley-Virus infizieren lassen will,
kann zuerst den Google-Campus in
Mountain View besuchen, Drehort der
PR-induzierten Komödie «The Internship» (2013). Darin heuern Vince Vaughn
und Owen Wilson als Praktikanten an
25 Jah re Int ernet
Die Reise geht weiter nordwärts. Am
Fusse der Twin-Peaks-Hügel liegt das
Lesben-und-Schwulen-Viertel Castro, in
dem Regisseur Gus Van Sant 2008 das
bewegende Leben von Harvey Milk (Oscar für Sean Penn) verfilmte, dem ersten
öffentlich schwulen Politiker der USA.
Hier wohnte Milk und führte seinen
Wahlkampf. Die Hauptstrasse Market
runterfahrend in Richtung Piers befindet
sich die City Hall, das Rathaus, wo Milk
im echten Leben und im Film sein tragisches Ende fand.
Dann folgt ein kleiner Umweg über die
Hayes Street in Richtung Pazifik zum
Alamo Square, das wohl zweitbeliebteste
Fotosujet der Stadt. Hier präsentiert sich
die bunte Häuserreihe, die viele Postkarten ziert und Serienfans bekannt ist als
Wohnstätte der Familie Tanner aus «Full
House» (1987 bis 1995 und zurzeit als
Neuauflage bei «Netflix»). Es geht weiter
downtown, wo sich viele Szenen der
Filmgeschichte tummeln. Chinatown:
«Big Trouble in Little China» (1986). Pacific Heights: «Mrs. Doubtfire» (1993) und
«Basic Instinct» (1992). Washington
Square: «Dirty Harry» (1971) und «Blue
Valentine» (2010).
Krönender Abschluss der Stadtrundfahrt
ist die Golden Gate Bridge. Hier spielte
Hitchcock in «Vertigo» (1958) mit dem
Adrenalin der Zuschauer. Captain Kirk
und Mr. Spock spazierten der Bucht entlang («Star Trek IV», 1986). Die Affen in
Hip-Hop
Es beginnt mit dem Betrug: Eine Freundin berichtet
Dreezy, dass sie ihren Freund mit einer anderen Frau
gesehen hat. Enden tut es mit Schüssen. Die US-Sängerin und Rapperin legt ein beachtlich dichtes Debüt
vor. Das nimmt vom ersten bis zum letzten Ton ein
und schafft es sogar, über mehrere Songs eine Geschichte zu entwickeln. Dreezy ist eine selbstbewusste
Dame, die im (Gefühls-)Chaos nie den Überblick verliert. Sie kann erzählen und hat einen ganz eigenen,
kratzigen, dreckigen Stil, ihre kleinen, scharfen Beobachtungen darzubieten. Mal spuckt sie sie verächtlich
aus, mal gibt sie ganz die Lady. MICHAEL GRABER
On The Run
★★★★★
Blues-Rock
Wo ist die Intensität?
Die schwedisch-amerikanisch-französische Band Blues
Pills gehört mit den Rival Sons, Kaleo, Temperance
Movement und Black Keys zu den Hoffnungsträgern
des Retro-Rock. Live hat das Quartett um Sängerin
Elin Larsson bei uns die hohen Erwartungen schon
mehrfach erfüllt. Auf ihrem zweiten Album «Lady In
Gold» bleibt die Band aber vieles schuldig. Vermisst
wird der Druck, die Intensität und Dringlichkeit der
Liveband. Elin Larsson singt zwar ordentlich, aber wo
ist die ekstatische Leadgitarre? Wir freuen uns auf das
Konzert im Oktober in Pratteln. STEFAN KÜNZLI
Blues Pills: Lady In Gold, Nuclear Blast. Erscheint
am 5. 8. Live: 22. 10., Pratteln, Z7.
★★✩✩✩
Jazz
Kulinarischer Jazz aus Kanada
Selbst bestens informierte Jazzaficionados werden
beim Namen Taylor Cook (noch) passen müssen. Das
25-jährige Riesentalent aus Kanada (Altsaxofon, Flöte,
Klarinette) outet sich in «The Cook Book» als musikalischer Tausendsassa. In einem 10-gängigen Menü präsentiert der Chefkoch ein stilistisch schwindelerregend
breites Angebot von Minibigband-Swing, Gospelgroove, Bebop, Fusion, Vocaljazz, Hardbop-Streichquartett-Verschnitt und, und, und … Ein musikalischer Riesenspass voller Überraschungen für musikalisch Unvernagelte. JÜRG SOMMER
Taylor Cook: The Cook Book (taylorcook.com/cdBaby.com).
Ich persönlich verbinde vor allem «The
Rock» (1996) mit San Francisco. Dank
der starken Bildsprache kommt die Stadt
im Action-Klassiker besonders gut zur
Geltung. In der Innenstadt findet eine
rasante Verfolgungsjagd statt. Ein Cable
Car fliegt bei einer Explosion in die Luft.
Kampfjets fliegen unter der Golden Gate
Bridge hindurch zur Gefängnisinsel Alcatraz. Sie ist inzwischen eine Touristenattraktion, wie Ausbrecher John Mason
(Sean Connery) ungläubig feststellen
muss. Eine Touristenattraktion, die sich
lohnt, so wie die ganze Stadt.
True Crime
Ein starkes Ausrufezeichen
Dreezy: No Hard Feelings (Universal).
«Planet of the Apes» (2011) erkämpften
sich auf der Brücke den Weg in die Freiheit. Und unzählige Male liess Hollywood die Brücke zerstören, wie zuletzt
in «Godzilla» (2014) oder in «San Andreas» (2015).
★★★★✩
Film-DVD
Griechische Chaos-Familie
2003 sorgte «My Big Fat Greek Wedding» für einen
Überraschungserfolg. Die Culture-Clash-Komödie von
Autorin und Hauptdarstellerin Nia Vardalos überzeugte mit unbeschwertem Charme, Witz und Romantik.
Die harmlose Fortsetzung hat
zu Beginn etwas Mühe, in die
Gänge zu kommen, unterhält
dann aber durchweg. Toula
(Vardalos) und Ehemann Ian
sind schon lange Jahre verheiratet. Doch als Tochter Paris in einer anderen Stadt ans College
will, mischt sich Toulas griechischer Familien-Clan ein. Chaos
ist garantiert. BENJAMIN WEINMANN
Kirk Jones: My Big Fat Greek Wedding 2.
Universal. 90 Minuten.
★★★✩✩
Netflix
tipp
der woche
Auf das richtige
Pferd gesetzt
Ständig macht er ein langes Gesicht. Er kann
ja nicht anders, denn BoJack ist ein Pferd. Genauer gesagt ist er ein anthropomorphes
Pferd, das heisst: BoJack sieht zwar aus wie
ein Pferd, spricht und bewegt sich aber wie
ein Mensch. Doch auch als Mensch würde er
ein langes Gesicht machen. Denn BoJack ist
einsam und voller Reue. Daran ändert auch
seine Luxusvilla in den Hollywood Hills
nichts. Der Glanz der Tage, als BoJack noch
als Star einer 90er-Sitcom gefeiert wurde, ist
längst verblasst. Kein Witz: Die derzeit
beste Comedyserie ist ein Cartoon über ein
depressives Pferd. Die Netflix-Eigenproduktion «BoJack Horseman» ist alles andere als
Kinderkram, hat weniger mit Disney zu tun
als mit komplexen Meisterwerken wie«Mad
Men» und «Breaking Bad». Serienschöpfer
Raphael Bob-Waksberg zieht der Traumfabrik
den Boden unter den Füssen weg und blickt
tief in die Abgründe von Ruhm und Egomanie. In den ersten zwei Staffeln kämpft sich
BoJack (genial gesprochen von Will Arnett)
ins Rampenlicht zurück. In der eben veröffentlichten dritten Staffel darf er gar auf
einen Oscar hoffen. Würde sich BoJack
auf der Suche nach Glück, Bedeutung und
nach sich selbst bloss nicht andauernd
selbst sabotieren. Lassen Sie sich von der
bunten 2-D-Welt nicht täuschen, eine unglaubliche Tiefe zeichnet dieses Pferd aus.
Wie hier Tiere mit Menschen verkehren, mag
auf den ersten Blick absurd wirken – doch
«BoJack Horseman» ist lustiger, bewegender
und menschlicher als alles, was derzeit zu
sehen ist. LORY ROEBUCK
Er schreibt die derzeit wahrscheinlich
besten Krimi-Dialoge zwischen Oslo, Zürich und Brooklyn, hat ein vortreffliches
Gespür für die Tragikomik des Lebens am
Abgrund und weiss, wovon er schreibt:
Carmelo Pietro Stella, kurz Charlie Stella,
ein 1956 in Manhattan geborener Ex-Tellerwäscher, Ex-Melonenpacker, Ex- Fensterputzer und Ex-Burger-Brutzler, der
sich anschickt, international zu den Grossen des Krimi-Genres aufzusteigen. Was
der Mann draufhat, demonstriert er nun
erstmals eindrucksvoll im Rahmen seines
grandiosen Mafia-Thrillers «Johnny Porno», einem knapp 500-seitigen Knaller,
der sich liest, als hätten Quentin Tarantino, Buddy Giovinazzo und Paul Cain gemeinsame Sache an der Maschine gemacht. Stella schreibt einen Ton, der sich
im Gehörgang festkrallt. Er erzählt von
der rauen, hässlichen Alltagspoesie, wie
sie kleine Mafiosi an den Tag legen, die
wissen, dass der nächste Atemzug unter
unglücklichen Umständen bereits ihr letzter sein kann.
Johnny Porno kann ein Lied davon singen, was es heisst, für die Cosa Nostra
die Drecksarbeit an der Front zu machen.
Er kutschiert mit seiner Rostlaube die
Kohle, welche die Cosa Nostra mit dem
von ihr produzierten späteren PornoKlassiker «Deep Throat» in den Hinterzimmern irgendwelcher Bars allabendlich
einspielt, quer durch New York. Bezahlt
wird in 5-Dollar-Scheinen, doch das Geschäft läuft schleppend. Dass Johnny
trotzdem immer neue Verfolger im Rückspiegel seines schäbigen kleinen Geldtransporters ausmacht, die ihm die Kohle
abzujagen versuchen, bringt schliesslich
einen Plot in Gang, der so schräg und rasant zugleich ist, dass man sich verwundert fragen muss, weshalb den hiesigen
Krimi-Spähern diese schwarz funkelnde
Perle erst jetzt ins Netz gegangen ist.
Denn Stellas Wundertüte, in der so
ziemlich alles drin ist, was einen erstklassigen Krimi ausmacht, ist bereits vor
sechs Jahren in den USA erschienen und
hat den Ex-Theaterschreiber dort zu einer
grossen Nummer gemacht. Doch nun hat
Thomas Wörtche, der Doyen des deutschen Krimis, Stella gottlob endlich an
den Haken bekommen und kredenzt ihn
uns zur erquickenden Lektüre. Gut so.
«Er lebte den Schund, den er schrieb»,
hiess es einst in Daniell Woodrells
makellosem Country-Noir «Stoff ohne
Ende» über dessen Helden Doyle
Redmond. Auf Johnny Porno übertragen
würde das wohl bedeuten: «Er floh
vor dem Scheiss, den er leben musste.»
PETER HENNING
BoJack Horseman. Raphael Bob-Waksberg.
Alle 3 Staffeln (36 Episoden à ca. 25 Minuten) jetzt auf Netflix.
★★★★★
Charlie Stella: Johnny Porno. Suhrkamp. Aus dem Amerikanischen von
Andrea Stumpf. 496 S.
★★★★★
25 Jah re Int ernet
Schweiz am Sonntag
31. Juli 2016
Thinkstock
If you’re going
to Saaan
Fraaancisco ...
... machen Sie sich auf eine bunte Stadt mit toleranten, kreativen
Menschen gefasst. Seien Sie gewappnet für kühle Brisen, lassen Sie
den Nebel über die Stadt ziehen, und kommen Sie bloss hungrig.
VON ALEXANDRA FITZ
Alcatraz
Golden Gate Nat'l
Recreation
Area Bridge
Golden Gate
Alcatraz
Island
Treasure
Island
Fisherman's Yerba
WharfBuena
Island
Fort Mason
Fort Point
Presidio of San
National Historic Francisco
North Beach
Marina
Site
Presidio
San Francisco
Fort Winfield
Russian Hill
Maritime Natl Hist Pk
Pacific
Scott
Heights China Town
Financial District
Richmond District
Golden Gate Park
Nob Hill
Western
Addition
Richmond
District
SAN
Strawberry
Hill
The Castro
Noe Valley
Portrero Hill
Bernel
Heights
Twin Peaks
Bayview Hunter's Point
District
Penguin
Island
Lake Merced
Port
Missio
District
Sunset District
Sunset
District
Downtown
HaightFRANCISCO
South
Market
Ingleside
Ingleside
Excelsior
Bayshore
Candlestick Point
State Rec Area
MAPS4NEWS.COM/©HERE
W
enn wir auf einem Städte-Trip
sind, dann saugen wir mit Nase, Augen und
Ohren im Sekundentakt Eindrücke ein. In Chinatown rümpfen wir die
Nase ob des Fischwassers, das über die
Strassen in die Gullis sickert. In der
Market Street horchen wir auf, wenn Sirenen der Feuerwehr- und Polizeiautos
schrillen und uns an Action-Filme erinnern. Wir vergleichen die Umgebung
mit zu Hause. Mit der Summe der Impressionen und Ereignisse machen wir
uns ein Bild von einem Ort und bewerten ihn. Fragen uns manchmal gar:
Könnte ich hier leben?
Zu Hause erzählen wir, zeigen Bilder.
Fragen Sie sich auch manchmal: Wenn
ich diesen Ort mit einem Wort beschreiben müsste, welches wäre es?
Berlin mit «hip», Zürich mit «schön»?
Dann wäre San Francisco – die Stadt an
der Westküste der USA – wohl mit
«cool» zu bewerten.
Hier leben echte Charaktere. Die
Stadt strotzt vor Kreativität und Energie. In der viertgrössten Stadt Kaliforniens und nach New York US-Grossstadt
mit der zweithöchsten Bevölkerungsdichte pulsiert an jeder Ecke Leben. Ihre Bewohner sind tolerant, innovativ,
hip und technisch versiert. Die Stadt
begeistert weniger mit imposanten
Hochhäusern als vielmehr mit Quartieren, die alle ihren eigenen Charme haben. Die vielen Hügel (rund 50) bescheren einem spektakuläre Ausblicke. Es
ist sympathisch, dass in der Innenstadt
klapprige Busse und ein Nostalgie-Tram
(Linie F, Market Street) herumtuckern,
obwohl sie ans Silicon Valley grenzt,
den Nabel der Digitalisierung und des
Hightech.
Und erst die Cable Cars, die von
«conductor» und «gripman» (Fahrer)
gesteuert werden. Ab aufs Trittbrett
und die California und Powell Street
rauf- und runterrattern. Der Wind zerzaust einem die Haare, bis man dem
Fahrer zuruft: «Next Stop Please!». In
Castro erkennt man, was «tolerant»
heissen kann. Hier im Gay-Viertel wehen die Regenbogen-Flaggen das ganze
Jahr über.
Noch immer zehrt die Stadt vom
«Sommer of Love». Obwohl keine Blumenkinder mehr auf den Trottoirs hocken, leben noch immer viele Freidenker in der Stadt. Es sollen sich über
47
Fotos: Fitz, HO, Thinkstock
Die Golden Gate Bridge – das Wahrzeichen
von San Francisco.
reisen
1000 verschiedene Volksgruppen in
der Stadt versammeln. Jeder Stadtteil
steht für eine bestimmte Nationalität.
Und die Bewohner wollen alle authentisch leben und essen. Man sagt, in San
Francisco gäbe es so viele Restaurants,
dass alle Einwohner gleichzeitig ausgehen könnten und jeder Platz fände. San
Fran ist das Mekka der Foodies.
In Frisco weht eine frische Brise
«Cool» ist San Francisco aber auch im
ursprünglichen Wortsinn. In der Stadt
an der Bucht ist es für kalifornische
Verhältnisse oft frisch. Wer im Sommer
nach Kalifornien reist, erwartet sportliche Leute, die in Shorts dem Strand
entlang joggen. Doch in Frisco – obwohl die stolzen Bewohner diese Bezeichnung für ihre Stadt nicht allzu
gern hören, passt der Terminus gut
zum Klima – weht oft ein Lüftchen vom
Meer her. Daher kleiden sich die San
Franciscans in Schichten und haben
immer ein Jäckchen als Back-up dabei.
Am wärmsten ist es im September
und Oktober, während des Indian Summer. Aber viel wärmer als 20 Grad wird
es auch dann nicht. Im Sommer hat in
San Francisco vor allem einer das Sagen: der Nebel. Morgens fröstelt die
Stadt fast immer unter einer Nebeldecke. Warme Luft aus dem Inland
trifft auf kalte Meeresluft, und so
entsteht über der San Francisco Bay
Nebel.
Zum Glück verflüchtigt sich der
«Fog» nachmittags meist, dann kämpft
sich die Sonne durch und zeigt sich von
ihrer goldenen Seite. Endlich kommt
das Wahrzeichen der Stadt zum Vorschein. Die wagemutige Konstruktion,
die 67 Meter über dem Meer hängt, ist
eigentlich rot. Doch im Sonnenlicht –
wenn der Nebel dann mal weg ist –
strahlt sie wirklich golden. Die 2,7 Kilometer lange Fahrt geniesst man am besten auf dem Velosattel. Die Autos rauschen vorbei, der Wind reisst einem
fast den Lenker aus den Händen, doch
das Gefühl auf dem mächtigen Stahlding ist unbeschreiblich. Man blickt auf
die Skyline der City und ehrfürchtig auf
die berüchtigte Gefängnis-Insel Alcatraz in der Bay.
Drüben angekommen, düst man den
Hügel hinunter, um im mondänen Hippie-Städtchen Sausalito zu flanieren,
bevor man auf der Ferry samt Velo wieder in die Metropole schippert. Man
legt bei der Fisherman’s Wharf an und
befindet sich am Pier 39 mit Souvenir-
Cable Cars – Nostalgie in der Stadt der Zukunft.
Bitte anstehen! Bi-Rite Creamery in der Valencia Street, Mission.
Sausalito, schönes Städtchen – am besten mit Velo über die Golden.
Hipster-Hangout, der beliebte Mission Dolores Park.
Im Regenbogenland, Castro ist das Gay-Viertel der Stadt.
Viktorianische bunte Häuser aus dem 19. Jh. – die «Painted Ladies».
Shops und den faulen Seelöwen im touristischen Epizentrum. Und murmelt
bei all dem Kitsch: «Typisch Amerika.»
Authentischer und weit entzückender sind die vielen Quartiere mit ihren
Bewohnern. Wer die «Hauptstrasse»
(Market Street) zwischen den Wolkenkratzern entlang gelaufen ist, macht
sich auf alle Seiten in die unterschiedlichen Stadtteile auf. Das älteste Chinatown Nordamerikas etwa, Haight-Ashbury, hatte seine Blütezeit im Summer
of Love, und trotzdem zeugen die bunten, schönen Häuser noch von der Flower-Power-Zeit. North Beach ist die
Heimat der Italiener.
Der trendy Mission District
Spannend und aufstrebend ist der
Mission District. Es ist ein wenig absurd, dass der erste und älteste Stadtteil Friscos die Quelle all der neuen,
hippen Dinge ist.
Mission – früher Lateinamerika im
Kleinen genannt – ist eigentlich Heimat
der Lateinamerikaner und der spanischen Sprache. Heute erobern Hipster
die Gegend um die Mission und Valen-
cia Street. Hier futtert man die leckersten Burritos, bestaunt Graffiti-Wände
um die 24th Street und gönnt sich ein
Eis bei «Bi-Rite Creamery», gemäss dem
Reiseführer «San Francisco for the
young, sexy and broke» die berühmteste Eisdiele. Wer aufgrund der roten Absperrbänder denkt, es handle sich um
einen VIP-Club, hat noch nicht erkannt,
dass Amis für alles Schlange stehen.
Auf Kreationen wie Caramel-Seasalt
und Roasted-Banana wartet man geduldig. Um sich dann im Mission Dolores
Park zwischen Palmen mit Blick auf die
Skyline auszuruhen.
Die amerikanische Küche fällt uns gewiss nicht als Erstes ein, wenn wir an
feine Speisen aus aller Welt denken.
Klar mögen wir alle mal Burger und
Fritten – aber immer Fast Food kann es
dann doch nicht sein. Frisco ist anders,
San Fran ist ein Food-Mekka. Alleine
wegen der Kulinarik lohnt es sich, an
die Bay Area zu pilgern. Die Vielfalt
liegt vor allem an den vielen Einflüssen
– die Mehrheit der 840 000 Einwohner
ist zugereist, ein Drittel sogar von ausserhalb der USA. Obwohl sich hier
wirklich viel um Essen dreht, achtet
niemand in den USA so sehr auf die
schlanke Linie und auf gesundes Essen
wie die Kalifornier. Healthy Food und
Smoothies gibt es hier an jeder Ecke.
Mit weit über 1000 Restaurants ist
das Angebot – um es mit dem amerikanischen Wort zu sagen – einfach «awesome». Auch wenn Europäer und allen
voran die zurückhaltenden Schweizer
es oft anstrengend und übertrieben finden, wenn Amerikaner lauthals von
Dingen schwärmen, hat man trotzdem
das Gefühl, dass sich die San Franciscans für ihre Besucher interessieren.
Klar, beim locker-flapsigen «Hey, how
are you doing?» wissen wir immer noch
nicht so recht, ob sie wirklich eine Antwort erwarten. Aber sie sind offen. So
kommt es schon mal vor, dass sie aufgrund des Reiseführers auf dem Tisch
fragen: «Do you enjoy your stay?» Sie
interessieren sich für die Herkunft ihres
Gegenübers, wollen wissen wie die
Schweiz ist. Hierzulande sind viele von
uns dazu zu scheu. – Also ab nach Frisco. Dort gibt’s Inspiration und Energie.
Reiseinfos zu San Francisco
Anreise: Zweimal täglich mit Swiss,
direkt, früh buchen
Übernachten: Im SoMa District,
gleich bei der Market Street, mitten
im Museumsviertel im W Hotel, einem der besten Hotels der Stadt,
das vom Zürcher Roger Huldi geführt wird. www.wsanfrancisco.com;
«The Red Victorian»: B&B in der
Haight Street (Hippie-Viertel) ein Relikt aus den Blumenkindertagen,
www.redvic.com
Verkehr: Muni - öffentlicher Verkehrsverbund. Der Tagespass kostet
etwa 15 Dollar. San Francisco ist zwar
die Stadt des Fortschritts, aber verkehrstechnisch lottert es ein wenig.
Die Busse sind fast kriminell, das
F-Tram, das zum Hafen fährt, schon
wieder nostalgisch, die Cable Cars
ein Muss (lange Schlange!), Uber
und Cabs sind dazu gute Alternativen.
Essen: Stetig kommen neue Restaurants dazu, was gerade angesagt ist,
finden Sie auf dem Food-Blog
www.violetfog.com oder auf der
Website des Food-Magazins «7x7».
Dort lesen Sie auch «100 Things to
Eat in San Francisco Before You
Die», www.7x7.com, www.tablehopper.com ist eine wöchentliche Kolumne über die Food-Szene San
Franciscos. Unbedingt probieren:
Burrito in Mission, Crabs – fangfrische Taschenkrebse vor allem auf
Fiherman’s Wharf und Sourdough
Bread – knuspriges, helles Sauerteigbrot.
Tagestrips: Oakland und Berkley. In
die Weingegend nach Napa, Sonoma
oder Mendocino. August bis Oktober
tummeln sich dort Touristen, Insider
sagen, die ersten zwei Novemberwochen seien am besten. Sausalito,
nur über die Golden Gate, mit bunten Hausbooten. Yosemite National
Park. Lake Tahoe.
Allgemeine Infos: San Francisco for
the young, sexy and broke» von OTP,
spezieller Führer, allgemeine gute Infos auf www.sanfrancisco.travel.

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