Stay queer? - Zürcher Hochschule der Künste

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Stay queer? - Zürcher Hochschule der Künste
Stay queer?
Eine empirische Auseinandersetzung mit trans*
Theoriearbeit HS 13 / FS 14
Betreuung: Simon Graf, Klaus Schönberger
Autor_innen: Sarah Lauener, Anja Zuberbühler
Zürcher Hochschule der Künste
Bachelor Medien und Kunst
Vertiefung Theorie
2
Dank
In erster Linie wollen wir uns bei den Menschen bedanken, die sich konkret an dieser Arbeit
beteiligt haben, uns ihre Zeit, Offenheit und ihr Vertrauen entgegenbrachten, indem sie sich
auf sehr persönliche Gespräche mit uns einliessen. Die Treffen waren meist berührend und
freundschaftlich, manchmal auch aufwühlend oder verwirrend, in allen Fällen aber sehr
bereichernd und lehrreich.
Vielen Dank auch an unsere Dozent_innen Annemarie Bucher, Martina Fritschy, Simon Graf,
Francis Müller und Klaus Schönberger, die uns inhaltlich und formal unterstützt haben. Ohne
das Zutun dieser Personen wäre diese Arbeit nie zu Stande gekommen und deshalb sind wir
sehr dankbar für alle Inputs und Auseinandersetzungen, jede Kritik und Empfehlung.
Und ebenfalls ein grosses Merci an unsere Partner_innen, Familien und Freund_innen, die
uns Anregungen zu diesem Thema gaben, uns stets unterstützend zur Seite standen und vorab
die Arbeit korrigiert und kritisiert haben.
3
Abstract
In dieser Arbeit setzen wir uns mit Fragen zum Thema trans*gender auseinander. Als
Grundlage dazu dienen uns Gespräche, welche wir mit Trans*personen geführt haben, die
sich entweder in einer Transition befinden, diese bereits abgeschlossen haben oder ein
queeres Selbstverständnis haben und keinen eindeutigen ›Geschlechterwechsel‹ anstreben.
Dies beinhaltet immer auch eine Kritik an der binären Geschlechterordnung, die sie auch
verkörpern. Viele Trans*menschen, für die eine Transition ein wesentlicher Schritt ist, sehen
in einem Passing eine wichtige Bedingung, um gesellschaftlich anerkannt zu werden.
Während einige unserer Gesprächspartner_innen diesen Anerkennungsprozess kritisch
reflektieren,
fordern
andere
Verständnis
und
Akzeptanz
für
die
Norm
der
Zweigschlechtlichkeit und begreifen trans* als ›Abweichung‹.
Aus queer-feministischer Perspektive ist es für uns hierbei interessant, wie sich
Trans*personen innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit bewegen, aber gerade auch wo sich
Alternativen dazu aufzeigen lassen und inwiefern trans* die scheinbare Starrheit der
heteronormativen Gesellschaft als konstruiert ausweist. Vor diesem Hintergrund befragen wir
die
Trans*personen
zu
Massnahmen
wie
geschlechtsangleichende
Operationen,
Hormoneinnahme und die damit teilweise verbundene Eingliederung in die dichotome
Geschlechterordnung. Ebenso befassen wir uns mit ihren individuellen Lebensgeschichten,
Aussagen, Vorstellungen und Überlebenstaktiken.
4
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................................................. 6 1.1 Relevanz ........................................................................................................................ 8 1.2 Zur Terminologie ........................................................................................................ 10 1.3 Aufbau der Arbeit........................................................................................................ 12 1.4 Methodik - Vorgehen .................................................................................................. 13 1.4.1 Newsletter Transgender Network Switzerland ..................................................... 15 2 Theorie ............................................................................................................................... 18 2.1 Performative Körperakte ............................................................................................. 18 2.2 Heteronormativität ...................................................................................................... 22 3 Gesprächspartner_innen ..................................................................................................... 26 Chris ..................................................................................................................................... 27 Daniela ................................................................................................................................. 28 Helena................................................................................................................................... 29 Kai ........................................................................................................................................ 30 Katja ..................................................................................................................................... 31 Lio ........................................................................................................................................ 32 Luisa ..................................................................................................................................... 33 Romeo Koyote Rosen........................................................................................................... 34 Stephanie .............................................................................................................................. 35 4 Aus dem Alltag von Trans*menschen ............................................................................... 36 4.1 Soziales Umfeld .......................................................................................................... 37 4.2 Coming-out .................................................................................................................. 40 4.3 Passing ........................................................................................................................ 43 4.4 Diskriminierung .......................................................................................................... 46 4.5 Umgang mit Normen und Begriffen ........................................................................... 50 5 Fazit / Schlussbemerkungen ............................................................................................... 56 6 Glossar / Begriffserklärungen ............................................................................................ 60 7 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 68 8 Links ................................................................................................................................... 70 9 Anhang ............................................................................................................................... 72 9.1 Gerichtsurteil: Registrierung der Geschlechts- und Namensänderung ....................... 72 9.2 Abstract: Transpersonen und Arbeitsmarkt................................................................. 78 9.3 Weiterführende Literatur zu trans*, Gender und Empirie........................................... 80 9.4 Links ............................................................................................................................ 81 9.5 Links zu Texte ............................................................................................................. 82 9.6 Links zu Glossars (Begriffe) ....................................................................................... 82 5
9.7 Fragebogen .................................................................................................................. 84 10 Eigenständigkeitserklärung .............................................................................................. 85 6
1 Einleitung
Aufgrund eigener alltäglichen Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen interessieren wir
uns für Phänomene wie Selbstdarstellung, gesellschaftliche Normen und Identitäten. Wir
hinterfragen jene Konzepte, welche uns in Schranken weisen und aus scheinbar
unerklärlichen Gründen einfach existieren. So befassen wir uns damit wie Vorstellungen von
Weiblichkeit und Männlichkeit entstehen. Warum wirkt eine Frau mit viel Gesichts- oder
Beinbehaarung männlich oder ein Mann ohne Bartwuchs und einer schmalen Statur weiblich?
Wie wird eine bestimmte Person als ›normal‹ und eine andere als ›Abweichung‹
ausgewiesen? Wie entstehen gesellschaftliche Vorschriften, die besagen wie sich eine Frau zu
kleiden, zu verhalten und zu sprechen hat? Wie wird das Konzept Mann (re)produziert? Wie
werden bestimmte Handlungsformen zu Tabus und andere zu legitimierten, normativen
Akten? Wie kommt die Idee einer geschlechtlichen Identität auf, wenn sie nicht durch die
Sprache ausformuliert würde? In dem Zusammenhang: wie bilden sich Annahmen von zwei
voneinander getrennten Geschlechtern, die sich in ihrem Sexus, in ihrem Begehren und in
ihrer sexuellen Praxis unterscheiden?
Vor allem durch unser Studium haben wir uns eine kritische Denkweise in Bezug auf
Geschlechternormen und (Über)Lebenstaktiken angeeignet und hinterfragen Normen,
Strukturen, Begrifflichkeiten und ihren diskursiven Entstehungszusammenhang. Wir haben
Interesse an queer-feministischen und philosophischen Theorien entwickelt und befassen uns
genauer mit Taktiken, die die rigide Zweigeschlechterordnung in Frage stellen. Mit Michel de
Certeau verwenden wir anstelle von Strategien den Begriff der Taktiken. Weil nach Certeau
die Taktik die List ist, die »überraschend in eine Ordnung eindringt«, ein Witz, eine
Taschenspielerei. Die Taktik hat keinen Ort, »sie hat nur den Ort des Anderen. [...] Ohne
eigenen Ort, ohne Gesamtübersicht, blind und scharfsinnig wie im direkten Handgemenge,
abhängig von momentanen Zufällen, wird die Taktik durch das Fehlen von Macht bestimmt,
während die Strategie durch eine Macht organisiert wird«. Strategien schaffen totalitäre
Systeme und Diskurse, Taktiken hingegen sind Handlungen, »die auf einen geschickten
Gebrauch der Zeit, der Gelegenheit, die sie bietet, und auch der Spiele, die sie in die
Grundlagen einer Macht einbringt, setzten«. So ist die Taktik mobil, sie ist eine Bewegung,
die für Überraschung sorgt und sie tritt dort auf, »wo man sie nicht erwartet«.1
1
Certeau (1988), S.85f
7
Wir haben Menschen getroffen, die sich als trans 2 , und/oder queer verstehen, sich in,
zwischen oder neben den Geschlechterkategorien Frau und Mann bewegen, sich als
»Transform«, FtM, MtF, als Tomboy, geschlechtslos, LesBiSchwul beschreiben oder sich gar
nicht über bestimmte Begriffe definieren wollen, beziehungsweise je nach Situation,
Stimmung, Vorstellung und Dringlichkeit ihre Kategorien frei wählen. Menschen, die weder
ihr Geschlecht, noch ihr sexuelles Begehren aussprechen und somit festlegen wollen. Die
Gespräche waren für uns sehr lehrreich in vielerlei Hinsicht. Vor allem, dass trotz all den
Rastern und Regelungen eine emanzipatorische Lebenskonzeption stattfinden kann und soll,
um innerhalb gesellschaftlichen Schranken neue Räume und Möglichkeiten von Autonomie
zu schaffen und Geschlechtervielfalt zu leben. Die vorherigen Fragen und folgende Themen
sind in unserer empirischen Arbeit zentral und stellen die Basis dar, um über unterschiedliche
Positionen und Lebenskonzepte von Menschen zu sprechen, die sich zwischen oder neben den
herkömmlichen Kategorien Frau und Mann verorten lassen, die damit die vermeintliche
›Natürlichkeit‹ von Geschlecht in Frage stellen. ›Natur‹ dient in dem Zusammenhang oftmals
als Legitimation, welche die Geschlechterkategorien Frau und Mann nicht als Konstrukte,
sondern als unhinterfragt gegeben ausweisen.
Wir werden verschiedene Auffassungen von trans* und/oder queer beleuchten, wobei keine
als dominant erscheinen soll. Wir diskutieren mit welchen Begriffen sich die befragten
Trans*menschen beschreiben, wie sie mit der Norm der Zweigeschlechtlichkeit umgehen und
ob sie Frau und Mann als einschränkende Begriffe empfinden. Wir fragen nach Taktiken, die
sie innerhalb der Rasterung und Normierung der Geschlechter entwickeln. Wir wollen wissen
wie ihr Umfeld reagiert hat, ob das Coming-out befreiend, die Transition ein unumgehbarer
Weg war und welchen alltäglichen Herausforderungen sie sich stellen müssen. Wir möchten
herausfinden, ob sie normative Auffassungen aufgrund ihrer Geschlechtsangleichung
bestätigen oder neue, festgefahrene Bilder generieren und aus welchem Bedürfnis heraus der
Wunsch nach einer geschlechtsangleichenden Operation entsteht.
2
trans und weitere Begriffsklärungen (kursiv) Glossar ab S.58
8
1.1 Relevanz
Butler beschreibt, dass »wir zwar Normen brauchen, um leben zu können, und gut leben zu
können, und um zu wissen, in welche Richtung wir unsere soziale Welt verändern wollen,
dass wir aber auch von den Normen in Weisen gezwungen werden, die uns manchmal Gewalt
antun, so dass wir sie aus Gründen sozialer Gerechtigkeit bekämpfen müssen«.3
Normen sind festgefahrene, kulturelle Bilder, Grundsätze und Regeln, die sich unterscheiden
und vor allem verändern können. Das traditionell bürgerliche Konzept der Hausfrau, die
Kinder gebärt und hauptsächlich für die Erziehung und Hausarbeit zuständig ist, war in der
Schweiz über Jahre hinweg ein gängiges Leitbild der Familienpolitik, welches in den letzten
fünfzig Jahren durch viele, neue Familien- und Lebensmodelle in Frage gestellt wurde. Oder
die Regulierung des Adoptionsrechts für gleichgeschlechtliche Paare, das in den letzten paar
Jahren immer wieder neu gesetzt und wohl zukünftig noch weiterhin diskutiert wird.4 Es sind
Prozesse, die langwierig, teilweise mühsam und sehr vertrackt sind, so dass Veränderungen
und neue Perspektiven nicht von heute auf morgen generiert werden. Doch unserer Ansicht
nach ist es trotzdem wichtig, sich in solche Prozesse einzuschalten und gesellschaftliche
Veränderungen zu unterstützen. Diesen Text verstehen wir auch als einen solchen Eingriff.
Wir wollen nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Thematik lenken und persönliche
Geschichten von Menschen erzählen, sondern uns damit auch in den Geschlechterdiskurs
einmischen. Wir wollen auf die Marginalisierung von Menschen hinweisen, die aufgrund
ihres
Geschlechts,
ihrer
Lebenskonzeption
und
Überlebenstaktiken
Ausgrenzung,
Diskriminierung und Gewalt erfahren. Und wir wollen aufzeigen, dass aufgrund des
konstruierten Charakters des Geschlechts ein Potential im Prozess der Wiederholung inhärent
ist, der Verschiebungen von Normen zulässt und auslöst.
Infolge unserer kritischen Position gegenüber hegemonialen Strukturen und Normen erachten
wir es als unerlässlich uns in politische Gefilde wie dem der Geschlechtertheorien
einzumischen um dabei auf Missstände, Ungerechtigkeiten, aber auch auf Taktiken, die einen
möglichen Wandel hervorrufen, hinzuweisen. Wir wollen nicht nur unser eigenes
Bewusstsein stärken und uns solidarisch zeigen, sondern in eine gesellschaftliche und
politische Debatte eingreifen und uns gegen (hetero)sexistische Praktiken positionieren und
Konstruktionen wie jene der Geschlechter hinterfragen.
3
4
Butler (2009), S.327
Sozialinfo (2012): Adoptionsrecht – Homosexuelle dürfen Stiefkinder adoptieren
9
Diese Aufgabe innerhalb der Theorie, die wir uns selber aufgeben und der wir uns in dieser
Arbeit stellen, verstehen wir über Butler als eine politische Praxis. Sie begreift Theorie selbst
als verändernd, betont aber auch, dass zusätzlich eine »Einmischung auf gesellschaftlicher
und politischer Ebene, zu denen Aktionen, ausdauernde Bemühungen und institutionalisierte
Praxis gehören«5, notwendig sei um soziale und politische Veränderung anzustreben. So
besteht unsere Arbeit nicht aus einer rein theoretischen Abhandlung, sondern hat ein explizit
gesellschaftspolitischer Anspruch und versucht die beiden Ebenen zu verschränken. Durch
einen bewussten Umgang mit der Sprache, mit bestimmten Begriffen und Kategorien wollen
wir einerseits einen Rahmen bilden, der auch einen Zugang für Leser_innen schafft, die sich
mit der Trans*thematik nicht auskennen. Auf der anderen Seite stellte sich uns die Frage, wie
wir über ein Thema sprechen können ohne eine begriffliche Setzung, ohne selber wieder
einzuordnen und festzuschreiben. Wie sollen wir über ein übergeordnetes Thema diskutieren,
wobei sich viele Beteiligte nicht über diese Kategorien definieren? Einzig möglich war die
Einigung auf einige Begriffe, die nicht vereinheitlichen sollen und Erweiterungen zulassen,
die nicht definieren sollen, sondern einen Diskussionsraum eröffnen, der Verhandlungen
zulässt und festgefahrene und festschreibende Begriffe kritisch behandelt.
5
Butler (2009), S.325
10
1.2 Zur Terminologie
Wir haben uns für den englischen Begriff trans*gender entschieden, da er alle möglichen
Untergruppierungen und Beschreibungen zulässt und von Menschen positiv angeeignet wird,
»die den heteronormativen Kategorien von ›Mann‹ oder ›Frau‹ nicht entsprechen können oder
wollen. Das kann Transvestiten, CrossdresserInnen, Drag Kings und Queens umfassen, genau
so wie Butches, Femmes oder sehr weibliche Schwule«. 6 Aber auch Trans*frauen,
Trans*männer, zwischengeschlechtliche oder LesBiSchwule Menschen, die sich als queer
verorten und Menschen, die Lebenskonzepte aufzeigen, »die verschiedene Räume und
Denkmöglichkeiten [eröffnen], welche die starre Einteilung der Menschheit in ›zwei
Geschlechter‹ infrage stellen«.7 Die Verwendung des Begriffes auf diese Weise ist in vielerlei
Hinsicht problematisch, da sich einerseits nicht alle Trans*menschen als ›im falschen Körper
geboren/lebend‹ verstehen und andererseits sich nicht alle Trans*menschen weiterhin als
trans* auffassen wollen. Ebenso sehen sich zwischengeschlechtliche Menschen nicht
unbedingt in der Gruppierung von queer, trans*gender und LesBiSchwulen Menschen.
Dennoch möchten wir einen Oberbegriff benützen, nicht um rechtliche Unterschiede oder
individuelle Umgänge und verschiedene Interessen unter den Teppich zu kehren, sondern um
mit einer Kategorie zu arbeiten, die eine grössere, wenn auch differenzierte Masse fasst und
die dadurch auch eine politische Relevanz erhält. »Der gemeinsame Nenner ist das Interesse
an Differenz und an einer Gesellschaft, in der Differenzen lebbar sind.«8 Hierbei geht es um
fliessende Begriffe, um ein ständiges Bewegen, Verändern, Schwanken und immer wieder
neu Formieren.
trans* gebrauchen wir so als einen erweiterbaren Begriff (wie -gender, -mensch, -mann, frau). Das Sternchen deutet auf eine Öffnung hin, das trans* ist somit nicht festgelegt und
wird mit dem Ausdruck ergänzt, den die Personen jeweils für sich verwenden.9 Wir deuten
trans* aus einer queeren Perspektive, im Sinne von übersteigend, überschreitend, ewigunendlich und transformativ, also die Möglichkeit zur Umformung, Umgestaltung. Somit
entspricht es einem Prozess, der sich nicht zu einem Ideal hin bewegt, sondern nie
abgeschlossen sein wird und sich stetig verändert.
6
polymorph (2002), S.14
polymorph (2002), S.9
8
Raunig (2000), S.46f
9
Schuster 2008, S.129
7
11
In der direkten oder indirekten Rede verzichten wir bei dem Begriff trans auf den zusätzlichen
Stern, da wir unseren Gesprächspartner_innen keine Begriffsdefinitionen vorschreiben
möchten.
Die Bezeichnungen Frau, beziehungsweise Mann sehen wir als vermeintlich ›natürliche‹ und
somit dominante Kategorien innerhalb der »heterosexuellen Matrix« und setzen sie deshalb
kursiv, wenn sie alleine stehen.
Viele unserer Gesprächspartner_innen verwenden während unseren Gesprächen das Wort
›mer‹, was wir im Text mit ›man‹ übersetzt haben. ›Man‹ ist der Nominativ Singular einer
Vorläuferform von Mann und hat ursprünglich die Bedeutung ›jeder beliebige Mensch‹. Wir
wollen ›mer‹ als ›nicht-gegenderte‹, also geschlechtsneutrale Form/Figur insbesondere der
Alltagssprache nicht gänzlich aus der Arbeit streichen, da wir den Gesprächspartner_innen
keine Formen vorgeben und ihre Sprache, beziehungsweise den Stil ihrer Sprache nicht
verändern wollen. So setzen wir ›man‹ kursiv. Dasselbe gilt für ›jemand‹, was für ›öpper‹
steht.
Den Unterstrich, gender gap, benutzen wir um einen Spielraum zwischen der weiblichen und
männlichen Form aufzutun und um auf ein mögliches Jenseits des Zweigeschlechterregimes
hinzuweisen. Wir haben uns gegen Formen wie Gesprächspartnerin/Gesprächspartner
entschieden, da sie wiederum Menschen ausschliessen, die sich als weder weiblich noch
männlich verstehen. Wir gebrauchen stets Formen wie Gesprächspartner_innen und
verwenden Sie_Er oder Er_Sie. Die männliche Form bei Gesprächspartner_innen steht aus
rein praktischen und leser_innenfreundlichen Gründen an erster Stelle. Ansonsten setzten wir
die weibliche Form wie bei Sie_Er, Frau_Mann zuerst, um uns dem üblichen Sprachgebrauch
zu widersetzen.
In einigen Absätzen haben wir unsere Regelungen durchbrochen und die Reihenfolgen
verändert, einerseits um aus einem eigenen Bedürfnis heraus mit diesem spielerischen
Umgang der Sprache der Arbeit und der Idee der Auflösung der Geschlechter gerecht zu
werden und andererseits auf Wunsch der Gesprächspartner_innen, die sich nicht durch
Pronomina oder Benennungen festlegen möchten.
Ein ›wir‹ bezieht sich, wenn nicht anders gekennzeichnet immer auf uns als Verfasser_innen.
12
1.3 Aufbau der Arbeit
Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich der Methodik und insbesondere der
Kontaktaufnahme zu unseren Gesprächspartner_innen.
Im Theorieteil konzentrieren wir uns aus einem poststrukturalistischen Blickwinkel auf
performative Körperakte und befassen uns mit dem Begriff der Heteronormativität und ihrer
Bedeutung für Trans*menschen. Diese theoretische Auseinandersetzung soll die Basis für den
empirischen Teil darstellen.
In der Empirie werden neun Gesprächspartner_innen einzeln vorgestellt, indem wir auf ihre
ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten eingehen. Darauffolgend werden ihre Positionen,
Gedanken und Theorien analysiert und unter unterschiedliche Kategorien gefasst. In diesen
Abschnitten geht es uns darum, die Diversität der verschiedenen Auffassungen und
Positionen zu veranschaulichen.
Die Arbeit wird mit einem persönlichen Fazit abgerundet, in welchem unsere Erkenntnisse
der geführten Gespräche zusammengefasst werden, wir unsere Schlüsse aus der Arbeit ziehen
und einen möglichen zukünftigen Umgang mit trans* und Geschlecht ausformulieren.
13
1.4 Methodik - Vorgehen
Für diese empirische Arbeit wurden leitfadenorientierte Gespräche mit insgesamt elf in der
Deutschschweiz lebenden Trans*menschen im Alter zwischen 20 und 57 Jahren durchgeführt.
Der Kontakt zu den Personen wurde über die Newsletter der Organisation Transgender
Network Switzerland (TGNS) und des Sündikats hergestellt. In den Newslettern wurde mit
einem Abstract zur Teilnahme an der Befragung für die vorliegende Bachelorarbeit
aufgerufen. Vereinzelt wurden persönliche Bekannte auch gezielt kontaktiert. Der erste
Austausch erfolgte jeweils über persönliche E-Mails, wobei die Interessent_innen über den
aktuellen Arbeitsstand informiert und zu einem Treffen eingeladen wurden. Vor dem
vereinbarten Treffen wurden die Gesprächsteilnehmer_innen gebeten einen Fragebogen mit
persönlichen Eckdaten (Name, Alter, Beruf, etc.) auszufüllen.
Der Fragebogen beinhaltete teils aufgeladene Begriffe, wie Coming-out, Passing oder
›biologisches‹/›seelisches Geschlecht‹ und eröffnete dadurch einen Raum für Diskussionen.
Viele Begriffe, die in den queer-feministischen Debatte benutzt und problematisiert werden,
blieben von unseren Gesprächspartner_innen unhinterfragt und so realisierten auch wir
teilweise erst während des Arbeitsprozesses die Dimension gewisser Begrifflichkeiten, mit
denen wir anfänglich arbeiteten. Wir wollen auch darauf verweisen, dass es sich sowohl in
den Gesprächen, als auch im generellen Diskurs als schwierig erweist, sich über ein Thema zu
unterhalten, welches so viele aufgeladene und prekäre Begriffe beinhaltet. Wir waren uns
während der Gespräche und sind uns auch jetzt unserer Verantwortung bewusst. Wir haben
versucht mit sehr viel Vorsicht und Sensibilität auf die Personen und ihre Bedürfnisse
einzugehen und haben in jedem Fall ihre Kritiken oder Empfehlungen berücksichtigt.
So machte Romeo Koyote Rosen uns darauf aufmerksam, dass der Fragebogen ein Trigger
für ihn_sie dargestellt hätte. Die Fragen nach einem ›biologischen‹/sozialen Geschlecht, nach
den Eltern und seiner_ihrer ›Herkunft‹, seien für ihn_sie schwierig zu beantworten gewesen.
Damit ist unsere vorhergehende Unterhaltung per E-Mail gemeint, bei der wir den
Fragebogen als Datei angehängt hatten. Diese Anmerkung wollen wir ernst nehmen und
deswegen schicken wir eine Triggerwarnung voraus. Im empirischen Teil, bei dem wir die
Gesprächspartner_innen
erzählen
lassen,
werden
Mehrfachdiskriminierungen
und
Gewaltdarstellungen beschrieben. Trans*menschen werden im medizinisch-pathologischen
Diskurs als ›krank‹ (beziehungsweise als Menschen mit Identitätsstörungen) bezeichnet,
wovon wir uns stark distanzieren wollen.
14
Die Gespräche fanden im Zeitraum zwischen November 2013 und März 2014 statt und
wurden meist zu dritt im Atelier der Vertiefung Theorie an der Förrlibuckstrasse in Zürich
durchgeführt, vereinzelt auch in Cafés oder auf Wunsch bei den jeweiligen Personen zu
Hause. Die Gespräche dauerten jeweils zwischen 60 und 90 Minuten und wurden mit
Einwilligung der Befragten mit der iPhone-App Sprachmemos digital aufgezeichnet. Die
Gespräche wurden teilweise ganz und andere entlang der Kategorienbildung selektiv
transkribiert, analysiert und ausgewertet.
Die Gespräche wurden mittels der Methode des autobiografisch narrativen Interviews 10
durchgeführt, wobei sie möglichst offen gehalten wurden. Im Zentrum standen die
Erzählungen der Personen in Bezug auf ihr Trans*dasein, also Themen wie Coming-out,
soziales Umfeld, geschlechtsangleichende Massnahmen und bürokratische, juristische
Regelungen zum Thema trans* im jeweiligen Kanton. Der zweite Strang stellte die jeweilige
Positionierung zur Trans*thematik dar, beziehungsweise die Verortung im Feld der
dichotomen Geschlechterkategorien Frau und Mann.
Aus zeitlichen Gründen konnten wir leider die Positionen von zwei von den insgesamt elf
Gesprächsteilnehmer_innen in dieser Arbeit nicht weiter ausführen. Ronja und Daniel
hinterfragen ihr eigenes Geschlecht, ihre Sexualität, ihre Begehren und somit die
heterosexuelle Norm, sind jedoch nicht von denselben Diskriminierungsformen betroffen wie
die anderen neun Trans*menschen, die wir getroffen haben. Sie haben diese Arbeit durch
Inputs, ihre Ausführungen und Erzählungen nachhaltig beeinflusst, wofür wir uns nochmals
herzlich bei ihnen bedanken möchten. Der Austausch mit Ronja und Daniel hat uns ebenso
motiviert das Geschriebene fortwährend zu überdenken, anders zu denken, umzuschreiben
und uns auf einen endlosen Prozess von Veränderung und Neuorientierung einzulassen.
10
Schütze (1983): S.285: »Das autobiografisch narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die
Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers
so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung
überhaupt nur möglich ist.«
15
1.4.1 Newsletter Transgender Network Switzerland
Die erste E-Mail an TGNS im Oktober 2013, mit der Bitte zur Aufnahme in den Verteiler,
beinhaltete folgenden Aufruf:
»Liebe Freund_innen
Seit einiger Zeit setze ich mich mit gender studies auseinander (dafür war ich kürzlich auch
ein halbes Jahr in Berlin an der Humboldt Universität, was mir wiederum einen anderen Blick
auf die ganze Thematik gezeigt hat).
Vertieft beschäftige ich mich mit dem Thema trans, nicht als eigens betroffener Mensch,
sondern aus Interesse und Solidarisation. Viele Freund_innen und Bekannte von mir befinden
sich vor, in oder nach der Transition.
Durch die gender studies (und Theorien wie z.B. die von Judith Butler) habe ich eine kritische
Haltung gegenüber gesellschaftlichen Normen und Strukturen entwickelt, aber genau so
hinterfrage ich für mich immer wieder die geschlechtsangleichenden Massnahmen, denen sich
Transmenschen mit sehr viel Geduld, Leid und Schmerz unterziehen wollen, vielleicht auch
sogar müssen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Hierbei wäre auch die Frage zentral
inwiefern der Wunsch des Strebens nach einem Ideal gesellschaftlich verankert ist oder beim
Individuum selber stattfindet.
Zurzeit studiere ich im fünften Semester an der Zürcher Hochschule der Künste, in der
Vertiefung Theorie. Für meine Bachelor-Arbeit wünschte ich mir eine enge Zusammenarbeit
mit einer Transperson, die sich genau so kritisch positioniert (sei das gesellschaftlich oder
gewissen Theorien gegenüber oder auch medizinischen Massnahmen wie Operationen,
Hormoneinnahme usw.) und Interesse daran hätte mit mir zusammen einen Text zu
veröffentlichen. Im Zentrum dieses Textes steht die Transperson. Mir geht es bei dieser
Arbeit einerseits um Sichtbarkeit der Transthematik und andererseits um ein Portrait einer
Transperson und genau so darum für mich einige Fragen klären zu können.
Ein Teil des Formates würden unsere Gespräche ausmachen, die so gedruckt würden und der
zweite Teil beinhaltet eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema trans in der
Gesellschaft (und dabei gehe ich von einer westlichen, weiss geprägten Gesellschaft aus).
Privat setze ich mich im Verein homo-sapiens ein, den einige von euch womöglich bereits
kennen. Wenn nicht, könnt ihr euch sehr gerne auf unserer Homepage informieren:
http://weare.homo-sapiens.ch
Falls Interesse besteht, schreibt mich an und dann könnten wir uns treffen um alles weitere zu
besprechen.
16
Es gibt genau so die Möglichkeit das ganze anonym zu verfassen, so dass sich keine Person
outen muss. Es geht mir jedoch um eine tatsächliche Lebensgeschichte, die ich versuche in
den Text einfliessen zu lassen.
Der Text sollte für möglichst viele Menschen zugänglich sein und je nachdem lässt er sich
auch in einem Magazin drucken oder auf einer Internetseite platzieren, je nachdem wie das
Ergebnis ausschaut und was die Möglichkeiten schlussendlich wären. Dazu kann ich zurzeit
noch nicht viel sagen. Vorab also bloss eine Art Skizzierung von diesem Projekt.
Vielen Dank und ich freue mich auf Inputs, Anregungen und vielleicht Menschen, die Freude
an so einem Projekt hätten!
Herzlich, anja«
Auf diese E-Mail reagierte Henry Hohmann, der Co-Präsident von TGNS, mit folgender
Anmerkung, welche bereits als Positionierung im Feld gelesen werden kann.
»Hallo Anja
[...] Und noch eine kleine Randbemerkung: Du schreibst von den geschlechtsangleichenden
Massnahmen, denen man sich unterziehen muss, um gesellschaftlich anerkannt zu werden.
Das stimmt, ist aber nur eine Seite der Medaille, denn das tönt für mich jetzt so, als würden es
die Transleute nur machen, um sich dem gesellschaftlichen Druck zu beugen. Für viele ist
aber genauso wichtig - und für manche sogar noch wichtiger -, dass der Körper stimmt. Und
das machen sie für sich, nicht für die Gesellschaft. Das wäre also schon mal ein interessanter
Diskussionspunkt für Deine Arbeit... :-)
Herzliche Grüsse [...]«
Daraufhin wurde die E-Mail folgendermassen angepasst:
»[...] denen sich Transmenschen mit sehr viel Geduld, Leid und Schmerz unterziehen wollen,
vielleicht auch sogar müssen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Hierbei wäre auch die
Frage zentral inwiefern der Wunsch des Strebens nach einem Ideal gesellschaftlich verankert
ist oder im Individuum entsteht. [...]«
Innerhalb von einer Woche erhielten wir fünfzehn Reaktionen, welche meist mit Interesse an
einer Zusammenarbeit verbunden waren. Teilweise wurden Zustimmung oder Kritik geäussert
oder Nachfragen gestellt.
Aufgrund des unerwartet grossen Feedbacks wurde daraufhin entschieden, die Arbeit nicht
mit nur einer Trans*person durchzuführen, sondern eine Auseinandersetzung mit
17
verschiedenen Trans*positionen zu realisieren. Das Abstract wurde dementsprechend
angepasst und im gleichen Zuge wurde entschlossen, dass diese Arbeit zu zweit im Sinne
eines Kollektivs durchgeführt wird, worauf durch einen klasseninternen Aufruf Sarah zur
Arbeit dazu stiess. Der Entschluss zur Zusammenarbeit erfolgte einerseits aus praktischen
Gründen, da durch die Erweiterung von einer auf mehrere Trans*personen der Aufwand der
Arbeit in einer Zeitspanne von neun Monaten alleine nicht zu bewältigen gewesen wäre.
Andererseits schien uns eine Arbeit als Kollektiv als eine logische Konsequenz, um die vielen
unterschiedlichen Aspekte rund um das Thema trans* und die verschiedenen Positionen aus
nicht nur einer Perspektive zu betrachten, sondern um damit einen Diskussionsraum zu
eröffnen. Die meist verwendete Dreierkonstellation hat die Gesprächssituation von einer
strikten Interviewsituation hin zu einem persönlichen Gespräch geöffnet.
18
2 Theorie
2.1 Performative Körperakte
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den theoretischen Konzepten, auf die wir uns in
dieser Arbeit stützen. In einer Auseinandersetzung mit trans* sind für uns Begriffe wie
Subjektwerdung,
Identität,
somit
auch
Geschlechtsidentität,
Körper,
Kohärenz,
Zweigeschlechtlichkeit und Inszenierung sowie Performativität zentral. Ausserdem möchten
wir den Begriff der Heteronormativität fassen können, wobei wir uns vor allem auf Judith
Butler stützen und anfügen müssen, dass in den queer-feministischen Diskussionen
unterschiedliche Heteronormativitätskonzepte bestehen, die sich auf verschiedene Facetten
des heterosexuellen Machtregimes konzentrieren. »Allen ist gemeinsam, dass sie die
Machtverhältnisse, die sich um Heterosexualität(en) entfalten, kritisch untersuchen.«11
Anstatt Apriori von einer Identität auszugehen, wollen wir von dem butlerschen Begriff der
Subjektwerdung
Gebrauch
machen.
Über
Foucault,
der
die
Subjektwerdung
als
12
»Unterwerfungsprozess in machtdurchzogenen, diskursiven Strukturen« beschreibt, versteht
Butler die Subjektivierung einerseits als Existenzstreben, nicht als Anerkennungsstreben, und
andererseits als »eine Abgrenzung und Ausblendung von unserer fundamentalen
Abhängigkeit«. 13 Subjekte werden abhängig geboren, indem sie auf Menschen, auf ein
soziales Umfeld und Normen angewiesen sind und versuchen unabhängig zu werden, indem
sie deren Wichtigkeit verweigern und sich als individuelle Wesen und selbständig
existierende Identitäten begreifen. Wir gehen nicht von einer gegebenen Identität, von einer
Seele oder einem ursprünglichen Geschlecht aus, sondern wir verstehen Identität und so auch
Geschlechtsidentität als Kategorien, die innerhalb einer heteronormativen Struktur und
diskursiv zum Vorschein kommen. »Geschlechtszugehörigkeit ist keine stabile Identität,
vielmehr ist sie eine Identität, die stets zerbrechlich in der Zeit konstituiert ist – eine Identität,
die durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande kommt. [...] Geschlechtsidentität
wird durch Äusserungen und Ausdrucksformen performativ hervorgebracht.«14 Auf dieser
Basis stellen wir Fragen nach Begrifflichkeiten, nach anderen Geschlechtsmodellen und
möglichen ›neuen‹15 Kategorien. Wir wollen die Tatsache, dass die Kategorien Frau und
Mann im Normgefüge der Zweigeschlechterordnung bestehen nicht von der Hand weisen,
11
Hartmann, Klesse, Wagenknecht, Fritzsche, Hackmann (Hrsg.) (2007), S.11
Redecker (2011), S.47
13
Redecker (2011), S.97
14
Hauer und Paul in Gigi (2006), S.2
15
Butler (2009), S.347: »Weil die Normen, welche die Realität reagieren, diesen Genderformen nicht
zugestanden haben, real zu sein, werden wir sie notgedrungen als neu bezeichnen. Ich hoffe allerdings,
wir werden wissend lachend, sobald wir das tun.«
12
19
ebenso bestreiten wir nicht die »Existenz körperlicher Geschlechtsteile und die körperlichen
Unterschiede, vielmehr wollen wir die Weise, [wie] diese diskursiv in Beschlag genommen
werden« und die Dichotomie der Zweigeschlechtlichkeit »radikal in Frage stellen«.16 Mit
Butler denken wir, dass ein Ausserhalb der symbolischen Zweigeschlechterordnung möglich
ist, doch alle Menschen, die sich nicht im Raster der Zweigeschlechtlichkeit befinden, gelten
in der Welt der Heteronormativität als unlesbar, nicht verständlich und sind somit inexistent.
»Intelligible Geschlechtsidentitäten sind solche, die in bestimmtem Sinne Beziehungen der
Kohärenz
und
Kontinuität
zwischen
dem
anatomischen
Geschlecht
(sex),
der
Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und
aufrechterhalten.«
17
Alle Identitäten, die sich also ausserhalb dieser »Matrix der
Intelligibilität«, Matrix des Erkennbaren, befinden und innerhalb der heterosexuellen Struktur
nicht als kohärent zu beschreiben sind, erscheinen also »als Entwicklungsstörungen und
logische Unmöglichkeiten«.18
Doch wie funktioniert die »heterosexuelle Matrix«, wie sie Butler beschreibt? Wie entsteht
ein Netz von Regulierungen und Machtmechanismen, das Körper kategorisiert? Wie werden
Körper als weiblich oder männlich beschrieben und wie werden Körper überhaupt
geschlechtlich? Wie haben sich die Identitätskategorien von Frau und Mann etabliert,
während andere als unglaubwürdig und ›unnatürlich‹ erachtet werden? Wie wird über ein
ganzes Leben bestimmt? Wir sprechen hier von der Definition des Kindes, das bereits im
Mutterleib vergeschlechtlicht wird, dem geschlechtliche Eigenschaften zugeschrieben werden
und so zu einem Feminium oder Maskulinum herangezogen wird. Ab dem Augenblick der
Geburt wird das Geschlecht besonders relevant. Ist es (das Kind) ein Mädchen oder ein
Junge? Was spielt es für eine Rolle, was wird es für eine Rolle spielen (müssen)? Es wird
nicht automatisch zu einem Sie oder Er. Es wird zu einem Sie oder Er gemacht. Und wenn es
nicht der Vorstellung von einem Sie oder Er entspricht, dann wird es angepasst. »Frauen und
Männer existieren als soziale Norm, könnte man sagen, und sie sind der Perspektive der
Geschlechterdifferenz zufolge Formen, in denen die Geschlechterdifferenz Gehalt
angenommen hat.« 19 Weiterhin besteht also eine normative Auffassung von dual sich
entgegengesetzten Geschlechtern. Das eine Geschlecht ist ohne das andere nicht denkbar. Die
Geschlechtsmerkmale, und dabei gibt es innerhalb eines medizinisch-pathologischen
Diskurses primäre, sekundäre und tertiäre, sind bestimmend für die Sozialisierung des
16
Redecker (2011), S.68
Butler (1991), S.38
18
Butler (1991), S.39
19
Butler (2009), S.333
17
20
Kindes. Vor allem die augenscheinlichen, primären Geschlechtsmerkmale weisen uns in klare
Schranken. Werde ich als Frau oder als Mann gelesen? Welchen Verhaltenscodes muss ich
entsprechen, ab wann werde ich für andere unlesbar und was passiert, wenn ich mich dem
gänzlich zu entziehen versuche? Kann ich mich dem überhaupt entziehen? Diese und weitere
Fragen versuchen wir im Folgenden theoretischen und im anschliessenden empirischen Teil
zu klären.
Vorab verstehen wir Körper nicht als eine gegebene oder unveränderliche Materialität. Wir
gehen
nicht
von
einem
Standpunkt
aus,
der
entscheidet,
welche
Körper
und
Geschlechtlichkeiten ›natürlich‹ und welche ›unnatürlich‹ sind. Wir verstehen Körper als
durchlässiges Medium, das sich beschreiben lässt und selber definieren kann, auf, und in dem
Einschreibungen stattfinden und zur Körperlichkeit/Geschlechtlichkeit werden. Dieser Körper
besitzt absolut keine Grenzen, ist empfänglich für Festschreibungen, genau so aber auch
Umschreibungen und Veränderung. Mit Redecker bezeichnen wir »Körper [...] nicht als Sitz
einer inneren ›Wahrheit‹ des Geschlechts, sondern Körper als in Veränderungs- und
Austauschprozessen
befindliches
Phänomen,
dessen
Auftreten
und
Erscheinung
vereinheitlichenden Identitätskategorien voraus- und immer auch entgeht«.20 Die Körper sind
also nicht passiv, auch wenn sie teilweise gewaltsam beschrieben werden und angepasst
werden müssen um in die hegemoniale Geschlechterordnung eingereiht werden zu können.
Die Körper, beziehungsweise die Subjekte mit ihren fluiden Körpern können sich aktiv gegen
eine Anpassung entscheiden und dadurch eigene Subjektivierungsweisen hervorbringen. So
denken wir unter anderem an Butches und Femmes, an Tomboys, an Tunten, Sissyboys, Bears,
aber auch Dragkings und Dragqueens oder Transvestit_innen, Crossdresser_innen, und
Trans*menschen, die sich selbst benennen und sich nicht als weibliche oder männliche
Kopien verstehen, sondern als eigenständige Kategorien, die die Grenzen der Geschlechter
vermischen, ihre ›Natürlichkeit‹ anzweifeln und die Schranken der Körper aufbrechen. So
können neue Vorstellungen von Körpern und Geschlechtern geschaffen werden, die durch
eine verschobene Wiederholung von performativen Akten erzeugt werden. »Wenn Gender
performativ ist, dann folgt daraus, dass die Realität der Geschlechter selbst als ein Effekt der
Darstellung produziert wird.« 21 Wenn sich eine Frau den Vorstellungen des Weiblichen
entsprechend verhält, kleidet und spricht, dann wird ihre Weiblichkeit, ihr Frausein bestärkt.
So bald sich eine Frau ›anders‹ gibt, vielleicht nicht rasiert, kurze Haare trägt und eine tiefe
Stimme besitzt, und hier sprechen wir Klischees an, die oft mit Lesben, Tomboys oder
20
21
Redecker (2011), S.67
Butler (2009), S.346
21
Butches in Verbindung gebracht werden, dann wird ihre ›Natürlichkeit‹, ihr Frausein in Frage
gestellt. Ihr Gender ist somit nicht mehr sicher und sie verschiebt die gängigen Vorstellungen,
in dem sie sich männlich konnotierte Verhaltensweisen aneignet. Auf dieselbe Weise wie die
normativen Geschlechterkategorien kopiert werden, können alternative Formen entstehen.
Wir sprechen hier von Kopie, da wir, wie bereits erwähnt, nicht von einem ›wahren‹
Geschlecht oder einer ›wahren‹ Geschlechtsidentität ausgehen, sondern wir denken mit
Butler, dass es kein Original gibt, sondern, »dass das Original immer schon abgeleitet war«22
und somit gibt es auch nur die Kopie einer Kopie. Indem ein Mädchen seiner Mutter beim
Haare kämmen oder schminken zuschaut und diese Handlungen später nachahmt, inszeniert
es unbewusst sogenannte Weiblichkeit. Butler erklärt Geschlecht als Effekt, der durch diese
performativen Akte entsteht.23 Dieser Effekt soll darauf verweisen, dass eine Realität eines
Geschlechts bloss auf sich wiederholendem Tun basiert, was nicht bedeutet, dass dieser
Effekt weniger ›real‹ wäre. Mit Redecker ergänzen wir diesen butlerschen Ausdruck deshalb
und nennen es »Show-Effekt« 24 , welcher andeutet, dass weder die Realität, noch die
Inszenierung, die Kopie der Kopie ›echt‹ ist. Die weibliche und die männliche Inszenierung
strebt immer ein Ideal an, das nie erreicht werden kann. Im übertragenen Sinn wird so ein
Bild oder eher ein Konzept einer Frau und das eines Mannes als ursprüngliches betrachtet,
welches in einer Endlosschlaufe reproduziert wird und sich so in und mit der Zeit festigt,
ohne dass dabei an dessen Legitimität gezweifelt wird. Es fungiert als Geschichte, an die
geglaubt wird und die sich bewährt, weil sie sich tagtäglich wiederholt und als nutzbar
erweist. Genau an dem Punkt greift Butlers Konzept der Performativität, welches besagt,
»dass Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität gerade in dieser arbiträren
Beziehung zwischen den Akten zu sehen sind, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu
verfehlen, beziehungsweise in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den
phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt«.25 Um
die butlersche Performativität in einen grösseren Zusammenhang zu stellen, diskutieren wir
im nächsten Kapitel den Begriff der Heteronormativität, der den Begriff des Performativen
und den von ihr geprägten Ausdruck der »heterosexuellen Matrix« fasst.
22
Butler (1991), S.204
Butler (2009), S.346
24
Redecker (2011), S.65
25
Butler (1991), S.207
23
22
2.2 Heteronormativität
In einer heteronormativen Gesellschaft wird eine Person meistens aus einer heterosexuellen
Perspektive betrachtet, als Versuch zwischen den zwei Geschlechtern, Frau und Mann, zu
unterscheiden. Über reproduzierte Geschlechtsmerkmale werden nach Indizien gesucht,
welche Hinweise über das Geschlecht einer Person geben. Um sich dieser Praxis zu
entziehen, muss das Gesehene, also die Körper und somit die Geschlechtsteile, als
Konnotiertes begriffen werden, welches mit Bedeutungen aufgeladen ist und nur in einem
gewissen kulturellen Raster verständlich wird. Fraglich ist, ob ein Wissen über das
Geschlecht der betreffenden Person, ihre sexuellen Begehren und Geschlechtsattribute
zwingend notwendig ist. Um in einer sozialen Ordnung funktionieren zu können, wird meist
Eindeutigkeit, Zuordnungsfähigkeit und Offenheit jedweder privaten und persönlichen Sache
verlangt. In jeder bürokratischen Angelegenheit wird nach dem Geschlecht und dem
Zivilstand gefragt, sei das beim Arzt, bei der Einwohnerkontrolle, bei einer Bewerbung für
eine Arbeitsstelle oder eine Schule. In jedem dieser Fälle wird von einem heteronormativen
Konsens ausgegangen. Wenn eine Trans*person sich in einer bestimmten Umgebung bewegt
(so zum Beispiel auch in der LesBisSchwulen Szene), dann wird oftmals von ihr_ihm
erwartet, dass sie_er zu ihrem_seinen Trans*dasein steht. Aber wieso sollte sich eine Cisfrau
oder ein Cismann nicht gleichermassen ausweisen? Im Gegensatz zu heterosexuellen
Menschen wird häufig verlangt, dass die_der Homosexuelle, die trans*- und intersex Person
ihre_seine Sexualität äussert, wobei dies immer die Dichotomie zwischen homo- und
heterosexuell bestätigt und Heterosexualität als die einzig ›richtige‹, ›wahre‹ und ›natürliche‹
Sexualität ausweist. Oder wie es Sabine Hark ausführt: »Das heterosexuelle Paar ist die
ultimative Rationale menschlicher Beziehungen, die unteilbare Basis jeglicher Gemeinschaft,
die scheinbar unhintergehbare Bedingung der Reproduktion, ohne die es überhaupt keine
Gesellschaft gäbe [...].«26
Die oben genannten Beispiele unterstreichen das Konzept der Heteronormativität, welche
Heterosexualität als Konstrukt aufzeigt. Dabei wird Sexualität nicht als etwas ›Natürliches‹
verstanden, »sondern im Sinne Michel Foucaults als Dispositiv: als Ergebnis eines
strategischen Zusammenspiels von Diskursen, Praktiken und Institutionen [...]«.27
Butler spricht in dem Zusammenhang von einer kulturellen Matrix, der »heterosexuellen
Matrix«, oder später auch von der »heterosexuellen Hegemonie«28, die Geschlechtskörper
26
Hark in Krass (2009), S.31
Krass (2009), S.9, zur Sexualität als Dispositiv vgl. Foucault (1977)
28
Redecker (2011), S.58
27
23
diskursiv hervorbringt. Die Matrix ist Teil ihres Heteronormativitätskonzept, das offenlegt
wie die Macht der herrschenden Geschlechterordnung Körper reguliert, er- und anerkennen
lässt und solche, die nicht in diese Bipolarität einzuordnen sind ausgeschlossen und als nicht
(an-)erkennbar ausgewiesen werden. Dies geschieht über Normen, die den Anschein
erwecken, dass es eine ›Wahrheit‹ oder ›Ursprünglichkeit‹ des Geschlechts, des Sexus, gibt,
auf die zurückgegriffen werden kann. Die Regulierungsverfahren der »heterosexuellen
Matrix« bringen Vorstellungen von kohärenten Identitäten hervor, was bedeutet, dass die
Geschlechtsidentität (gender) vom anatomischen Geschlecht (sex) hervorgeht und die
Praktiken des Begehrens (desire) aus den beiden entsteht.29 Somit haben Frauen automatisch
einen weiblichen Geschlechtskörper, werden weiblich sozialisiert und haben ein weibliches,
heterosexuelles Begehren. Männer hingegen haben einen männlichen Geschlechtskörper,
werden männlich sozialisiert und haben ein männliches, heterosexuelles Begehren. Die
Geschlechtskörper werden jeweils als ›biologisch‹ und dadurch ›natürlich‹ erachtet, aufgrund
dessen, dass »das anatomische Geschlecht in der hegemonialen Sprache als Substanz oder –
metaphysisch gesprochen – als selbstidentisches Seiendes«30 verstanden wird. Dabei wird
nicht das Ontologische der Sprache hinterfragt, beziehungsweise ihre ›Wahrheit‹
angezweifelt, sondern die Geschlechtsidentität erweist sich laut Butler innerhalb des
überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz als performativ, was bedeutet, dass die
Geschlechtsidentität ihre eigene Identität, die sie angeblich sei, konstituiere.31
Heteronormativität verstehen wir so als dominierende heterosexuelle Struktur, welche
diejenigen Menschen, die von der heterosexuellen Norm abweichen als ihr Äusseres, Anderes
erscheinen lässt. Die hegemoniale Heterosexualität ist tief in der westlichen Gesellschaft
verankert und lässt sich in vielen Bereichen wiederfinden. Es ist »ein zentrales
Machtverhältnis, das alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, ja die
Subjekte
selbst
durchzieht«.
32
Die
Subjekte
selbst
bilden
untereinander
dieses
Machtverhältnis, ohne sich dessen wahrhaftig bewusst zu sein. Es ist nicht eine Macht, die
einfach existiert, sondern sie wird hergestellt, stetig bestärkt, ohne dass diese hinterfragt wird.
Solche Machtverhältnisse bilden die Basis im Sozialgefüge und sind dafür zuständig, dass
normative Auffassungen von Geschlechtern, Geschlechtlichkeiten, sexuellem Begehren und
Beziehungen hergestellt und gefestigt werden. Laut Foucault gibt es nichts ausserhalb der
Macht, beziehungsweise sagt er, »nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall
29
Butler (1991), S.38f
Ebd. S.40
31
Ebd. S.49
32
Hartmann, Klesse, Wagenknecht, Fritzsche, Hackmann (Hrsg.) (2007): S.9
30
24
kommt, ist die Macht überall«. 33 Jede Gesellschaft ist durchzogen von bestimmten
Machtverhältnissen und Strukturen, die Normen und Regulierungen hervorbringen, welche
Normalisierungsprozesse fördern, die hegemoniale Vorstellungen von Körpern und
Geschlechtern stärken. So sind Geschlechterdiskurse in mehrfacher Weise heterosexualisiert
und erschaffen ein ›natürliches‹ Bild von Heterosexualität und heterosexuellem Begehren.
Dieses diskursive Regime hegemonialer Heterosexualität bringt Annahmen über ›natürliche‹
und
›gesunde‹
Körperlichkeiten
hervor.
Ebenso
bestimmt
sie
normalisierende
Identitätszuschreibungen und Kategorien, die auf dem vorherrschenden Glauben an die
›Natürlichkeit‹, Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit von Geschlecht und sexuellem
Begehren basieren, was alles andere (wie LesBiSchwul, trans* und intersex) als
›Abweichungen‹ ausweist.34 In dem Raster der Heterosexualität werden nicht-heterosexuelle
Geschlechtlichkeiten und Begehren als ›unnatürlich‹ und ›abnormal‹ beschrieben. Oft fallen
sie in ein Raster des Unverständlichen, Unzumutbaren und ›Kranken‹. So gilt zum Beispiel
ein Trans*dasein weiterhin als ›Krankheit‹, welche im Diagnoseklassifikationssystem (ICD10
=
Internationale
statistische
Klassifikation
der
Krankheiten
und
verwandter
Gesundheitsprobleme) als Störung der Geschlechtsidentität unter der Klasse F (Psychische
Störungen und Verhaltensstörungen) unter Punkt ›F64.o – Transsexualismus‹ gefasst wird.
Einerseits können Trans*menschen aufgrund dieser Pathologisierung Ansprüche auf
Krankenkassenleistungen erhalten, durch welche sie eine Hormonbehandlung und/oder
geschlechtsangleichende Massnahmen finanziert bekommen, andererseits werden sie so in der
Gesellschaft als ›krank‹ oder ›widernatürlich‹ verstanden, was Ausgrenzung, Diskriminierung
und Gewalt zur Folge hat. Trans* und intersex gelten als Geschlechtlichkeiten, die nicht
existieren sollen. In der Struktur der klaren Trennung von zwei dominierenden Geschlechtern,
Frau und Mann, und dem einen hegemonialen, heterosexuellen Begehren finden davon
abweichende Geschlechtlichkeiten und Begehren keinen Platz und erscheinen somit
inexistent.
Gemäss ICD-10 müssen Menschen folgende Kriterien erfüllen um die Diagnose
›Transsexualismus‹ zu erhalten: »Der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu
leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der
Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch
nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten
Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen. [...] Die transsexuelle Identität muss
33
34
Foucault (1977), S.94
Hartmann, Klesse, Wagenknecht, Fritzsche, Hackmann (Hrsg.) (2007): S.9
25
mindestens 2 Jahre durchgehend bestanden haben und darf nicht ein Symptom einer anderen
psychischen Störung, wie z.B. einer Schizophrenie (F20.2), sein. Ein Zusammenhang mit
intersexuellen, genetischen oder geschlechtschromosomalen Anomalien muss ausgeschlossen
sein. «35
Diese Klassifikation geht von einem binären Geschlechtersystem aus und bestärkt die
Dichotomie
zwischen
Frau
und
Mann.
Sie
schliesst
ein
Jenseits
oder
eine
Geschlechtervielfalt aus, indem sie von dem einen oder eben dann von dem anderen des einen
Geschlechts ausgeht.
Auch werden Trans*menschen nur beschränkt, meist gar nicht im gegenwärtig
heteronormativen Rechtssystem berücksichtigt und so sind die bürokratischen Hürden oft mit
psychischer Belastung und finanziellem Aufwand verbunden. Die rechtlichen Grundlagen für
Trans*menschen sind schweizweit nicht einheitlich geregelt, da bisher kein nationales
Trans*gesetz besteht. Für die Personenstandsänderung36 sind zum Beispiel seit 2012 laut
eidgenössischem Amt für das Zivilstandswesen keine operativen Eingriffe mehr notwendig
um eine Fortpflanzungsunfähigkeit oder eine irreversible Geschlechtsänderung vorweisen zu
können.37 Gemäss unseren Gesprächspartner_innen wird dies jedoch von Kanton zu Kanton
oder Jurist_in zu Jurist_in anders gehandhabt.
Der Weltverband für Transgender Gesundheit versucht mit »Versorgungsempfehlungen für
die Gesundheit von transsexuellen, transgender und geschlechtsnichtkonformen Personen«
eine weltweite Vereinheitlichung der medizinischen und rechtlichen Bedürfnisse von
Trans*menschen zu erreichen und distanziert sich unter anderem von einer Pathologisierung
von trans, da »der Ausdruck der Geschlechtlichkeit, einschliesslich jener Identitäten, die nicht
stereotyp dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen, ein allgemein übliches und
der kulturellen Vielfalt entsprechendes menschliches Phänomen ist, [das] nicht grundsätzlich
als pathologisch oder negativ beurteilt werden soll«.38
35
ICD-Code: Störungen der Geschlechtsidentität ICD10
Siehe Gerichtsurteil im Anhang
37
Rechtsauskunft EAZW: Transsexualität
38
WPATH
36
26
3 Gesprächspartner_innen
Das Herzstück des vorliegenden empirischen Teiles bilden die Gespräche mit den
Trans*menschen, ihre Biografien, Lebenskonzepte und persönlichen Erfahrungen. Im
folgenden Teil dieser Arbeit möchten wir daher Raum lassen für die persönlichen
Geschichten und individuellen Erfahrungen jeder einzelnen Person.
In Anführungsstrichen stehen jeweils Begriffe oder Ausführungen, die wir direkt aus den
Gesprächen übernommen haben, um so näher bei den persönlichen Erzählungen und
Beschreibungen bleiben zu können.
Im
anschliessenden
analytischen
Teil
versuchen
wir
die
Aussagen
der
Gesprächspartner_innen zu ordnen um sie so einander gegenüber zu stellen. Ziel dessen ist
die Veranschaulichung der unterschiedlichen Positionen und teilweise unvereinbaren
Taktiken, mit denen die Befragten ihr Leben meistern. Wir sprechen hier von meistern, weil
viele der Personen mit Stigmatisierung, Pathologisierung und vor allem Diskriminierung zu
kämpfen haben. Auch wenn dies nicht alle Trans*menschen betrifft, erachten wir es als
wichtig zu betonen, dass Trans*menschen nach wie vor viel Ausschluss und Gewalt erfahren,
da sie entweder von der äusseren Erscheinung her nicht einem normativen Bild entsprechen
können oder wollen oder mit ihrer teilweise nicht-hegemonialen Lebensweise und Sexualität
anecken. Wir möchten aber auch erwähnen, dass viele Trans*menschen vollständig akzeptiert
in ihrem Umfeld leben können und »mit sich im Reinen« sein dürfen wie es einige der
Gesprächspartner_innen beschrieben haben. Weiter
interessiert uns, wie sie mit
Geschlechternormen und Rollenbildern umgehen, ob sie diese in Frage stellen und in dem
eine Potentialität zur Verschiebung von Normen erkennen. Oder ob sie durch ihre Taktik der
Anpassung diese bestätigen, nicht mehr auffallen, um so trans* nicht ständig diskutieren zu
müssen. Einige möchten sich das trans* erhalten, andere entfernen sich davon und verstehen
sich nun nicht mehr als trans*, sondern als Frau oder als Mann. Wiederum andere können
sich gar nicht mit Frau oder Mann identifizieren und versuchen eigene Begriffe und
Identitäten zu schaffen.
Alle Begegnungen waren für uns sehr wertvoll und wir können folgend leider nur einen
Bruchteil, die Kernaussagen der Personen, wiedergeben. Wir hoffen sie so zu beschreiben,
wie sie sich verstehen.
27
Chris
Chris ist 31 Jahre alt und lebt in einer Kleinstadt im Schweizer Mittelland. Er hat ein Diplom
in Naturwissenschaft und das höhere Lehramt absolviert. Chris bezeichnet sich als Mann und
gleichzeitig als genderfluid. Ausserdem verwendet er den Begriff MtFtM für sich und weist
damit auf zwei (Geschlechter)›Wechsel‹ hin.
Als Kind habe er sich weder weiblich noch männlich identifiziert. Viel eher als
»geschlechtsneutral«. Er sei sehr christlich und »traditionell« erzogen worden; jegliche
Körperlichkeit war tabu. In der Pubertät habe er sich vor allem in den »Meitlikreisen« bewegt,
es habe sich ergeben, dass er dort »total normal« dazugehört habe. Manchmal habe er sich
selbst gefragt, ob er »schwul« sei, was für ihn zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht stimmte. Viel
eher hätte sein Zustand etwas »Lesbisches« gehabt.
Mit 26 Jahren hatte Chris ein »Burnout« und damit verbunden hätten plötzlich auch ein paar
andere Sachen nicht mehr gestimmt. Seine weibliche Seite sei zum Vorschein gekommen und
wollte, wie er erzählt, gelebt werden. Er nahm in jener Zeit ein Antidepressivum ein,
rückblickend hätte dies womöglich ihre Weiblichkeit bestärkt. Sie bewegte sich daraufhin drei
Jahre lang als Frau in der Gesellschaft und liess sich mit dem Pronomen sie und Julia
ansprechen. Plötzlich habe sich jedoch ihr »inneres Geschlecht« wieder verändert, vom
weiblichen entfernt und die »männliche Seite« habe »nach aussen« gedrückt. Mit 29 Jahren
»wechselte« Julia wieder zurück zu ihrem vorherigen Namen und einer männlichen
Geschlechterrolle. Vor ihrem zweiten Coming-out habe er sich nie männlich gefühlt, er habe
das Männliche aus einem »diffusen Unbehagen« abgelehnt. Mittlerweile sei es jedoch ein Teil
von ihm, dies habe auch einen Einfluss auf seine Körperlichkeit, Sexualität und den Kontakt
mit anderen Menschen. Gleichzeitig sei das Männliche durch diese Akzeptanz gar nicht mehr
wichtig, sondern nur noch ein Teil, ein Element unter verschiedenen.
Seine Familie habe sich schwer getan mit seinem Leben als Frau. Vor allem sein Vater habe
es nicht als »authentisch« erachtet. Rückblickend hätte der Vater vielleicht gespürt, dass es
eine »Phase« sei.
Chris habe weniger das Bedürfnis zu provozieren als früher, er wolle mehr leben, worauf er
einfach Lust habe. Insofern funktioniere »das Politische« im Sinne eines »Kämpfens gegen
vorhandene Strukturen« für ihn nicht. Stattdessen könne er leben, was für ihn stimme, ohne
darauf zu achten, ob er in die Strukturen reinpasse oder eine Grenze überschreite. Er wolle
nicht »Altes niederreissen, sondern Neues kreieren«.
28
Daniela
Daniela ist 48 Jahre alt und wohnt in einem Vorort von Luzern. Sie hat eine Lehre als
Sanitärzeichner und später eine Weiterbildung als diplomierter Ingenieur HTL absolviert. Sie
sagt über sich, dass sie in ihrem Beruf etabliert sei und, dass sie beruflich wie auch privat voll
umfänglich als Frau akzeptiert werde.
Im Alter von fünf Jahren wurde sie mit der Transthematik konfrontiert. Nach eigenen
Aussagen habe sie damals bemerkt, dass sie »anders« sei. Ihr habe weder das Fussballspielen,
noch Puppen zugesagt, aber sie habe sich bei den »Meitlis« wohler gefühlt. Mit dreizehn
Jahren, 1978, hat sie sich dann ihrer Mutter gegenüber geoutet und gehofft, dass sie als
Mädchen zur Schule gehen kann. Ihre Mutter schickte sie daraufhin zu einem Psychiater, der
sich Danielas Wunsch im Zusammenhang mit der Pubertät erklärte. Mit zwanzig Jahren ging
sie ins Universitätsspital in Zürich und liess sich darüber informieren, dass sie erst mit 25
Jahren für eine Hormontherapie und Operationen zugelassen wäre. Für Daniela war das
Leben als Mann ein Arrangement, das ziemlich lange gut funktioniert hat, da sie sich mit
Autorennen, dem Flugbrevet, Reisen und anderen Aktivitäten ablenken konnte. In
Beziehungen wurden dann öfters Themen wie Familienplanung, Zukunft, potentieller Vater
für Kinder, Ehemann und Sexualität zum Problem. Daniela beschreibt sich als »gynophil«
und sagt, dass für sie die Beziehungen gestimmt hätten. Sie hätte »überdurchschnittlich
hübsche Freundinnen« gehabt, was sie sich damit erklärt, dass sie ihr eigenes Wunschbild auf
ihre Partnerinnen übertragen habe. Sie spricht in dem Zusammenhang von einem Ersatz und
dass sie ihre Wünsche, die sie für sich selber hatte, in die Partnerinnen hineinprojiziert und
ihnen somit Unrecht getan hätte.
Als Daniela 37 Jahre alt war, entschied sie sich für geschlechtsangleichende Massnahmen,
danach lebte sie jedoch weiterhin in einer männlich sozialisierten Rolle, vor allem der
Beziehung wegen, die viele Jahre hielt. Sie beschreibt es so, dass sie den Körper nur für sich
geändert hätte und ihrer Meinung nach habe ihr Begehren eine Frau zu sein nichts mit
gesellschaftlichen Körperbildern zu tun, sondern sie benutzt für sich die Metapher einer
falschen Verpackung und sagt, dass es medizinische Ursachen für ihr Transdasein gäbe39 und,
dass sie so geboren wurde.
Etwa im Jahre 2010 hat sie ihren Personenstand zur Frau geändert.
39
Siehe »Hormonthese« S.51
29
Helena
Helena wurde 1958 geboren und wohnt in einer Gemeinde in der Nähe von Murten. Sie hat
ein Studium und Doktorat in Pharmazie mit Spezialisierung auf Spitalpharmazie absolviert
und ist heute als Dozentin und Leiterin F&E Ernährung und Diätetik tätig.
Helena beschreibt die Konfrontation mit dem Thema trans als »Flashs«, in welcher sie sich
»anders« als ihr Bruder oder »die Andern« wahrgenommen habe. Als Schlüsselerlebnis
beschreibt sie ein Ereignis im Erwachsenenalter mit einer Arbeitskollegin, die sie auf ihr
»Anderssein« angesprochen habe. Parallel sei ausserdem ihr Vater gestorben, welcher eine
sehr patriarchale Rolle in ihrer Familie eingenommen habe. Dieser Tod sei für sie eine
Befreiung gewesen und einer der Gründe, weshalb sie sich 2004 outen konnte. Nach diesem
Coming-out sei »die Lawine« nicht mehr aufzuhalten gewesen. Überraschend seien für sie die
unerwartete Offenheit ihrer Familie und die vorwiegend negativen Reaktionen ihres
Arbeitsumfeldes gewesen. Sie habe sich diese Reaktionen genau umgekehrt vorgestellt.
Helena hat sich einer Geschlechtsangleichung unterzogen und beschreibt ihren Status als
»post-op am 6. Juni 2006«. Sie hat das Geschlecht, beziehungsweise ihren Personenstand,
geändert, wobei es ein Bedürfnis war, den Ehestatus »verheiratet« beizubehalten, welcher bei
einer Personenstandsänderung bis anhin automatisch auf »geschieden« geändert wurde. Ihr
Fall wäre ungefähr der zweite in der Schweiz gewesen und sie hätten darum gekämpft, dass
nicht alles einfach »zerstört« würde.
Helena orientiert sich am medizinischen Transdiskurs, insbesondere an der ICD-10
Klassifizierung. Es werde zurecht als Krankheit klassiert und man sei wirklich krank,
mindestens in der Phase der Transition. Sie verstehe nicht, dass bei anderen Krankheiten oder
Unfällen akzeptiert werde, dass sich das Leben schlagartig ändere, und bei dem des
Transseins nicht. Es könne daran liegen, dass es viele als »Spleen« betrachten. Auch ihre
Familie hätte gedacht, dass es ein »Burnout« wäre, bis sie begriffen hätten wie ernst es sei.
Helena ist ein passives Member des TGNS, steht aber solchen Vereinen kritisch gegenüber,
da diese »verpolitisiert« seien. Es stecke viel »Gruppendruck« dahinter. Sie sei nie in Clubs
gewesen, habe immer alles »alleine und versteckt« gemacht. Erst drei Jahre nach der
Operation sei sie zum ersten Mal in das Transgendernetwork gegangen, sie wisse jedoch nicht
mehr genau wieso. Der Weg sei für sie abgeschlossen und sie sei »im Reinen mit sich«.
30
Kai
Kai ist 23 Jahre alt und lebt in Zürich. Er ist im Kanton Basel Land aufgewachsen und hat das
Gymnasium und eine Malerausbildung absolviert. Ab Herbst 2014 möchte er mit einem
Jurastudium in einem Fernstudienprogramm beginnen. Mit siebzehn Jahren wurde er von
Zuhause »rausgeschmissen«. Ein Outing habe es daher seinerseits nie wirklich gegeben. Als
er noch Zuhause wohnte, habe er etwas vorspielen müssen und einmal »probiert einen Typen
nach Hause zu nehmen«. Er habe es aber einfach nicht geschafft. »Vielleicht war ich einfach
eine Flasche in dieser Sache.«
Seine »leibliche Familie«, zumindest Mutter und Schwester, würden versuchen ihn mit »er«
und Kai anzusprechen. Kai benutzt für sich den Begriff Transmann, wechselt jedoch zwischen
den Geschlechterrollen und bewegt sich gerne in unterschiedlichen Szenen. Durch sein
Passing, was er bereits ohne Hormone zustande gebracht habe, könne er ein bisschen überall
»rumgeistern«. Die Hormone wollte er »einfach mal ausprobieren und schauen, wo’s
hinführt«. Ohne Hormone habe es sich noch nicht ganz richtig angefühlt. Es wäre noch nicht
ganz gut gewesen. Kai nimmt seit zwei Jahren Hormone, bindet sich die Brüste ab und
möchte eventuell geschlechtsangleichende Massnahmen vornehmen, sobald finanzielle Mittel
zur Verfügung stehen. Vor allem die Mastek (Mastektomie) würde ihn interessieren, da er
sich mit seinen Brüsten nicht identifizieren könne und er sie vor allem als »unpraktisch«
erachte. Zurzeit stimme die Situation jedoch für ihn und eine Geschlechtsangleichung würde
nicht eilen, da es noch lange so weitergehen könne.
Kai sieht den Wechsel zwischen den Geschlechtern als Austesten der verschiedenen
Möglichkeiten und Geschlechterrollen. Obwohl er sein soziales Geschlecht als ein
»männliches« beschreibt, erklärt er, dass man »als trans irgendwo dazwischen« sei und es
schwierig wäre, sich einzuordnen, vor allem wenn es um die Sexualität gehe. Kai versucht
nicht in Kategorien zu denken und will auch keine neue Schubladen schaffen. Gleichzeitig hat
er Mühe mit queeren Positionen, die »alles und nichts« seien. Die Menschen, unsere
Gesellschaft, würde Schubladen brauchen, um sich an etwas festhalten zu können.
Kai hat im Juni 2013 seinen Vornamen geändert, seinen Personenstand als Frau hat er
beibehalten.
31
Katja
Katja ist 22 Jahre alt und wohnt in einem Dorf in der Nähe von Aarau. Sie kam im Alter von
etwa fünf Jahren mit der Transthematik in Berührung. Sie beschreibt dies als ein Gefühl,
welches sie damals noch nicht definieren konnte. Sie sei einfach »anders« als die Buben
gewesen und sie fühlte sich weder den Jungen noch den Mädchen zugehörig, weshalb sie sich
als »Absonderling« empfunden und sich immer mehr aus Kollegenkreisen zurückzogen habe.
In der Pubertät und der damit einhergehenden Veränderung des Körpers hätten sich die
Empfindungen verstärkt, der »Kopf ticke anders als der Körper«. Sie beschreibt dies als ein
»Gefühl des Zerrissenseins«. Zusätzlich sei die Belastung nicht zu wissen wie das Umfeld auf
ihr Transsein reagiere hinzugekommen. Katja outete sich 2012 mit zwanzig Jahren, als der
persönliche Druck für sie zu gross wurde. Das Outing sei auf der einen Seite eine Befreiung
von diesem Druck gewesen, aber zeitgleich auch eine Belastung, da das Outing eine
Konfrontation mit neuen Herausforderungen bedeutete. Die Beziehung zu ihrer Mutter sei für
Katja eine Zeit lang sehr schwierig gewesen, da ihre Mutter nicht akzeptieren konnte, dass ihr
Sohn nun als Frau leben möchte. Im Moment funktioniere die Beziehung jedoch relativ gut.
In der Vergangenheit sowie auch heute leidet Katja unter Diskriminierung, weshalb sie
fremden Menschen mit Angst begegnet und ein nach »draussen gehen» als sehr anstrengend
empfindet. Katja hat eine Ausbildung zur Tierpflegerin absolviert und ist zurzeit auf
Arbeitssuche. Durch ihr Transdasein erschwere sich diese zusätzlich und sie ist der Meinung,
dass sie deshalb keine Arbeitsstelle finde und dies zu akzeptieren habe. Laut Katja gäbe es zu
wenige Beratungsstellen und sie fühle sich auf sich alleine gestellt. Sie denkt, dass trans ein
Tabuthema ist und dass viele Menschen noch nichts davon gehört haben, was sie als
Erklärung sieht, dass mit trans vorsichtig umgegangen wird. Viele hätten auch Vorurteile und
würden Transmenschen einfach als Transvestiten verstehen. Sie selbst frage sich oft, wer sie
sei, woher das komme und warum. Sie könne sich gut vorstellen, dass sie in der »falschen
Schlange« gestanden habe, als es um die Auswahl ging. Sie steht dem Konzept Frau und
Mann jedoch auch kritisch gegenüber, sie findet, ein Mann dürfe genauso auch weiblich sein.
Jeder soll so sein, wie er sich fühlt. Auch wenn ein Mann Brüste hätte, dann wäre es so.
Hauptsache er sei zufrieden damit.
Seit 2013 nimmt Katja Hormone ein und strebt eine geschlechtsangleichende Operation an.
Für sie stellt der Personenstand die letzte Station der Transition dar. Danach soll »Ruhe
einkehren«.
32
Lio
Lio, 22 Jahre, wohnhaft in einer Gemeinde im Kanton Zürich, studiert an der Pädagogischen
Hochschule und möchte Kindergärtner_in werden. Lio bezeichnet sich als Tomboy, FtM und
weiblich. Unter FtM versteht sie Menschen, die sich die männliche Rolle aneignen, aber auch
Männer mit einer abgeschlossenen Transition, die vollständig »als Männer durchgehen«
(Passing). Sie bewege sich dazwischen und benutze daher lieber den Ausdruck Tomboy, was
sie in klarer Abgrenzung zu einer Butch sieht. Tomboy entspreche ihrem androgynen
Äusseren, sie trage gerne Männerkleidung und möge kurz geschorene Haare, was ihre Mutter
immer wieder thematisiere.
Die Jahre zwischen vierzehn und achtzehn seien eine intensive Phase gewesen, welche sie
auch als »Identitätskrise« benennt. Sie fühle sich mittlerweile nicht mehr als Mann, aber in
der Zeit wäre es eine Frage gewesen, womit sie sich intensiv auseinandergesetzt habe. Sie
liess sich auch über die Schritte der Transition an der Polyklinik in Zürich informieren. Dank
ihrem Umfeld, und vor allem aufgrund von Gesprächen mit ihrer Schwester, entschied sie
sich gegen die Einnahme von Hormonen. Nach eigenen Angaben führe ihr Äusseres zu
Irritationen, womit sie jedoch einen »friedvollen« Umgang gefunden habe. Es sei »sagen wir,
noch nicht normal«. Für andere sei es ein »Brett vor dem Kopf«, was ganz verständlich sei.
Sie sehe es aber nicht als ihre Aufgabe denjenigen Menschen aufzuzeigen, dass es auch
»anders« gehe. Sie könne sich durch ihre äussere, androgyne Erscheinung gut als Frau oder
als Mann bewegen, was zu »lustigen« Situationen führe. Des Öfteren würde sie gefragt
werden: »Bist du jetzt ein Mann oder eine Frau?«
Lio nimmt weder Hormone ein, noch möchte sie geschlechtsangleichende Massnahmen
vornehmen. Im Alltag bindet sie sich die Brüste ab40, da sie sich so wohler fühle, sie sei noch
nicht so weit mit der »totalen Akzeptanz« ihres weiblichen Körpers. Sie könne sich nicht
vollständig als Frau identifizieren und die Brüste, »als codiert weibliches Attribut«, verstehe
sie als »Blossstellung«.
Lios Vater kommt aus dem »Balkan«. Sie erzählt, dass wenn dort ein Mann (aus erklärlichen
oder unerklärlichen Gründen) verschwinde, würden die Frauen die Männerrollen
übernehmen, wobei diese dann als Männer vollständig akzeptiert würden.41 Lio begreift ihr
Lebenskonzept so als einen eigenen Ausdruck um die verlorene Vorbildsfunktion des Vaters
wiederherzustellen, welcher die Familie im frühen Kindesalter von Lio verlassen habe.
40
41
Infos zu breast binders siehe Love Boat LGBT Blog
NZZ (Januar 2012): Im Tal der Mannsweiber
33
Luisa
Luisa wurde 1965 geboren und wohnt seit siebzehn Jahren im Kreis 4 in Zürich. Sie ist
gelernte Stromerin und liess sich in den neunziger Jahren auch als Elektronikerin ausbilden.
Bis zur Schulpflicht lebte sie in Madrid, der Heimatstadt ihrer Mutter. Ihre Mutter war in
feministischen Gruppen aktiv, ihr Grossvater Stalinist und der Urgrossvater Anarchist. Sie sei
»in diesen Widersprüchen aufgewachsen«, sehr frei gewesen, was wahrscheinlich einen
gewissen Boden gegeben habe, »für eine nicht klassisch männliche Entwicklung«. Sie habe
als Junge und Mädchen »ein bisschen beide Seiten« gehabt und sei deswegen auch
»kollidiert« mit den gängigen Vorstellungen der Geschlechterrollen.
Als Luisa noch ein Kleinkind war, zog die Familie in die Schweiz in eine Gemeinde im
Kanton Zürich, was wahrscheinlich aufgrund von »kulturellen Diskrepanzen ein Fiasko«
gewesen sei. Nach dem Umzug in die Stadt Zürich hätten die »unstabilen Jahre« begonnen.
Zuerst kam die Scheidung der Eltern, dann gab es Konflikte mit ihrem Vater und in der
Schule sei sie »rausgeflogen«. Sie habe daraufhin »ein paar Bezirks-Gefängnisse von Innen
gesehen«. In den achtziger Jahren bewegte sich Luisa in der Hausbesetzerszene und beteiligte
sich an den Jugendunruhen. Später habe sie die Technoszene fasziniert, sie sei bei den ersten
Ausgaben der Street Parade dabei gewesen. Sie sei in Berührung mit der Fetisch- und,
insbesondere der SM-Szene, gekommen und habe viel experimentiert.
Zwischen 1990 und 2000 verbrachte sie mehrere Jahre in Thailand, arbeitete da als
Schiffsmechanikerin und hätte »eine sehr männliche Rolle« inne gehabt. In der Schweiz
führte sie lange Zeit ein »Doppelleben«. So sei sie bei der Arbeit als Mann erschienen und
hätte sich privat als Frau bewegt. Am 31. August 2000 hat sich Luisa als Frau geoutet und im
Jahr 2005 in Zürich die geschlechtsangleichende Operation durchführen lassen. Davor habe
sie mehrere Jahre Hormone genommen, um »sich selber kennenzulernen«.
Luisa wurde mit elf Jahren mit dem Thema konfrontiert und mit sechzehn hätte sie eine
Vorliebe für Frauenkleidung gehabt, die sie sich nicht eingestehen wollte. Obschon Luisa
heute in einer weiblich konnotierten Geschlechterrolle lebt, sei dieses Geschlechtsmodell für
sie nicht »hundertprozentig« klar. Die »Mann/Frau-Schiene« sei für sie wahnsinnig schwierig
festzumachen, da sie überzeugt sei »beide Konditionierungen» zu haben. Wahrscheinlich
seien Transmenschen wirklich »magische Wesen, die beide Konditionierungen« hätten.
34
Romeo Coyote Rosen
Romeo Koyote Rosen wurde 1965 in Deutschland geboren, lebt in einer Stadt im Kanton
Zürich und bezeichnet sich als Transform. Trans steht für ihn_sie für ein Aussteigen aus dem
»Weltlichen«, ein Loslösen von all den Dogmen und Zwängen. »Trans hält die Form
variabel«. Er_sie hat früher die Begriffe »die Dragking«, »Vielform« und »Mischwesen« für
sich verwendet, möchte sich jedoch mit keiner dieser Bezeichnungen festlegen oder sich
darüber definieren, um offen für neue Formen und Benennungen bleiben zu können. Er_sie
sei schon immer ein »Wildfang«, ein Tomboy gewesen und sei weder als Frau noch als Mann
sozialisiert worden. Er_sie habe bereits als Baby Diskriminierung erfahren müssen, da er_sie
als »schwarzes Baby« zwanzig Jahre nach dem Krieg in Deutschland als »Bastard« angesehen
wurde. Romeo Koyote Rosen ist 1985 in die Schweiz gekommen und habe sich da vor allem
im »separatistischen Lesbenkuchen« und in der Besetzerszene bewegt, die ihn_sie »genährt
und gelehrt« hätten. Romeo Koyote Rosen erzählt, dass seine_ihre Häärchen im Gesicht für
Irritation sorgen. Die Häärchen würden jedoch erst in der Gesellschaft zum Bart oder zum
Schnauz und zum männlich codierten Accessoire. Er_sie habe sich «nie als Mann gesehen«,
habe bloss die Häärchen ins Gesicht getan und die Welt, die Gesellschaft habe angefangen auf
ihn_sie zu reagieren.
Romeo Koyote Rosen beschreibt eine Begegnung im Jahre 2001 als Schlüsselerlebnis, als
er_sie sich an einer Dragking/Dragqueen-Show aufgehalten habe und ihm_ihr bewusst
wurde, dass das Geschlecht keine Rolle spiele. Er_sie bezeichnet es sogar als »Geistesblitz«.
Ab dem Moment hätte er_sie nicht mehr in Kategorien gedacht und begegnete auch bald an
einer Kunstausstellung in Lausanne dem Begriff transform(er), welchen er_sie sich daraufhin
angeeignet habe. Romeo Koyote Rosen verordnet unsere Gesellschaft, in der wir leben, in
einer Menschheitsepoche, die binär codiert sei. Dadurch wäre es wichtig Räume zu schaffen,
in denen »queer und transforme Wesen« geschützt seien und sich gegenseitig mit Respekt
und Verständnis begegnen können. Romeo Koyote Rosen vertritt, seiner_ihrer Ansicht nach
eine radikale Meinung, indem er_sie sagt, dass die_der Heterosexuelle sein_ihr
Lebenskonzept überdenken soll, da Romeo Koyote Rosen damit unterdrückt werde. Er_sie
habe dadurch als Homosexuelle_r, »geboren aus der Lesbierin«, weniger Rechte. Indem
er_sie sich als weder (Frau) noch (Mann) bezeichne, würden Menschen anfangen »selber zu
überlegen«. Romeo Koyote Rosen wünscht sich im Zusammenhang mit der Transcommunity
anstatt »Negativ-Bezeichnungen« und einem binären Lebenskonzept eine Möglichkeit zur
Geschlechtervielfalt, in der sich jede_r so benennen könne, wie sie_er möchte. »Stay queer!«
35
Stephanie
Stephanie ist 48 Jahre alt und wohnt in einem Dorf in der Nähe von Aarau. Sie ist eidg.
diplomierte Organisatorin, beziehungsweise Auditorin.
Bereits mit sieben Jahren hat Stephanie gewusst, dass »etwas anders« sei. Ihre Mutter hätte
sie einmal mit Frauenkleidung im Bett erwischt, was bis zu ihrem Auszug aus dem
Elternhaus todgeschwiegen wurde. Nach dem Auszug aus ihrem Elternhaus und dem
begonnenen Studium als Elektroingenieur HTL habe sie lange gebraucht, bis sie
herausgefunden habe, dass sie trans sei. Als es für sie klar war, hätte sie sich entscheiden
müssen, ob sie sich oute oder weiterhin in der sozialisierten Männerrolle leben wolle. Vor
allem Existenzängste hätten sie daran gehindert den Schritt zu wagen. Rückblickend meint
sie, sie hätte es viel eher tun sollen, da sie sich »schon immer als Frau gefühlt« habe. Lange
Zeit habe sie ihre Gefühle unterdrückt, wie zum Beispiel durch »bewusst männlich
konnotierte Hobbys«.
Zwischen ihrem 44. und 46. Lebensjahr hat sich Stephanie geoutet. Ihr Umfeld reagierte
»positiv«, sie hätte keine Probleme gehabt. Stephanie hat 2013 eine Geschlechtsangleichung
vorgenommen. Mit dieser Operation habe für sie ein neues Leben begonnen. Mit ihrem alten
Leben habe sie abgeschlossen. Stephanie hat sich ihren Kehlkopf abschleifen lassen und
strebt eine »Feminisierung« im Gesicht und eine Brustoperation an. Stephanie definiert sich
seit dem als Frau und möchte nichts mehr mit der Transgenderwelt zu tun haben. Es sei ihr
wichtig, nicht irgendwo »dazwischen« hängenzubleiben. Ihr Anspruch ist ein perfektes
Passing. Trans sei für sie »wie ein Projekt« gewesen und sie habe keine Lust trans zu
»spielen«.
Der Trans*szene steht sie nicht nur deswegen kritisch gegenüber, sondern auch weil sie der
Ansicht ist, dass diese »einen grundsätzlich runterziehe«, weil meistens der Fokus beim
Negativen liegt wie zum Beispiel der Diskriminierung, Gewalt oder dem schlechtem Passing.
Wichtig sei ihr ein positiver Zugang zur Thematik, da sie ihren Weg als »Geschenk« sehe und
sie dadurch »zu sich selber gefunden« habe. Sie ist der Meinung, dass Diskriminierungen
gegen Transmenschen stattfinden, dies für sie jedoch »kein Thema« darstelle, da sie es nicht
gegen sich erlebe, beziehungsweise nicht davon betroffen sei. Es liege an der Transperson,
»gewisse Meinungen zu akzeptieren, wenn man direkt oder indirekt provoziert«.
Im Jahr 2013 hat Stephanie ihren Namen geändert und all ihre offiziellen Dokumente
anpassen lassen.
36
4 Aus dem Alltag von Trans*menschen
Bei der Auswertung des sehr unterschiedlichen Interviewmaterials kristallisierten sich
Themen heraus, die von all unseren Gesprächspartner_innen aufgegriffen wurden. Wir haben
diese Themen in fünf Kategorien gefasst, welche wir hier näher ausführen möchten. Die
Kategorien lassen sich nicht klar voneinander trennen, da sich die Themen meist überlappen.
Trotzdem haben wir versucht ähnliche Erfahrungen in einer Kategorie unterzubringen, um die
Gespräche nach bestimmten Themenbereichen ordnen und so auch die Positionen einander
gegenüberstellen zu können. Folgende Fragen lassen sich als Basis unserer Gespräche
formulieren:
Wie beschreiben die befragten Personen die Reaktionen auf ihr Trans*dasein? Inwiefern lässt
sich dieses nicht in die normativen Identitätskategorien fassen? Sind die Menschen in ihrem
Umfeld irritiert, fühlen sie sich provoziert durch ihren Umgang mit den Geschlechterrollen
und ihren Begehren? Werden ihre Lebensweisen, ihre Taktiken akzeptiert, anerkannt, als
politisch verstanden oder als unlesbar, unverständlich oder ›anormal‹ abgetan? Braucht es
Irritation, Provokation um auf die Trans*thematik aufmerksam zu machen, um auf ein
Jenseits, Dazwischen oder Ausserhalb der Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen
verweisen zu können, oder ist es wichtig sich für ›die eine oder die andere Seite‹, für ›das eine
oder andere Geschlecht‹ zu entscheiden? Müssen Trans*menschen aus ihrer Sicht mit
Ablehnung, Ausschluss und Diskriminierung rechnen und wie ist ihr Umgang damit? Was
passiert innerhalb der Trans*szene, ihren Orten und Organisationen, die einen geschützten
Raum darstellen sollten? Welche Ausschlüsse geschehen entlang welchen Codes in Bezug auf
ihr Verhalten und ihrer Erscheinung?
Auf den kommenden Seiten werden die jeweils zentralen Aussagen, in Bezug auf die
Kategorien, aufgeführt und mit Statements der Gesprächsteilnehmer_innen belegt. Es ist uns
ein Anliegen, die Aussagen der Gesprächspartner_innen möglichst nach ihren Vorstellungen
wiederzugeben, daher haben wir bewusst nichts in einen Kontext gestellt, ohne Rücksprache
mit ihnen zu halten. Wiederum stehen Begriffe und Aussagen, die wir unverändert aus den
Gesprächen übernommen haben, in Anführungsstrichen.
37
4.1 Soziales Umfeld
In den Gesprächen wurden oft Kindheit, Sozialisation oder die Familie thematisiert und
diskutiert. Chris erzählt uns, er sei sehr »traditionell« aufgewachsen und hätte »dadurch null
Ahnung gehabt«. Er hätte mit siebzehn, achtzehn Jahren noch ein ganz »heterozentrisches
Weltbild« gehabt. »Wenn ich auf Frauen stehe, dann macht das Frausein selber gar keinen
Sinn oder. Oder umgekehrt, wenn ich trans* bin, dann ist es irgendwie gar nicht richtig
denkbar gewesen dann auch lesbisch zu sein gleichzeitig.«
Romeo Koyote Rosens Erzählung verweist auf einen weiteren Aspekt, indem er_sie erklärt,
dass er_sie wenig Mutter und Vater gehabt hätte und er_sie dadurch nicht zwingend als Frau
oder Mann sozialisiert worden sei, »sondern ich konnte eigentlich so ziemlich machen, was
ich wollte, hatte dafür nicht so ne gute Bindung und nicht so viel Elternliebe. Aber das macht
dich halt auch stark und sehr offen und sehr aufmerksam für die Welt halt«.
Wir haben mit unseren Gesprächspartner_innen über ihren individuellen Umgang, ihre
Taktiken und ihre positiven oder negativen Erfahrungen, in der Familie, mit Freund_innen, in
der Trans*- oder Homoszene oder auch im Zusammenhang mit der Arbeitsstelle gesprochen.
Sie schilderten uns unterschiedliche Reaktionen auf ihr Coming-out, beziehungsweise auf ihr
Outing und den ›Geschlechterwechsel‹ im familiären oder beruflichen Umfeld. Dabei war der
Transitionsweg oft zentral. Wie reagierte die Familie? Wie gehen Freund_innen damit um?
Wie verändert sich die Lebenssituation? Gibt es Probleme bei der Arbeit? Führte der
›Geschlechterwechsel‹ oder ihr Spiel mit den Geschlechtern zu sozialem Ausschluss und/oder
Diskriminierung?
So berichtet Katja eher von Negativerfahrungen, indem sie nach dem Coming-out ein
Grossteil ihrer Freunde verlor. Katja: »In meinem Umfeld, also neunzig Prozent meines
Freundeskreises hat sich aufgelöst dadurch. Weil sie nicht damit umgehen konnten. Im
familiären Umkreis habe ich keine Probleme mehr. Das funktioniert im Moment recht gut.
Meine Mutter hat noch ein wenig Mühe. Sie spricht mich meistens noch mit René an. Es
kommt schon. Es braucht einfach Zeit.«
Kai hat nicht besonders viel Kontakt zu seiner »leiblichen Familie«, vor allem zu seinem
Vater habe er gar keinen Kontakt mehr, die Mutter sei »recht cool«. Es liege daran, dass er
»spiessbürgerlich« aufgewachsen sei, seine Eltern wären »SVP-Wähler, rassistisch,
antisemitisch gewesen. Alles Schöne, was ich nicht bin. Und da man keine eigene Meinung
haben darf, ist es irgendwann zu Zusammenstössen gekommen«. Mit siebzehn sei er Zuhause
»rausgeschmissen« worden. Daraufhin sei er regelmässig in der LesBiSchwulen Szene und
38
später auch in der Trans*szene »rumgehangen«. Er habe sich eine Familie aus Freunden und
Kollegen geschaffen, welche er als seine »Wahlfamilie« bezeichnet.
Luisa beschreibt die Familiengeschichte als »sehr massgebend«. Viele Leute, und damit meint
sie wohl Transleute, hätten eine »aussergewöhnliche Familiengeschichte«. Sie glaubt, dass in
einem konservativen Umfeld der soziale Druck ein »anderer« [ein grösserer] sei.
Auch bei Helena sei es nicht immer einfach gewesen und gut gelaufen. Sie habe in dem Jahr,
»in der Phase, wo wirklich alles rund um den Eingriff gewesen ist«, alleine in einem Studio
gewohnt. Sie hätten es ihren Mädchen nicht zutrauen wollen. Die seien damals elf und
vierzehn Jahre alt gewesen. Die Beziehung zu ihrer Frau und ihren Töchtern beschreibt sie als
sehr »respektvoll«. Sie mussten sich gegenseitig helfen »um das Beste aus dieser Situation zu
machen«. Das ginge eigentlich sehr gut. »Und da muss ich sagen, da habe ich wahrscheinlich
aussergewöhnlich Glück gehabt.«
Daniela kann von keinen negativen Erfahrungen berichten. Ihr Vater hätte eine einzige
negative Bemerkung aus seinem Kollegenkreis bekommen, worauf er sich für sie eingesetzt
habe. Sie erzählt uns von Schulfreunden, mit denen sie seit über dreissig Jahren befreundet sei
und immer noch Kontakt hätte. Es bekäme irgendwann eine »Normalität« und man würde im
Freundeskreis über Themen sprechen, »die einfach ganz normal sind«. Auch bei der Arbeit
würde sie keinen Ausschluss oder Ablehnung erfahren, im Gegenteil. Sie erklärt es sich
damit, dass »wenn du ein anständiger Mensch warst vorher, dann nachher macht dein
Freundeskreis das zu einem grossen Teil mit«.
Stephanie ist der Ansicht, dass »wenn man immer davon ausgeht, dass die anderen dich so
akzeptieren müssen, dann läufst du einfach die Wand [hoch]«. Sie beschreibt die
Übergangsphase [Transition] als hart und sie betrachtet es eher als eigene Aufgabe, einen
Umgang mit Reaktionen von anderen Menschen zu finden. »Weil ich sage immer: du hast es
dir eingestehen müssen, du hast mehrere, meistens mehrere Jahrzehnte, bis es du akzeptiert
hast bei dir, du kannst nicht erwarten von deinem Umfeld, ob jetzt Eltern oder Freunde oder
Geschäftskolleginnen/Kollegen, dass die das innerhalb von fünf Minuten akzeptieren, wenn
du ein Outing machst.« Sie ist überzeugt, dass diejenigen Transmenschen, die den Weg oder
das Outing als Kampf beschreiben und Probleme bekommen, dass es »mit der Einstellung« zu
tun habe, »da stimmt etwas nicht«.
Für Lio war es nach dem Coming-out ›lässig‹ [ironisch] zu sehen, wie »manche unterstützen
können und die andern eine totale Abneigung haben«. Ihre Mutter fände es »einfach schade,
39
dass sie nicht diese Tochter hat, die sie sich vorgestellt hat. Das kann ich verstehen. Aber ähm
- ich möchte mich nicht so von ihr manipulieren lassen«.
Abschliessend lassen sich von uns zwei Positionen oder Reaktionen ausmachen. Einige
unserer Gesprächspartner_innen betrachten es als ihre eigene Aufgabe einen Umgang mit
negativen Reaktionen zu finden. Sie betonen, dass es ohne Adaption an das Umfeld, sprich an
die Reproduktion der Heteronormativität schier unmöglich scheint, den Weg der Transition
zu gehen, beziehungsweise einen ›Geschlechterwechsel‹ vorzunehmen. Dabei orientieren sie
sich an den Normen der Zweigeschlechtlichkeit, welche sie dadurch wiederholen und somit
bestärken. Viele Trans*menschen versuchen sich durch eine unauffällige, angepasste Taktik
in die heteronormative Struktur einzuordnen. Vielleicht wird sogar unbewusst davon
ausgegangen, dass es an der eigenen Einstellung und nicht an Formen von Diskriminierung
liegt, wenn sie Ausschluss erfahren, wie es uns beispielsweise Stephanie erzählt hat.
Unbewusst in dem Sinne, dass diese Personen sich an einer Ordnung festhalten,
möglicherweise ohne die Tatsache zu registrieren, dass es diese Ordnung ist, die sie in
Geschlechterrollen zwängt und dazu bringt sich entscheiden zu müssen. Auf der anderen Seite
positionieren sich die Befragten, die sich nicht an irgendwelche Regeln oder Vorschriften in
Bezug auf ihr Geschlecht halten möchten. Sie durchbrechen dadurch gängige Vorstellungen
von Frau und Mann, von sexuierten Körpern und Praktiken und diskutieren besonders
kritisch ihre eigenen Standpunkte, so auch ihre Beziehungen, Freundschaften und das
Verhältnis zu ihren Familien.
Wir stellen aber fest, dass durch die Trans*thematik bei allen Gesprächspartner_innen
Konflikte, Spannungen oder Unruhen im familiären und erweiterten sozialen Umfeld
entstanden. Auffällig erscheint uns jedoch, dass diejenigen Trans*menschen, die sich den
Konflikten aussetzen, nicht unbedingt mehr Ausschluss oder Diskriminierung erfahren, als
diejenigen, die sich anzupassen und anzugleichen versuchen. Wir fragen uns also, ob
Trans*menschen, welche von ihrem sozialen Umfeld vor, während und nach der Transition
Unterstützung erhalten und anerkannt werden, weniger psychischer Belastung ausgesetzt sind.
In den zwei folgenden Kategorien besprechen wir deshalb kritisch die Begriffe des Comingouts und des Passings, welche auch immer mit einem bestimmten Druck und Belastung in
Verbindung gebracht werden. Wir diskutieren, ob und inwiefern sich die Begriffe als nützlich
oder notwendig erweisen und wie sie die Gesprächspartner_innen für sich verwenden.
40
4.2 Coming-out
In einer heteronormativen Gesellschaft steht das Coming-out für ein Bekenntnis, von
vorherrschenden, gesellschaftlichen Normen und Strukuren abzuweichen und selbigen nicht
zu entsprechen. Im Prozess des Coming-outs bestätigt sich die heteronormative Struktur als
›Eingeständnis der Ausnahme‹, stellt jedoch im Kampf um Sichtbarkeit und Akzeptanz von
trans*, ebenso wenn es um die Festigung der Geschlechtsidentität geht, einen wichtigen
Prozess dar. Durch das Coming-out wird eine Kategorie geschaffen, mit welcher unter
anderem rechtlicher Schutz und Gleichberechtigung eingefordert werden kann. Sehr wichtig
hierbei wird auch der mögliche Rückbezug auf eine bestehende Identität, die erst durch diese
Formulierung erkenntlich wird.
Coming-out bezieht sich auf den englischen Ausdruck ›coming out the closet‹, beschreibt also
ein Öffentlichmachen von bisher geheimen Empfindungen und Begehren und ist oftmals mit
extremen Existenzängsten, sozialem Ausschluss und/oder Diskriminierung verbunden,
weshalb viele Menschen vor einem Outing zurückschrecken oder es jahrelang zu vermeiden
versuchen. Fast alle unsere Gesprächspartner_innen bringen ihr Coming-out mit ganz
spezifischen Gefühlen, wie Angst, Befreiung oder Erleichterung in Verbindung. Oft wurden
uns eindeutige Daten genannt, welchen eine ähnliche Relevanz wie Geburtstagen zuteil
kommen. Sie stehen für einen neuen Lebensabschnitt und einen Abschluss mit einem
bisherigen Leben. Häufig wird das Coming-out mit einem Schlüsselerlebnis verbunden, in
welchem eine Trans*person auf die Trans*thematik aufmerksam geworden ist, sei dies durch
einen Zeitungsartikel, Internetlink oder eine Fernsehsendung. Einige ältere Trans*menschen
berichteten uns, es sei für sie schwieriger gewesen mit trans* in Berührung zu kommen oder
sie hätten für das Coming-out länger gebraucht als die jungen Trans*menschen von heute. Die
mediale Berichterstattung wäre früher noch nicht so gross gewesen oder auch das Internet als
Informationsquelle, beziehungsweise als erste Anlaufstelle hätte damals nicht existiert oder
wäre nicht so sehr verbreitet gewesen.
Lio hatte mit fünfzehn Jahren einen Zeitungsbericht von einer Frau gelesen, die sich nicht
wohl gefühlt hätte in ihrem Körper und sich umwandeln liess. Für sie sei das »WOA! Die
Antwort!« gewesen. Sie habe sich erst bei ihrer Schwester geoutet, »die hat es nicht so richtig
verstanden am Anfang«. Danach outete sie sich weiter bei ihrer Mutter, welche gar nicht gut
reagiert hätte. Ihre Mutter sei keine religiöse Frau, »aber dann ist sie mit Gott gekommen«.
Sie habe gesagt, »Gott hätte das nicht gewollt«.
41
Kai hat mit ungefähr zwanzig Jahren am Filmfestival Queersicht den Film Romeos gesehen,
der von einem Transmann handelt. Nach dem Film hätten sie sich noch mit einer Transperson
unterhalten und so sei er mit dem Thema konfrontiert worden. Er habe sich Zuhause nie
richtig outen müssen, »weil es eh klar gewesen ist«.
Im Zusammenhang mit dem Coming-out wird auch oft von einer starken psychischen
Belastung gesprochen. Katja hat das Outing so lange hinausgezögert, bis sie es nicht mehr
ausgehalten habe. Sie hätte Angst gehabt es anderen zu sagen, da sie nicht wusste, wie ihr
Umfeld reagieren würde. Als der Druck zu gross geworden sei, habe sie sich geoutet. Es sei
schwer gewesen als sie es ihrer Mutter erzählt habe, und auch nicht wirklich gut, denn ihre
Mutter hätte »ziemlich Mühe damit gehabt«, obwohl sie immer zu ihr gestanden hätte.
»Danach [nach dem Outing] ist man wirklich so am Boden mehr oder weniger.« Obwohl das
Outing auch etwas Befreiendes gehabt hätte, sei es ihr davor besser gegangen, sie sei
»psychisch stabiler« gewesen.
Helena macht die Metapher einer »Herzerkrankung«, mit welcher man zwar jahrelang leben
könne, die aber irgendwann zum Vorschein komme und behandelt werden müsse. Bei ihr
seien es verschiedene Faktoren gewesen, welche zum Coming-out geführt hätten. Unter
anderem der Tod ihres patriarchalen Vaters und ein männerdominiertes Arbeitsumfeld,
welches sie nicht mehr ausgehalten habe. Nach dem Coming-out hätte es einen Moment lang
so ausgesehen, »als würde alles zusammenkrachen«. Dies sei schwierig und ein Schlag
gewesen.
Für Stephanie sei es wie ein »Dampfkochtopf« gewesen, bei dem der Druck »einfach
kommt«. Irgendwann habe sie sich entscheiden müssen [ob sie sich oute oder nicht] und hätte
sich ein Timeout genommen. Sie sei ein paar Tage nach Deutschland zu einer Transberatung42
gefahren. Dort habe sie Perücken anprobiert, Frauenkleidung getragen, sei geschminkt
worden und habe »die ganze Zeit als Frau gelebt«. Bei einem abschliessenden Fotoshooting
habe sie sich »als Stephanie vom kleinen Zehen bis in den kleinen Finger gespürt. Dort habe
ich es gewusst«. Als sie zurückgekommen sei, hätte ihre Partnerin gedacht »es stimmt wieder
einmal etwas nicht«, habe angefangen zu wühlen und Frauenkleider gefunden. »Dann war es
dann eigentlich draussen. Dann haben wir uns nach acht Jahren getrennt.«
Bei Luisa sei »es leider schaurig fliessend« gewesen. »Mit sechzehn weiss man nicht so recht
was lauft und so. Trägst gerne Frauenschuhe. Findest das wahnsinnig attraktiv. Dann gibt es
so Begriffe wie Fetischismus und trallala. Dann sagst du: Oh mein Gott und überhaupt. Das
42
anima*projekt: Transgender-Beratung Faridéh-Styling
42
darf nicht!« Da seien aber auch viele kulturelle Einflüsse gewesen, die autonome
Besetzerszene, »kreative« Menschen, Techno, Fetischszene. In diesem Umfeld hätte sie
angefangen, immer mehr zu experimentieren, wollte sich besser kennen lernen und habe
irgendwann ein »Doppelleben« geführt. Dies sei lange gut gegangen. Irgendwann habe sie
sich aber gesagt, »das kann es nicht sein« und hat sich am Arbeitsplatz an einer
Bauleitersitzung geoutet.
Wir verstehen ein Coming-out, bzw. Outing nicht nur als persönlich wichtiges Bedürfnis,
sondern auch als politische Relevanz, um weitere Geschlechtsidentitäten als nur Frau und
Mann zu etablieren und zu stärken, wobei unserer Meinung nach auch diese ›neuen‹
Kategorien nicht so sehr gefestigt werden sollten um eine Möglichkeit zur Veränderung
beizubehalten. So ist möglicherweise nicht nur das Outing an sich wichtig, sondern auch ein
Spiel mit Begriffen, mit den Identitätskategorien, die sich dadurch nicht festigen, sondern
verschieben lassen. Ein Coming-out sollte unserer Meinung nach auch nicht forciert oder aus
einem Druck heraus zum Bedürfnis werden, sondern als Instrument dienen um auf politischer
Ebene für die eigenen Rechte und die Rechte von Trans*menschen einstehen zu können.
Dabei geht es genau nicht darum sich als ›anders‹ zu verstehen oder sich in die
heteronormative Ordnung einzureihen, sondern darum die Grenzen von Geschlecht zu
sprengen und eine verwirrende Pluralität von Geschlechtern zu erschaffen, die sich nicht mehr
in zwei dichotome Konzepte pressen lassen.
43
4.3 Passing
Die Diskussion über ein sogenanntes Passing ist in vielen Gesprächen von grosser
Bedeutung. Meist ist das Passing nicht ein zu hinterfragendes Gerüst, sondern eine
Bedingung um gesellschaftlich anerkannt zu werden und gleichzeitig ein Gefühl der
Stimmigkeit zu erlangen. Dabei fragen wir uns, ob es nicht an den scheinbar starren
Geschlechterkategorien liegt, dass ein Dazwischen oder ein Jenseits und ein Ausdehnen und
Vervielfältigen der bestehenden Identitätskategorien für viele Trans*menschen nicht möglich
erscheint.
»Transfrauen können sich nie erlauben, was wir uns erlauben können. Da müssen wir gar
nicht drüber diskutieren, schon nur körperbaumässig und so.« Kai spricht hier davon, dass
Transfrauen nur dann Chancen auf ein perfektes Passing haben, wenn sie vor der Pubertät
bereits mit der Hormoneinnahme beginnen. »Ich kenne keine Transfrau, der man’s nicht
ansieht.« Bei FtM sei es immer einfacher.
Auch Helena ist ein Passing wichtig, welches sie als Frau durchgehen lasse. Für sie wäre ein
Leben zwischen den Kategorien Frau und Mann nicht in Frage gekommen. Sie glaubt, dass
dieser Zustand etwas sei, »das nicht fertig ist, etwas, was man eh nicht im Griff hat und man
nach wie vor in der Depression stecken bleibt«. Im Zusammenhang mit dem Alltagstest, den
sie als überflüssig erachtet, sagt sie: »Das wäre dann Spiessrutenlaufen gewesen. Wenn man
wirklich noch die männliche Konstitution hat und vielleicht auch noch weniger Haare und
dann nachher kommt man da plötzlich in Frauenkleidern. Das, das provoziert dermassen, das
kann es nicht sein. Also dann zieht man sich [besser] irgendwo zurück und kommt dann
einfach nach dem Eingriff wieder in einem mehr oder weniger endgültigen Zustand wieder
retour«.
Stephanie bezeichnet die Stimme als wichtiges Element des Passings und beschreibt, dass es
für FtM-Transpersonen leichter sei, sie bekämen durch das Testosteron Haare und den
Stimmbruch und »dann sieht man das nicht mehr«. Durch logopädische Übungen versuche sie
die Stimme dem weiblichen Geschlecht anzupassen. Ihr Anspruch sei es als Frau und
Partnerin wahrgenommen zu werden. Stephanie vertritt die Ansicht, dass viele
Transmenschen die geschlechtsangleichende OP nicht vornehmen würden, wenn die
Krankenkassen die Angleichung der sekundären Geschlechtsmerkmale (wie Adampsapfel,
Gesicht, Stimme, Haaransatz, Haarentfernung) als erstes bezahlen würden. Zurzeit bestehe die
44
Regelung, dass ohne die Geschlechtsangleichung der primären Geschlechtsmerkmale43 die
Anpassung der sekundären Geschlechtsmerkmale nicht ausgeführt werde.
Im Gegensatz zu diesen drei Positionen erachten Chris und Romeo Koyote Rosen eine
androgyne Erscheinung als interessant. Sie vertreten die Meinung, dass es spannend sei mit
unterschiedlichen Rollen zu spielen und verstehen Irritation und Provokation als eine
notwendige, politische Handlung. Chris beschreibt es so, dass »wenn es in unserer
Gesellschaft ›normal‹ wäre trans* zu sein, also in einem anderen als im ›biologischen
Geschlecht‹ zu leben, dann wäre es auch ›normal‹, dass man das einem ansieht, weil es nicht
alle verstecken können und dann wäre es auch gar nicht mehr nötig es zu verstecken, und
unter dieser Voraussetzung, frage ich mich, wie viele von diesen Menschen, die tatsächlich
eine Transformation an sich machen lassen, das Bedürfnis dann noch hätten.« Romeo Koyote
Rosen geht noch einen Schritt weiter und kritisiert beim gängigen Transbegriff den
Ausschluss
von
»Hermaphroditen«.
Aufgrund
seiner_ihrer
Solidarisierung
mit
»Hermaphroditen« und »Zwittern«, möchte er_sie nicht als Frau oder Mann verstanden
werden, sondern die Kategorien völlig aufbrechen und bewege sich daher in der Gesellschaft
»als transformes, queeres Wesen, das durch seine Erscheinung die Kreativität und Fantasie
von anderen Menschen anregt«.
Auch Luisa hat viele »Sachen total in Frage gestellt gesehen«. Sie habe sich mit Rock und
hohen Absätzen einfach wohler gefühlt. Sie bereue heute nichts und sei froh den Weg
gegangen zu sein. »Weisst du, ich sage ja immer auch, weisst du, diesen Weg, den wir gehen,
ist ja auch irgendwo durch ein Kompromiss. Weil, es ist natürlich auch vieles bequemer.« Sie
sei sehr zufrieden mit der Geschlechtsangleichung, aber es stimme auch, »dass ich da
gegangen bin und gesagt habe, ich versöhne mich mit der Gesellschaft. Genug Revolution.
Genug Herumprügeln bei der Geroldstrasse«. Diese Kritik würde sie wegstecken, weil es
stimme. »Weil ich finde auch. Schau mal. Eine Gesellschaft, respektive Mitglieder einer
Gesellschaft suchen ja auch eine Kompromissform oder. Irgendwo durch müssen sie auch
existieren können.« Es sei klar, dass die OP eine sehr elegante Lösung gewesen sei. Dadurch
habe es bei ihrer Mutter auch »Klack« gemacht.
Lio stelle sich unterschiedlich vor, »als Aline oder später dann auch als Lio«. Es sei
manchmal einfacher, je nach Situation. »Es ist vielleicht auch ein bisschen faul, aber
irgendwie, ja, machst du es dir ein bisschen einfacher.« Manchmal übernehme sie lieber den
männlichen Part, rede nicht und dann müsse sie auch nicht den »peinlichen Blicken«
43
vgl. dazu auch Metzger (2013), S.7
45
versuchen auszuweichen. Mit siebzehn, anfangs achtzehn habe sie sich beraten lassen, da es
sich »so wie zugespitzt« habe und da habe sie »wirklich einfach zwei Linien oder einfach
zwei Wege eigentlich« gesehen. »Und eigentlich entweder den Weg - entscheide ich mich
dafür oder entscheide ich mich nicht dafür. Möchte ich einen Weg gehen, wo mit viel Risiken
verbunden ist oder möchte ich einfach irgendwie versuchen einen Kompromiss mit mir selber
zu stellen und irgendwie versuchen selber damit klar zu kommen.«
Chris werde oft als Frau gelesen, worüber er sich dann »diebisch« freue. »Ich habe zuerst den
weiblichen Teil annehmen können. Und wo ich den wie sozusagen integriert habe, hat der
männliche Teil sich wieder gemeldet und gefunden: Hey, jetzt bin ich an der Reihe. Der
weibliche Teil ist auch ein Teil von mir. Der ist immer da, der ist einfach nicht so an der
Oberfläche. Meistens.« Er glaubt, dass Männlichkeit und Weiblichkeit in unserer Gesellschaft
wichtig seien, wenn es darum ginge Sexualität zu leben, »oder in zwischenmenschlichen
Beziehungen vielleicht generell«. Das würde jedoch nicht bedeuten, dass »man sich so starr
an die Vorstellungen halten muss. Weil es gibt ja immer irgendwo auch fliessende
Übergänge, wo man ein bisschen auch provozieren kann.«
Einige der Befragten beschreiben die Einordnung, beziehungsweise Angleichung an Frau
oder Mann als wichtiges individuelles Bedürfnis. Nicht nur aus persönlichen Gründen, wie
uns scheint, sondern auch in Hinblick auf soziale Akzeptanz, was offenbar nur durch eine
›passende‹ Erscheinung erreicht werden kann. Tägliche Konfrontationen im Alltag bedeuten
für Trans*menschen eine beständige Auseinandersetzung mit Geschlecht und sich selber und
ist oftmals mit grossem sozialen Druck verbunden. Einige sind auch der Ansicht, dass
Trans*menschen sich diesem Druck beugen und sich deswegen für das Leben als Frau oder
Mann entscheiden. Diese Wünsche und Ansichten verdeutlichen, dass auch Lebenskonzepte
von Trans*menschen Geschlechternormen bestärken können, indem sie nach sozialer
Akzeptanz streben, sich in die bestehende Geschlechterordnung einfügen und damit
hegemoniale Normen und Werte wiederholen. An Lio und Luisa lässt sich aufzeigen wie mit
diesem sozialen Druck umgegangen wird. Beide sprechen davon, dass sie manchmal
versuchen den ›einfacheren Weg‹ zu wählen, indem sie sich nicht als trans erkenntlich zeigen.
Im Gegensatz zu Lio hat sich Luisa einer Geschlechtsangleichung unterziehen lassen. Sagt
aber auch, dass sie dies ganz stark hinterfragt und dass sie anfänglich nicht in Frau/MannSchemen gedacht habe, sondern bezieht den Wunsch zur Veränderung auf einen rein
körperlich [ästhetischen], der nichts mit Geschlecht zu tun habe. Luisa äussert sich zwar klar,
dass trans in ihren Augen keine Krankheit darstelle, aber dass es viele »Folgeprobleme« mit
sich bringe, gerade in der Transition, die einen enormen Druck auslöse. »Wenn halt einfach
46
die existentiellen Sachen schon fehlen, dann bist du vielmehr abhängig davon, dass du dich
adaptierst an ein Umfeld.« Lio spricht in dem Zusammenhang davon, dass sie ihren
weiblichen Körper noch nicht vollständig akzeptieren könne und sich deswegen die Brüste
abbinde. So könne sie sich als Mann bewegen ohne sich Fragen und Neugierde aussetzen zu
müssen.
Wir gehen davon aus, dass einem Passing vor allem aufgrund der klar voneinander getrennten
Geschlechter so viel Wichtigkeit zukommt. Wären die Geschlechter nicht dermassen
determiniert von bestimmten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, wären sie
nicht derart aufgeladen mit geschlechtlichen Konnotationen und würden sich die
Geschlechterrollen ohne viel Gegenwehr und Zwang verschieben lassen, wären womöglich
nicht-heteronormative Konzeptionen von Geschlecht denkbar und lebbar. Und zwar auf eine
Weise, in der sie nicht versteckt oder geheim gehalten werden müssten.
4.4 Diskriminierung
Trans*menschen sind täglich von Ausgrenzung, Benachteiligung, Herabwürdigung und
Gewalt betroffen, teilweise weil in ihrer Umgebung kein oder nur wenig Wissen über die
Trans*thematik besteht oder dieses mit Vorurteilen behaftet ist.
Oft finden die Diskriminierungen im öffentlichen Verkehr statt, weshalb häufig bereits der
Arbeitsweg eine sehr grosse Hürde darstellen kann. »Das Umgehen der Idioten, habe ich
dadurch erreicht, in dem ich mir ein relativ grosses Auto gekauft habe«, erzählt uns Luisa.
Indem man sich aus der Öffentlichkeit zurückziehe, sei man den Blicken und Beleidigungen
nicht mehr ausgesetzt. »Am Löwenplatz bin ich einmal von einer Gruppe Jugendlichen
niedergeschlagen worden. Dort habe ich mir gesagt, während der Transitionsphase muss ich
mich nicht im öffentlichen Verkehr bewegen.« Es sei am einfachsten, wenn man die
Öffentlichkeit meide, bis die Transition abgeschlossen sei. Sich zu wehren sei ihr aber immer
wichtig gewesen. »Auch wenn man auf den Grind bekomme.« Seit sie die Transition
abgeschlossen habe, gebe es diesen »Genderkonflikt« nicht mehr, da sie nicht mehr auffalle.
Besonders heikle und aufgeladene Orte stellen auch Orte der Intimität wie öffentliche
Toiletten und Umkleidekabinen dar. Mit der strikten Trennung in Männer- und
Frauentoiletten/kabinen wird das dichotome Geschlechtermodell bestätigt und keine
Möglichkeit eines Dazwischen, eines Jenseits suggeriert. Der Umgang mit sozialen Normen
in Bezug auf die Toiletten-Segregation ist ein deutlicher Hinweis auf den heterotopen
Charakter dieser Räume. Die Piktogramme an den Kabinen und Toilettentüren unterscheiden
47
durch die Symbole Rock oder Hose in weiblich oder männlich und sind für die
geschlechtsspezifische Differenzierung kennzeichnend geworden.44
Lio wird auf dem Frauen-WC oft mitgeteilt, dass sie »falsch« sei. Eine lange Zeit sei sie
deshalb auf die Männer-Toilette ausgewichen. Auch in der Sportumkleidekabine hätte es
schon Aufruhr gegeben, »Oh Gott, ein Mann ist in der Frauenumkleidekabine«. In solchen
Situationen würden sich jeweils »beide Seiten« extrem unwohl fühlen. Früher hätte sie
deswegen nicht am Sportunterricht teilgenommen. Heute muss sie aufgrund ihrer Ausbildung
wieder Sport machen, sie werde damit konfrontiert, sie müsse »halt einfach«.
Stephanie habe nie Probleme auf öffentlichen Toiletten gehabt, da sie gewusst hätte, wie weit
sie gehen könne. Dass Frauen in der Übergangsphase jedoch ein Problem hätten, wenn »so
jemand« auf der Frauentoilette sei, verstehe sie. Das müsse »man halt einfach akzeptieren«
und einen Weg finden. Für sie habe dies nichts mit Diskriminierung zu tun.
Oft bietet auch die Art der Kleidung eine Angriffsfläche. Daniela laufe bewusst nicht in
einem Minirock und hohen Absätzen herum. Damit falle man auf und dies könne »Häme,
Spott und Ausgrenzung« bedeuten. Es komme immer darauf an, wie man sich »ausstelle«.
Auch Stephanie betont, dass es nicht »adäquat« sei, wenn »du mit einem kurzen - ich meine,
ich bin 48, bei mir passt ein Jupe, wo so kurz ist einfach nicht mehr dazu. Und da gibt es
viele, wo das halt schön finden und es machen und dann muss man halt damit akzeptieren,
dass man dann halt angepfiffen wird oder weiss ich nicht was. Und das sind halt die Sachen,
wo man – ja, man muss es dann akzeptieren. Gewisse Sachen gehören dann dazu. Und das ist
für mich eben die Regeln von der Frau auch zu akzeptieren«.
Diskriminierung findet ebenso im schulischen oder beruflichen Umfeld von Trans*menschen
statt und beginnt meist schon in jungen Jahren. Katja hätte sich von ihren Schulfreund_innen
viel anhören müssen, von »Schwuchtel und Zeugs und Sachen«. Bei der Stellensuche hätte
man ihr auch schon gesagt, »so etwas wie sie« könne man hier nicht gebrauchen. Sie
vergraule alle Kunden. Auch Helena hatte im Verlauf ihrer Transition massive Probleme mit
ihrem Arbeitgeber und wurde entlassen. Sie hätte sich danach als Frau neu beweisen müssen
und sie sei nun auch als Frau von Diskriminierung betroffen. Stephanie glaubt, dass es an den
Transmenschen selber liege: »Es gibt sehr viele, wo ja arbeitslos werden.45 Und das hat, aus
meiner Sicht, hat das primär mit der betroffenen Person zu tun. Sag ich jetzt einfach. Nicht
nur, weil ich’s jetzt nicht, weil ich’s anders erlebt habe. Es ist die Frage, wie man das Outing
44
45
Schuster (2010), S.221
Siehe Abstract zu »Transpersonen und Arbeitsmarkt« im Anhang
48
macht, wie viel tut man, erwartet man vom Umfeld, wie verhält man sich?« Luisa berichtet
kaum von negativen Erfahrungen, sie sei schlau gewesen, habe sich selbstständig gemacht
und daher mit weniger Problemen zu kämpfen gehabt, sondern »halt das gemacht, was ich
sowieso kann«. Sie erklärt, dass »wenn man selbstständig ist, dann spielen vielleicht auch
diese Sachen nicht so eine Rolle. Mann, Frau, sondern machst du die Arbeit gut«. Ihre
Mitarbeiter hätten irgendwie auch davon gewusst. Es sei ein Thema gewesen. »Wenn du viel
und intensiv arbeitest, dann weisst du eigentlich auch viel voneinander.« Der grösste Konflikt
hätte ihre Mutter gehabt. Sie hätte Marginalisierung und einen sozialen Abstieg befürchtet,
was besonders durch negative Erfahrungen mit der Transthematik in Spanien zu tun gehabt
hätte.
Romeo Koyote Rosen ist früher oft als »Freiwild« oder als »Prostituierte« bezeichnet worden.
Seit er_sie jedoch die Häärchen trage und von einem Grossteil der Bevölkerung als Mann
gelesen werde, hätten die negativen Erfahrungen abgenommen. Trotzdem werde er_sie
manchmal darauf angesprochen, ob er_sie sich verkleide, ob die Haare echt seien und die
Leute würden ihm_ihr ins Gesicht fassen.
Chris hat eher wenige Momente erlebt in denen er Angst gehabt hätte als trans* entdeckt oder
erkannt zu werden. In der Regel seien die Situationen eher »humorvoll« gewesen. Es gäbe
jedoch schon gewisse Kreise oder Situationen »im Ausgang, nachts, unterwegs auf der
Strasse, wo man lieber anonym bleiben möchte«.
Auch in der LesBiSchwulen Szene finden Ausschlüsse und Ausgrenzung statt. Laut Kai seien
es vor allem »Lesben der älteren Garde«, die zum Beispiel an einer Frauenparty Mühe hätten
wenn Transmenschen oder Männer anwesend seien. Er fände es spannend, dass Leute, die
selber viel Toleranz fordern, selber nicht sehr tolerant seien. Selbst betroffen sei er von
diesem Ausschluss jedoch nicht. Es sei auch eine Einstellungssache, »warum soll ich nicht an
diesen Event und meine Kollegen treffen, nur weil sich etwas verändert hat«. Freunde von
ihm hätten aber irgendwann keine Lust mehr auf diese Partys gehabt, weil sie sich alleine und
ausgegrenzt gefühlt hätten.
Romeo Koyote Rosen habe sich nie als Mann gesehen. »Oder vielleicht nur am Anfang,
weil’s alle gesagt haben. Sogar die Lesben im Lesbenkuchen, [das war 2001, zu Beginn der
queeren Bewegung in der Schweiz], das war ganz schlimm. Weil die mich zum Teil
anerkannt haben und ich durfte auch rein. Aber die haben mir dann eher gesagt – ja, du musst
noch mehr auf Mann machen – und sie haben hierher gelangt« [zeigt auf seine_ihre Brust].
Manche Lesben hätten wohl gemeint, dass er_sie sich die Brüste abbinden soll. Er_sie habe
49
sich so irgendwann vom »Lesbenkuchen« distanzieren müssen, »weil mir bewusst geworden
ist, dass der politische Aktivismus aus den für mich wichtigen achtziger und neunziger Jahren
zu einer Art normativen Homosexualität verkommen ist«. Er_sie habe eine Freundin, die
einen sozialisiert-›biologisch‹ männlichen Körper habe und sich lesbisch fühle, für sie sei es
fast unmöglich eine Freundin zu finden. Ausserdem werde Romeo Koyote Rosens Freundin
im »Lesbenkuchen« oft darauf angesprochen ob sie »eine Frau oder ein Mann« sei. Romeo
Koyote Rosen möchte eher queer leben, »noch mehr lernen über diese Auflösung, als was
bezeichne ich mich dann, wenn ... Ich möchte das noch vielmehr öffnen und lernen.
Bisexualität ist für mich persönlich auch inakzeptabel, weil ich davon ausgehe, dass es
letztlich weder Mann noch Frau gibt und ich ausschliesslich für Geschlechtervielfalt bin.
Auch hier bin ich sehr für eine Wortschöfpung und eine gänzlich neue Sichtweise«.
Die Interviews zeigen, dass Gewalt und Diskriminierung zu den Erfahrungen von
Trans*menschen
gehören.
Wenn
Trans*menschen
nicht
den
herkömmlichen
Geschlechterkonzepten entsprechen können oder wollen, werden sie laut den Berichten
unserer Gesprächspartner_innen angepfiffen, verprügelt, belächelt, ausgegrenzt oder auf
unangenehme Weise ausgefragt. Vor allem die Frage nach der Zuordnung zu einem klaren
Geschlecht und einer eindeutigen Sexualität – »Was bist du denn jetzt, Frau oder Mann?
Homo oder Hetero?« verstehen wir als diskriminierend. Nicht nur das Was, welches die
Trans*person herabwürdigt und als ›anders‹ erklärt, sondern auch die klare Trennung
zwischen den Geschlechtern, Frau und Mann, und die Unterscheidung zwischen den
sexuellen Begehren, heterosexuell und homosexuell, vermögen in so machtvoller Weise die
Körper und die sexuellen Begehren der Betroffenen als ›unnatürlich‹ und ›abnormal‹
ausweisen. Dabei werden gleichzeitig hegemoniale Annahmen von ›gesunden‹ und
berechtigten Körpern getroffen und darüber entschieden, welche sexuelle Verhaltensweisen
als ›normal‹ und welche als ›pervers‹46 gelten. Auch wenn ein paar der Befragten von anderen
Trans*menschen Verständnis für Diskriminierung und Ausschluss einfordern [es sei eine
»Einstellungssache«] und der Überzeugung sind, dass Diskriminierungen, Ausschluss,
Stigmatisierung und Pathologisierung »dazu gehören« und akzeptiert werden sollten, sind wir
der Ansicht, dass diese nicht als Gegeben hingenommen werden sollten, sondern stark
hinterfragt und angefochten werden müssen. Obwohl die Trans*thematik in der Schweiz
mehr Aufmerksamkeit erhält als vor ein paar Jahren und das Wissen unterdessen ausgereifter
ist, möchten wir darauf verweisen, dass aufgrund wenig oder überklischiertem Wissen zu
trans* Übergriffe und Ausschlüsse stattfinden. Das geht vor allem auch auf die Diagnose
46
vgl. Foucault (1977), ab S.41
50
zurück, welche Trans*menschen als »krank, unnatürlich, nicht richtig, abweichend [und]
unnormal befindet«47 und sie in dichotome Geschlechterrollen zwängt.
4.5 Umgang mit Normen und Begriffen
Wir haben mit unseren Gespächspartner_innen über ihren Umgang mit Normen, Begriffen,
und Diskursen gesprochen. Manche finden in bereits bestehenden Ausdrücken oder Theorien
eine Erklärung, andere haben eigene Definitionen oder Erkenntnisse für sich geschaffen oder
gefunden. Als Ausgangspunkt dieser Diskussionen haben wir unsere Gesprächspartner_innen
gefragt wie sie Geschlecht definieren, inwiefern Geschlecht gesellschaftlich konstruiert ist, ob
es allenfalls ein ›seelisches Geschlecht‹ gibt, also ein Geschlecht der Seele, das nicht mit dem
körperlichen, ›biologischen Geschlecht‹ übereinstimmt und ob ein vorgängiges Geschlecht
existiert, welches vor der Geburt bereits festgelegt ist.
»Angeboren nein, das macht für mich keinen Sinn. Geschlecht ist für mich eigentlich etwas
Soziales. Es kann erst anfangen zu wachsen, sich entwickeln, in Kontakt mit anderen
Menschen«, meint Chris. Er unterscheidet zwischen »drei verschiedene Sachen«, dem
persönlichen/inneren/internen Geschlecht, einem sozialen Geschlecht, das was nach aussen
gelebt wird und dem ›biologischen Geschlecht‹. Führt aber auch aus, dass »wenn ich nur für
mich alleine bin, also nicht in einem sozialen Kontext, nicht in einem sozialen Kontakt mit
anderen Leuten, dann spielt mein Geschlecht gar keine Rolle. Das heisst, das interne
Geschlecht, das gibt’s in dem Sinne gar nicht isoliert – es ist auch sozial«. Das
Konstruktivistische sei für ihn ein »stimmiges Modell«, was bedeutet, dass er von einem
konstruierten Geschlecht ausgeht.
Lio hingegen spricht sich ganz gegen Begriffe wie ›biologisches‹ oder ›seelisches Geschlecht‹
aus, sie könne damit nicht wirklich etwas anfangen. »Es ist nicht so ein seelisches Geschlecht
oder so. Es ist mehr so nach dem Gefühl.« Auch Luisa lehnt den Begriff des »Seelischen« ab,
sie benutzt lieber den Ausdruck »Empfinden« und führt aus, »manchmal willst du einfach
deinen Körper optimieren«, sie habe anfangs gar nicht in Mann/Frau-Schemen gedacht,
sondern es ginge eher darum, was ihr besser gefalle. Sie habe sich »mit der Gesellschaft«, in
der es diese beiden Begriffe gäbe, »versöhnt«, und sich auf einen Kompromiss geeinigt,
»obschon es in ihrem Geist wirr aussehe«.
Für Daniela ist das »Biologische« eine Grundlage und das »Gesellschaftliche« ein Einfluss.
Für sie sind jedoch die Grenzen zum »Fetisch« sehr nahe. »Also weisst du, wo ist denn der
Ursprung, ist es [das Transsein] irgendwo durch in einem Fetisch oder ist es irgendwo
47
Butler (2009), S.124
51
drinnen?« Mit Fetisch meint sie die Fixierung auf ein Teil, sei dies ein Rock oder hohe
Schuhe. Hierbei fragt sie sich, ob Transsein nicht einfach aus einem Fetisch heraus entsteht,
wobei sie für sich selbst eine andere Erklärung hat. »Und - ich - ich sage jetzt einmal - ichich bin so geboren.« Daniela erzählt, dass ihre Mutter im dritten Schwangerschaftsmonat eine
Hormonspritze erhalten hat. Für sie sei das eine mögliche These (Hormonthese), welche ihr
Geschlecht bestimmt haben könnte. Dies sei jedoch für ihr Leben im Endeffekt nicht relevant.
Es sei wahrscheinlich beides »nicht ideal«, wenn man nur »das mentale Geschlecht oder nur
das körperliche, ›biologische Geschlecht‹ als gültig akzeptiere«, meint Helena. Es müsse
wahrscheinlich für jede Person zueinander passen, auf seine Art. »Also, wenn jemand sagen
kann, ja gut, ich bin halt jetzt mental dazwischen oder eindeutig auf der Seite. Aber körperlich
will ich jetzt nichts ändern. Oder es gibt auch solche, die einfach nur Implantate haben, aber
sonst die Genitalien noch haben. Das hat für mich nicht gestimmt. Und mein Ziel ist es auch
gewesen möglichst natürlich zu bleiben.« Ein »Bäbi« zu werden sei nicht ihr Anspruch
gewesen.
Zusätzlich diskutierten wir über unterschiedliche Formen von sexuellen Begehren und fragten
nach der Verbindung von Geschlecht und Sexualität.
Helena erklärt, dass sie und ihre Frau »kein traditionell homosexuelles Paar« seien. Es sei
wirklich etwas Neues. »Ich stelle mich nicht auf die Ebene von Homosexuellen. Wenn sich
auch die Ausrichtung gegenüber von früher geändert hat.« Mit der »neuen Anatomie« hätten
sich ihre sexuellen Präferenzen verändert, es sei völlig »anders« geworden. So fühle sie sich
im Vergleich zu früher nicht mehr von Männern abgestossen sondern angezogen. »Die
sexuelle Aktivität wäre heute eben schon eher mit einem Mann. Das hat geändert.
Grundsätzlich.«
Romeo Koyote Rosen bezeichnet sich als »lesbisch sozialisiert, wenn überhaupt«. Seine_ihre
Position, als vielfach gegensätzliche, beruht auf der Erkenntnis, dass es keine Rolle spiele, ob
ein Mensch eine Frau oder ein Mann, lesbisch oder schwul sei. Er_sie berichtet von
seinem_ihrem Schlüsselerlebnis an einem Wettbewerb für Dragkings und Dragqueens »im
LGBTI, beziehungsweise im Homosexuellen, oder im queeren Castroviertel in San
Francisco« als vor ihm_ihr »ein schwarzes Erdwesen, eine schwarze Person, also eine afroamerikanische Person war, die hatte ziemlich viel Muckis und so ein Träger-T-Shirt an und
ich war echt vor dieser Person und hab gedacht: Ist sie ein Mann? Ist sie eine Frau? Ist sie ein
Mann? Und irgendwann habe ich mich zurückgelehnt und hab gedacht: Ah fuck, es kommt
gar nicht drauf an.« Ab dem Moment hätte es das Mann/Frau-Schema nicht mehr gegeben
52
und er_sie wusste auch, dass er_sie »selbst als Lesbe überdenken muss, was das jetzt heisst«.
Die Mehrzahl der befragten Trans*menschen stellen das binäre Geschlechterkonstrukt von
Frau und Mann in Frage, ordnen sich jedoch durch verschiedene Massnahmen und
Auffassungen in die bestehenden Kategorien ein, wodurch diese wiederum bestätigt und
reproduziert werden.
Helena versteht zum Beispiel ein »Zwischendrin«, zwischen den Geschlechtern nicht.
»Entweder will man in die Rolle von der Frau oder man will in der Rolle des Mannes bleiben.
Irgendwas dazwischen, das ist einfach wirklich undefiniert. Ich verstehe es nicht für mich. Ich
akzeptiere es natürlich. Ich bin offen. Aber für mich ginge es nicht.«
Bestehende Normen und kulturelle Einflüsse haben eine erhebliche Einwirkung auf
Trans*menschen und beeinflussen sie in ihrer Lebensgestaltung. Diese Annahme zeigte sich
insbesondere in den Erzählungen zur Hormonbehandlung und wird auch in anderem
Recherchematerial 48 wie Arbeiten zum Thema, Interviews, die online zu finden sind,
persönliche Blogs oder Videos, bestätigt. So beteuern alle Befragten, die Hormone einnehmen
oder eingenommen haben, dass die Hormonbehandlung einiges auslöse und bewirke: »Dann
merkst du plötzlich. Du lebst in einer anderen Welt. Die Männerwelt ist tatsächlich viel
einfacher. Auch die Gefühlswelt ist wirklich einfacher. Und Männer können nichts dafür. Ich
sage immer so ein Bild, wenn du schon einmal schnorcheln warst: Eine Frau. Von der
Gefühlslage und was sie wahrnimmt. Sie sieht einfach viel tiefer, viel mehr, viel farbiger. Ein
Mann, der sieht vielleicht drei Meter. Eine Frau sieht vielleicht hundert Meter«, stellt
Stephanie fest. Auch Katja beschreibt, dass sich ihr Denken durch die Hormoneinnahme
verändert habe: »Ja, das Denken ist anders. Also – äh – ja, ich denke nicht mehr wirklich wie
ein Mann.«
Hierbei werden wiederum geschlechtliche Konzepte von Frau und Mann bestätigt, wobei sie
klar voneinander getrennt werden. Vorstellungen, die Klischeebildern von Weiblichkeit und
Männlichkeit entsprechen, die durch solche Aussagen bestärkt und als ›natürlich‹, schon
immer bestehend, erachtet werden. Daniela zum Beispiel geht davon aus, dass die
Hirnstruktur bei Frauen und Männern unterschiedlich ist und, dass sie ein weibliches Gehirn
besitzt, womit sie geschlechtsspezifische Denkmuster als ›natürlich‹ erachtet/bestimmt.
Einige der befragten Personen bezweifeln, dass sie gesellschaftliche Idealvorstellungen
inkorporiert hätten, auch wenn sie deren Bestehen nicht absprechen. Ihrer Ansicht nach
würden sie durch die Transition und ihr Passing nicht Normen oder heteronormative Ideale
48
Siehe Anhang S.68 »Weiterführende Literatur zu trans*, Gender und Empirie«
53
stärken, sondern sie folgten ausschliesslich einem ›inneren‹, persönlichen Wunsch nach einer
Veränderung ihres Körpers oder ihrer körperlichen Ausdrucksweise.
So könne sich Luisa zwar vorstellen, dass das Bedürfnis nach einer geschlechtsangleichenden
OP von einigen Transmenschen kleiner wäre, wenn die klaren Kategorien Frau und Mann
nicht existieren würden. Sie erklärt aber auch, dass sie die OP wahrscheinlich trotzdem
gemacht hätte. »Weil im Nachhinein hat mich auch die Nacktheit gestört. Ich habe mich nicht
schön gefunden.« Sie glaubt nicht, dass dahinter ein gesellschaftlicher Druck stehe, sondern
»man schaut sich im Spiegel an und man findet, nein, das gefällt mir nicht, was ich hier
sehe.« Unserem Einwand, dass der Blick auch gesellschaftlich bestimmt sei, stimmt sie zu
und sie meint: »Wir sind natürlich ein Produkt der Werbung und so.« Auch Katja antwortet
widersprüchlich auf die Frage, ob sie die Hormonbehandlung wiederholen und noch immer
eine Geschlechtsangleichung durchführen lassen würde, wenn die Gesellschaft offener wäre:
»Also ich hätte es wahrscheinlich so oder so gemacht, also – ich habe im Vorhinein schon
gewusst, auf was ich mich eigentlich einlasse. Das wurde mir jedes Mal wieder gesagt, dass
es wirklich anstrengend und ein langer Weg sei – und jetzt im Nachhinein – ich würde es kein
zweites Mal machen.«
Lio hingegen hat sich schlussendlich gegen die Geschlechtsangleichung entschieden, mit der
Erklärung, dass sie diesen Körper bekommen habe. »Das ist jetzt vielleicht ein wenig blöd.
Aber es ist auch sicher aus gutem Grund, wieso ich jetzt so bin.« Ausserdem habe sie viele
Menschen gesehen, die »traurig waren mit ihrer Entscheidung den Schritt gemacht zu haben«.
Sie möchte sich nicht die ganze Zeit mit der Frage herumquälen, ob sie es bereue. Sie
distanziert sich von den FtMs vom Transstammtisch.49 Anfangs wäre es sehr informativ
gewesen, aber sie habe bald bemerkt, dass es in eine Richtung gehe, »wo Stereotypen
vertreten sind« und damit müsse sie sich nicht auseinandersetzen. »Weil ich möchte nicht
einen Stereotyp darstellen. Ich möchte nicht das Bild von einem Mann herstellen oder
darstellen. Sondern immer noch mich selber sein. Das ist eigentlich ein Weg, wo du ganz
persönlich für dich alleine machst und wo du dich kennenlernst.«
Unter Trans*menschen oder in der Szene sind Begriffe wie ›seelisches‹ und ›biologisches
Geschlecht‹ geläufig. Einige unserer Gesprächspartner_innen sprechen anstatt von dem eher
theoretischen Begriff des sozialen Geschlechts von einem mentalen, persönlichen oder
›inneren‹ Geschlecht. Für viele besteht jedenfalls der Konflikt, in einer gefühlten Dichotomie
zwischen ihrem angeborenen körperlichen, ›biologischen Geschlecht‹ (sex) und dem
49
Zürcher Transmänner-Stammtisch
54
gefühlten, inneren Geschlecht. Wobei aus einer konstruktivistischen Perspektive behauptet
werden könnte, dass es nur das soziale Geschlecht gibt. »Wenn man den unveränderlichen
Charakter des Geschlechts bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens Geschlecht
vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechtsidentität. Ja, möglicherweise
ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so dass sich
herausstellt, dass die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich
gar keine Unterscheidung ist.«50 Butler verweist hier auf den konstruktivistischen Charakter
von Geschlecht, demzufolge Geschlecht nicht einfach so existiert und seine »Wirklichkeit
diskursiv produziert wird, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse«. 51
Kulturelle Einflüsse werden von den Körpern einverleibt und werden auf den Körpern, nach
aussen hin »vergeschlechtlicht«. Es entstehen also Annahmen über Körperlichkeiten und
Geschlechtlichkeiten, welche auf diesem Prozess der Einverleibung basieren. So stellen wir
starre Begriffe wie ›seelisches‹ oder ›biologisches Geschlecht‹, die von einer ›Wahrheit‹ oder
einer ›Natürlichkeit‹ ausgehen, stark in Frage und möchten statt dessen Begriffe wie soziales
Geschlecht, Geschlechtsidentität oder gender stärken, die das Geschlecht als konstruiert
ausweisen und zugleich die Unterscheidung in zwei klar voneinander getrennte
Geschlechtskörper, Frau und Mann, und der sexuellen Begehren in heterosexuell und
homosexuell, aufbrechen. Genauso erachten wir weitere Einteilungen wie in Frau, Mann,
Transfrau, Transmann, Hermaphrodit_in oder in lesbisch, schwul, bisexuell oder asexuell
zwar als wichtig, möchten sie aber gleichzeitig problematisieren. Kategorien schaffen
Sichtbarkeit, wobei neue Handlungsräume entstehen. Gleichzeitig gilt zu bedenken, dass
durch den Gebrauch von Kategorien auch immer andere Menschen wiederum ausgeschlossen
werden. Unter Terminologie haben wir ausgeführt, dass wir den übergeordneten Begriff
trans* benutzen wollen, der unterschiedliche Kategorien fasst, also auch Raum lässt für
weitere Geschlechtlichkeiten und Sexualitäten. Damit wollen wir mit einem Begriff arbeiten,
der einerseits auf die Unsichtbarkeit von nicht-heteronormativen Lebenskonzepten hinweist,
andererseits selbst nicht zu einer geschlossenen Kategorie werden sollte und sich verbeugen,
dehnen, öffnen und sich anders anwenden lässt, und zwar jederzeit. Mit Butlers Position aus
Körper von Gewicht können wir also abschliessend sagen, dass Identitätsbegriffe bejaht und
verwendet werden sollen, »doch müssen dieselben Vorstellungen Gegenstand einer Kritik an
den ausschliessenden Operationen zu ihrer eigenen Herstellung werden: [...] Wer wird von
welchem Gebrauch des Begriffs repräsentiert, und wer wird ausgeschlossen? Für wen stellt
der Begriff einen unmöglichen Konflikt zwischen rassischen, ethnischen oder religiösen
50
51
Butler (1991), S.24
Ebd.
55
Zugehörigkeiten und sexueller Politik dar? Welche Arten politischer Inhalte werden von
welchen üblichen Verwendungen des Begriffs ermöglicht, und welche geraten in den
Hintergrund oder werden aus dem Blick entfernt?«52
52
Butler (1993), S.312
56
5 Fazit / Schlussbemerkungen
Aus dieser Arbeit resultieren für uns neue Erkenntnisse und ein gestärktes Bewusstsein für
Menschen, die teilweise unsichtbar scheinen. Einige Fragen blieben unbeantwortet, doch hat
sich der Raum für Diskussionen dadurch nur mehr erweitert. Die Auseinandersetzung mit
dem Thema trans* und die Gespräche haben uns viele freudige Momente beschert, aber auch
für Fassungslosigkeit, Wut und Unverständnis unsererseits gesorgt. Wir beschäftigten uns mit
Lebensgeschichten von Menschen, die ungerecht behandelt werden, in vielerlei Hinsicht
benachteiligt sind und die heteronormative Kraft der Geschlechterordnung am meisten zu
spüren bekommen. Nicht nur, weil sie sich in der heteronormativen Ordnung entscheiden
müssen in der einen Geschlechterrolle zu leben und diese kein Dazwischen oder Jenseits der
normativen Geschlechterkonzepte zulässt. Auch die rechtliche Lage ist nur sehr beschränkt
bis unzureichend auf Trans*menschen ausgerichtet. So sind die kantonalen Unterschiede, was
die bürokratischen Regelungen bezüglich Personenstandsänderung, Namensänderung,
Ausgabe der Hormone, Möglichkeiten zur operativen Geschlechtsangleichung betrifft,
dermassen unterschiedlich, dass sie ziemlich willkürlich erscheinen. Auch weil sie von vielen
verschiedenen Instanzen wie Gericht, Ärzte, Psychiater und Krankenkasse abhängen und ihre
Handhabung
sehr
intransparent
ist.
Fraglich
bleibt,
ob
Trans*personen
die
Geschlechtsangleichung auch vornehmen würden, wenn für die Personenstandsänderung
keine operativen oder hormonellen Massnahmen verlangt wären.
Viele unserer Gesprächspartner_innen weisen ihren Wunsch nach einer Anpassung an ein
bestimmtes Geschlecht als einen rein persönlichen aus und erklären es sich mit einem
›inneren‹ Begehren, einem frühkindlichen Gefühl, das sie als ›anders‹ hat empfinden lassen.
Doch was heisst ›anders‹ und was bedeutet es? Im Kontext der Trans*thematik wird dieses
›Anders‹ oft als etwas Unstimmiges, Unpassendes betrachtet, wenn die Person sich zum
Beispiel nicht dem einen oder anderen Geschlecht angehörig gefühlt hat oder fühlt und dabei
wird in jedem Fall von einem binären Geschlechterbild ausgegangen. Interessant für uns ist
die Frage, warum in einer Gesellschaft, die sich gegenüber verschiedenen Variationen von
sexuellen Identitäten und Begehren öffnet, die Starrheit der Rollenbilder entsteht und vor
allem auch bestehen bleibt. Wir mussten feststellen, dass auch wir in den Gesprächen häufig
von zwei Geschlechtern, von weiblich und männlich, gesprochen haben und dadurch die
Dichotomie selbst wiederum gefestigt und bestätigt haben. Nicht nur durch diese
Sprachlichkeit, sondern auch durch einfache Verhaltensweisen, die wir zwar hinterfragen,
aber dennoch leben und fortführen. Wichtige und einzige Möglichkeit stellt wohl das stetige
Hinterfragen dieser Strukturen, Verhaltensweisen und Normen dar.
57
Für einige Befragte ist nach der Transition das Trans*sein kein Thema mehr. Sie wollen in
ihrer neuen, angeeigneten Rolle leben und ihre Geschichte im ›falschen‹ Körper vergessen
oder zumindest nicht immer thematisieren müssen. Sie schaffen sich durch ihr Passing ein
neues Leben. Ihnen ist es wichtig sich in die binäre Geschlechterordnung einzufügen. Dieses
Ziel der Transition haben wir versucht mit der Kategorie ›Passing‹ zu fassen. Die Mehrheit
unserer Gesprächspartner_innen sind überzeugt, dass ihr Streben nach dem Leben in einem
anderen Geschlecht als das zugeschriebene ›biologische‹ nichts mit dem sozialen Umfeld,
einer Gruppenzugehörigkeit oder gesellschaftlicher Akzeptanz zu tun hat, sondern etwas ist,
das sich im ›Innern‹ abspielt, obwohl sich viele als ›anders‹ wahrnehmen, was wir als
Widerspruch begreifen. Denn ein ›Anderssein‹ kann sich nur in einem gesellschaftlichen
Kontext, durch einen Vergleich entwickeln. Ohne ein perfektes Passing würden viele
Trans*menschen noch mehr Diskriminierung erfahren, was bedeutet, dass immer ein sozialer
Druck besteht, der Trans*menschen in eine gewisse Ordnung drängt, in diesem Falle betrifft
das hauptsächlich die heteronormative Geschlechterordnung. Sie müssen sich entscheiden in
der einen oder anderen Rolle zu leben, ohne dass dabei ein Raum für Geschlechtervielfalt und
andere mögliche Formen entstehen kann.
Nicht-heteronorme Geschlechtsidentitäten und nicht-heterosexuelle Sexualitäten gelten
weiterhin als ›Abweichung‹ und ›anders‹, nicht der Norm entsprechend. Wie wir in unserer
Arbeit zeigen konnten, versuchen Trans*menschen häufig im Alltag nicht aufzufallen. Sie
benutzen die Toilette, in der sie möglichst niemanden stören, kleiden sich konform und
versuchen keine »Aura der Irritation« zu erzeugen, indem sie zum Beispiel ihre Stimme
anpassen oder gar nicht erst sprechen. Der Umgang mit Diskriminierung und Ausgrenzung
gehört für Trans*menschen zum Alltag. Dies wird jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt.
Einige Gesprächspartner_innen sind der Meinung, man solle sich damit abfinden, dass
gewisse Regeln bestehen, die eingehalten werden müssen. Andere hingegen sind davon
überzeugt, dass durch ein angepasstes Verhalten wiederum Menschen, die nicht der Norm
entsprechen, marginalisiert und diskriminiert werden. Jene verstehen es als ihre Aufgabe
Verwirrung zu erzeugen oder spielen gerne mit geschlechtlich konnotierten Accessoires, um
so auf ein mögliches Jenseits der Geschlechternormen hinzuweisen, beziehungsweise um
Geschlecht,
sexuelles
Begehren,
geschlechtliche
Verhaltensweisen
und
Geschlechtermerkmale als konstruiert auszuweisen.
Viele der befragten Trans*menschen bewegen sich jedoch nicht zwischen oder ausserhalb der
Geschlechternormen, sondern fügen sich in das bestehende Raster ein. In LesBiSchwulen
Szenen lassen sich ähnliche Tendenzen feststellen, wie uns Romeo Koyote Rosen oder Kai
58
berichtet haben. Auch da geschieht ein Vorgang der Angleichung an dominierende
Denkstrukturen und die Einreihung in die Zweigeschlechtlichkeit, beziehungsweise werden
da ebenso ›neue‹ oder andere Formen von Geschlechtlichkeiten, Körperlichkeiten und
Sexualitäten gesetzt, die zur Norm werden und somit andere wiederum als abweichend
ausweisen.
Die Diagnose und die damit verbundenen Sanktionen und Pathologisierungen innerhalb des
medizinischen Diskurses definieren Trans*menschen als ›krank‹. Das wird damit begründet,
dass den ›Patient_innen‹ mit der Diagnose ›geholfen‹ wird. Butler spricht in dem
Zusammenhang von einer paternalistischen Geste. Trans*menschen bekommen dank der
Diagnose (aber auch dann nur ansatzweise) medizinische Unterstützung, psychologische
Betreuung, Hormone und eine bezahlte, operative Geschlechtsangleichung. Jedoch müssen
sich Trans*menschen im Prozess der Diagnose Kategorisierungen und Pathologisierungen
gefallen lassen. Sie werden an einem Massstab der Normalität gemessen und sind zugleich all
den Untersuchungen und aufdringlichen Fragen ausgesetzt. Mit Butler fragen wir uns also, ob
ein Sich-Aussetzen dieser Prozedur nicht einer Unterwerfung der Diagnose gleichkommt und
Trans*menschen einige Aspekte der Diagnose verinnerlichen und sich so wirklich als ›krank‹
auffassen, beziehungsweise sich als ›abnormal‹ und ›anders‹ verstehen. Die Diagnose
vermutet, dass Trans*menschen verzweifelt sind, sich unpassend fühlen und ein grosses
Unbehagen bezüglich ihrer Geschlechtsidentität empfinden. Die Diagnose stellt nicht die
Geschlechternormen in Frage und geht von deren Starrheit und Gültigkeit aus. Und sie fragt
auch nicht, ob die Geschlechternormen Verzweiflung und Unbehagen auslösen, geschweige
denn, ob nicht genau die Diagnose ›trans‹ Diskriminierungen bedingt und schliesslich der
Grund für sehr viel Leid ist.
Wir gehen davon aus, dass die tagtägliche Konfrontation mit dominierenden Normen
unbewusst auf Trans*menschen einwirkt und beispielsweise den Wunsch nach einem
reibungslosen Passing bestärkt, dessen Folge für die einzelnen Personen weniger Irritation,
Demütigung und Diskriminierung darstellt. Wir haben aber auch mit Personen gesprochen,
welche trotz der Normen versuchen Geschlecht in einem queeren Sinn zu leben und
Geschlechtlichkeit als verspielten, offenen, fliessenden, flüssigen und spontanen Prozess
anzusehen. Gerade um langfristig die nötige Akzeptanz für Trans*menschen zu schaffen, sind
auch wir der Überzeugung, dass ein Ausbruch aus festgefahrenen Strukturen eine
Notwendigkeit darstellt, um eine Befreiung aus heterosexistischen Normen, von
Diskriminierung und psychischer Belastung zu erreichen.
59
›Stay queer?‹, zielt auf die Lebendigkeit dieses Prozesses, der niemals stehenbleiben und sich
fortwährend weiterentwickeln soll. ›Stay queer?‹, soll aber kein Befehl sein, sondern eine
Möglichkeit.
Das
Fragezeichen
symbolisiert
jenen
Denkprozess
des
Sich-Selbst-
Hinterfragens und der Entwicklung eigener Taktiken/Lebensführungskonzepte, die nicht
vorgegeben sind oder von einer vorherrschenden Norm bereits geformt, beziehungsweise
gegeben sind. Stay steht einerseits für eine unbewegliche Form wie bleiben, verweilen,
innehalten, standhalten und sistieren, was durch das queer wieder aufgelöst wird. Das
Fragezeichen bedeutet Fluidität, Fluss, ein ewiges Weitergehen und Fliessen. Somit lassen
sich die zwei Wörter verbinden und deuten auf etwas Unfassbares, Unbegreifliches,
Unbeschreibbares, Unberechenbares, Unaufhörliches, Lebendiges hin, was für Verwirrung,
Chaos und Aufsehen sorgt.
Queer weist über den Begriff trans* hinaus und steht bei uns für eine politische Haltung, die
wir stark machen möchten. Queer ist nicht nur ein Begriff, sondern auch eine Praxis, eine
Weise zu denken, ein Ort für kollektiven Austausch und eine Weise politisch zu handeln, die
niemals fix ist, sondern immer wieder überdacht und neu besetzt wird. Queer lässt sich nicht
in Schranken halten, beschreiben oder festmachen. Queer ist verque(e)rt, verque(e)rend und
somit ausserordentlich verwirrend. Aber genau deswegen auch wirkungsvoll und
überraschend wie eine hinterhältige Taktik mit der niemals gerechnet werden kann, die in eine
Ordnung eindringt und alles ›zunderobsi‹ bringt, sprich alles vermischt, verstreut,
durcheinanderwirft und ein ›Chrüsimüsi‹ zurücklässt. Queer greift in die »heterosexuelle
Matrix« ein und verwirft oder verwirrt gängige Konzepte von Frau und Mann, homo, hetero
und bi, aber auch trans(*) und intersex und vereint somit verschiedene Konzepte mit
unterschiedlichen Forderungen ohne die einen zu stärken und/oder andere zu schwächen.
Queer durchbricht das binäre System der Geschlechter und legt einen Weg frei für ein
gemeinsames Beisammensein, wobei Ein-und Ausschlüsse stets diskutiert und berücksichtigt
werden und vor allem die eigene Position fortwährend als Fragezeichen offen bleibt. Offen
für ›neue‹ Eindrücke, Menschen, Meinungen und vor allem aufnahmebereit für Kritik und
Diskussionen, und das zu jederzeit.
60
6 Glossar / Begriffserklärungen
Folgende Definitionen unseres Glossars benutzen wir um unser momentanes Verständnis von
zentralen Begriffen, die für diese Arbeit besonders wichtig waren, festzuhalten. Dabei wollen
wir sie nicht vorgeben oder in Stein meisseln, denn sie können unserer Ansicht nach nie
abgeschlossen oder vollständig sein. Es sind Definitionen, die Macht re_produzieren, deshalb
wollen wir vorsichtig damit umgehen. Wir haben uns bei der Ausformulierung auf die
Definitionen unserer Gesprächspartner_innen, anderer Theoretiker_innen oder bestehenden
Projekten oder Vereinen gestützt, welche sich im queeren oder Trans*feld bewegen.
Alltagstest
Der Alltagstest stellt einen temporären ›Geschlechterwechsel‹
dar. Trans*menschen, die sich für den Weg der Transition
entscheiden, müssen in sämtlichen sozialen Bereichen im
angestrebten Geschlecht leben, um damit Alltagserfahrungen für
eine allfällig angestrebte irreversible Geschlechtsangleichung zu
sammeln. Ein zweijähriger Alltagstest wird in der Schweiz von
einigen Psychiatern und Gutachtern vorausgesetzt, um Hormone
verschrieben
zu
bekommen
und
geschlechtsangleichende
Massnahmen vornehmen zu dürfen.
Androgynie
Androgynie umschreibt die Zurückweisung der Binarität und die
Befürwortung
der
Geschlechterrollen
Weiblichkeit
und
Geschlechtsfluidität:
Frau
und
Männlichkeit
Mann,
wenn
die
beziehungsweise
verschwimmen,
die
Geschlechtergrenzen unkenntlich werden bis hin zu deren
verschwinden.53
Bear Community
Bear ist eine Eigenbezeichnung von einer Gruppe von
LesBiSchwulen, (Trans*)Männern, manchmal auch Butches, die
ihre Körperbehaarung mit Stolz tragen und bewusst betonen.
53
Rainbow Projekt
61
›Biologisches Geschlecht‹
Das ›Biologisches Geschlecht‹, das Geburtsgeschlecht oder auch
sex
das körperliche Geschlecht fasst das Geschlecht, welches bei der
Geburt auf ›biologischen‹, sogenannten ›natürlichen‹ Fakten
basierend, bestimmt wird.
Butch / Femme
Butch / Femme ist eine Eigenbezeichnung von lesbischen
(Trans*)Frauen,
welche
sich
an
einem
stereotypen
Geschlechtermodell orientieren und damit spielen. Eine Butch
inszeniert sich durch Kleidung, Gestik, Verhalten und/oder
äusserem
Erscheinungsbild
nach
einem
gesellschaftlich
geprägten Bild eines Mannes. Eine Femme inszeniert sich
stereotyp weiblich. Hierbei geht es nicht um die Nachahmung
von Geschlechterrollen, sondern es werden neue Kategorien und
Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit geschaffen.
Cisgender
Cisgender stellt den Gegenbegriff zu Trans*gender dar. Cis-
Cis-Frau/Cis-Mann
Frau und Cis-Mann beschreiben Menschen, die bei der Geburt
als weiblich oder männlich zugeordnet werden und eine
Übereinstimmung von ›biologischem‹ und sozialem Geschlecht
(er)leben.
Coming-out
»Coming-out bezeichnet einen individuellen, sich ihrer_seiner
Outing
eigenen gleichgeschlechtlichen Empfindungen oder ihrer_seiner
von gesellschaftlich festgelegter geschlechtlicher Identität oder
Geschlechterrolle abweichenden Empfindungen bewusst zu
werden und zu akzeptieren – und dies anschliessend dem
näheren familiären und sozialen Umfeld mitzuteilen.«54
Obwohl Coming-out und Outing im deutschen Sprachraum
üblicherweise nicht gleichgesetzt wird55, wurde dies von uns und
unseren Gesprächspartner_innen anders gehandhabt. In unserer
Arbeit sind die Begriffe gleichbedeutend.
54
55
Queer East Glossar
Frankfurter Allgemeine: Was unterscheidet Coming-out und Outing?
62
Crossdresser_innen
Crossdresser_innen ist eine Eigenbezeichnung von Menschen,
die geschlechtsspezifische Kleidung des anderen als ihnen
gesellschaftlich zugewiesenen Geschlechts tragen. Steht nicht
im Zusammenhang mit sexueller Orientierung. Hat die
Bezeichnung Transvestit_innen abgelöst.56
Drag
Drag umfasst eine Performance (oft auch auf einer Bühne), bei
der
ein
gesellschaftlich
konstruiertes
Geschlechterbild,
Weiblichkeit und Männlichkeit, in Frage gestellt werden kann.
Durch Kleidung, Aussehen, Gesten oder Artikulation werden
klischiert weibliche oder männliche Stereotypen nachgeahmt
und parodiert. Durch das Vermischen der Geschlechterrollen
schaffen
die
Performancekünstler_innen
Provokation,
Unterhaltung und brechen kategorisierte und festgefahrene
Denkweisen auf.
Drag Queens inszenieren weibliche und Drag Kings männliche
Stereotypen.
FtM
Female-to-male, Frau-zu-Mann-Trans*person oder Trans*mann
FtM ist eine Eigenbezeichnung von Menschen, die sich in der
Transition von Frau zu Mann befinden oder diese bereits
abgeschlossen haben.
gender gap
»Der Gender Gap ist eine nicht-diskriminierende Schreibweise.
In dieser queer-feministischen Rechtschreibung steht zwischen
dem Wortstamm und dem Anhängsel ›innen‹ ein Unterstrich.
Der
Unterstrich
symbolisiert,
dass
es
sich
bei
einer
Personengruppe nicht nur um zwei Geschlechter handelt. Er ist
eine symbolische Geschlechter-Lücke (Gender Gap) für alle
anderen Geschlechter. Bsp.: Mit Teilnehmer_innen sind somit
alle Personen gemeint, die sich weiblich, männlich, trans,
intersexuell
56
LGBTQIA Resource Center Glossary
oder
nicht-ident
verorten.
Die
Unterstrich-
63
Schreibweise kann im Sprechen mit einer Pause oder mit dem
Wort ›Unterstrich‹ gekennzeichnet werden.«57
Geschlechtsangleichende
Die Geschlechtsangleichende Operation (GAOP) beschreibt die
Operation/
sekundäre und/oder primäre Angleichung der
Geschlechtsangleichung
Geschlechtsmerkmale an das angestrebte Geschlecht.
LesBiSchwul
Die Abkürzung LesBiSchwul (oder schwuLesBisch) fasst die
Kategorien lesbisch, bisexuell und schwul zusammen und steht
für einen Kampf gegen heteronormative Strukturen, die diese
Gruppierungen allesamt ausschliessen.
LGBT(QIA)*
LGBT(QIA)* ist ein englisches Akronym für lesbian, gay,
bisexual. Manchmal wird der Begriff mit T (trans), Q (queer or
questioning) I (intersex) und A (allies) erweitert. Das Sternchen
(*) soll alle Identitäten und Lebensformen symbolisieren, die
sich nicht in das vorgegebene Spektrum einordnen lassen, aber
dennoch von der gesellschaftlichen Norm der Heterosexualität
abweichen. 58 Wir verwenden in dieser Arbeit den Begriff
Trans*menschen, da wir es aus einer queeren Position als
strategisch wertvoll erachten einen Sammelbegriff zu benutzen,
der
möglichst
viele
sexuellen
Orientierungen
und
Geschlechtsidentitäten zu fassen versucht.
Mehrfachdiskriminierung
Mehrfachdiskriminierung erfasst Diskriminierung aufgrund
(Intersektionalität)
unterschiedlicher Dimensionen wie ›Herkunft‹, Hautfarbe,
Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale Situation oder
»Körper mit einer bestimmten Befähigung oder
Beeinträchtigung«.59
»Personen können also gleichzeitig mehreren benachteiligten
Gruppen angehören und ganz bestimmten Formen von
Diskriminierung ausgesetzt sein. In Situationen, in denen
57
Auszug Gender Institut Bremen
Queer East Glossar
59
LesMigras
58
64
Diskriminierung aus mehr als einem Grund zum Tragen kommt,
wird von ›Mehrfachdiskriminierung‹ gesprochen.«60
MtF
Male-to-female, Mann-zu-Frau-Trans*person oder Trans*frau
MtF ist eine Eigenbezeichnung von Menschen, die sich in der
Transition von Mann zu Frau befinden oder diese bereits
abgeschlossen haben.
Passing
Passing meint ein ›sauberer‹, unscheinbarer Übergang von
einem Geschlecht zum anderen, beziehungsweise wenn eine
Person
als
Angehörige_r
des
gewünschten
Geschlechts
(an)erkannt und akzeptiert wird.
Personenstandsänderung
Die Personenstandsänderung beschreibt die Änderung des
geschlechtlichen Status in amtlichen Dokumenten. Der offizielle
Ablauf der Personenstandsänderung ist in der Schweiz in den
Kantonen unterschiedlich geregelt.61
queer
Queer ist ein englischsprachiger Ausdruck für schräg, eigenartig
oder merkwürdig. Queer war ursprünglich ein Schimpfwort für
Schwule oder Menschen, die von der heteronormativen Norm
abweichen.
Heute
wird
der
Begriff
sowohl
als
Selbstbezeichnung in der LesBiSchwulen-Szene gebraucht als
auch innerhalb eines theoretischen und politischen Diskurses,
um Denk- und Lebensweisen anzudeuten, welche sich jenseits
der »heteronormativen Matrix« verorten.62 Wir gebrauchen den
Begriff vor allem im letzteren Sinne.
Queer Theory
»Die
Queer
Theory
(dt:
Queer-Theorie)
analysiert
gesellschaftliche Geschlechter- und Sexualitätsnormen und
untersucht kritisch den Zusammenhang von biologischem
Geschlecht,
sozialen
Geschlechterrollen
und
sexuellem
Begehren. Die Queer Theory versteht Geschlechtsidentität und
sexuelle Orientierung nicht als ›natürlich gegeben‹, sondern als
60
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit zu Mehrfachdiskriminierung
TGNS: Transmenschen und Menschenrechte in der Schweiz
62
Villa, (2003), S.59
61
65
durch soziale und kulturelle Prozesse konstruiert. Sie stellt damit
die
Zweigeschlechterordnung
und
Heterosexualität
als
gesellschaftliche Normen in Frage und plädiert für eine
Pluralisierung von Geschlecht und Sexualität. Einige Ansätze
der Queer Theory berücksichtigen überdies die Verwobenheit
von Heteronormativität und anderen Machtstrukturen.«63
›Seelisches Geschlecht‹
Das ›seelische Geschlecht‹ ist ein von der Trans*szene
geprägter
Begriff,
der
besagt,
dass
Weiblichsein
oder
Männlichsein ein Gefühl oder Empfinden ist. Dabei wird von
einer gegebenen Identität ausgegangen, von einer ›inneren‹
Identität, die unabhängig von einem sozialen Umfeld entsteht.
Soziales Geschlecht
Das soziale Geschlecht weist Geschlecht als sozial konstruiert
aus. In Gender-Theorien wird davon ausgegangen, dass ein
›biologisches‹
und
ein
soziales
Geschlecht
gleichzeitig
existieren, sprich ein anatomisches Geschlecht, sowie ein
Geschlecht welches kulturell, sozial und historisch entsteht. 64
Butler weist die Materialisierung des Körpers als kulturell aus
und kritisiert dadurch eine Unterscheidung in soziales und
›biologisches Geschlecht‹.
Sissyboys
Sissyboys steht für Jungen oder junge Männer, welche aufgrund
ihrer Interessen, Kleidung oder ihrem Verhalten, eher dem
gesellschaftlich geprägten Bild eines weiblichen Stereotyps
entsprechen. Sissyboy wird als Eigenbezeichnung positiv
verwendet.
Sündikat
»Die queer_post_feministische Plattform Sündikat ist offen für
queere Experimente, politische Aktionen, Kunst & Kleinkunst,
Lesungen,
Diskussionen,
Filmemacher_innen,
Konzerte,
Workshops und Partys« und besteht aus einer Mailinglist, einem
63
Auszug queeformat
Beauvoir (2013) S. 334: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.« Oder wie es Butler (1991)
ausführt: »Beauvoir stellt fest, dass man zwar zur Frau ›wird‹, aber dass dies stets unter
gesellschaftlichem Druck geschieht. Und dieser Zwang geht eindeutig vom anatomischen ›Geschlecht‹
aus.« (S.26)
64
66
»queerfeministischen Verteiler für Veranstaltungen, Partys,
politische Bildung und Informationen zu Menschenrechten für
Hermaphrodite, trans*, Lesben, Schwule und Frauen*.«65
Trans
»Trans meint die Tatsache, dass ein Mensch sich nicht dem
Geschlecht zugehörig fühlt, dem er bei Geburt zugeordnet
wurde. Diese Menschen kommen mit einem eindeutig männlich
oder eindeutig weiblichen Körper zur Welt, sie identifizieren
sich aber als das andere Geschlecht, als zwischen den
Geschlechtern oder als ein bisschen von beiden.«66
Wir verwenden den Begriff trans* als erweiterten und
erweiterbaren Begriff, da er nach obigem Verständnis
Geschlecht stark von der Zweigeschlechtlichkeit aus denkt.
Transition
Die Transition ist eine individuelle Phase der Veränderung des
Geschlechts. Häufig beinhaltet die Transition medizinische und
juristische Massnahmen, diese sind jedoch nicht zwingend Teil
der Transition. Die Transition kann sich über einen längeren
Zeitraum hinziehen und wird von manchen Trans*menschen nie
endgültig abgeschlossen.
Transvestit_innen
Der
Begriff
Transvestit_innen
problematische
Bezeichnung
ist
eine
aufgrund
veraltete
ihrer
und
historischen
Verwendung als Diagnose für medizinisch / psychische
Störungen.
Sie
wurde
durch
die
Eigenbezeichnung
Crossdresser_innen ersetzt.67
TGNS
Der Verein Transgender Network Switzerland (TGNS) ist eine
schweizerische Organisation von und für Trans*menschen.
Tomboy
Tomboys steht für Mädchen oder junge Frauen, welche
aufgrund ihrer Interessen, Kleidung oder ihrem Verhalten, eher
dem
65
gesellschaftlich
Auszug Sündikat
Auszug tgns.ch
67
LGBTQIA Ressource Center Glossary
66
geprägten
Bild
eines
männlichen
67
Stereotyps entsprechen. Tomboy wird als Eigenbezeichnung
positiv verwendet.
Trigger/Triggerwarnung
Trigger beschreiben Auslöser, die meist an negative, erlebte
Erfahrungen erinnern und starke emotionale Reaktionen
evozieren können. Trigger können zum Beispiel Wörter,
Beschreibungen, Geräusche oder Gerüche darstellen und stehen
oftmals im Zusammenhang mit psychischer oder physischer
Verletzung.
Triggerwarnung bezeichnet einen Warnhinweis auf mögliche
Auslöser dieser starken Sinneseindrücke.
Tunte
Der Begriff Tunte ist eine
Eigenbezeichnung
für
schwule
(Trans*)Männer, die eine klischiert weibliche Artikulation,
Gestik oder Stimme besitzen, nachahmen oder parodieren. Wird
teilweise bewusst inszeniert, um Kritik an bestehenden
Geschlechternormen zu äussern.
Zwischengeschlecht
»Etwa
jedes
›atypischen‹
1000.
oder
Kind
sonstwie
kommt
mit
›uneindeutigen‹,
›auffälligen‹
körperlichen
Geschlechtsmerkmalen auf die Welt. Bis heute werden sog.
›Intersexuelle‹,
Zwischengeschlechtliche,
Hermaphroditen,
›Hypospader‹ oder Zwitter zu 90% im Kleinkindalter zu
›richtigen‹ Mädchen oder Jungen ›umoperiert‹ – ohne ihre
Zustimmung, ohne medizinische Notwendigkeit und ohne
Evidenz.«68
68
Auszug zwischengeschlecht.org
68
7 Literaturverzeichnis
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Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
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(Hg.): Heteronormativität und Homosexualitäten, Studien-Verlag, Innsbruck, S.129-147
Müller, Gini: Possen des Performativen (2008), Verlag Turia + Kant, Wien
Polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive
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69
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Null. Ästhetik des Widerstands. Turia + Kant, Wien. S.46-52
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70
8 Links
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http://www.sozialinfo.ch/aktuell/monatsthemen/adoptionsrecht-oeffentlich/#.Uxs_RNz5FHw
09.03.14, 15:51
anima*projekt: Transgender-Beratung Faridéh-Styling:
http://www.anima-projekt.de
05.05.14, 17:30
Bachelorarbeit von Nicole Metzger zu: Entscheidungsbeeinflussende Faktoren zur Wahl des
Transitionsziels bei Transmännern:
http://www.transgender-network.ch/wpcontent/uploads/2011/08/Bachelorarbeit_Nicole_Metzger_2013.pdf
06.05.14, 12:17
Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR zu Mehrfachdiskriminierung:
http://www.ekr.admin.ch/themen/d170.html
11.05.14, 14:08
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit zu
Mehrfachdiskriminierung:
http://www.mehrfachdiskriminierung.ch/definition
11.05.14, 14:08
Frankfurter Allgemeine zu Begriffsverwirrungen: Was unterscheidet Coming-out und
Outing?
http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/begriffsverwirrungen-was-unterscheidet-coming-outund-outing-12742505.html
16.05.14, 12:03
ICD-Code:
http://www.icd-code.de/icd/code/F64.-.html
09.03.14, 15:54
LesMigras: Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin e.V. zu
Mehrfachdiskriminierung:
http://www.lesmigras.de/mehrfachdiskriminierung.html
11.05.14, 14:30
71
Love Boat LGBT Blog: Informationen zu breast binders
http://www.lesloveboat.com/blog/?cat=28
21.07.14, 18:10
NZZ-Artikel: Im Tal der Mannsweiber (Claas-Hendrik Relotius):
http://www.nzz.ch/aktuell/panorama/im-tal-der-mannsweiber-1.14455028
02.04.14, 16:30
Rechtsauskunft EAZW: Transsexualität:
http://www.ejpd.admin.ch/content/dam/data/gesellschaft/eazw/dokumentation/praxis/praxis2012-02-01-f.pdf
26.04.14, 14:30
Sündikat-Plattform:
http://suendikat.ch
28.04.14, 15:45
Transgender Network Switzerland:
http://www.tgns.ch
09.05.14, 23:28
Transmenschen und Menschenrechte in der Schweiz (Hohmann, Recher):
http://www.humanrights.ch/upload/pdf/110823_Transgender_Network_Gastbeitrag.pdf,
09.05.14, 22:27
WPATH: WORLD PROFESSIONAL ASSOCIATION for TRANSGENDER HEALTH:
http://www.wpath.org/
26.04.14, 14.00
Zürcher Transmänner-Stammtisch, jeweils Mittwochabends im Café-Restaurant Bubbles,
Werdstrasse 54, Zürich:
http://www.transgender-network.ch/events/zuercher-transmaenner-stammtisch-4/
05.05.14, 22:14
Zwischengeschlecht.org
http://zwischengeschlecht.org
09.05.14, 18:54
72
9 Anhang
9.1 Gerichtsurteil: Registrierung der Geschlechts- und Namensänderung
73
74
75
76
77
78
9.2 Abstract: Transpersonen und Arbeitsmarkt
Transpersonen und Arbeitsmarkt
Jenzer H, Baeriswyl M, Kudelcikova M, Hohmann H, Recher A.
Transgender Network Switzerland (TGNS, http://www.tgns.ch, [email protected] )
Background
Im Verlaufe der Transition erleben viele Transfrauen (M2F Transpersonen) und Transmänner (F2M
Transpersonen) neben psychischen, physischen und versicherungsrechtlichen auch berufliche
Schwierigkeiten. Für die Schweiz existieren keine entsprechenden Daten.
Forschungsfragen
• Wie häufig zeigen sich bei Transpersonen unfreiwillige Jobverluste?
• Welche Variablen beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, als Transperson berufstätig sein zu
können bzw zu bleiben?
• Gibt es bezüglich Berufstätigkeit unterschiedliche Prävalenzen in den Gruppen Transfrauen
und Transmänner?
Methode
Mittels eines validierten Fragebogens wurde eine Erhebung bei den Einzel- und Kollektivmitglieder
des TGNS erhoben. Versand und Rückmeldungen erfolgten vollständig elektronisch mit den
Formularfunktionen von Adobe Acrobat 8 Professional v8.2.1. Die Daten wurden an Microsoft Excel
2011 v14.1.4 und für die Statistik (Odds Ratios [OR] mit 95% Konfidenzintervall [CI] und logistische
Regression) weiter an SPSS v16.0.1 transferiert und aufbereitet.
39 Transpersonen (21 Transfrauen, 16 Transmänner, 1 Intersexuelle und 1 rücktransitionierte Person
(M2F, später F2“M“) haben sich an der Erhebung beteiligt. Letztere beide wurden der Gruppe F2M
zugeteilt, da dies dem gelebten Geschlecht entspricht. 4 Personen wurden ausgeschlossen infolge
ihres Status vor oder ohne Coming-out am Arbeitsplatz (nicht relevant für die Forschungsfragen). Das
Durchschnittsalter der untersuchten Kohorte (n=35) beträgt 44 Jahre (Range 26 bis 72), bei
Transfrauen 48 Jahre (Range 29 – 72), bei Transmännern 40 Jahre (Range 26 - 61).
Resultate und Diskussion
Personendaten
18 Personen sind ledig (davon 13 Transmänner), je 2 Transmänner und –frauen mit demselben
Ehepartner wie vor der Transition verheiratet, 1 Transmann mit eingetragener Partnerschaft, 7
freiwillig und 1 amtlich geschieden (alles Transfrauen), 3 getrennt (davon 2 Transfrauen) und 1
Transfrau verwitwet. Transfrauen sind somit seltener ledig, hingegen öfter geschieden oder getrennt,
und wohnen häufiger allein (10/17) als Transmänner (7/17), die oft in Wohngemeinschaften leben (3
Transmänner). Ansonsten ergeben sich beim Wohnort und -status keine deutlichen Unterschiede
zwischen den beiden Gruppen. 15 Personen (davon 13 Transfrauen) sind in ihren biologischen
Geschlecht Elternteil von jeweils 1 bis 3 Kinder geworden. Diese Kinder werden entsprechend als
wichtig(st)e Bezugspersonen genannt (ansonsten finden sich keine Unterschiede zwischen den
beiden Gruppen in Bezug auf Bezugspersonen). Bei 6 Transfrauen und 1 Transmann hatte die
Transsexualität nach der Scheidung oder Trennung einen Einfluss auf das Sorgerecht bzw die Obhut.
Status bezüglich Gender Reassignment
Von 35 Transpersonen sind alle 18 Tansfrauen und 11/17 Transmännern als transgendered
diagnostiziert worden. Ein Teil erreichte den definitiven Status mit der geschlechtsangleichenden
Operation (8 Transfrauen versus 7 Transmänner, alle mit amtlicher Geschlechtsänderung). Der
definitive Status ist oft ohne geschlechtsangleichende Operation erreicht worden (4 Transmänner
versus 1 Transfrau). Diese 20 Personen und weitere 3 haben ihren Vornamen amtlich ändern können.
Der definitive Status ist bei 3 von 8 Transfrauen und 6 von 7 Transmännern erst in den Jahren 2009 –
2012 erreicht haben. 1 Transfrau steht zwischen dem Coming-out am Arbeitsort und dem Beginn der
Transition. 8 Transfrauen und 6 Transmänner stehen in der Transitionsphase. Bei 13 Personen
begann die Transition unmittelbar nach dem Coming-out. 9 Personen haben keinen Alltagstest
durchlaufen und 11 Personen mit weniger als den gemäss Harry Benjamin Standard und von den
Krankenversicherern lange Zeit verlangten 2 Jahren. (Keine Angaben von 7 Befragten).
Berufsbezogene Daten
Von den 35 Personen der Kohorte haben 8 Transfrauen und 6 Transmänner eine Berufslehre (oder
höhere Fachschule) abgeschlossen und 2 Transmänner keine. 1 Transfrau besitzt ein
Maturitätszeugnis und je 9 Transfrauen und –männer einen Abschluss der Tertiärstufe (Universität
oder Fachhochschule). Am Stichtag 25.03.2012 waren je 12 Personen berufstätig und 11 nicht (6 M2F
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bzw 5 F2M). 6 Transfrauen und 2 Transmänner arbeiten für private, 2 Transfrauen und 7
Transmänner für öffentliche Arbeitgeber. 5 Personen sind selbständig erwerbend. Die Arbeitsorte der
berufstätigen Personen finden sich bei Transfrauen häufiger in Gross- und Kleinstädten und weniger
häufig auf dem Land als bei Transmännern Der mittlere Beschäftigungsgrad betrug bei Transmännern
70%, bei Transfrauen 90%, was bei beiden Gruppen dem durchschnittlich gewünschten
Beschäftigungsgrad entspricht.
Von den Nicht-berufstätigen sind je 4 Transfrauen und -männer AHV-Renten-, IV-Renten- oder
Arbeitslosentaggeldbezüger oder befinden sich in gekündigter Stellung. Je 3 Transfrauen und männer bezeichnen sich als arbeitslos, eine Transfrau als teilarbeitslos. Dies entspricht einer Quote
von 20%, was etwa sechsmal höher liegt als die Februar-Arbeitslosenquote von 3.4% gemäss SECO.
1 Transmann war in Ausbildung und 1 ausgesteuert, je 2 Personen aus beiden Gruppen
Sozialhilfebezüger. 1 Person hat auf dem Weg zur selbständigen Berufsausübung ihr Pensum
vorübergehend auf 20% gesenkt.
11 Transmänner und 7 Transfrauen wurden nach dem CO durch den Arbeitgeber unterstützt, 6
Transmänner und 11 Transfrauen nicht oder gar bekämpft. Bei einem OR von 0.35 und einem 95% CI
von 0.09 – 1.37 kann jedoch kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen nachgewiesen werden.
Unfreiwillige Jobverluste wurden vorwiegend nach dem Coming-out erlitten (14 Personen), etwas
weniger während der Transitionsphase (10 Personen) oder nach Erreichen des definitiven Status (9
Personen), wobei kein deutlicher Unterschied zwischen Transmännern und –frauen ersichtlich ist. Da
unfreiwillige Jobverluste in einigen Fällen mehrfach eintraten, ergibt sich eine Totalzahl von 35
unfreiwilligen Jobverlusten. Das bedeutet, dass im Durchschnitt pro Transperson im Verlauf des
Geschlechtswechsels mit einem unfreiwilligen Jobverlust zu rechnen ist.
Unabhängig von Jobverlusten änderten sich die beruflichen Perspektiven z.T. sehr deutlich. Einen
beruflichen Aufstieg erlebten 2 Transfrauen und 1 Transmann, einen Abstieg hingegen je 8 Personen
beider Gruppen. 3 Transfrauen konnten Jobs nach einer Vertragsänderung behalten. Unverändert
blieb die Situation für 3 Transfrauen und 6 Transmänner. Bezüglich eines Unterschiedes zwsichen der
Gruppe mit unveränderter Situationen und beruflichem Aufstieg und der Gruppe mit freiwilligen
Jobwechseln, Verbleib mit Vertragsänderung oder beruflichem Abstieg ergibt sich zwar ein OR von
1.82. Aufgrund des 95% CI von 0.44-7.5 und der kleinen Stichprobe kann der Unterschied zwischen
den Gruppen statistisch jedoch nicht erhärtet werden. Bei der Entlöhnung gab es bei 2 Transfrauen
und einem Transmann eine Erhöhung (25% und 100% bzw 3%), hingegen eine Reduktion bei 5
Transfrauen (um durchschnittlich 29%) und 4 Transmännern (um durchschnittlich 45%). Die
Lohnangaben wurden oft nicht erteilt.
Als mögliche Gründe der Jobprobleme wurde von den Transpersonen selbst am häufigsten
Inakzeptanz (26 Nennungen), Mobbing (15), das ungewohnte Erscheinungsbild und Auftreten (20),
die Stimme (8), alte Konflikte / Rache (4) sowie Mangel-/Unwissen über Transsexualität (24) genannt.
Andere Einzeläusserungen betrafen die Nicht-Übereinstimmung der Identitätspapiere mit dem neuen
Geschlecht, die eigene Inkompetenz der Transpersonen, mit ihrem Zustand umgehen zu können („zu
hohe Selbstbeschäftigung“), Ängste (eigene und / oder von Kunden), Unsicherheit, Einschätzung als
erhöhtes Risiko („Trans = Probleme“), Hegemoniehaltung, Reduktion der Menschen auf die
Zweiklassigkeit Mann / Frau, Vorurteile oder Problem der Vorgesetzten mit ihrer eigenen Sexualität.
Die Abhängigkeit der Berufstätigkeit bzw Nichtberufstätigkeit von diversen erhobenen Faktoren wurde
mittels logistischer Regression analysiert. Es ergab sich folgende logistische Regressionsfunktion:
Berufstätigkeit = 62.8 + 1.76*Gender - 0.04*Jahrgang + 1.99*Wohnort + 0.98*Status der
Geschlechtsangleichung + 4.1*amtliche Änderung des Vornamens – 2.48*amtliche Änderung
des Geschlechts + 1.14*Berufsbildung + 4.12*Unterstützung durch Vorgesetzte
Negative Werte zeigen eine Verminderung der Wahrscheinlichkeit an, berufstätig zu sein. Da die
Regressionskoeffizienten die natürlichen Logarithmen der Odds Ratios sind, können für die amtliche
Änderung des Vornamens und die Unterstützung durch Vorgesetzte hohe Werte (60 bzw 61)
abgelesen werden, für Gender, Wohnort, Status der Geschlechtsangleichung und Berufsbildung nur
kleinere (<10). Als Bestimmtheitsmass dient das Nagelkerkes R-Quadrat, welches 0.60 beträgt und
gemäss Literatur eine grosse Effektstärke bedeutet. Somit können 60% der Fälle durch das Modell
erklärt werden. Die Abhängigkeit der abhängigen Variablen (Berufstätigkeit) von den einzelnen
unabhängigen Variablen ist am signifikantesten für den Wohnort (7.9% Irrtumswahrscheinlichkeit), die
Berufsbildung (8.4%) und die Unterstützung durch Vorgesetzte (1.1%), am wenigsten für Gender,
Jahrgang, Status des Geschlechtswechsels und den amtlichen Geschlechtswechsel.
Schlussfolgerung
Transgenderismus, verbunden mit wenig Jobmöglichkeiten aufgrund des Wohnortes und schlechter
Berufsbildung und mangelnder Unterstützung durch Vorgesetzte, ist ein dokumentierter Risikofaktor
für Nicht-Berufstätigkeit bzw. Stellenverlust.
80
9.3 Weiterführende Literatur zu trans*, Gender und Empirie
Butler, Judith: Gender Trouble (1990), Routledge
Butler, Judith: Bodies That Matter (1993), Routledge
Butler, Judith: An Interview with Judith Butler (1994), Radical Philosophy, Summer 1994
Butler, Judith: Undoing Gender (2004), Routledge
Gosch, Petra: Frauen im Fitness-Sport - ein Spiegel unserer Zeit? Momentaufnahme sozialer
Anforderungen aus körpersoziologischer Perspektive. Aus: Beiträge zur feministischen
theorie und praxis. Arenen der Weiblichkeit. Frauen, Körper, Sport (2008), S.87-107
Graf, Simon: »Eine Ethnographie des fitten Männer-Körpers«. Lizentiatsarbeit,
Philosophische Fakultät der Universität Zürich (2012)
Halberstam, Judith: F2M: The making of female maskulinity. Aus: Price, Janet, Sihldrick
Margrit (eds.): Feminist Theory and the Body. A Reader (1999), Routledge Chapman & Hall,
S.125-133
Haritaworn, Jin: (No) Fucking Difference? Eine Kritik an ‚Heteronormativität’ am Beispiel
von Thailändischsein. In: Hartmann, Jutta et al. (Hrsg.): Heternormativität. Empirische
Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht – eine Einführung (2007), Springer Verlag,
Wiesbaden, S.269-289
Karakayali, Jule, Vassilis S. Tsianos, Serhat Karakayali und Aida Ibrahim: Decolorise it!
Diskussion: Die Rezeption von Critical Whiteness hat eine Richtung eingeschlagen, die die
antirassistischen Politiken sabotiert. (2012), ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte
und Praxis / Nr. 575 / 21.9.2012
Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper,
Leib und Gefühl. 2. Auflage (2011), VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Lorey, Isabell: Die Regierung der Prekären. Mit einem Vorwort von Judith Butler (2012),
Verlag Turia + Kant, Berlin
Mesquita, Sushila; 2009: „Liebe ist ...“. Visuelle Strategien der Normalisierung und das
Schweizer Partnerschaftsgesetz. In: Paul, Barbara; Schaffer, Johanna (Hg.): Quer. Mehr(wert)
queer. Queer Added (Value). transcript Verlag, Bielefeld, S. 71-87
81
Schönberger Klaus: Als «Frikadellen-Peter» in Sicherheitsverwahrung. In: Schultheis,
Franz/Schulz, Kristina (Hg.): Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Zumutungen und Leiden
im deutschen Alltag. UVK, Konstanz 2005, S. 525-536.
Schröter, Susanne: FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. (2002), Fischer
Verlag, Frankfurt am Main
Schirmer, Uta: Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse
und Wirklichkeiten (2010), transcript Verlag, Bielefeld
Voss, Heing-Jürgen: Makin Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologischmedizinischer Perspektive (2010), transcript Verlag, Bielefeld
Voss, Heinz-Jürgen, Wolter, Salih Alexander: Queer und (Anti)Kapitalismus 2013),
Schmetterling Verlag, Stuttgart
9.4 Links
Blog von AnnaHeger:
http://annaheger.wordpress.com,
08.05.14, 17:00
Blogpost über Transnormativität:
http://kalemason.tumblr.com/post/11364335954/trans-normative-what-does-that-mean
8.05.14, 11:16
Butch-Fotoprojekt von Fotografin Meg Allen:
http://megallenstudio.com/butch/
07.04.14, 17:34
»Eine Kopie der Norm? - Identitäts- und Beziehungskonzepte von Butches und Femmes«:
http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=761
07.04.14, 17:34
infointersex.ch / Intersexualität Schweiz:
http://intersex.ch,
10.05.14, 00:00
Interpellation »Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung«:
http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20113265
82
24.04.14, 15:58
9.5 Links zu Texte
Ebnöther, Fricker (2014): Mainstream queer gedacht: Conchita Wurst – Was soll das?
http://kesselschmiedin.wordpress.com,
12.05.14, 18:59
Raunig (2000): Der Aufstand der Massen, reverse mode. Massenhafter Nonkonformismus als
Aufhebung des Gegensatzes von Masse und Individuum:
http://eipcp.net/transversal/1001/1151429475/1151429707,
12.05.14, 18:54
SMF, Schweizerisches Medizin-Forum, Von der Transsexualität zur Gender-Dysphorie,
Beratungs- und Behandlungsempfehlungen bei TransPersonen:
http://medicalforum.ch/de/die-zeitschrift/artikel/von-der-transsexualitaet-zur-genderdysphorie.html,
12.05.14, 18:56
TGNS: Transmenschen und Menschenrechte in der Schweiz (Henry Hohmann und Alecs
Recher):
http://www.humanrights.ch/upload/pdf/110823_Transgender_Network_Gastbeitrag.pdf
30.04.14 20:05
9.6 Links zu Glossars (Begriffe)
Blogpost: »Ergänzung zur Cis-Definition«
http://2013tbtn.blogsport.de/2013/04/23/ergaenzung-zur-cis-definition/
07.04.14, 16:08
Feministisch Sprachhandeln »Glossar«
http://feministisch-sprachhandeln.org/glossar/
07.04.14, 17:13 (POC, Intersektionalität)
Femgeeks »Glossar«
http://femgeeks.de/glossar/#cis
07.04.14, 17:13
Genderinstitut Bremen »Glossar«
http://www.genderinstitut-bremen.de/glossar/gender-gap.html,
83
08.05.14, 18:21
Genderportal Uni Duisburg-Essen »Queer Theory«
https://www.uni-due.de/genderportal/studis_queer.shtml
07.04.14, 17:13 (Queer Theory)
Hirschfeld Kongress »Hirschfeld-Kongress-Glossar«
http://www.hirschfeld-kongress.de/blog/glossar.html,
07.04.14, 13:55
LGBTQIA Resource Center Glossary
http://lgbtcenter.ucdavis.edu/lgbt-education/lgbtqia-glossary
07.04.14, 17:12
Muhlenberg College »LGBT Glossary of Terms«
http://www.muhlenberg.edu/main/campuslife/lgbt/lgbtglossary.html
07.04.14, 17:12
Queer East »Glossar«
http://queereast.wordpress.com/glossar/,
07.04.14, 13:33
Rainbow-Project »LGBT-Glossar«
http://www.rainbowproject.eu/material/de/glossary.htm
30.4.14 20:00
Trans*Inter*Sektionalität »Glossar«
http://transintersektionalitaet.org/?page_id=36
07.04.14, 17:12
84
9.7 Fragebogen
Kontextdaten Gesprächs-Partner_innen
Name:
Alter:
Soziales Geschlecht:
›Biologisches Geschlecht‹:
Konfrontation mit Thematik (in welchem Alter):
Coming-out Alter (Familie, Freunde, Arbeit, usw.):
Medizinische Massnahmen (Hormone, Geschlechtsangleichung):
Wohnort:
Aufgewachsen in: (falls nicht übereinstimmend mit Wohnort):
›Nationalität‹/›Herkunft‹ (evtl. ›Herkunft‹ der Eltern):
Beruf der Eltern:
Schulausbildung/Berufsausbildung:
Organisation (Freiwilligenarbeit, Member):
85
10 Eigenständigkeitserklärung
Hiermit bestätigen wir, dass wir die vorliegende Bachelorarbeit selbständig und nur mit den
angegebenen Hilfsmitteln verfasst haben. Alle Passagen, die wir wörtlich aus der Literatur
oder aus anderen Quellen wie z. B. Internetseiten übernommen haben, haben wird deutlich als
Zitat mit Angabe der Quelle kenntlich gemacht.
Sarah Lauener
Anja Zuberbühler

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