POtenziAl - Egon Zehnder

Transcrição

POtenziAl - Egon Zehnder
FOCUS
Ausgabe 01/2013
Potenzi a l
„Wir stellen Menschen
nicht für einen Job
ein, sondern für eine
Karriere.“
Pius Baschera
Präsident des Verwaltungsrats
Hilti Aktiengesellschaft
Focus
Potenzial
Ausgabe 01/2013
Herausgeber
Dr. Michael Ensser
Egon Zehnder International GmbH
Chefredakteurin
Dr. Ulrike Krause
Projektmanager
Markus Schuler
Realisation
Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Art-Direktion
Markus Rasp
Redaktionelle Bearbeitung
Brigitta Palass (Senior Editor), Andrew Blechman,
Jürgen Kesting, Andreas Molitor, Tom Varian
Übersetzungen
Paul Boothroyd, Monika Bauer-Boothroyd
Heinrich Koop, Wieners+Wieners
Korrektorat
die Korrektoren – Jens Flachmann & Tanja Moreno Avilés GbR
Redaktion
Egon Zehnder
Corporate Communications
Rheinallee 97
40545 Düsseldorf
Tel. +49-211-55 02 85-0
Fax +49-211-55 02 85-50
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www.egonzehnder.com
Redaktioneller Beirat
Dr. Stephan L. Buchner, Dr. Hanns Goeldel,
Dr. Friedrich Kuhn, Dr. Jörg Ritter,
Dr. Johannes Graf von Schmettow, Dr. Jürgen Tanneberger
Druck
Dr. Cantz’sche Druckerei Medien GmbH
Zeppelinstraße 29–32
73760 Ostfildern
© 2013 Egon Zehnder International GmbH Deutschland
1
Editorial
„Nur Führungskräfte,
die über die Grenzen der
eigenen Organisation
hinaus einen systemischen
Fokus für das große
Ganze entwickeln, werden
künftig erfolgreich
agieren.“
Neugier galt bisher nicht unbedingt als Kardinaltugend. Im Gegenteil: Allzu viel
davon schien gefährlich. „Curiosity killed the cat“, weiß ein englisches Sprichwort.
Dr. Faustus schloss gar einen Pakt mit dem Teufel, um seinen Wissensdurst zu stillen.
Vor allem aber war Neugier oft auch unbequem – weil sie seit jeher gängige Paradigmen in Frage stellt.
Gerade deshalb steht sie inzwischen hoch im Kurs. Denn angesichts zunehmender
Komplexität und ständiger Veränderungen in unseren modernen pluralistischen
Gesellschaften haben individuelle Wissbegier und der Wunsch, den Dingen auf den
Grund zu gehen und sie zu verstehen, stark an Bedeutung und Stellenwert gewonnen.
Neugier ist sogar, so haben nun wissenschaftliche Studien ergeben, einer der frühesten
und sichersten Indikatoren für das Potenzial einer Persönlichkeit. Eben dies ist wiederum einer der zentralen Aspekte bei der Identifikation unternehmerischer Leistungsträger.
Nach Jahren praktischer Erfahrung und oft hoher Investitionen in Personalentwicklung und Talent Management stellen viele Unternehmen enttäuscht fest, dass ihre
Suche nach den erfolgreichen Führungskräften von morgen häufig unzulänglich ist. In
der Tiefe zu verstehen, was Talent in der Unternehmensführung künftig ausmacht und
wie es möglichst früh und sicher zu identifizieren, zu fördern und einzusetzen ist,
das ist mittlerweile die Königsdisziplin jeder Führungskraft bis hinauf in die Unternehmensspitze. Diese Disziplin haben erfolgreiche Unternehmen und ihre Lenker zu
ihrer persönlichen Angelegenheit gemacht.
Wenn Neugier der sicherste Indikator für noch unausgeschöpftes, künftiges Leistungsvermögen ist, dann ist die Konzentration auf vergangene Erfolge eine der
gefährlichsten Fallen bei der Bewertung von Potenzial, sagt die INSEAD-Professorin
Herminia Ibarra. Wer ein einmal erfolgreiches Handlungsmuster ständig wiederholt,
bringt sich selbst um die Nutzung seiner verborgenen Fähigkeiten.
Wie in jedem FOCUS richtet sich der Blick nicht nur auf Unternehmen, sondern
auch auf ihr Umfeld und auf größere Lebenszusammenhänge. Das wird zunehmend
wichtiger, glaubt der renommierte Organisationspsychologe Daniel Goleman. Nur
Führungskräfte, die über die Grenzen der eigenen Organisation hinaus einen systemischen Fokus für das große Ganze entwickeln, werden künftig erfolgreich agieren.
Den praktischen Beweis dafür treten der brasilianische Sozialunternehmer Rodrigo
Baggio und der aus Ghana stammende Fred Swaniker an. Baggio hat mit seinen
Computerschulen in den Favelas und entlegenen Dörfern seines Landes ein ungekanntes Maß an Unternehmergeist entfesselt. Und Swanikers African Leadership Academy
soll eine junge Generation künftiger Führer hervorbringen, die endlich das immense
Potenzial des Kontinents verantwortungsvoll nutzen.
„Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig“,
schrieb Albert Einstein einst in einem Brief an seinen Biografen, den Schweizer Schriftsteller Carl Seelig.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Dr. Michael Ensser
Herausgeber FOCUS
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Focus Potenzial
Inhalt
1 Editorial
Führung
4 „Wir sehen eine starke Parallele
zwischen Unternehmenswachstum
und persönlicher Entwicklung.“
Interview mit Pius Baschera,
Verwaltungsratsvorsitzender der
Hilti AG
42 Auf der Suche nach den
verborgenen Schätzen
Tilman Gerhardt und Jens Riedel
über die Kunst, Leistungsträger von
morgen schon heute zu erkennen
12 Wer wird führen?
Mutigere Ansätze in der Förderung
von High Potentials – die Ergebnisse
des 13. International Executive Panel
14 Trauen Sie sich,
nicht der Beste zu sein?
Erfolg kann dem Potenzial im Wege
stehen, so INSEAD-Professorin
Herminia Ibarra
18 „Wenn ich die Flamme immer
wieder aufs Neue entzünden muss,
bekomme ich schlechte Laune.“
Ein Gespräch mit der Geigenvirtuosin Julia Fischer
26 Panel
Persönlichkeiten aus Wirtschaft,
Kultur und Wissenschaft über ihre
nächsten Ziele
28 Führung mit Weitsicht
Daniel Goleman skizziert, warum
große Führungspersönlichkeiten
über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinausblicken müssen
32 „Jeder hat Ziele, aber nur
wenige sind bereit, dafür Opfer zu
bringen und sich zu schinden.“
Ruder-Olympiasiegerin Katherine
Grainger und Internet-Unternehmer
Ben Medlock über Ambition,
Beharrlichkeit und das LennonMcCartney-Phänomen.
46 Letztverantwortung
Wie wichtig, aber gleichzeitig auch
schwierig die Potenzialerkennung
bei der CEO-Nachfolge ist, beschreiben Johannes von Schmettow und
Stephan L. Buchner
50 Neue Spielregeln
Stefan Ries und Isabelle LangloisLoris über die Schlüsselrolle des
Personalverantwortlichen
54 Hebelwirkung
Wie die richtigen Auswahlkriterien helfen, die Vielfalt im Unternehmen zu fördern, beleuchten
Alin Adomeit und Moritz von
Campenhausen
58 „Führungstalent kommt in
unterschiedlicher Gestalt. Wir nehmen uns die Zeit, es zu erkennen.“
Der Konsumgüterhersteller General
Mills achtet bei der Auswahl seiner
Hoffnungsträger auf Integrität und
Erfolgswillen. Warum Stars dabei
nicht ins Bild passen, erläutert
Chairman und CEO Kendall J. Powell
66 Ehrgeiz – Tugend oder Laster?
Der Essayist Guy Kirsch über eine
ambivalente menschliche Triebfeder
68 „Wir bewegen Menschen,
ihr Leben zu ändern.“
Wie der brasilianische Sozialunternehmer Rodrigo Baggio versucht,
die digitale Spaltung zu überwinden
74 Zu treuen Händen
Ein Gespräch mit Frank StangenbergHaverkamp über den Generationswechsel im Familienrat von Merck
80 „Unsere Schüler müssen sich
als Erbauer einer Kathedrale
begreifen – und die Kathedrale
heißt Afrika.“
Die African Leadership Academy
soll das Führungspotenzial des
Kontinents erschließen – AcademyGründer Fred Swaniker beschreibt
seine Vision
3
Fred Swaniker
erläutert ab Seite 80, wie seine African
Leadership Academy die besten Talente des
Kontinents auf künftige Führungsaufgaben in Wirtschaft und Politik vorbereitet.
Julia Fischer
Die Geigerin gehört zu den
herausragenden Künstlerinnen ihrer Generation. Wie
sie ihre Leidenschaft für die
Musik an den künstlerischen
Nachwuchs weitergibt,
beschreibt sie im Gespräch
ab Seite 18.
Rodrigo Baggio und das
Center for Digital Inclusion
Vor 20 Jahren nahm der brasilianische Sozialunternehmer den Kampf gegen die digitale
Ausgrenzung der Benachteiligten in seinem
Heimatland auf. Inzwischen findet sein Ansatz
auch in den Industriestaaten Nachahmer.
Ein Report ab Seite 68.
Herminia Ibarra
Die renommierte Organisationspsychologin
fordert in ihrem Beitrag ab Seite 14 mehr Mut,
sich auf Unbekanntes einzulassen.
„Worauf es wirklich ankommt, sind Beharrlichkeit
und Durchhaltevermögen – und zwar tagein, tagaus.“
In einem Ruderclub vor den Toren Londons trafen
sich die Olympiasiegerin Katherine Grainger und der
„Technopreneur“ Ben Medlock. Ihr Thema: Was
braucht es, um ganz an die Spitze zu gelangen? Seite 32
4
Focus Potenzial
Interview
„Wir sehen eine starke
Parallele zwischen
Unternehmenswachstum
und persönlicher
Entwicklung.“
Integrität, Mut zur Veränderung, Teamfähigkeit und Engagement –
das sind die Eigenschaften, auf die Hilti, Spezialist für innovative Befestigungssysteme und Abbautechnik am Bau, bei seinen Führungskräften besonders achtet. Pius Baschera, Verwaltungsratsvorsitzender
des Weltkonzerns in Familienbesitz, schildert im Gespräch mit FOCUS,
wie Hilti-Potenzialträger identifiziert werden – und warum interne
Kandidaten dabei meist besser abschneiden als externe Führungskräfte.
Fotos: Matthias Ziegler
FOCUS: Hilti hat einen ausgezeichneten Ruf hinsichtlich seiner Kundenorientierung und Innovationskraft. Inwieweit ist das auf ein erfolgreiches Talent Management zurückzuführen?
Pius Baschera: Unsere Strategie unterscheidet sich
in diesem Punkt tatsächlich stark von der unserer
Wettbewerber. Innovation und direkter Zugang
zum Kunden sind wesentliche Bestandteile unseres
Talent Management und unserer Führungskräfteentwicklung. Wir brauchen Talente und Führungspersönlichkeiten, die zu unserer Strategie und
Kultur – den Grundfesten unseres Unternehmens –
passen. Unsere Organisation hat eine klar definierte Kultur, in der unternehmerisches Handeln im
Mittelpunkt steht. Damit geht einher, dass wir
an das persönliche Wachstum unserer Mitarbeiter
glauben. Das Unternehmen kann nur dann weiter
wachsen, wenn wir eine Atmosphäre und Möglichkeiten schaffen, in der unsere Mitarbeiter sich auch
als Individuen weiterentwickeln können. Wir sehen eine starke Parallele zwischen Unternehmenswachstum und persönlicher Weiterentwicklung.
Nach welcher Art Talent suchen Sie denn genau?
Ein wichtiges Kriterium ist natürlich die professi-
onelle Qualifikation. Das zweite ist definitiv die
Persönlichkeit. Wir erwarten von unseren Führungskräften, dass sie die Prinzipien guter Führung umsetzen, indem sie unsere Werte leben,
unternehmerisch handeln, dabei mutig sind, was
auch bedeutet, dass sie verantwortungsvoll Risiken eingehen. Unsere Unternehmenskultur gestattet Fehler, denn wir sind davon überzeugt, dass
wir alle aus Fehlern lernen können. Neue Erfahrungen helfen dem Einzelnen, als Persönlichkeit
zu reifen, und das Unternehmen wächst dabei mit.
Wie erkennen Sie solche Talente?
Das ist ein mehrstufiger Prozess. Als Erstes müssen wir ein Talent erkennen, wenn wir Mitarbeiter von außen einstellen. Der zweite Schritt beinhaltet die Potenzialentwicklung „on the job“.
Und drittens müssen wir die Mitarbeiter identifizieren, die für eine Karriere infrage kommen.
Vor zehn bis 15 Jahren etwa führten wir Gespräche
mit unseren 60 bis 100 besten Managern, um
herauszufinden, welche fachlichen und persönlichen Kompetenzen man mitbringen muss, um
bei Hilti mit seiner speziellen Kultur und Strategie erfolgreich zu sein. Ganz entscheidend ist, so
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6
Focus Potenzial
Interview
das Ergebnis, dass Kandidat und Unternehmenskultur gut zusammenpassen. Wir
haben außerdem die Werte definiert, für
die Hilti steht: Teamgeist, Integrität, hohes
Engagement und Mut zur Veränderung.
Diese vier Eigenschaften sind eng mit Unternehmergeist und Innovationsbereitschaft
verbunden. In unseren Einstellungsinterviews prüfen wir deshalb sehr genau, ob
ein Kandidat in unsere Unternehmenskultur passt.
Bedeutet dies, dass Sie vor allem darauf
setzen, junge Talente an Bord zu holen,
um diese dann intern zu entwickeln?
Es stimmt, dass wir rund 80 Prozent unserer gesamten Managementpositionen
intern besetzen. Wir stellen aber auf allen
Ebenen auch externe Mitarbeiter ein –
mit einer Ausnahme: Positionen auf der
obersten operativen Ebene, dem Executive
Board, besetzen wir nie extern. Auch in
der nächsten Führungsebene, dem erweiterten Managementteam, sind externe
Kandidaten rar, da wir auch hierfür fast
ausschließlich Führungskräfte aus den
eigenen Reihen auswählen. Ab der dritten
Ebene jedoch rekrutieren wir sehr wohl
von außen. Wir stellen weltweit jährlich
zwei- bis dreitausend Mitarbeiter auf allen
Ebenen unseres Unternehmens ein.
Wie stellen Sie fest, wer tatsächlich das
Zeug dazu hat, ganz an die Spitze zu
kommen?
Das ist zunächst eine Frage der Persönlichkeit und der Werte, dann eine von Geschäftsverständnis und fachlicher Expertise.
Danach klopfen wir den Kandidaten auf
seine Kernkompetenzen ab: Strategische
Kompetenz – erkennt er, was zu tun ist,
und kann er es klar definieren? Operative
Kompetenz – ist der Kandidat in der Lage,
Dinge zu erledigen und Ergebnisse zu erzielen? Teamfähigkeit – kann er gut mit
anderen zusammenarbeiten? Und ganz
wichtig – hat er die Fähigkeit, sich und
andere weiterzuentwickeln? Mit einem
Umsatz von über vier Milliarden Schweizer
Franken bei rund 21 000 Beschäftigten
sind wir wahrlich eine People Organisation. In einem solchen Umfeld braucht
man Führungskräfte, die den Fokus nicht
nur auf die eigene Weiterentwicklung legen, sondern auch auf die ihrer Mitarbeiter.
Wie sehen die Prozesse genau aus, mit
denen Sie Ihre Talente, deren Fähigkeiten und Kompetenzen evaluieren?
Wir setzen bei Hilti auf allen Ebenen
einen Prozess ein, den wir SMD, Strategic
Manpower Development, nennen. Der
Verwaltungsrat beispielsweise trifft sich
viermal im Jahr für jeweils zwei Tage. Auf
zwei dieser Sitzungen investieren wir jeweils einen halben Tag in SMD. Wir wählen
dafür die 25 bis 30 unserer Topführungskräfte aus und schauen uns, zusammen
mit den Mitgliedern der Konzernleitung,
jeden Einzelnen genau an. Wenn uns
zum Beispiel einer der Vorstände von der
außergewöhnlichen Entwicklung eines
Managers berichtet, dann geben wir uns
als Verwaltungsrat nicht mit allgemeinen
Bewertungen zufrieden, sondern erwarten
konkrete Beispiele für seine Fähigkeiten
in kultureller und ergebnisbezogener Hinsicht. Und wir fragen sehr genau nach, wie
sich ein High Potential in Bezug auf die
Entwicklung von Mitarbeitern verhält: Welche Leute hat er eingestellt? Wo arbeiten
sie jetzt? Hat er sie gut auf die Zusammenarbeit im bestehenden Team vorbereitet?
Und hat er Mitarbeiter so entwickelt, dass
auch diese befördert werden können?
Aber es hängt dabei doch sehr viel von
der subjektiven Meinung des direkten
Vorgesetzten ab …
Sehen Sie, unser Verwaltungsrat hat sieben Mitglieder, das Executive Board sechs.
7
„Wir konfrontieren
unsere High Potentials
mit Stretch Assignments – und beobachten
sie dabei.“
Es trägt zwar immer der direkte Vorgesetzte des betreffenden Managers vor, aber die
anderen zwölf Mitglieder haben diese Persönlichkeit ja meist ebenfalls bei verschiedenen Anlässen schon kennengelernt, so
dass wir darüber diskutieren können. Im
Ergebnis kommen wir zu einer gemeinsamen Einschätzung und planen, wie und
wohin das betreffende Talent entwickelt
werden könnte. Und ganz wichtig: Wir
unterhalten uns in diesem Zusammenhang
immer auch über mögliche Nachfolger.
Für jede unserer 30 Topführungskräfte
haben wir mindestens einen Nachfolger,
der sofort seine Position übernehmen könnte. Der Verwaltungsrat kümmert sich
also zweimal jährlich intensiv um die 30
bis 50 Toptalente, der Vorstand monatlich. Wenn das Executive Board zum Beispiel die Hilti-Niederlassung in einem
bestimmten Land besucht, werden die dort
per SMD identifizierten Talente eingeladen, ihre Projekte zu präsentieren. So lernen sich Vorstand und High Potentials
persönlich kennen. Wir investieren wirklich viel Zeit in diese wichtige Aufgabe.
Müsste die Suche nach den Talenten im
Unternehmen und deren Förderung nicht
schon viel früher beginnen?
Natürlich. Und das tun wir auch. Die Manager der zweiten Ebene bei Hilti – das sind
die Leiter unserer Regionen Nordamerika,
Lateinamerika, Asien und Europa sowie
die Chefs der wichtigsten Produktbereiche
und der zentralen Verwaltungsbereiche –
treffen sich viermal im Jahr für fast eine
Woche und besprechen dabei einen ganzen
Tag lang die Führungskräfte der ihnen direkt unterstellten Ebene. 27 Personen tauschen ihre Erfahrungen und Eindrücke miteinander aus und kommen dann zu einem
gemeinsamen Ergebnis. Sie geben jedem
der betreffenden Manager sehr offen Feedback und besprechen die weiteren Karriereschritte mit ihnen. Dieser Prozess kaskadiert durch das gesamte Unternehmen, so
dass wir am Ende sehr genau wissen, wo
sich die Talente unter unseren 21 000 Mitarbeitern befinden.
Aber wie stellen Sie nun fest, wer wirklich bereit ist für den nächsten Schritt?
Eigentlich ganz einfach – wir machen unseren High Potentials das Leben schwer.
Nein, im Ernst: Wir konfrontieren sie mit
anspruchsvollen Aufgaben, strategischen
Herausforderungen, Change-ManagementAufgaben oder einer Turn-around-Situation – sogenannten Stretch Assignments.
Dabei beobachten wir sie, achten besonders darauf, ob sie sich auch unter schwierigen Bedingungen konform zu unserer
Kultur und unseren Werten verhalten, tatsächlich Ergebnisse erzielen und ihre Mitarbeiter weiterentwickeln. Dabei zeigt sich
doch sehr deutlich, wer wirklich gut und
stark ist oder ob jemand nach oben gespült
worden ist, weil er bisher in „leichten Funktionen“ tätig war. Ich glaube, der effektivste Ansatz ist tatsächlich, unsere High Potentials besonders schwierigen Situationen
auszusetzen und sie dabei zu beobachten
und zu coachen.
Welche beruflichen Erfahrungen haben
zu Ihrer persönlichen Entwicklung
besonders beigetragen?
Wenn ich zurückdenke, dann gab es acht
oder neun Phasen in meinem Berufsleben.
Die wichtigste war wohl meine Zeit als
General Manager von Hilti Deutschland.
Ich war damals 35 Jahre alt, hatte 1979
nach dem Studium bei Hilti in Liechtenstein angefangen, war dann einige Jahre
in unserer US-Organisation tätig gewesen.
Meine erste Aufgabe als General Manager
bei Hilti übernahm ich in der Schweiz mit
rund 120 Mitarbeitern. Zehn Monate später wurde ich nach Deutschland befördert.
8
Focus Potenzial
Interview
Die damals größte Marketingorganisation
unseres Konzerns mit rund 1 200 Mitarbeitern befand sich in großen Schwierigkeiten. Ich übernahm die Verantwortung
zu einer Zeit, als die Hälfte des Managementteams entlassen worden war und wir
große Verluste einfuhren. Das war für mich
eine ganz wichtige Erfahrung, ein Stretch
Assignment, das seinen Namen wirklich verdiente. Die erste Prüfung kam bereits am
Ende der ersten Woche. Michael Hilti war
zu dieser Zeit für Europa verantwortlich
und somit für die Übergabe von meinem
Vorgänger zu mir. Wir saßen in der Eingangshalle der Deutschland-Niederlassung
und Michael sagte zu mir: „Ich bin frustriert von dem, was ich in dieser Woche gesehen habe. Es ist noch viel schlimmer,
als ich erwartet hatte.“ Er schaute mir in die
Augen und fuhr fort: „Sie sind noch sehr
jung, und ich könnte es verstehen, wenn Sie
diese Bürde nicht auf sich nehmen wollen –
Sie können auch zurück nach Schaan gehen. Wir würden Ihnen dort einen guten
Job anbieten. Es ist Ihre Entscheidung.“
Ich brauchte nur zwei Sekunden, um die
Herausforderung anzunehmen. Michael
versicherte mir, dass ich seine volle Unterstützung und sein vollstes Vertrauen hätte.
Und er hielt sein Versprechen. Unsere enge
Beziehung begann in diesem Moment. Wir
mussten ein neues Team aufbauen und
neue Leute einstellen. Mit ihnen zusammen
mussten wir eine Vision und eine neue Strategie entwickeln und sie dann auch umsetzen. Diese vier Jahre waren einfach fantastisch! Natürlich waren sie hart, aber ich
lernte dabei, zu tun, was nötig war, um wie
eine wahre Führungspersönlichkeit zu
handeln. Ich glaube, hätte ich diese Chance
nicht erhalten, säße ich heute nicht hier.
Sie betonen, wie wichtig Michael Hilti als
Mentor für Sie war. Brauchen alle Talente
die Unterstützung eines Mentors, um
sich beruflich weiterzuentwickeln?
Ich würde es andersherum ausdrücken.
Ich glaube, jede gute Führungspersönlichkeit hat mindestens einen Mentor. Jeder
talentierte Mitarbeiter hat einen Vorgesetzten, und der sollte auch der primäre
Mentor sein. Wir empfehlen unserem
Nachwuchs aber, sich neben dem Vorgesetzten auch nach anderen potenziellen
Mentoren umzusehen, denn jeder braucht
Feedback und Coaching.
Viele Führungskräfte versuchen, ihre
Toptalente an ihren eigenen Geschäftsbereich oder ihre Region zu binden.
Hilti_______________________________________________________________
1941 gründeten die Brüder Martin und Eugen Hilti die Maschinenbau
Hilti oHG in Schaan, Liechtenstein. Mit der Entwicklung eines Direktmontagesystems für die Bauindustrie gelang Hilti 1948 der wirtschaftliche Durchbruch. In den 50er Jahren weitete das Unternehmen seine
Geschäfte international stark aus – eine Entwicklung, die sich mit der
Erweiterung des Produktportfolios in den folgenden Jahrzehnten
fortsetzte. Der Einstieg in Schraubtechnologie und Bauchemie eröffnete
neue Geschäftsfelder. Hilti betreibt heute eigene Werke sowie F&EZentren in Europa, Asien und Lateinamerika. Der Nettoumsatz betrug
2012 rund 4,2 Milliarden Schweizer Franken. Hilti ist heute über einen
Trust vollständig in Familienbesitz. So sollen Fortbestand und Weiterentwicklung des Unternehmens langfristig gesichert werden.
9
Wie stellen Sie Transparenz her und
sichern einen regen funktions-, bereichs- und standortübergreifenden
Austausch?
Es gibt keine Transparenz, wenn nur der
jeweilige Vorgesetzte seine Mitarbeiter
beurteilt und alle Entscheidungen allein
trifft. Deshalb beurteilen wir unsere Mitarbeiter in einem funktionsübergreifenden Team. Wir bringen die insgesamt sechs
Mitglieder der Konzernleitung und die
ihnen direkt unterstehenden 21 Topführungskräfte zusammen – die Leiter der verschiedenen Regionaleinheiten der wichtigsten Produkt- und Funktionsbereiche des
Konzerns – ein wahrlich interdisziplinäres
Team. Es gibt zum Beispiel ein Meeting, wo
wir uns auf unsere Marketingtalente aus
allen Winkeln der Welt konzentrieren. Dieses Verfahren replizieren wir für alle anderen Funktionen. Ein Team aus engagierten
und leidenschaftlichen Führungskräften
nimmt also gemeinsam die Bewertung vor
und sorgt dafür, dass der Prozess international ist und alle Funktionen abdeckt.
Hat sich Ihr Prozess zur Identifizierung
und Förderung von Talenten in den
letzten Jahren stark verändert?
Mitarbeiterentwicklung und Talentförderung waren immer schon wichtige Themen für unsere Konzernleitung – sie sind
praktisch Teil der Hilti-DNA. Doch vor 20
Jahren war der Prozess noch nicht sehr
strukturiert, was wir während meiner Zeit
als CEO änderten. In der damals vierköpfigen Konzernleitung waren wir uns vollkommen einig. Wir wussten genau, worauf
wir achten wollten und welche Eigenschaften eine starke Führungspersönlichkeit
bei Hilti haben sollte. Das war also kein
Problem. Aber als wir diese Führungskriterien mit den Topmanagern auf der
nächsten Ebene diskutierten, mussten
wir leider feststellen, dass unsere Ansichten sehr weit voneinander abwichen.
Deshalb begannen wir, hier mehr Transparenz zu schaffen, klare Standards zu
definieren und ein gemeinsames Verständnis für die Anforderungen und Beurteilungsmethoden zu entwickeln.
Sie haben ja bereits betont, wie wichtig
die Hilti-Kultur für die Unternehmensentwicklung ist. Was tun Sie, um diese
selbst voranzutreiben?
Unsere Unternehmenskultur ist in der Tat
einer der Erfolgsfaktoren bei Hilti, und
wir investieren sehr stark in entsprechende Schulungen und Weiterentwicklungen.
Wir sind fest davon überzeugt, dass unsere
Unternehmenskultur die Basis für den
dauerhaften Erfolg von Hilti ist. Alle 18 Monate nehmen unsere 21 000 Mitarbeiter
in ihren Teams an einem dreitägigen Kulturtraining teil. Und alle zwei Jahre entwickeln wir neue Inhalte für dieses Trainingscamp, um unsere Unternehmenskultur voranzutreiben. Wir beschäftigen
weltweit 75 interne Coachs, die die Camps
durchführen. Das Hauptthema unseres
letzten Camps war Kundenorientierung –
ein wichtiges Anliegen bei Hilti. An einem
solchen Camp nehmen nicht nur unsere
Vertriebsleute teil, sondern alle Funktionen.
Gemeinsam diskutieren sie dann, wie sie
unsere Kundenorientierung weiter stärken und ausbauen können. Somit entwickelt sich unsere Unternehmenskultur
evolutionär weiter.
Menschen im Fokus: Eine
fortlaufende Projektion in
der Firmenzentrale zeigt
Hilti-Mitarbeiter aus allen
Standorten weltweit.
Wenn Sie Mitarbeiter als High Potentials
ausweisen, wecken Sie aber doch auch
hohe Erwartungen bei ihnen und gehen
das Risiko ein, dass sie ungeduldig werden und ihr Glück anderswo versuchen.
Wie binden Sie Ihre Mitarbeiter an Hilti?
Wir bleiben in ständigem, intensivem
Kontakt mit unseren High Potentials,
sprechen mit ihnen über ihre beruflichen
Vorstellungen und geben ihnen Feedback
zu ihrer Entwicklung. Wir bauen Vertrauen auf, damit sie immer wissen, dass sie
auf dem richtigen Weg sind und wir sie bei
ihrem weiteren Werdegang unterstützen.
Dabei halten wir aber auch mit konstruktiver Kritik nicht hinter dem Berg, wenn
nötig. 2006, während meiner Zeit als CEO,
durchlebte die Konzernleitung einen starken Wandel. Die vier damaligen Mitglieder
arbeiteten schon seit 13 Jahren zusammen,
aber drei von ihnen sollten 2005 und 2006
gemäß unseren Ruhestandsregelungen
planmäßig ausscheiden. Es oblag uns nun
also, Nachfolger zu benennen. Mehr als
zehn Jahre hatten wir High Potentials in
verschiedenen Funktionen im Unternehmen eingesetzt und sie beobachtet. 2005
konnten wir dann dem Verwaltungsrats
sechs interne Kandidaten für die frei werdenden Positionen vorschlagen. Der Verwaltungsrat wählte drei von ihnen aus. Von
den anderen dreien blieb einer bei Hilti,
der zweite ist mittlerweile COO eines großen Unternehmens und der dritte gründete seine eigene Firma. Was sagt uns das?
Wir möchten lieber zu viele als zu wenige
Talente im Unternehmen haben. Wir bevorzugen es, unsere Talente intern zu fördern, denn Mitarbeiterentwicklung ist
10
Focus Potenzial
Interview
Pius Baschera ___________________
Pius Baschera wurde 1950 in der
Schweiz geboren und studierte
Maschinenbau und Betriebswirtschaft an der Eidgenössischen
Technischen Hochschule (ETH)
in Zürich. Nach dem Diplom
promovierte er in Ingenieurwissenschaften. 1979 trat er als
Leiter Produktionscontrolling
in die Hilti AG ein. Bevor er
1994 die Position als CEO von
Michael Hilti, Sohn des Firmengründers Martin Hilti, übernahm, war er in verschiedenen
Managementpositionen im
Unternehmen tätig. 2007 wurde
Baschera zum Vorsitzenden
des Verwaltungsrats der HiltiGruppe gewählt. Zudem ist er
Mitglied des Verwaltungsrats
der F. Hoffmann-La Roche Ltd.
in Basel und der Schindler-Gruppe in Hergiswil sowie Mitglied
des Beirats der Vorwerk & Co. KG
in Wuppertal und der Ardex
GmbH in Witten. Außerdem ist
er Präsident des Verwaltungsrats
der Venture Incubator AG in
Zug und seit 2007 Professor für
Unternehmensführung an der
ETH in Zürich.
eine Leidenschaft, keine Aufgabe, und bei
Hilti ist diese Leidenschaft sehr ausgeprägt.
Aber es gibt doch sicherlich auch Fälle,
in denen ein vermeintliches Talent
versagt. Wie gehen Sie damit um?
Ja, natürlich, das kann auch bei Hilti passieren. Aber in den meisten Fällen ist das
keine Frage der Leistung oder der Fähigkeiten, sondern der Persönlichkeit oder
des Verhaltens.
Würden Sie also einem internen Kandidaten mit etwas weniger Erfahrung den
Vorzug vor einem externen mit nachgewiesenen Leistungen geben?
Ja, wenn der interne Kandidat genügend
Entwicklungspotenzial hat. Wir stellen
niemanden für einen Job ein, sondern für
eine Karriere. Wenn wir also einen Kandidaten für eine Führungsposition auswählen, dann überlegen wir auch, ob er in der
Lage ist, einen Schritt oder mehrere Schritte weiter nach oben zu gehen. Wenn wir
Mitarbeiter nur mit dem Ziel einstellen
würden, sie ausschließlich für einen bestimmten Job einzusetzen, und diese Mitarbeiter auch nur für diesen einen Job in
Frage kämen, dann blockierten wir unsere
Karriereleiter. Im Hinblick auf unsere Managementpositionen brauchen wir Raum,
damit sich unsere Talente weiterentwickeln können. Wir müssen genügend Aufstiegsmöglichkeiten bereithalten können.
Inwiefern haben sich die Vorstellungen
Ihrer High Potentials in den letzten Jahren verändert? Stichwort: Generation Y.
Wir beobachten nur wenige Veränderungen. Eine betrifft die Work-Life-Balance,
die für viele Mitarbeiter wichtiger geworden ist. Ein weiteres Thema ist die soziale
Verantwortung des Unternehmens – ein
Aspekt, der für immer mehr junge Leute
wichtig ist. Sie möchten wissen, ob das
Unternehmen auch über seinen eigenen
Tellerrand hinausschaut und nicht nur
darauf achtet, dass die Zahlen stimmen.
Die Hilti Foundation beispielsweise engagiert sich in den Bereichen Soziales sowie
Kultur und Bildung. Die junge Generation
schätzt ein solches Engagement sehr. Ein
dritter Wandel vollzieht sich im Bereich
Kontinuität. Die jungen Talente halten Unternehmen, die langfristig denken und
planen, für wesentlich attraktiver als solche
mit einer Quartalsmentalität. Ich will nicht
behaupten, dass es nicht auch junge Leute
gibt, die sich von solchen kurzfristigen
Erfolgen angesprochen fühlen, aber wir
merken, dass sich viele bei uns bewerben,
weil sie von unserer starken Unternehmenskultur und unserer langfristigen Ausrichtung gehört haben. Zuverlässigkeit
und Nachhaltigkeit sind für viele Menschen, die zu uns kommen, sehr wichtig,
wichtiger als vor 20 Jahren.
Welchen Rat würden Sie jungen Talenten mit auf den Weg geben?
Zuallererst müssen Sie mit Leidenschaft
bei der Sache sein. Ohne Leidenschaft ist
Karriere kaum möglich. Zweitens, seien
Sie authentisch. Das rate ich sowohl den
Studierenden als auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier im Unternehmen. Ich kann mich an keinen Tag in meinen 34 Jahren bei Hilti erinnern, an dem
ich es leid war, für diese Firma zu arbeiten.
Es gab natürlich Tage, an denen wir erhebliche Probleme zu lösen hatten, aber es war
immer ein Ort, an dem ich gern war. Warum? Weil ich in dieser Firma authentisch
sein kann. Meine Werte und meine Art,
an die Dinge heranzugehen, stehen im Einklang mit der Unternehmenskultur von
Hilti. Wenn Sie also nicht in eine Unternehmenskultur passen sollten, dann arbeiten
Sie nicht für diese Firma. Drittens, denken
Sie über Ihre Karriere nach, entwickeln Sie
eine Vision, wo Sie in fünf oder zehn Jahren
stehen möchten, und sprechen Sie offen
mit Ihrem Vorgesetzten darüber. So erhalten Sie Feedback, wie Ihr Vorgesetzter Sie
wahrnimmt und ob Ihre beruflichen Ziele
durchsetzbar sind. Und viertens – aber
das ist Hilti-spezifisch – benötigen Sie zwei
Dinge, um hier bei uns erfolgreich zu sein:
Ihre Leistungen müssen herausragend
sein, nicht nur einmal, sondern immer. Und
Sie müssen Ihre Mitarbeiter fördern. Eins
von beiden allein reicht nicht. Sie müssen
beides beherrschen.
Das Interview mit Pius Baschera führten Philippe
Hertig, Egon Zehnder, Zürich, und Nina
Peters, Egon Zehnder, Schweden, in Schaan.
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12
Focus Potenzial
Executive Survey
Wer wird führen?
Angesichts wachsender Komplexität und eines sich
rasant wandelnden Unternehmensumfelds sind mutigere
Ansätze in der Förderung von High Potentials nötiger
denn je – so lautet die zentrale Erkenntnis des 13. International
Executive Panel zum Thema Führungspotenzial.
Das Führungstalent der Zukunft – dieses Thema stand im Mittelpunkt einer Befragung, die Egon Zehnder
im Sommer 2013 unter Top Executives aus aller Welt durchgeführt hat. In der Stimmungslage der
823 Befragten überwiegt die Skepsis: Weniger als ein Viertel von ihnen sind der Ansicht, dass die Pipeline
für den Führungsnachwuchs derzeit hinreichend gefüllt ist. Eine überwältigende Mehrheit von 87 Prozent fordert vor allem mehr Mut bei der Entwicklung von Toptalenten. Persönlichkeitsmerkmale wie
Agilität und Überzeugungskraft, so das Gros der Befragten, seien bei der Beurteilung zukünftiger
Leistungsträger von größerer Relevanz als die Konzentration auf bisherige oder aktuelle Leistungen.
Die vollständigen Studienergebnisse finden Sie unter www.egonzehnder.de/iep-potenzial
Wie bewerten Sie die FührungskräftePipeline in Ihrem Unternehmen?
22 %
Äußerst vielversprechend/
Sehr gut
2 %
Keine Meinung
Wie einfach/schwierig ist es für Ihr Unternehmen,
die besten Talente zu gewinnen?
30 %
Anlass zur Sorge/
Äußerst unzureichend
46 %
Vielversprechend/Gut
Talentpools bei Weitem nicht gefüllt
19 %
48 %
32 %
1 %
(Sehr) einfach
Mit Aufwand
verbunden
(Sehr) schwer
Keine Meinung
Der Pegelstand der Pipeline für künftige Führungskräfte
in ihrem Unternehmen stimmt nur gut ein Fünftel der
befragten Führungskräfte optimistisch. Fast ein Drittel
sieht die Leitung unzureichend gefüllt – und berichtet
gleichzeitig über erhebliche Schwierigkeiten, die besten
Talente für ihr Unternehmen zu gewinnen.
13
Wie bewerten Sie die folgende Aussage:
„Der Erfolg einer Führungskraft lässt sich heute deutlich
schwerer vorhersehen als noch vor fünf Jahren.“
Erfolgsaussichten junger Führungskräfte
immer schwerer vorhersehbar
32%
Stimme nicht zu
7 %
Keine Meinung
61 %
Die große Mehrheit der Befragten geht davon
aus, dass sich angesichts einer zunehmenden
Komplexität sowie der Unsicherheit im Unternehmensumfeld auch die Anforderungen an
Führungskräfte immer schneller ändern werden.
Fast zwei Drittel sind daher der Meinung, dass
sich der zukünftige Erfolg einer Führungskraft
heute deutlich schwerer prognostizieren lässt
als noch vor fünf Jahren.
Stimme zu
Identifizierung von Führungspotenzial wichtiger denn je
Nur 16 % der Befragten glauben, dass bisher gezeigte Leistungen der
beste Indikator für den Erfolg in einer neuen Rolle sind. Die Unternehmen müssen lernen, das Potenzial von Führungskräften besser
zu erfassen und einzuschätzen: Wer kann deutlich größere und
komplexere Aufgaben übernehmen? Die befragten Executives sind
fast durchweg der Meinung, dass für eine solche Beurteilung Persönlichkeitsmerkmale ein wichtigeres Kriterium sind als erworbene
Qualifikationen und Wissen. Besonders hoch im Kurs stehen Agilität,
Überzeugungskraft und ein ganzheitliches Führungsverständnis.
Stimme zu/Stimme nicht zu:
„Qualifikationen und Wissen kann man sich aneignen;
Persönlichkeitsmerkmale machen den Unterschied zwischen
(nur) gut und hervorragend aus.“
87 11 %
%
Stimme zu
Ergebnisse basierend auf Auskünften von 823 Teilnehmern.
Angaben in Prozent.
Quelle: IEP zum Thema Potenzial 2013
Was hat – im Rückblick auf Ihre bisherige Karriere –
am stärksten zur Entwicklung Ihres Potenzials
beigetragen? (Mehrfachnennungen möglich)
2 %
Stimme nicht zu
Keine Meinung
Mehr Kreativität, mehr Mut!
Rund neun von zehn Führungskräften (87 %) fordern mehr Kreativität und Mut bei der Entwicklung von Toptalenten in Unternehmen. Auf die
Frage, was ihnen bei der Freisetzung ihres eigenen
Potenzials am meisten geholfen hat, nennen
die Führungskräfte oftmals sogenannte Stretch
Assignments – also herausfordernde Aufgaben
in unbekannten Bereichen.
71 %
49 %
Stretch
Jobrotation
Assignments
49 %
17 %
12 %
Persönlicher
Mentor
Freiwillige
Arbeit
Professionelles
Talentmanagementsystem
14
Focus Potenzial
Keynote
Trauen Sie sich,
nicht der Beste zu sein?
Die Ausschöpfung
des persönlichen
Potenzials erfordert,
sich auf Unbekanntes
einzulassen.
Von Herminia Ibarra
15
Je erfolgreicher wir sind, desto anfälliger
werden wir für unflexible Sichtweisen im
Hinblick auf unsere Arbeit und – noch
wichtiger – im Hinblick auf uns selbst. Der
Erfolg steht unserem Potenzial im Wege.
Aus dieser Falle kommt man nur schwer
heraus, da die Alternativen selten klar ersichtlich sind und viel auf dem Spiel steht.
Warum wachsen manche Führungskräfte kontinuierlich an ihren Aufgaben, entfalten sich und
meistern immer schwierigere Herausforderungen,
während ebenso fähige Kollegen jahrelang in
Jobs ihre Zeit vergeuden, die sie auch im Schlaf
erledigen könnten? Meine Untersuchungen wie
Menschen sich am Arbeitsplatz neu definieren,
haben einige eindeutige Antworten auf diese Frage erbracht; andere fielen dagegen jedoch recht
widersprüchlich aus.
Zum Beispiel kann Erfolg uns darin hindern,
unser Potenzial wirklich auszuschöpfen. Warum?
Menschen neigen dazu, immer wieder das zu tun,
was sie gut können. Wir geben unseren erwiesenen Stärken den Vorzug, weil wir davon ausgehen
können, angestrebte Ziele auch zu erreichen. Umgekehrt tendieren wir dazu, uns nicht für Dinge
zu engagieren, die wir gegenwärtig (noch) nicht
beherrschen. Dies hat zur Folge, dass wir nie gut
genug werden, um entsprechende Herausforderungen zu meistern – und deshalb bei der Überzeugung bleiben, dass solche Unterfangen reine
Zeitverschwendung sind. Manager, die hauptsächlich wegen herausragender operativer Leistungen Karriere machen, übernehmen häufig auch
dann noch operative Aufgaben, wenn sie diese
längst delegieren könnten. Diese Manager sind
so sehr mit der Frage „Wie kann ich meine Arbeit
noch besser machen?“ beschäftigt, dass ihnen
kaum Zeit bleibt, sich zu fragen: „Könnte ich auch
etwas anderes machen?“ Das Problem besteht
also nicht darin, dass wir nicht in der Lage wären,
uns neue Kenntnisse anzueignen und unsere Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln –
was natürlich Grundbedingung für die Ausschöpfung unseres Potenzials ist –, sondern darin, dass
wir nicht in vollem Umfang verstehen, wie wertvoll das Betreten unbekannten Terrains ist.
Diese Denkhaltung hält sich beharrlich – und
war noch nie so hinderlich wie heute. Wirtschaftsumfelder verändern sich heute schnell und tief
greifend. Das hat zur Folge, dass sich auch die Erwartungen an Führungskräfte kontinuierlich
verändern, selbst wenn Stellenbezeichnung und
Verantwortungsbereich auf dem Papier gleich bleiben. Das
Resultat? Viele Menschen werden immer besser im falschen Job,
da sie nicht aktiv bemüht sind, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Doch selbst wenn Sie selbst sich in der eher
ungewöhnlichen Situation befinden, dass Veränderungen des
Umfelds keine große Bedeutung haben, kann eine zu starke Konzentration auf frühere Erfolgsfaktoren Sie daran hindern, in
der Zukunft neue, wichtigere und erfüllendere Aufgaben zu übernehmen. Der Todesstoß für unser Potenzial besteht darin, dass
wir uns Ziele setzen, die auf vergangenen Leistungen aufbauen,
und uns nicht im Klaren darüber sind, dass es gilt, immer neue
Ziele zu finden.
Erst handeln, dann denken
Wie setzt man sich neue Ziele? Richard Pascale hat weise festgestellt: „Erwachsene kommen eher durch Handeln zu einer neuen
Denkweise als durch Denken zu einer neuer Handlungsweise.“
Wenn Sie jemals bei einer neuen Aufgabe ins kalte Wasser geworfen wurden und Aufgaben übernehmen mussten, mit denen
Sie nicht vertraut waren, dann wissen Sie, dass Pascale Recht hat:
Ungewohnte Herausforderungen meistern zu müssen, hat Sie
vermutlich spürbarer und nachhaltiger verändert, als bloßes Sitzen
und Nachdenken dies je vermocht hätten. Nicht Reflexionen,
sondern Erfahrungen haben die Kraft, unser Weltbild neu zu
formen und unsere Vorstellung davon zu verändern, zu was wir
fähig sind und was zu tun sich lohnt. Trotzdem greifen viele
Menschen bei der Definition neuer Ziele auf die Selbstanalyse
zurück – ein Ansatz, der von Natur aus die Einschätzung des
eigenen Potenzials einschränkt.
Wenn Sie sich schnell und dynamisch weiterentwickeln möchten, dann müssen Sie der Selbstanalyse Taten folgen lassen.
Wechseln Sie als erstes das Umfeld und suchen Sie die Interaktion
mit vielen unterschiedlichen Menschen. Lassen Sie es zu, dass
die neuen, herausfordernden Erfahrungen und Resultate die gewohnten Denkmuster verändern, die derzeit noch Ihre Grenzen
definieren. Erst dann sollten Sie neue Ziele setzen.
„Außenansichten“ suchen
Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten von uns,
wenn wir uns selbst überlassen sind, Netzwerke aus Gleichgesinnten vorziehen. Wir bevorzugen die Zusammenarbeit mit Leuten, die wir bereits kennen. Neue Ideen präsentieren wir lieber
den üblichen Verdächtigen und ignorieren oder missachten die
Sichtweisen von Menschen außerhalb unseres vertrauten Kreises.
Ein Teil des Fortbildungsprogramms „The Leadership Transition“,
das ich am INSEAD unterrichte, besteht darin, dass jeder Teilnehmer analysiert, mit wem er regelmäßig kommuniziert und wen
er um Rat fragt. Diese Analysen zeigen jedes Jahr aufs Neue, dass
die Teilnehmer fast ausschließlich mit Leuten zu tun haben, die
ihnen in ihrem aktuellen Job helfen können – und mit nahezu
niemandem, der sie anspornt, sich und ihre Tätigkeit neu zu definieren und ihr Potenzial besser auszuschöpfen.
16
Focus Potenzial
Keynote
Weg mit falschen Barrieren
Nachdem die Analyse diese Tatsache eindeutig unterstrichen
hat, ermutige ich Führungskräfte, aktiv „Außenansichten“ – also
neue, ihnen bisher unbekannte Standpunkte – einzuholen, um
ihre Perspektive tatsächlich zu erweitern. In Wahrheit kann man
nur dann ein strategisches Gespür für die eigene Entwicklung
und seinen zukünftigen Platz in der Welt entwickeln, wenn man
sich über lieb gewonnene und bequeme Grenzen hinwegsetzt
und mit Menschen Ideen austauscht, die die Herausforderungen,
vor denen man steht (oder bald stehen wird), aus einem völlig
anderen Blickwinkel betrachten.
Den Mut haben, nicht der Beste zu sein
Die Erweiterung des eigenen beruflichen Netzwerks erfordert viel
Mut – und noch mehr Mut wird benötigt, wenn man sich Herausforderungen stellen will, bei denen frühere Erfolge für das eigene
Selbstbewusstsein wertlos sind. Trauen Sie sich, nicht der Beste
zu sein?
Bei seiner derzeitigen Tätigkeit Höchstleistungen zu erbringen,
ist ganz ohne Zweifel sehr wichtig. Doch die Forschung hat gezeigt, dass eine zu starke Konzentration auf die Erfüllung aktueller
Ziele dazu führt, dass man hauptsächlich Dinge tut, von denen
man weiß, dass man darin gut ist. Oftmals sind das aber nicht notwendigerweise die Fähigkeiten, die in der nächsten Position oder
in einem sich verändernden Umfeld gefragt sind. Die Alternative?
Stellen Sie bei Ihrer täglichen Arbeit nicht nur die Erfüllung
bestehender Ziele in den Vordergrund, sondern schaffen Sie sich
genügend Freiraum für das Experimentieren in Bereichen, in
denen Sie Ihre Kompetenz noch nicht unter Beweis gestellt haben.
Zu den bewährten Taktiken gehören das Engagement in Wirtschaftsverbänden, gemeinnützige Arbeit in Tätigkeitsfeldern, die
sich nicht mit den erwiesenen Stärken decken (Sie könnten sich
beispielsweise im Fundraising versuchen), oder der Eintritt in ein
Cross-Functional-Team Ihres Unternehmens. Aber warum hier
schon aufhören? Strengen Sie noch ein wenig mehr an. Wenn Sie
sich selbst in Situationen begeben, in denen niemand eine vorgefasste Meinung über Sie und Ihre Fähigkeiten hat, dann haben
Sie eher die Freiheit, sich in verschiedenen Rollen zu testen. Jede
neue Herausforderung ist ein Anfang bei null. Manchmal werden
Sie zu kämpfen haben oder sogar scheitern – doch das, was Sie
über sich und Ihre versteckten Fähigkeiten lernen, wird Ihnen die
Augen öffnen und den Effekt nur verstärken. Neue Erfahrungen
werden Ihr Selbstbild beeinflussen und Sie gleichzeitig empfänglicher machen für unbekannte Herausforderungen, die Sie wiederum weiter verändern können. Auf diese Weise werden Sie sich
immer neu und ganz ohne Scheuklappen damit auseinandersetzen, was Sie zum Großen und Ganzen beitragen können und
wollen. Erst dann sind Sie wirklich bereit für neue Ziele.
Wenn man auf „Außenansichten“ setzt und den Mut aufbringt,
nicht der Beste zu sein, ist das Festlegen neuer Ziele nicht länger
ein alljährliches Ritual der Selbstreflexion, sondern entwickelt sich
zu einem kontinuierlichen Prozess, bei dem man sich immer weiter nach oben streckt. Grundlegend dafür sind Wissen und Selbstbewusstsein – beides kann man nur durch intensive und vielseitige praktische Erfahrungen erlangen.
Aus der oben beschriebenen Perspektive betrachtet,
lässt sich schnell erkennen, dass viele Unternehmen ihre Führungspersönlichkeiten ungewollt
bremsen. Das Ziel der meisten Entwicklungsprogramme besteht darin, Führungskräfte im Erkennen und effektiven Einsatz ihrer wichtigsten
Stärken zu unterstützen. Die damit einhergehenden positiven Leistungsbeurteilungen, Gehaltserhöhungen und Beförderungen basieren darauf,
wie nachhaltig sich Führungskräfte für ihre aktuellen Zielvorgaben und deren Erfüllung engagieren.
Selbstverständlich ist das ein wirksames Vorgehen, um herausragende Einzel- und Unternehmensleistungen zu erzielen. Doch wie sieht es
mit der Ausschöpfung des tatsächlich vorhandenen
Potenzials aus? Der oben beschriebene Prozess
setzt ein kontinuierliches Überdenken voraus: Seine
Arbeit überdenken. Sich selbst überdenken. Die
eigenen Ziele überdenken. Und zwar kontinuierlich
und in allen Bereichen. Das ist anstrengend –
auch ohne Systeme und Vorgesetzte, die einen drängen, sich ans „Drehbuch“ zu halten. Wenn junge
Führungskräfte mit dem Ausbau ihres Netzwerks
beginnen und nach neuen Erfahrungen Ausschau
halten sollen, die für ein erfolgreiches Überdenken
notwendig sind, fühlen sie sich dabei oft unwohl.
Eine innere Stimme protestiert: „Ich bin doch kein
Schwafler, der herumläuft und jeden kennen
lernen will.“ Oder: „Natürlich hört sich direkter
Kundenkontakt interessant an. Aber ich weiß einfach, dass ich hinter den Kulissen besser aufgehoben bin.“ Das etablierte Bild unserer Person und
unserer Arbeit kann sich zu einem starken Schutz
vor einer bedeutsamen persönlichen und beruflichen Entfaltung entwickeln.
Vielen Unternehmen muss man jedoch zugutehalten, dass sie sich sehr dafür einsetzen, jungen
Führungspersönlichkeiten solche falschen Barrieren aus dem Weg zu räumen. Dies geschieht vor
allem, indem sie Jobrotationen fördern. Junge Führungskräfte können sich so unvermittelt in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern oder Ländern
wiederfinden, in denen sie entweder im Linienund Mitarbeitermanagement ihr Können unter
Beweis stellen oder bei eingeschränkter direkter
Verantwortung in einer Matrix-Organisation führend tätig werden müssen. Im besten Fall zwingen
solche Rotationen aufstrebende Führungspersönlichkeiten, neue Netzwerke, neue Interaktionen
und neue Erkenntnisse zu suchen, die befreiend
wirken und ihre Denkmuster und ihr Selbstbild
erweitern. Allerdings haben nur relativ wenige
junge Führungskräfte Zugang zu solchen radikalen neuen Erfahrungen. Die meisten verbringen
den Großteil ihrer Zeit mit dem, was sie eben am
besten können – und mit wenig anderem. Wenn
Foto: Roberto Frankenberg
17
Herminia Ibarra _____________________________________________
Herminia Ibarra ist Professorin für Organizational Behavior
und „The Cora Chaired Professor of Leadership and Learning“
am INSEAD, Paris. Vorher lehrte sie 13 Jahre lang an der
Harvard Business School. Professorin Ibarra ist Expertin für
Führungskräfteentwicklung und hat zahlreiche Beiträge in
renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht. Die gebürtige
Kubanerin erhielt ihren Master of Arts und ihren Ph. D. an
der Universität Yale, wo sie National Science Fellow war.
Übernehmen Sie Verantwortung
Unternehmen sich dieser Tatsache bewusst werden, sollten sie
sich fragen: „Wie viel Potenzial lassen wir eigentlich brachliegen?“
Mentoring-Programme könnten ebenfalls viel stärker dazu
beitragen, aufstrebende Führungspersönlichkeiten bei der Ausschöpfung ihres Potenzials zu unterstützen, als dies im Augenblick der Fall ist. Viele Mentoren beschränken ihre Rolle darauf,
ihren Schützlingen dabei zu helfen, Stärken zu erkennen und
effektiv einzusetzen. Folglich ist ihre Sichtweise recht begrenzt.
Sie ermutigen die Mentees, ihren eigenen Stil zu entwickeln und
herauszufinden, „wo es hingehen soll“, um dann die einzelnen
linearen Schritte festzulegen, die den Schützling zum Ziel führen.
Selten gibt es Mentoren, die ihre Mentees drängen, sich gezielt
auf Unbekanntes einzulassen. Es scheint, als hätten erfolgreiche
Senior Leader ganz vergessen, welche Erfahrungen sie selbst auf
dem Weg nach oben gemacht haben – insbesondere in Situationen, in denen sie kein Land mehr sahen, sich selbst durchbeißen
mussten und dabei ihre wertvollsten Erfahrungen sammelten.
Natürlich ist es wichtig, einen Karriereplan zu definieren, der
auf den eigenen, nachgewiesenen Stärken beruht. Doch darüber
hinaus können Mentoren ihren Mentees dabei helfen, ihr Potenzial
besser zu entfalten, indem sie ihnen provokative Fragen stellen
und sie auf diese Weise zwingen, ihre Schutzzone zu verlassen:
„Was verändert sich bei der Arbeit, die Sie zurzeit ausüben?“, „Was
unternehmen Sie, um sich anzupassen?“, „Was machen Sie momentan, das Sie vorher noch nie gemacht haben?“, „Worauf achten
Sie und weshalb?“, „Haben Sie genug Informationen, um die übergreifenden Zusammenhänge Ihrer Arbeit zu verstehen? Und die
unserer Branche? Und unseres Wirtschaftssystems? Und der Welt?“
Mentoren können den ihnen anvertrauten Führungskräften zeigen, wie man ein wirklich effektives Netzwerk aufbaut, und sie ermutigen, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen. Wenn
mehr Mentoren der Überzeugung wären, dass die aktive Nutzung
des eigenen Talents kein „Extra“ ist, sondern ein essenzieller Bestandteil der Aufgaben jeder aufstrebenden Führungspersönlichkeit, dann würden sich mehr Schützlinge zu strategisch versierten, vielseitigen und selbstsicheren Führungskräften entwickeln.
Im Zeitalter der Ressourcenknappheit hat sich ein
großer Teil der Verantwortung für die Weiterentwicklung von Führungspotenzial vom Unternehmen zum Einzelnen verlagert. Kleinere Budgets,
weniger Programme, der zunehmende Druck, sofort Ergebnisse zu liefern, unsichere Arbeitsplätze
und weniger Freizeit scheinen uns davon abhalten zu wollen, herauszufinden, wer wir sein und
was wir erreichen könnten.
Gleichzeitig werden wir in unserem Arbeitsumfeld immer häufiger mit der Perspektive
(und oft der Realität) radikaler Veränderungen
konfrontiert. Sich einfach auf dem jetzigen Posten mitziehen zu lassen, so als sähe das Morgen
genauso aus wie das Heute, könnte einem als
sichere Strategie erscheinen. Aus objektiver Sicht
zeigt sich jedoch, dass dies eine ziemlich gefährliche Herangehensweise ist.
Was können Sie tun, wenn Sie Stillstand ablehnen, Ihnen Ihr Unternehmen jedoch nur beschränkte Möglichkeiten zur Selbsterforschung
und Entwicklung bietet? Da gibt es nur eine Antwort: Übernehmen Sie die Verantwortung für
Ihr Potenzial! Sehen Sie ein, dass große Veränderungen in Ihrer Rolle sich nicht immer in Form
einer neuen Stellenbezeichnung ankündigen. Seien
Sie wachsam und achten Sie darauf, was in Ihrem
Umfeld passiert. Erweitern Sie Ihr Netzwerk, um
Ihren Bezugsrahmen weiter zu stecken. Stellen
Sie sich ganz neuen Herausforderungen, die Ihnen
die Freiheit geben, zu erfahren, was Sie als Führungskraft wirklich leisten können. Gehen Sie dorthin, wo Sie nicht genau wissen, was auf Sie zukommt oder wie Sie die Situation meistern. Lassen
Sie sich darauf ein und sehen Sie, was passiert.
Das erfordert Engagement und Mut. Doch
wenn Sie selbst Ihr Führungspotenzial nicht ausschöpfen, wer dann?
18
Focus Potenzial
19
Begegnung
„Wenn ich die Flamme
immer wieder aufs Neue
entzünden muss, bekomme
ich schlechte Laune.“
Die Virtuosin und Hochschullehrerin Julia
Fischer über künstlerische Anlagen und die
Frage, wie sie sich entwickeln lassen.
Begeisterung und Leidenschaft
sind die Voraussetzungen, um
eine musikalische Hochbegabung
zu entfalten. Um jedoch eine
langfristige Karriere aufzubauen,
braucht es Persönlichkeit. Die
weltberühmte Geigerin Julia
Fischer, die schon mit 23 Jahren
eine Professur erhielt und heute
an der Hochschule für Musik
in München lehrt, lud FOCUS ein,
an einer ihrer Unterrichtstunden teilzunehmen. Brennen, um
andere zu entzünden – Julia
Fischer zeichnet ein klares Bild
davon, in welchem Verhältnis
Begabung, Disziplin und Leidenschaft stehen müssen, um
zur Weltspitze vorzudringen.
Fotos: Sigrid Reinichs
FOCUS: Frau Fischer, Ihr Wechsel von der
Schüler- in die Professorenrolle liegt ja
noch nicht lange zurück. Wann war für
Sie klar, welchen Weg Sie gehen würden, und wann fanden Sie zu einem Selbstvertrauen in Ihre Möglichkeiten?
Julia Fischer: Solange ich zurückdenken
kann, war für mich klar, dass ich Geigerin
oder Musikerin bin. Die Frage, was ich
werden will, hat sich kaum gestellt. Ich habe
angefangen, Geige zu spielen, als ich noch
nicht einmal vier Jahre alt war. An eine Zeit
ohne Instrument kann ich mich nicht erinnern. Schon bevor ich Unterricht bekam,
habe ich ständig am Klavier gesessen. Es war
etwas vollkommen Selbstverständliches.
Wie war das in der Familie?
Die meisten Mitglieder meiner Familie sind
mit Selbstbewusstsein durchaus gesegnet.
Mein Vater als Mathematiker und Unternehmensberater, meine Mutter als Pianistin.
Vielleicht hat dies meinen Weg bestimmt:
„Der Vater macht dieses, die Mutter jenes,
also werde auch ich es schaffen.“
Sie beschreiben damit die Entdeckung
einer Leidenschaft. Leidenschaft allein
ist aber nicht gleichbedeutend damit,
zu Höherem begabt zu sein.
Lässt sich das wirklich trennen? Ich glaube, dass man erst von Leidenschaft gepackt ist und daraus dann sein Potenzial
entwickelt. Man hat aber selten Leiden-
schaft für etwas, wenn kein Potenzial vorhanden ist. Sehr selten. Ihnen hilft die
ganze Begabung ja gar nichts, wenn die
Leidenschaft nicht da ist – und wenn man
nicht das Glück des Gelingens erlebt. Es
gibt sicherlich Bereiche außerhalb der
Musik, in denen ich begabt bin, an denen
ich aber nicht das geringste Interesse habe.
Wer in der Familie, oder vielleicht auch
außerhalb, gab Anstöße, die ein knapp
vierjähriges Kind motivieren können?
Die Frage der Begabung hat meine Mutter
kaum gestellt. Sie sah meinen Willen,
meine Zielstrebigkeit, und sie begleitete
einfach meinen Weg. Als Musikerin hat
sie mich natürlich auf die Beschwernisse
vorbereitet, hat mir gesagt, wie viel ich zu
üben habe. Doch sie hat nie verlangt, dass
ich mich dem Üben als einer Fron unterziehe. Wenn sie sagte: „Du bist inzwischen
ein Jahr älter, jetzt übst du eine halbe
Stunde länger“, habe ich eben eine halbe
Stunde länger geübt.
Wie lange haben Sie denn mit fünf
Jahren geübt?
Nicht viel, vielleicht eine Stunde täglich.
Erst als ich in die Schule kam, bekam mein
Alltag eine richtige Struktur. Es ging
eben nicht ohne Zeitmanagement. Wichtig
war, dass ich jeden Tag spielte. Von 365
Tagen im Jahr habe ich sicherlich an 360
gespielt.
20
Focus Potenzial
Begegnung
Die Hochschule für Musik und
Theater München wurde als
Königliches Conservatorium für
Musik 1846 gegründet und
trägt den heutigen Namen seit
1998. Seit 2011 unterrichtet Julia
Fischer hier Talente von morgen.
Gab es nie eine Belohnung nach dem
Motto „Heute musst du mal nicht“?
Nein, im Gegenteil: „Heute bist du nicht in
der Schule, du kannst also mehr üben.“ In
den Ferien habe ich mehr geübt als in der
Schulzeit. Mit acht oder neun habe ich
meist eine Stunde Klavier gespielt, aber zwei,
drei Stunden lang die Geige in der Hand
gehabt. Mit zehn oder elf wurden es vier
Stunden, mit 13 fünf Stunden. Darüber bin
ich nie hinausgegangen.
Gab es Zweifel?
Nie! Null.
Kann das Zweifeln nicht wichtig sein in
einem Entwicklungsprozess?
Es kommt darauf an, worauf sich die Zweifel
beziehen. Es gab sicherlich Zweifel mit
Blick auf die Interpretation eines Werkes.
„Die Frage der Begabung hat meine Mutter
kaum gestellt. Sie sah
meinen Willen.“
Es kam vor, dass ich ein Stück auf der Bühne
spielte und feststellte, dass es nicht meine
Sache ist und ich besser die Finger davon
lassen sollte. Aber es gab nie Zweifel an
meiner Berufung.
Ist das vielleicht der Tatsache zu verdanken, dass Sie so früh zu spielen angefangen haben? Es gibt ja auch erfolgreiche Musiker, die sich erst mit 15 oder
16 einem Instrument widmen.
Nein, die gibt es nicht. Dann erreichen sie
nie ein hohes solistisches Niveau – nicht als
Geiger, und auch nicht als Pianist.
Und wie entsteht ein grenzenloses
Selbstvertrauen?
Sie brauchen zunächst Glück mit dem Lehrer. Wenn Sie sich nicht gut aufgehoben
fühlen, entwickeln sich Zweifel. Das hängt
natürlich auch mit dem eigenen Charakter zusammen. Ich bin Schülern begegnet,
die notorisch zweifeln. Es kann passieren,
dass Sie in einer Stunde schlecht unterrichten oder etwas sagen, was psychologisch
nicht förderlich ist oder pädagogisch falsch.
Wenn mir ein Schüler ein Stück vorspielt,
wird er von mir wahrscheinlich etwas ande-
res hören als von einem anderen Geigenlehrer. So ist es in der Musik – ab einem
gewissen Punkt wird es subjektiv. Sie können den Lehrer nicht objektiv beurteilen.
Er kann zu Ihnen passen oder nicht.
Wie steht es um die „Chemie“ zwischen
Schüler und Lehrer?
Für den Lehrer stellt sich die Frage: Wann
fängt ein Schüler an, selbst zu denken?
Wann, „ich“ zu sagen? Was ist seine eigene
Persönlichkeit? Wie weit forme ich seinen
Geschmack? Wann lasse ich ihm freien
Lauf? Wo muss ich ihn in die Schranken
weisen? Wann darf er seine eigene Interpretation entwickeln? Natürlich glauben
viele Lehrer, dass der Schüler ihren Vorstellungen strikt zu folgen hat. So hart es
klingen mag: In einem gewissen Stadium
muss der Schüler zu 100 Prozent das machen, was der Lehrer ihm sagt. Ich rede nicht
von dem 20-jährigen Studenten. Der soll,
bitte schön, selbst denken. Aber wenn Sie
einem zehnjährigen Schüler sagen: „Jetzt
spielst du das Mendelssohn-Konzert, und
den dritten Satz wirst du eine Woche lang
nur im Schneckentempo üben“, und er tut
21
das nicht, weil er nach drei Tagen denkt:
„Ich bin schon so toll, ich spiele das jetzt
schnell“, dann ist das keine Eigeninitiative.
Das ist einfach nur – Pardon! – Ungehorsam, und es ist schädlich.
Und wenn sich der Schüler eine andere
Meinung einholt?
Es gibt in der Musik die Meisterkurse. Man
studiert bei einem Lehrer und fährt im
Sommer mal zu dieser und mal zu jener
Koryphäe. Das kann hilfreich sein, auch
fürs Curriculum. Doch halten manche dieser Lehrer ihre Meisterkurse eigentlich
nur ab, um gute Schüler zu finden. Dieser
„Schülerklau“ ist wirklich eine Mode geworden! Auch gibt es Phasen in der Ausbildung, in denen ein Schüler eigentlich
keine Kurse machen sollte. Denn er kann
nicht beurteilen, wann ein anderer Lehrer
tatsächlich hilft und wann er nur seine
eigenen Interessen verfolgt.
Wie finde ich das als Schüler heraus?
Das ist eine Sache der Erfahrung. Es hängt
auch von der Menschenkenntnis ab. Vom
Instinkt. Und irgendwann auch von der
Fähigkeit, sich selbst zu beurteilen. Ein
praktisches Beispiel: Es gibt die unterschiedlichsten Bogenhaltungen. Wie der Schüler den Bogen hält, ist jedoch ziemlich egal.
Dogmatismus ist da unangebracht. Entscheidend ist das Ziel: Zum Schluss soll
es klingen.
In einer bestimmten Phase ist es also
besonders wichtig, dass Lehrer und
Schüler eine gemeinsame Wellenlänge
haben. Gibt es auch Schüler, die Sie
nach einer Zeit wieder wegschicken?
Ja, durchaus, und es gibt Schüler, die ich erst
gar nicht nehme, selbst wenn sie wahnsinnig begabt sind. Ich kann beispielsweise wenig mit den „Nicht-Dramatikern“
anfangen. Ich brauche Geiger mit Feuer,
mit einem dramatischen Ausdruckswillen. Ich habe kein Problem damit, wenn
jemand viel zu schnell spielt. Dämpfen
kann ich gut. Aber wenn ich die Flamme
immer wieder aufs Neue entzünden muss,
bekomme ich schlechte Laune.
Wie und woran erkennen Sie das Potenzial eines Schülers?
Wie gesagt, ich muss zunächst die Leidenschaft spüren, die Freude darüber, die Geige
in die Hand zu nehmen. Ich muss spüren,
dass er brennt und nichts anderes machen
will. Alle technischen Probleme können
Sie bis zu einem gewissen Alter aus dem
Weg räumen.
Dann reden wir ja gar nicht mehr von
Technik, sondern von Charakter und
Persönlichkeit?
So ist es. Geige spielen können Sie auch
einem Schimpansen beibringen. (lacht)
Aber ... sagen wir es so: Die Technik ist das
Ergebnis der Stunden, die Sie geübt haben.
Sie beruht auch auf der Fähigkeit des Hörens. Wenn Sie jemanden 100-mal fragen:
„Hörst du dieses Vibrato?“, und merken,
dass er es nicht hört, können Sie ihm die
letzten fünf Prozent nicht mehr beibringen.
Dann machen Sie aus ihm vielleicht einen
guten Geiger, aber nie einen exzellenten. Sie
brauchen das Gehör. Aber auch hier lautet
die Frage, ob dies einfach nur gottgegeben
ist oder nicht auch eine Frage der Erfahrung – wir sagen: der Hörbildung. Ich habe
schon Schüler gehabt, die drei Jahre lang
kein einziges Konzert besucht haben.
Das ist so, als würden Journalisten keine
22
Focus Potenzial
Begegnung
23
Zeitung lesen. Wenn ich ins Konzert gehe
und immer wieder andere Geiger höre,
dient das der Entwicklung meines Gehörs;
es fördert meine Klangvorstellungen.
Wichtig für die Entfaltung einer Begabung sind also Begeisterung, Durchhaltevermögen, Neugier, die Suche nach
neuen Erfahrungen. Was verlangen
Sie von Ihren Schülern?
Als Lehrerin mache ich keine Vorschriften.
Ich sage auch nicht: „Du musst zehn Konzerte erlebt haben.“ Ich hoffe, dass er zehn
Konzerte erleben will. Neugier gibt es in
verschiedenen Bereichen. Der eine ist an
Malerei interessiert, der andere an Literatur,
der nächste an Politik.
In welcher Hinsicht ist das wichtig?
Sie können zum Beispiel Schostakowitsch
nicht verstehen, wenn Sie die Geschichte
des 20. Jahrhunderts nicht kennen. Wenn
Sie nicht wissen, wie das Leben unter Stalin
war, dann können Sie Schostakowitsch
nicht spielen – eine Musik des Widerstandes und der Resignation, des Trotzes und
der Verzweiflung. Es gibt politische Komponisten, wie es auch Komponisten gibt,
die gleichsam aus der Malerei kommen.
Und so gilt der schöne Satz: „Wer nur etwas
von Musik versteht, versteht auch nichts
von der Musik.“
Es ist also nicht damit getan, jemanden
nur in der Ausbildung seiner technischen
Fähigkeiten zu begleiten?
Ich wage zu behaupten, dass diese Entwicklung für den Künstler eine noch wichtigere
Rolle spielt, als es in anderen Berufen der
Fall ist. Wenn ich als Künstler auf die Bühne
gehe, gebe ich mein Inneres preis. Wenn ich
kein reiches inneres Leben habe, hilft mir
die ganze Technik nichts. Es geht ja um Gefühle. Wohlgemerkt: nicht um Sentimentalität. Es geht um Übertragung. Ich muss
2 000 Leute packen. Potenzial: Das sieht
beim Künstler völlig anders aus als bei einem Bankmanager.
Woran scheitern Künstler trotz eines
hohen Potenzials?
Sie scheitern oft an Charakterschwäche, zu
der die Faulheit gehört. Manchmal scheitern sie auch an psychischen Problemen, die
in die Kindheit zurückreichen und die Sie
als Lehrer erst nach Jahren erkennen, ohne
sie lösen zu können. Eine gesunde Psyche
ist durch nichts zu ersetzen. Sie ist entscheidend fürs Überleben in diesem Beruf. Sie
gehen am Abend auf die Bühne und sie werden beurteilt. Da sind 80 Musiker hinter
Ihnen im Orchester, die es nicht alle gut mit
Ihnen meinen. Und da sind die Kritiker,
die es auch nicht immer gut mit Ihnen mei-
Das Interview mit Julia Fischer
in München führten Friedrich
Kuhn, Egon Zehnder, Berlin, und
Ulrike Krause, FOCUS.
„Wenn ich als Künstler
auf die Bühne gehe,
gebe ich mein Inneres
preis. Wenn ich kein
reiches inneres Leben
habe, hilft mir die ganze
Technik nichts.“
nen. Sie werden ungerechte Kritiken bekommen, gemeine, dumme, ahnungslose.
Sie müssen darüberstehen, müssen sehr
selbstbewusst sein, und doch dürfen Sie
keinen Hauch von Arroganz entwickeln.
Denn Sie müssen auch erkennen können,
wann eine Kritik gerechtfertigt ist.
Sehen Sie Ihre Aufgabe bei der Betreuung
von Schülern auch darin, deren Widerstandskraft zu stärken?
Ich achte darauf, dass sie sich nicht zu viele
Gedanken machen. Meiner Meinung nach
rühren 99 Prozent der Nervosität daher,
dass man sich zu sehr um andere Leute
bemüht, sich von anderen abhängig macht
und fragt: „Fand der das jetzt gut? Waren
die Leute zufrieden?“ Letztlich muss man
selbst zufrieden sein. Ich glaube auch, dass
es für die Entwicklung des Potenzials extrem wichtig ist, die Fähigkeit zu erwerben,
sich selbstkritisch beurteilen zu können.
Es ist also eine Gratwanderung, wenn der
Schüler einerseits mit großer Begeisterung antritt und sich über eine lange
Phase dem Lehrer anvertraut, andererseits aber die Neugier und den Willen
entwickelt, noch etwas darüber hinaus
zu erzielen.
Der Schüler, den ich gerade unterrichtet
habe, ist seit seinem achten Lebensjahr im
24
Focus Potenzial
Begegnung
Julia Fischer _____________________
Julia Fischer, geboren 1983 in
München, ist die Tochter der aus
der ehemaligen Tschechoslowakei stammenden Pianistin Viera
Fischer und des Mathematikers
Frank-Michael Fischer. Seit ihrem
vierten Lebensjahr erhielt sie
Geigenunterricht, wenig später
auch Klavierunterricht bei ihrer
Mutter. Später wechselte sie ans
Leopold-Mozart-Konservatorium
in Augsburg. Ihr Konzertdebüt
gab sie mit acht Jahren. Mit neun
setzte sie ihre Ausbildung bei
Ana Chumachenco an der Hochschule für Musik und Theater
München fort. Mit 19 debütierte
sie in der New Yorker Carnegie
Hall. Im Jahre 2006 erhielt sie eine
Professur an der Hochschule
für Musik und Darstellende Kunst
in Frankfurt am Main. Seit 2011
unterrichtet sie an der Hochschule
für Musik und Theater München.
Sie lebt mit ihrem Mann und zwei
Kindern in Gauting bei München.
Kurs. Ihm gelingt diese Gratwanderung bis
heute. Ich spüre, wie er mir folgt, wenn
ich ihm etwas sage, wie er das alles aufsaugt.
Aber das ist gepaart mit Eigenwilligkeit.
Manchmal schreibt er Sachen auf, die ich
ihm sage, und dann kommt er eine Woche
später wieder und macht sie nicht.
Der Lehrer muss also in der Lage sein, sich
zurückzunehmen und vielleicht mal
etwas nicht zu kommentieren?
Absolut! Als Lehrer darf ich dem Schüler
niemals meine Interpretation aufdrängen.
Das wäre völlig falsch. Es geht um ihn. Ich
muss hören, wie der Interpretationsansatz
des Schülers ist. Ist er sinnvoll oder ist er
falsch? Oder besser: Ist er konsequent oder
nicht? Ein gutes Beispiel ist der erste Satz
des Violinkonzerts von Ludwig van Beethoven. Handelt es sich um ein Werk der
Klassik oder schon um eines der Romantik?
Wenn der Schüler sagt: „Ich sehe das als
klassisches Konzert“, ist es für den Lehrer
nicht statthaft zu sagen: „Nein, das ist romantisch.“ Sie müssen den Interpretationsansatz akzeptieren oder allenfalls sagen:
„Spiele es wie ein klassisches Konzert, aber
vergiss nicht, dass Beethoven schon auf
dem Weg in die Romantik war.“
Im Musikbetrieb geht es hart zu. Oft
geht es um Glamour, um Inszenierung,
um Show, um Selbstdarstellung. Muss
man Talente davor nicht in Schutz nehmen – und wenn ja: wie?
Bisher habe ich noch keinen Schüler auf
höchstem solistischem Niveau unterrichtet.
Ich kenne dieses Problem also nicht, musste mir nie Gedanken darüber machen, ob
einer bei der Deutschen Grammophon oder
bei Sony unter Vertrag kommt. Oder welchen Agenten er braucht. Wie oft er konzertieren soll. Wenn Sie Glück haben, kommen die Probleme erst, wenn Sie erwachsen
sind. Ich persönlich halte CD-Verträge für
13-Jährige für völligen Quatsch. In diesem
Alter Konzerte zu spielen, ist allerdings
wichtig. Den 13-Jährigen aber mit ein oder
zwei Paradestücken durch die Welt zu hetzen, ist verkehrt, weil man ihm Zeit nimmt,
Neues zu lernen und ein Repertoire aufzubauen. Meine Lehrerin hat strikt darauf
geachtet, dass ich jeden Monat ein neues
Konzert erarbeitet und gespielt habe.
Wie viel Zeit braucht man für neue und
besonders anspruchsvolle Stücke?
Manchmal muss es schnell gehen, und
dann brauchen Sie die oft beschworenen
Reserven des Könnens. Als ich mit 20
mein Debüt mit dem London Symphony
Orchestra geben sollte, sagte man mir,
auf dem Programm stehe das BeethovenKonzert. Drei Wochen vor dem Termin
erfuhr ich, dass es das zweite Konzert von
Béla Bartók war, das ich noch nie gespielt
hatte. Überdies musste ich in diesen Wochen auch das zweite Konzert von Sergej
Prokofjew lernen. Für den Bartók hatte ich
fünf Tage, und das, sage ich Ihnen, das müssen Sie können! Sie müssen es nicht jede
Woche können, aber es muss möglich sein.
Wie entwickelt man diese Fähigkeit?
Beispielsweise indem Sie als Kind ständig
ein neues Repertoire erlernen. Je mehr
Stücke Sie gelernt haben, desto schneller
lernen Sie. Es gibt zehn Beethoven-Sonaten.
Für die erste brauchen Sie ein halbes Jahr.
Wenn Sie acht beherrschen, ist die neunte
rasch gelernt. Aber wenn Sie einmal aufhören, neue Sachen zu lernen, dann verlieren Sie diese Fähigkeit ganz schnell wieder.
Der Prozess, den Sie da beschreiben, hat
eine gewisse Gnadenlosigkeit.
Es ist gnadenlos. Total. Das Problem ist wirklich die Zeit. Sie haben nicht viel Zeit, ihr
musikalisches Potenzial zu entwickeln. Als
ich Kind war, hat meine Mutter sehr oft
das gleiche Stück unter ihren Schülern verteilt, um herauszufinden, wie schnell sie
lernen. Der Unterschied lag zwischen einem
Tag und drei Monaten. Wenn Sie als Solist
bestehen wollen, brauchen Sie ein gutes
Gedächtnis. Sie können kein Musiker werden, wenn Sie kein gutes Gedächtnis haben.
Wenn Sie junge Leute einzuschätzen
haben mit Blick auf Bühnenpräsenz,
Arbeitsbereitschaft, Leidenschaft, in
welchem Bereich unterliegen Sie am
ehesten einer Fehleinschätzung?
Wenn es um den Fleiß geht. Es gibt Schüler,
die sich schnell begeistern, aber keine Ausdauer haben. Sie als erwachsene Menschen
motivieren zu müssen, halte ich für obsolet. Sie sollten lieber gehen. Bei der Bühnenpräsenz verschätzt man sich eigentlich nie.
Die spürt man sofort.
Das lässt sich wohl nur eingeschränkt
trainieren?
Das lässt sich gar nicht trainieren.
Charisma – Gottesgabe.
Ja, Charisma als Gottesgabe. Diese Aura
hat nicht jeder – doch ohne sie werden Sie
nie zum Solisten heranwachsen.
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26
Focus Potenzial
Panel
Um es mit Ella Fitzgerald
zu sagen: „Es ist nicht wichtig,
wo du herkommst, wichtig
ist, wo du hinwillst.“
Fünf Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft
über ihre nächsten Ziele
Für das Wachstumsproblem, dem unser Wirtschaftssystem angesichts knapper
werdender Ressourcen recht ratlos gegenübersteht, hat das menschliche
Gehirn längst eine Lösung gefunden: Es wächst nicht einfach immer weiter, bis
uns der Schädel platzt, sondern es intensiviert die Beziehungen zwischen
den Milliarden von Nervenzellen. Je besser es dem Gehirn gelingt, das Ausmaß
an Konnektivität zu vergrößern, desto leichter findet es sich in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zurecht. Hirnforscher haben herausgefunden,
dass nicht nur bis ins hohe Alter neue Verbindungen entstehen, sondern
dass sich der Energieverbrauch dafür sogar verringert, statt zu steigen.
Das ist die frohe Botschaft, um deren Verbreitung ich mich bisher gekümmert
habe. Was allerdings noch viel bekannter werden muss, ist die Erkenntnis,
dass niemand seine Potenziale allein entfalten kann. Wir brauchen dazu den
Austausch mit anderen. Gemeinsam könnten wir Berge versetzen. Wie man
aber Schwärme von Einzelkämpfern und Herden von Konkurrenten in leistungsstarke Teams verwandelt, das weiß gegenwärtig niemand. Um dieses Problem zu lösen, braucht man Zeit zum Nachdenken. Und die werde ich mir im
nächsten Jahr nehmen – und mich im Rahmen eines Sabbaticals aus allen
öffentlichen Aktivitäten zurückziehen.
Gerald Hüther
ist Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen und gehört zu den renommiertesten Vertretern seiner Disziplin. Mit Vorträgen und zahlreichen, auch populärwissenschaftlichen Büchern macht er die Erkenntnisse der sogenannten Hirnforschung
über Fachgrenzen hinaus einem breiten Publikum zugänglich.
„Niemand
kann seine
Potenziale
allein
entfalten.“
Gerald Hüther,
Neurobiologe
„Unsere Vision
liegt in der
Verschmelzung
von online
und offline.“
Jessica Peppel-Schulz,
United Digital Group
Wir befinden uns inmitten einer digitalen
Revolution. Marketingkunden fordern
verstärkt integrierte Strategien für ihre
Kampagnen und Plattformen. Darin liegt
die große Chance für die Unternehmen am
Markt. Um das Potenzial unseres Netzwerks
aus spezialisierten Digitalagenturen ausschöpfen zu können, müssen wir schon heute
die Weichen stellen. Mithilfe von Technologie und Know-how schaffen wir Konzepte,
die es den Nutzern ermöglichen, die Entwicklung in die digitale Zukunft mitzugehen.
Die Verbraucher erwarten zu Recht innovative, maßgeschneiderte Konzepte, angepasst an die sich verändernden Bedürfnisse. Um diesen Anforderungen gerecht zu
werden, hilft uns das digitale Denken, das
wir verinnerlicht haben. Und die Nutzerperspektive, die wir immer wieder einnehmen, um uns selbst und unsere Ideen zu
prüfen. Unsere Vision liegt in der Verschmelzung von online und offline. Der Konsument darf keinen Unterschied mehr wahrnehmen. Darin liegt das größte Potenzial
für die Gesellschaft und damit auch für uns.
Jessica Peppel-Schulz
ist CEO der UDG United Digital Group GmbH,
einer Agenturgruppe für Cross Channel Excellence,
deren Netzwerk Experten für Digitale Markenführung und OnSite-Marketing, Performance Marketing, E-Commerce und Digitale Mitarbeiterinteraktion vereint. Die UDG beschäftigt derzeit über 650
Mitarbeiter und hat ihren Hauptsitz in Hamburg.
27
Die Frage nach den nächsten Zielen erreicht uns
mitten in den Vorbereitungen zu unserem Defilee
in Paris – also beim Nähen, Organisieren und
Improvisieren, dem operativen Last-Minute-Einsatz im Schnittatelier. Unsere Zeit ist knapp.
Aber auch wenn uns die Frage drei Wochen später
gestellt würde, hätten wir noch immer viel zu
wenig davon. Genau das kennzeichnet unsere momentane Situation: Wir sind ein Unternehmen
im Aufbau, befinden uns im strukturellen Anfangschaos eines inhabergeprägten Start-ups. All das
in einer letztlich satten Branche, die immer wieder
aufs Neue überzeugt werden will, gnadenlos.
Unsere nächsten Schritte sollen uns darum in eine
Struktur führen, die uns mehr Zeit und Freiraum
gibt für einen distanziert-leidenschaftlichen Blick
auf alles, was wir tun. Das Ziel heißt: Zeit freischaufeln, ohne dass die Details darunter leiden.
Platz im Kopf bekommen für die großen Themen,
die wir viel zu oft zu nach hinten schieben, weil zu
viel Kleines an uns persönlich hängt. Innehalten,
wachsen, die internationale Reputation unseres Labels
ausbauen, immer globaler werden und dennoch
schnell und beweglich bleiben. Groß denken, aber
im Detail weiter leidenschaftlich kleinlich sein.
Delegieren, wo wir es können. Und unserem Team
vermitteln, worum es geht: Das ist es, was ansteht.
Jörg Ehrlich und Otto Drögsler
sind die kreativen Köpfe hinter dem Modeunternehmen
Odeeh. Von Giebelstadt bei Würzburg aus eroberten
sich die beiden seit ihrem Start im Jahr 2008 internationales Renommee und gehören inzwischen zur ersten
Riege im deutschen Modedesign.
„Groß denken,
aber im Detail weiter
leidenschaftlich
kleinlich sein.“
Jörg Ehrlich und Otto Drögsler,
Odeeh
„Zukunft heißt im
Weinbau vor allem eines:
jahrzehnteweit
vorauszuschauen.“
Markus Schneider,
Winzer
Vor knapp 20 Jahren habe ich mit nichts als einer fixen Idee begonnen:
erstklassige Weine zu erzeugen. Und das im Weinbau, einem Bereich,
der von Traditionen und den Erfahrungen vorangegangener Generationen geprägt ist. Innerhalb kürzester Zeit ist aus meiner Idee eines der
erfolgreichsten deutschen Weingüter geworden, deshalb ist es für mich
besonders schwer, Zukunftswünsche zu äußern.
Neue Ziele gibt es nichtsdestoweniger: Der Grundstein für neue
Gutsgebäude ist gelegt – und damit die Grundlage für künftige Generationen. Die gesamte Weinbergfläche in den Familienbesitz zu überführen und uns so vom Traubenmarkt unabhängig zu machen, ist ein
weiteres großes Ziel, das wir bis zum Jahr 2016 realisieren werden.
Bis dahin möchte ich das Gut auch international weiter zur Geltung
bringen und auf den wichtigsten Märkten vertreten sein.
Aber Zukunft heißt im Weinbau vor allem eines: jahrzehnteweit
vorauszuschauen. Deshalb habe ich schon vor Jahren begonnen, in den
heißen Parzellen der Ebene Shiraz und Cabernet zu pflanzen und in
den kühlen Berglagen die Pflanzungen von Riesling und Sauvignon Blanc
zu fokussieren. Damit bereiten wir uns auf den Klimawandel vor und
stellen uns auf die veränderten Niederschlags- und Temperaturbedingungen der Zukunft ein.
Markus Schneider
brachte 1994 den ersten Wein unter seinem eigenen Namen auf den Markt –
2003 erfolgte der Durchbruch: Er wurde von der Zeitschrift „Feinschmecker“
zum „Newcomer des Jahres“ gekürt, 2006 feierte der „Gault Millau“ Markus
Schneider als seine „Entdeckung des Jahres“. Als „Junger Wilder“ gestartet,
zählt Schneider heute zu den ersten Adressen der deutschen Winzerszene.
28
Focus Potenzial
Plädoyer
Führung mit Weitsicht
Warum große Führungspersönlichkeiten über
die Grenzen des eigenen
Unternehmens hinausblicken müssen
Von Daniel Goleman
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Menschliche Eingriffe in natürliche
Ressourcen und Ökosysteme hinterlassen
immer tiefere Spuren und gefährden
damit auf Dauer die Grundlagen unseres
Lebens. Der international renommierte
Psychologe und Bestsellerautor Daniel
Goleman skizziert in seinem Essay die
Bedeutung eines systemischen Fokus auf
die großen Zusammenhänge, den künftig
auch und vor allem erfolgreiche Unternehmensführer brauchen werden.
Der Einfluss emotionaler Intelligenz
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als
ich Paul Polman in meine private Hall of Fame
der von mir bewunderten Führungspersönlichkeiten aufnahm: Wir nahmen beim Weltwirtschaftsforum in Davos gemeinsam an einer Podiumsdiskussion teil. Paul, CEO von Unilever, erläuterte die
Nachhaltigkeitsstrategie seines Unternehmens.
Was mich faszinierte, waren jedoch nicht die Ziele
für eine bessere CO2-Bilanz – denn so löblich diese
auch sein mögen, sind sie doch normale Bestandteile der Nachhaltigkeitsansätze vieler Firmen.
Aber dann erklärte Paul die Absicht seines
Unternehmens, viele Rohstoffe künftig von einem
Netzwerk aus zunächst 500 000 Kleinbauern der
Dritten Welt zu beziehen, das immer weiter ausgebaut werden sollte. Inzwischen sind bereits mehr
als zwei Millionen Landwirte dort eingebunden.
Und das begeisterte mich. Ungefähr 85 Prozent
der Bauern weltweit werden als Kleinbauern eingestuft. Laut der Weltbank ist die Förderung der
kleinbäuerlichen Landwirtschaft die wichtigste
und effektivste Maßnahme zur Stimulation der
wirtschaftlichen Entwicklung in ländlichen Gegenden. In Schwellenländern leben drei von vier
Personen der untersten Einkommensklassen –
direkt oder indirekt – von der Landwirtschaft.
Eine derartige Einbindung in die Lieferkette
von Unilever würde mehr Geld in die landwirtschaftlichen Gemeinschaften vor Ort bringen und
gleichzeitig der Gesundheit und Bildung ihrer
Kinder zugutekommen. Der Unilever-CEO war mit
seinem Denkansatz weit über die üblichen Grenzen des direkten Nutzens für die eigene Organisation hinausgegangen. Polmans strategische Vision
zeigt beispielhaft, was ich den Fokus nach außen
nenne – eine der drei Fokus-Arten, über die eine
Führungspersönlichkeit heute verfügen muss: den
Fokus nach außen, den nach innen, und auf andere.
Der Fokus nach innen und der Fokus auf andere hängen mit
emotionaler Intelligenz zusammen. Die ersten beiden der vier
Aspekte von emotionaler Intelligenz – Selbstkenntnis und
Selbstmanagement – stehen für einen gesunden Fokus nach innen.
Bei herausragenden Führungspersönlichkeiten äußert sich die
Selbstkenntnis in positiven Eigenschaften wie einem realistischen
Selbstbewusstsein und dem Wissen um die eigenen Stärken
und Grenzen. Selbstmanagement zeigt sich in Form von emotionaler Selbstbeherrschung (also beispielsweise der Fähigkeit,
unter großem Stress ruhig und konzentriert zu bleiben oder sich
schnell wieder davon zu erholen), von Anpassungsfähigkeit und
Durchhaltevermögen bei der Verfolgung von Zielen.
Zudem hilft eine ausgeprägte Selbstkenntnis Führungskräften,
die feinen inneren Signale zu erkennen, über die uns das Gehirn
mitteilt, wie unsere Lebenserfahrung eine Entscheidung bewertet,
die wir gerade erwägen. Auf diesem Mechanismus scheint auch
die Intuition zu basieren, die uns im allerersten Augenblick spüren
lässt, wohin uns unsere Leitwerte lenken. Integrität und eine
ethische Haltung hängen ebenfalls von diesen „inneren Anstößen“
ab. Erst nach dieser gefühlsmäßigen Einschätzung können wir
unsere Werte in Worte fassen.
Ein ausgeprägter Fokus auf andere zeigt sich gemäß dem
Modell für emotionale Intelligenz bei Führungspersönlichkeiten
in Form eines hohen Maßes an Einfühlungsvermögens. Die Fähigkeit, nachzuempfinden, wie andere die Welt wahrnehmen, und sich
in deren Gefühlswelt hineinzuversetzen, ermöglicht es ihnen,
Dinge so darzustellen, dass sie von anderen verstanden werden.
Wer sich als Führungsverantwortlicher so in andere hineinfühlen
kann, verfügt über Beziehungskompetenzen wie die Fähigkeit
zu Teamwork und Zusammenarbeit, er kann überzeugen, Einfluss
nehmen, Konflikte bewältigen und ist seinen Mitarbeitern ein
guter Mentor.
Diese sozialen Kompetenzen oder „People Skills“ spielen für
die Effektivität als Führungsperson eine deutlich wichtigere
Rolle als rein kognitive Fähigkeiten, wie zum Beispiel eine Affinität
für Zahlen. Claudio Fernández Aráoz, Senior-Berater bei Egon
Zehnder, analysierte Fälle, wo auf oberster Führungsebene – auf
den ersten Blick – herausragende Kandidaten eingestellt und
recht schnell wieder ausgetauscht wurden. Seine Schlussfolgerung:
Die Gründe für die Einstellung waren wirtschaftlicher Sachverstand und Intelligenz, der Grund für die Demission ein Mangel
an emotionaler Intelligenz.
30
Focus Potenzial
Plädoyer
Stärken der dritten Art
Meiner Meinung nach benötigt eine Führungskraft neben dem
Fokus nach innen und dem Fokus auf andere aber noch einen
dritten Blickwinkel: den Fokus nach außen. Der Fokus nach außen
ermöglicht es einer Führungspersönlichkeit, die Funktionsweise
des übergeordneten Systems zu erkennen, die entscheidend ist für
das Wohlergehen eines Unternehmens – oder einer Gemeinschaft
oder Gesellschaft. Diese Stärke geht jedoch darüber hinaus, veränderte Strömungen in der Wirtschaft wahrzunehmen. Eine
Sensibilität für soziale, kulturelle und ökologische Kraftfelder ist
ebenfalls von maßgeblicher Bedeutung.
Bei der Identifizierung zukünftiger Führungspersönlichkeiten –
vielleicht sogar schon während ihrer Schulzeit – liefern die drei
Fokus-Arten wichtige Anhaltspunkte. Forschungen haben gezeigt,
dass viele der Fähigkeiten, die hervorragende Führungskräfte
auszeichnen, sich schon früh im Leben manifestieren – lange vor
dem Eintritt in die Arbeitswelt. Ein geschärfter Blick nach innen
zeigt sich beispielsweise bei Teenagern, die sich ehrenamtlich engagieren und bereit sind, sich für eine größere Sache als ihre eigenen Bedürfnisse, wie zum Beispiel den Umweltschutz, einzusetzen.
Auch ein hervorragendes Selbstmanagement kann ein Anzeichen sein – und zwar wenn bereits Kinder sehr konsequent
bestimmte Ziele verfolgen. Diese geistige Fähigkeit wird von
Wissenschaftlern „kognitive Kontrolle“ genannt. Viele Studien
haben ergeben, dass sich durch eine Messung der kognitiven
Kontrollfähigkeit bei Kindern finanzieller Erfolg und Gesundheit im Erwachsenenalter besser vorhersagen lassen als anhand
ihres Intelligenzquotienten oder der wirtschaftlichen Situation
ihrer Familie.
Gutes mit Wirkung
Eine stark ausgeprägte Wahrnehmung anderer zeigt sich in einer
gesteigerten Empathie, also der Fähigkeit, zu erspüren, wie andere denken und fühlen. Sich in die innere Welt anderer einfühlen zu können, versetzt Menschen in die Lage, sich mit fremden
Problemen und Leiden zu beschäftigen – mit anderen Worten: Es
geht um Mitgefühl. Dieses soziale Bewusstsein spiegelt sich auch
in den zwischenmenschlichen Fähigkeiten von Topmanagern (und
genau genommen auch von Lehrern) wider, die mit Menschen
schnell Kontakte auf einer persönlichen Ebene aufbauen, gut zuhören und andere im positiven Sinne beeinflussen können. Wenn
Einfühlungsvermögen und soziale Kompetenz – im Dienste des
Mitgefühls – aufeinandertreffen, dann entsteht etwas, was die
Tibeter als „gutes Mittel“ bezeichnen: Effizienz, die Gutes schafft.
Ein Fokus nach außen kann sich auch schon bei Kindern zeigen, die von natürlichen Systemen fasziniert sind und aus eigenem Antrieb und nicht erst im Rahmen von anderweitig geplanten
Projekten versuchen, die Natur zu verstehen. Ein weiteres Indiz
wäre ein ausgeprägtes Interesse für die so genannten „MINT“Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
Junge Menschen, die voller Begeisterung versuchen herauszufinden, wie bestimmte Dinge funktionieren, zeigen eine natürliche
Offenheit für systemorientiertes Denken.
Der Fokus nach außen, der uns die Betrachtung
größerer Systeme ermöglicht, die unser Unternehmen, unser Leben, unsere Gesellschaft und
unseren Planeten gestalten, umfasst aber auch
einen Bereich, wo die Erfahrung einer Generation
an die nächste weitergegeben werden muss. Das
trifft insbesondere auf die Vermittlung von entscheidendem Wissen zum Fortbestand unserer
Spezies zu.
Dieser Wissenstransfer ist heute oft nachhaltig beschädigt. Eingeborene Kulturen waren
schon immer darauf bedacht, sich an ihr lokales
Ökosystem anzupassen, um zu überleben. In
der modernen Zeit stolpern wir oft blindlings
voran – ohne uns darum zu kümmern, wie unsere
lokalen Entscheidungen nicht nur unsere unmittelbare Umgebung, sondern auch entfernte
oder unsichtbare ökologische Systeme negativ
beeinträchtigen.
Das anthropozentrische Dilemma
Die wahrscheinlich gravierendste Systemkrise
unserer Zeit blieb damit lange weitgehend unbemerkt: das anthropozentrische Dilemma. Mit
der Industriellen Revolution sind wir in die anthropozentrische Ära eingetreten. Seither haben
die von Menschen entwickelten Systeme für Transport, Energiegewinnung, Bauwesen, Industrie
und Handel beständig jene Handvoll globaler
Systeme beschädigt, die den Erhalt des Lebens
auf unserem Planeten gewährleisten.
Auch wenn die Rolle von Kohlenstoff beim
Klimawandel der offensichtlichste der systemischen
Einflüsse ist, gibt es eine Menge anderer Faktoren,
die zunächst fast unbemerkt blieben – vom Abwasser aus Phosphor-Dünger, das zu toten Zonen
in den Meeren führt, bis zu Ansammlungen von
Giften (wie Umwelthormonen oder krebserregenden Substanzen) im menschlichen Gewebe.
Unternehmenschefs, die im Hinblick auf solche Einflüsse mehr Transparenz im Betrieb und
in der Lieferkette fordern und die weitreichende
Entscheidungen zur Verringerung des „ökologischen Fußabdrucks“ ihres Unternehmens treffen,
beweisen ein herausragendes Systembewusstsein.
Ihr Fokus nach außen lässt sie auf eine Weise handeln, die über wirtschaftliche Logik hinausgeht
und ein komplexeres Kalkül verfolgt: ein Gleichgewicht zwischen finanziellem Gewinn und dem
Wohlergehen der Allgemeinheit.
In der Unternehmensführung ist viel Energie
darauf verwandt worden, jene Eigenschaften zu
erkennen und zu pflegen, mit deren Hilfe eine Führungskraft ein Unternehmen durch intelligente
Strategien lenken, strategische Ziele umsetzen und
alltägliche Probleme bewältigen kann. Doch nun
brauchen wir mehr Führungspersönlichkeiten mit
31
Daniel Goleman _____________________________________________
Jahrgang 1946, lehrte als klinischer Psychologe an der HarvardUniversität, war Senior Editor der Zeitschrift Psychology Today
und Redakteur für Psychologie und Neurowissenschaften bei
der New York Times. Bekannt wurde er durch sein 1995 erschienenes Buch Emotionale Intelligenz, das international zum
Bestseller wurde. 2006 ließ er mit Soziale Intelligenz ein Buch
folgen, in dem zwischenmenschlicher Umgang und das Verhalten in sozialen Zusammenhängen im Vordergrund stehen.
Golemans jüngstes Buch trägt den Titel Focus: The Hidden Driver
of Excellence.
einem weiteren Blick – Menschen, die die Dinge nicht einfach
hinnehmen, wie sie sind, sondern sich überlegen, wie sie sein
könnten, und sich für Veränderungen einsetzen.
Für das große Ganze
Unsere Zeiten verlangen nach Führungskräften, die nicht nur
intelligent, sondern auch weise sind. Weise Führer entwerfen
Strategien, die auf das Wohl der Allgemeinheit und nicht nur
auf die Ziele eines Unternehmens ausgerichtet sind. Je öfter
unsere Gemeinschaften, Gesellschaften und die Welt als Ganzes
solche Führungspersönlichkeiten berufen, desto besser wird es
uns allen ergehen. Und je mehr Erfahrung wir darin sammeln,
das Potenzial für eine solche Führungsmentalität bei unseren
jüngeren Generationen zu identifizieren und zu fördern, desto
mehr Hoffnung besteht für unsere Zukunft.
Mich haben die Worte von Larry Brilliant inspiriert, dem
Präsidenten des Skoll Global Threats Fund, einer Organisation
mit dem Ziel, weltweite Krisen wie Pandemien und Erderwärmung zu verhindern. Er sagt: „Zivilisationen sollten nicht daran
gemessen werden, wie sie die Menschen behandeln, die der Macht
nahe sind, sondern daran, wie diejenigen behandelt werden, die
von der Macht am weitesten entfernt sind – sei es im Hinblick
auf Rasse, Religion, Geschlecht, Wohlstand oder Klasse –, und das
nicht nur heute, sondern auch morgen.“
Meiner Ansicht nach müssen die Handlungsmotive echter
Führungspersönlichkeiten über die Ziele und Grenzen eines Unternehmens hinausgehen. Vielmehr sollten diese Persönlichkeiten
bestrebt sein, der Menschheit insgesamt zu helfen. Mir fallen da
Beispiele wie Paul Polman oder Bill Gates (in der philanthropischen
Phase seiner Karriere) ein – oder Muhammad
Yunus, der die Grameen Bank gründete.
Dies sind Führungspersönlichkeiten, die den
Schmerz der Machtlosen und des Planeten begreifen und den Schaden reparieren wollen – sei es
durch die Bekämpfung der Krankheiten, die die
Armen plagen, die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit lokaler Gemeinschaften oder durch die
direkte Bekämpfung der Armut. Die Auswirkungen ihrer Strategien werden weit in die Zukunft
hinein von Bedeutung sein. Weise Führer folgen
vorbehaltlos einer Maxime, die ich bei einer MITKonferenz über globale Systeme aus dem Munde
des Dalai Lama gehört habe. Er schlug vor, dass
wir uns vor jeder Entscheidung und jedem Vorgehen immer Folgendes fragen sollten: Wer profitiert davon? Nur wir oder eine Gruppe? Nur eine
Gruppe oder alle? Nur in der Gegenwart oder
auch in der Zukunft?
Diese Führungspersönlichkeiten wecken
Leidenschaft bei den Menschen und schaffen
Unternehmen, in denen Arbeit einen tieferen
Sinn hat – aus einem Job wird eine wertvolle
Betätigung. Das ist eine starke Kombination, bei
der Menschen ihre besten Fähigkeiten entfalten,
sich voll und ganz einbringen und eine Arbeit
tun können, die ihren Werten entspricht. Solche
Arbeitsplätze üben eine starke Anziehungskraft
aus auf die nächste Generation herausragender
Führungspersönlichkeiten.
32
Focus Potenzial
Dialog
„Jeder hat Ziele, aber nur
wenige sind bereit,
dafür Opfer zu bringen
und sich zu schinden.“
Ruder-Olympiasiegerin Katherine Grainger und
der Internet-Unternehmer Ben Medlock über das,
was es außer Köpfchen und Muskelkraft braucht,
um an die Spitze zu kommen
Was haben Olympioniken und
wegweisende Unternehmer
gemeinsam? Als außergewöhnliche Leistungsträger teilen
sie bestimmte persönliche Eigenschaften, allen voran den Willen, zu den Besten zu zählen.
Katherine Grainger, Großbritanniens „Golden Girl“ des Ruderns,
und der „Technopreneur“ Ben
Medlock, Mitbegründer des erfolgreichen Start-Ups SwiftKey,
diskutierten an einem heißen
Sommertag im Marlow Rowing
Club vor den Toren von London
über Besessenheit, den Griff
nach dem Gold und das LennonMcCartney-Phänomen.
Fotos: Fritz Beck
Ben Medlock: Eines interessiert mich brennend: Wie bringt man die schier übermenschliche Disziplin auf, sich jahrelang
tagein, tagaus für eine Goldmedaille zu
schinden?
Grainger: Wie du dir unschwer vorstellen
kannst, ist das Training weder besonders
aufregend noch besonders glamourös, sondern einfach nur knallhart. Das Einzige,
was dich bei der Stange hält, ist der brennende Wunsch, dieses Ziel zu erreichen,
das sich die meiste Zeit wie ein unerreichbarer Traum anfühlt. Das ist es, was dich
antreibt, einfach weil es so besonders, so
anders, so außergewöhnlich ist. Für mich
geht es um Leidenschaft. Ich liebe Rudern
über alles. Wenn man damit anfängt, wird
einem ganz schnell klar, warum man unbedingt der Olympiamannschaft angehören
und Olympiasieger werden will. Im Sport
wimmelt es von Vorbildern und Helden,
denen wir nacheifern. Die Goldmedaille ist
das offensichtlichste Ziel, der ultimative
Beweis dafür, dass du es wirklich draufhast
in deiner Sportart. Realistisch betrachtet
ist es allerdings unwahrscheinlich, dass du
irgendwann auf dem Siegertreppchen
stehen wirst. Schließlich hat das bislang
nur eine verschwindend kleine Minderheit geschafft. Allerdings schaffen es in der
Welt der Technologieunternehmen sicherlich auch nur wenige ganz nach oben – und
das erfordert vermutlich genauso viel
Willenskraft und Durchhaltevermögen.
Medlock: Ich muss zugeben, dass ich
einen leicht obsessiven Charakter habe.
Ich glaube, ich könnte mein Leben als eine
Reihe von Obsessionen oder – schöner
gesagt – Herausforderungen beschreiben.
Ich definiere mich seit jeher über das, was
ich tue, und das treibt mich zu Höchstleistungen an. Mein gesamtes Denken ist auf
dieses aktuelle Ziel fokussiert und der Gedanke daran, dieses aufzugeben, ist für
mich völlig unvorstellbar. Egal wie anstrengend es ist und egal ob ich entmutigt bin,
denke ich nie wirklich ans Aufhören, weil
Aufhören bedeuten würde, nicht ich zu sein.
Grainger: Aufzuhören ist sicherlich schwierig, aber es gibt auch Zeiten, wo Weitermachen die weitaus schwierigere Option
zu sein scheint. Als ich bei den Olympischen Spielen in Beijing die Goldmedaille
haarscharf verpasst hatte, musste ich lange
und gründlich überlegen, ob ich mich wirklich weiter schinden sollte. Die verpasste
Goldmedaille war ein harter Schlag für mich.
Ich hatte das Gefühl, auf der ganzen Linie
versagt zu haben. Stell dir vor, du widmest
dein ganzes Leben einem einzigen Ziel, du
richtest dein Leben völlig an diesem Ziel aus.
Wenn dieser Traum platzt, ist das wirklich
bitter. Die Niederlage führte dazu, dass ich
mir die grundsätzliche Frage stellte, ob ich
die ganze Plackerei wirklich noch einmal
auf mich nehmen wollte.
33
34
Focus Potenzial
Dialog
„Worauf es wirklich
ankommt, sind Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen – und
zwar tagein, tagaus.“
Katherine Grainger
35
Man hat mich damals gefragt, ob ich das
Gefühl hätte, dass die letzten vier Jahre
umsonst gewesen seien. Das Gefühl zu haben, dass man vier Jahre lang auf ein Ziel
hingearbeitet hat, nur um es dann doch
nicht zu erreichen, ließ mich innehalten
und darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Ich hatte bis dato immer nur den
Goldmedaillengewinn vor Augen gehabt.
Irgendwann habe ich aber erkannt, dass die
Medaille doch nicht alles ist, sondern dass
der Weg dorthin, also das, was du in den
vier Jahren, in denen du dich auf die Spiele
vorbereitest, genauso wichtig, wenn nicht
noch wichtiger und wertvoller ist als der
Sieg. Wenn es mir also gelingen könnte, in
den nächsten vier Jahren alles richtig zu
machen, dann würden sich die Anstrengungen lohnen.
Medlock: Stimmt es, dass du zufällig zum
Rudern gekommen bist?
Grainger: Ich habe in Edinburgh Jura studiert und hatte zunächst überhaupt nicht
vor, auf Wettbewerbsebene zu rudern oder
irgendeinen anderen Sport ernsthaft zu
betreiben. Zunächst war es vor allem die
Atmosphäre bei den Ruderern, die mich
gereizt hat, und erst später dann der Sport
selbst. Ruderer sind sehr ehrgeizig und
voller Leidenschaft, aber immer für einen
Spaß zu haben und teilweise auch echt
schräg. Zwar wollte ich schon immer bei
allem, was ich anpacke, möglichst gut sein,
aber ich hätte nie gedacht, dass ich mal
solchen Ehrgeiz auf diesem Niveau entwickeln könnte. Anfangs wollte ich die Beste
bei den Anfängern sein, später dann die
Beste unter den Erfahrenen im Team. In
meinem dritten Jahr an der Uni wurde ich
gefragt, ob ich für Schottland antreten wollte, und von da an war das dann mein Ziel.
In meinem vierten Jahr in Edinburgh sagte
man mir, ich solle mich doch für einen
Platz in der Qualifikation für das britische
Team bewerben. Ich war erst sehr skeptisch,
ob ich es schaffen würde. Es war das Jahr
nach den Olympischen Spielen, daher musste ich gegen das bisherige Olympiateam
antreten und ich dachte, ich hätte nicht den
Hauch einer Chance. In den Auswahlwettkämpfen merkte ich aber sehr schnell, dass
weniger nach den bereits perfekt ausgeformten Athleten gesucht wurde, denn genau das wollen sie ja erst aus dir machen.
Wichtiger waren vielmehr die richtigen Anlagen. Sie suchten Sportler, die nicht nur
körperlich, sondern auch mental die richtigen Voraussetzungen mitbringen. Wenn
sie jemand sehen, der über dieses Potenzial
verfügt, sagen sie: „Die ist es!“ Genau so
war das bei mir.
Medlock: Du hast also nicht von Anfang
an gedacht: „Ich hab das Zeug zur Olympiasiegerin“?
Grainger: Nur wenige Olympioniken glauben von Anfang an, dass sie olympisches
Gold holen können. Die meisten haben anfangs eine ganz andere Motivation und
der Ehrgeiz kommt erst mit der Zeit. Viele
denken, dass man nur ganz nach oben
kommt, wenn man von Anfang an hochmotiviert ist und mit dem Gedanken auf
die Welt kommt: „Ich bin vom Schicksal
dazu bestimmt, olympisches Gold zu gewinnen.“ Wie war das denn bei dir? Bist
du der geborene Unternehmer?
Medlock: Ja und nein. Unser Ausgangspunkt im Jahr 2008 war, dass die Smartphone-Nutzer unheimlich viel tippen
müssen und man diese Tipperei doch vereinfachen könnte. Wir waren davon überzeugt, dass unsere Idee durchaus Potenzial
hatte. Aber unsere Chance, gegenüber den
Großen der Branche, die an der gleichen
Sache dran waren, die Nase vorn zu haben,
war vielleicht 1:1 000. Wir haben uns dann
aber einfach darauf konzentriert, zu beweisen, dass unsere Idee besser war als die
bisherige Technologie, und blieben einfach dran.
Grainger: Und in der Wirtschaft winkt
ja keine Goldmedaille, und es gibt wohl
auch nicht die eine Ziellinie.
Medlock: Richtig, bei uns ist das etwas
schwerer zu fassen. Es geht um Fragen wie:
Katherine Grainger ______________
37, ist eine der berühmtesten
Sportlerinnen Großbritanniens.
Keine andere britische Athletin
hat mehr olympische Medaillen
gewonnen als sie. Sie ist dreifache Silbermedaillengewinnerin
bei Olympischen Ruderwettbewerben und sechsfache Weltmeisterin. Der Höhepunkt ihrer
Karriere war die hart erkämpfte
Goldmedaille bei den Olympischen
Spielen 2012 in London.
2006 wurde sie zum Member of
the British Empire (MBE) und
2013 zum Commander of the
British Empire ernannt. Grainger
studierte zunächst Jura an der
Universität Edinburgh. Anschließend erwarb sie den Abschluss
eines MPhil in Medizinrecht an
der Universität Glasgow. Vor
kurzem hat sie ihre Promotion
am King’s College London abgeschlossen.
36
Focus Potenzial
Dialog
Ben Medlock ____________________
34, ist Mitgründer und CTO von
SwiftKey. Das Londoner Unternehmen hat eine hochinnovative
und komfortable Eingabehilfe
für Smartphones entwickelt,
die von Anfang an ein Riesenerfolg war: Bereits am Tag ihrer
Einführung im Jahr 2010 wurde
sie 50 000 Mal heruntergeladen, inzwischen sind mehr als
15 Millionen weitere Downloads
hinzugekommen. 2012 hatte
SwiftKey bei den Global Mobile
Awards in der Kategorie Most
Innovative Mobile App gegenüber
Google die Nase vorne. Medlock
promovierte an der Universität
Cambridge im Fachbereich Natural Language and Information
Processing und verfügt über einen
MPhil-Abschluss in Computer
Speech, Text and Internet Technology. Er studierte außerdem
Betriebswirtschaft und Musik,
beides Felder, die neben Fußball ebenfalls zu seinen Leidenschaften zählen.
Wann ist der Punkt, an dem wir es geschafft
haben? Wenn wir anfangen, schwarze Zahlen zu schreiben? Wenn wir mehr als 50 Mitarbeiter haben oder eine erste Auszeichnung in der Branche bekommen haben?
Alle diese Stufen sind Meilensteine. Aber
so ganz genau weiß man wohl nie, ob man
sich zurücklehnen und sagen kann: Das
ist jetzt Erfolg.
Grainger: Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren ist für mich das Team, dem ich angehöre: die Partnerin, mit der ich im Boot
sitze, und unser gemeinsamer Trainer Paul
Thompson. Die beiden machen einen
enormen Unterschied, wenn es darum geht,
mich zu motivieren. Und Motivation ist
das A und O. Wie hast du denn deinen Partner ausgewählt?
Medlock: Jon Reynolds und ich kennen uns
schon von der Uni her. Diese Freundschaft
spielt eine wichtige Rolle in unserer Beziehung. Sie hat uns geholfen, fokussiert bei
der Sache zu bleiben und einander zu vertrauen, was uns beiden extrem wichtig ist.
Wir hatten von Anfang an großen gegenseitigen Respekt füreinander und waren
uns einig, dass wir uns hundertprozentig
für unser Projekt einsetzen mussten. Sicherlich ist es beim Rudern auch so: Wenn es
darum geht, ein schwieriges Ziel zu erreichen, musst du darauf bauen können, dass
auch dein Partner dieses Ziel über alles
andere stellt.
Ich bin sehr froh darüber, dass wir zu zweit
sind, denn wenn einer von uns einen
Durchhänger hat, ist der andere meist in
der Lage, ihn wieder aufzubauen. Für mich
ist klar, dass diese Beziehung von grundlegender Bedeutung war und ist, vor allem
am Anfang, als wir uns noch klein und
ungenügend vorkamen.
Grainger: Am Anfang ist alles eine ziemlich krasse Mischung aus schierer Anstrengung und Learning by Doing.
Medlock: Ja, wir mussten wirklich viel lernen. Wir haben uns ganz bewusst dafür
entschieden, alles, was an uns herangetragen wurde, aufzunehmen und sämtliche
guten Ratschläge anzuhören. Keiner von
uns hatte das Glück, einen echten Mentor
an seiner Seite zu haben, aber viele haben
uns geholfen, uns weiterzuentwickeln.
Der einzige, der für mich so etwas wie ein
persönlicher Mentor war, war mein Doktorvater in Cambridge, der auch schon sehr
früh in unser Unternehmen investiert hat.
Aber er ist nur einer von vielen Weggefährten, die für uns eine wichtige Rolle gespielt
haben. Wenn du ein neues Unternehmen
aufbaust, ist es unglaublich wichtig, ein
gutes Netzwerk zu schaffen. Und das haben
wir getan.
Grainger: Beim Rudern kann man sich
nicht selbst aussuchen, mit wem man im
Boot sitzt. So gesehen ist das ein bisschen
schwieriger. Natürlich gibt es Konstellationen, von denen man denkt, dass sie passen
könnten, aber wie du vorhin schon sagtest, kommt es sehr auf Vertrauen und die
persönliche Einstellung an, auf die Kommunikation untereinander, auf die gleiche
Einschätzung der Lage und wie es weitergehen soll. Auch wenn man die besten Athleten zusammen ins Boot setzt, kann es
sein, dass es nicht optimal läuft. Es fehlt
vielleicht nicht viel, dass es passt und die
Leistung ist durchaus da, aber irgendetwas
fehlt und oft kommt es auf diese Kleinigkeit an. Die Chemie muss stimmen. Natürlich kann man sich um der Sache willen
zusammenreißen, aber wenn die Chemie
von Anfang an stimmt, ist das sehr viel
einfacher. Als Anna Watkins und ich vor
drei Jahren zum ersten Mal in einem Boot
saßen, hatten wir beide dem Team schon
fünf Jahre lang angehört, hatten bis dato
aber noch nie zusammen gerudert. Wir
hatten schon damals großen Respekt vor
der Leistung der jeweils anderen. Und bereits vom ersten Moment an passte alles.
Medlock: Was war es denn genau, was sich
so richtig angefühlt hat?
Grainger: Eigentlich sagt dir das Boot
selbst, was es braucht. Du musst nur sensibel dafür sein. So gesehen waren wir wohl
beide auf derselben Wellenlänge, denn wir
sind nur so davongezogen. Anna sitzt hinter mir im Boot. Sie gibt die Anweisungen.
Es war fast wie Gedankenübertragung:
Sie sprach aus, was ich gerade gedacht hatte. Und wenn ich antwortete, sagte sie:
„Genau das wollte ich auch gerade sagen.“
Es war einfach genial. Alles fühlte sich so
richtig und so einfach an. Wir dachten
uns beide: Wenn wir jetzt schon so gut
harmonieren, wie genial wird das erst in
drei Jahren sein?
Dass die Chemie stimmt, ist also sehr wichtig, aber es ist nicht alles, denn du musst
auch schnell sein. Nur wenn die Zeiten auch
stimmen, kannst du mit deinem Wunschpartner rudern. Also sind wir ein paar Tage
später auf Zeit gefahren und wir hatten in
jedem Rennen die Nase vorn. Von diesem
Moment an wussten wir, dass wir gemeinsam an den Start gehen würden.
37
„Glück, Zufriedenheit
und Eintracht sind
der Kreativität leider
selten förderlich.“
Ben Medlock
38
Focus Potenzial
Dialog
Medlock: Ich glaube, einer der Gründe für unseren
geschäftlichen Erfolg liegt darin, dass mein Partner
Jon und ich oft ganz unterschiedliche Sichtweisen
haben. Da kommt es schon mal vor, dass es bei Gesprächen heiß hergeht, aber letztlich ist das gut für
das Geschäft. Es hält uns auf Zack und schärft unser
Denken. Es ist das klassische Lennon-McCartneyPhänomen: Sobald sich die Beatles aufgelöst hatten,
fehlte irgendwie die kreative Spannung. Glück,
Zufriedenheit und Eintracht gelten zwar oft als
Idealzustand, doch leider sind sie der Kreativität
selten förderlich.
Grainger: Beim Rudern geht es natürlich nicht um
kreative Spannung, aber für unsere Zusammenarbeit ist es sicher positiv, dass Anna und ich in mancher Hinsicht gleich, in anderer Hinsicht aber
völlig unterschiedlich sind. Anna ist von Haus aus
Mathematikerin. Sie sieht die Dinge sehr logisch,
ist sehr rational und genau und geht sehr analytisch
an alles heran. Ich hingegen komme aus dem geisteswissenschaftlichen Lager und lasse mich sehr
viel stärker von Gefühlen leiten. Das Großartige
an unserer Beziehung ist, dass wir Dinge zwar aus
unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, bei
Entscheidungen letztlich aber meist doch zum
gleichen Schluss kommen. Die Tatsache, dass wir
trotz unterschiedlicher Herangehensweisen zum
gleichen Ergebnis kommen, bestärkt uns zusätzlich darin. Und bei aller Verschiedenheit sind uns
die gleichen Dinge wichtig. Wir wissen beide genau, was wir von unserem Boot erwarten und wie
wir das erreichen wollen. Wir sind beide extrem
ehrgeizig und haben jederzeit unser Ziel und den
Weg dorthin klar vor Augen.
Medlock: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass
Persönlichkeit genauso wichtig ist wie Kompetenz.
Wer Erfolg haben will, braucht beides.
Grainger: Stimmt. Unsere Scouts schauen bei potenziellen Kandidaten auf die Größe, messen die
Spannweite der Arme und testen, was du an der
Rudermaschine drauf hast. Was sich aber nicht so
einfach messen lässt, sind die persönlichen Eigenschaften, also die mentale Seite eines Kandidaten.
Selbst wenn du die talentierteste Ruderin der Welt
bist, heißt das noch lange nicht, dass du gewinnen wirst, denn worauf es wirklich ankommt, sind
Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen – und
zwar tagein, tagaus. Jeder hat Ziele, aber nur wenige
sind bereit, dafür Opfer zu bringen und sich zu
schinden. Wer erfolgreich sein will, muss arbeiten,
sich anpassen, Niederlagen wegstecken, hinzulernen und immer weiter an sich arbeiten … All das
gehört dazu. Ohne die richtige Motivation wird
der Traum nie Wirklichkeit.
Medlock: In meiner Branche ist Neugier eine entscheidende Motivationsquelle. Wenn dich etwas
fasziniert und du es nicht mehr aus dem Kopf kriegst.
Das ist der Punkt, an dem Neugier auf Besessen-
Der Dialog von Katherine Grainger und Ben Medlock
in Marlow wurde von Ulrike Krause, FOCUS, und James
Martin, Egon Zehnder, London, moderiert.
39
heit trifft und daraus wird Eigenmotivation. Ich habe da eine Theorie: Suche nach
Menschen mit unstillbarer Neugier und du
findest die Menschen mit dem wahrscheinlich größten Potenzial.
Genau wie beim Rudern lassen sich auch
in der Geschäftswelt die entwicklungsfähigen Kompetenzen messen, wenn es um
die Auswahl geeigneter Kandidaten geht.
In meiner Branche lassen wir die Kandidaten Programmieraufgaben lösen, geben
ihnen Logikrätsel auf usw. Das ist der einfachere Teil. Wir arbeiten mit einem OnlineTest. Dieser Test ist die erste Hürde, die ein
Bewerber nehmen muss, bevor wir ihn zu
uns einladen. Das gibt uns schon mal einen
wichtigen Anhaltspunkt für die Problemlösungskompetenz des Kandidaten.
Grainger: Damit gibst du dich aber nicht
zufrieden, oder? Der ideale Kandidat muss
sicherlich mehr können. Du bist auf der
Suche nach der ganz besonderen persönlichen Eigenschaft, die dir zeigt, dass der
Kandidat nicht nur Grips hat …
Medlock: Das ist der Punkt, an dem du
jemanden brauchst, der nicht nur Talent,
sondern auch persönliche Eigenschaften
erkennt. Wie gut passt diese Person zu
unserer Unternehmenskultur? Wie gut wird
er mit dem bestehenden Team zusammenarbeiten? Hier eine schlüssige Aussage zu
treffen, ist sehr schwierig und es bedarf vielfältiger Überlegungen, um die unterschiedlichen Faktoren herausarbeiten. Als es darum ging, die Firma zu vergrößern, war
eine meiner ersten Maßnahmen, jemanden
einzustellen, der deutlich älter und erfah-
rener war als wir und dem ich guten Gewissens die Aufgabe übertragen konnte, ein
für uns maßgeschneidertes Team von Ingenieuren zusammenzustellen. Das war ein
nicht zu unterschätzender, wichtiger Schritt
in unserer Unternehmensentwicklung.
Grainger: Hast du dir schon überlegt, was
danach kommen könnte, wenn du mit
SwiftKey alle Ziele erreicht hast? Bei mir ist
klar, dass ich mir etwas Neues suchen muss,
denn leider kann ich nicht ewig Top-Athletin bleiben. Im Moment kann ich mir noch
nichts vorstellen, was das Rudern ersetzen
könnte, denn ich suche natürlich etwas, was
mich genauso fordert und erfüllt. Das brauche ich einfach. Im Moment habe ich noch
keine Ahnung, was das sein könnte, und
das ist schon ein seltsames Gefühl. Ich hatte
jetzt so lange ein klares Ziel vor Augen,
dass mir der Gedanke daran, dass das nicht
mehr der Fall ist, sehr seltsam vorkommt.
Medlock: Was mir ein bisschen Kopfzerbrechen bereitet, ist die Tatsache, dass die
Dimensionen der Herausforderungen,
denen ich mich stelle, mit zunehmendem
Lebensalter immer größer werden, denn
etwas in mir verlangt nach immer größeren
Zielen. Also lautet auch bei mir die fortwährende Frage: Was kommt, wenn diese
Herausforderung nicht mehr da ist? Womöglich kommt da ja dann nichts mehr,
was mich völlig in den Bann zieht?
Grainger: Hast du denn schon im Hinterkopf, was dein nächstes großes Projekt
werden könnte?
Medlock: Ein paar Ideen hätte ich schon,
aber irgendwie ist es bei mir so, dass mich
nie die gleiche Thematik zweimal fesselt.
Als Kind wollte ich unbedingt Raumfahrer
werden, später dann Fußballer. Mit der
Zeit wurden meine Ideen etwas realistischer.
Eine Weile lang wollte ich Musiker werden,
dann Liedermacher, etwas später dann Wissenschaftler und irgendwann mal wollte
ich unbedingt meine eigene Firma haben.
Ich denke, die grobe Richtung wäre schon,
noch mal ein Unternehmen zu gründen.
Aber dann denke ich: „Könnte es wirklich
wieder so genial sein wie früher?“ Für dich
muss das ja noch viel stärker zutreffen.
Du hast die Goldmedaille gewonnen – also
genau das, wovon die meisten nur träumen.
Du hast alles erreicht. Wie hältst du dein
Selbstwertgefühl aufrecht, wenn du alles
erreicht hast? Lässt sich der Erfolg wirklich
toppen? Ich kann mir gut vorstellen, dass
nach einem so ungeheuren Erfolg eine Phase
der Trauer kommt.
Grainger: Viele trauern tatsächlich. Ich
selbst hatte ja auch schon meine Trauerphase. Der Gewinn der Goldmedaille war
aber ein so grandioses und emotionsgeladenes Ereignis, dass ich davon noch lange
gezehrt habe und sich deshalb danach
keine Trauer einstellte. Ich hatte wirklich
fünf Monate lang ein permanentes Hoch.
Überall wo ich hinkam, waren die Leute
voll des Lobs und der Anerkennung für
meine Leistung. Die Welt feierte mit mir,
und ich wurde für viele zum Vorbild. Ich
hatte das große Glück, Teil von etwas ganz
Großem und Besonderem zu sein. Egal,
wie es weitergeht, ich werde nicht versuchen, diesen Erfolg zu toppen.
Foto: “voltaDom”, Skylar Tibbits, MIT
01 _ Ideen für die Zukunft
Skylar Tibbits
Vier außergewöhnliche Talente – und vier zukunftsweisende Projekte: Auf den folgenden Seiten stellen wir Persönlichkeiten vor, die unsere Gesellschaft nachhaltig
verändern wollen. Mit ihrer Arbeit überwinden sie Grenzen – zwischen Lebewesen und
Maschine, Programmierung und Bewusstsein, Spiel und Lernen. Den Anfang macht
der junge amerikanische Architekt Skylar Tibbits. Er ist Pionier eines Forschungszweiges
namens „Programmable Matter“. Seit Jahren ist der MIT-Absolvent auf der Suche
nach dem „intelligenten Ziegelstein“. Der einzelne, ähnlich wie die DNA mit einem
genetischen Code versehene Baustein wird zur programmierbaren Materie, die sich zu
völlig neuen Objekten zusammensetzen lässt. Eine von Tibbits Visionen: Gebäude,
die sich selbst zusammenbauen, selbst vervielfältigen und selbst reparieren.
41
Führung
Auf der Suche nach
den verborgenen Schätzen ––––––
Wie sich die Leistungsträger von
morgen schon heute erkennen lassen
Seite 42
Letztverantwortung
––––––
Entscheidungskriterien bei der Besetzung
der Spitzenposition
Seite 46
Neue Spielregeln
––––––
Der Chief Human Resources Officer – Katalysator
einer nachhaltigen Potenzialstrategie
Seite 50
Hebelwirkung
––––––
Wie die richtigen Auswahlkriterien die Vielfalt
im Unternehmen nachhaltig fördern können
Seite 54
42
Focus Potenzial
Führung
Auf der Suche nach den
verborgenen Schätzen
––––––––
Wie sich die Leistungsträger von morgen schon
heute erkennen lassen
Von Tilman Gerhardt und Jens Riedel
Selbst Unternehmen, die bislang zu den Vorreitern erfolgreicher Talentförderung gehörten, zweifeln heute gelegentlich an ihrer Fähigkeit, Führungstalente
von morgen treffsicher zu identifizieren. Angesichts wachsender Komplexität
und Unsicherheit in einem sich schnell wandelnden Unternehmensumfeld
reichen die herkömmlichen Methoden offenbar nicht mehr aus, um Potenzial
sicher zu erkennen. Doch Führungstalent ist die Währung, die über Erfolg und
Misserfolg von Unternehmen künftig immer stärker entscheiden wird. Das
Assessment von vier Persönlichkeitsmerkmalen verspricht nun eine deutlich
höhere Prognosegenauigkeit. Warum die High Performer von heute nicht
zwingend die High Potentials von morgen sind und wie sich Letztere finden,
fördern und halten lassen, beschreibt der nachfolgende Beitrag.
In der Liste zunächst unterschätzter und verkannter Genies finden sich zahlreiche prominente
Namen. Albert Einstein beispielsweise gehört dazu oder der britische Staatsmann Winston
Churchill. Ihre Lehrer prophezeiten beiden eine düstere, zumindest aber glanzlose Zukunft. Sie
sollten sich irren. Auch in der Unternehmenslandschaft gelangen mitunter Manager, die niemand auf der Rechnung hatte, auf den Chefsessel und führen ihre Unternehmen in aller Stille zu
Spitzenleistungen. Umgekehrt erfüllen manche einst hochgelobte „Wunderkinder“ als CEOs
die in sie gesetzten Erwartungen nicht – mit teilweise dramatischen Folgen für die Organisationen, die sie leiten.
Dabei verwenden Unternehmen gerade auf die Auswahl ihrer Führungskräfte inzwischen in
der Regel große Sorgfalt. Schon bei der Einstellung von potenziellem Führungsnachwuchs scheuen sie meist keine Kosten und Mühen, um mit Hilfe etwa von Assessment-Centern und anderen
ausgefeilten Methoden die besten Bewerber für sich herauszufiltern. Die Nachwuchskräfte werden dann oft über Jahre umfassend bewertet und ihren Stärken und Schwächen entsprechend
ge- und befördert. Bei Neubesetzungen von Toppositionen vergleichen die Personalverantwortlichen in den Firmen die Leistungen von internen und externen Kandidaten. Aufsichtsrat und
Vorstand nehmen Aspiranten für die wichtigsten Führungsaufgaben persönlich genau unter
die Lupe. Wie also kann es trotz aller Sorgfalt und Mühe zu gelegentlich gravierenden personellen
Fehlentscheidungen kommen? Was haben die betroffenen Unternehmen bei der Auswahl möglicherweise übersehen oder falsch eingeschätzt? Und vor allem: Wie lassen sich solche Fehler
künftig vermeiden?
In der Tat zweifelt inzwischen manches Unternehmen trotz seiner oft langjährigen, fundierten Erfahrungen in der Personalentwicklung gelegentlich an seiner Fähigkeit, Talent richtig zu
identifizieren und zu fördern. In einigen Unternehmen liegt dies womöglich am zu direkten
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(Kurz-)Schluss von bisherigen und aktuellen Leistungen und Kompetenzen auf das weitere
Potenzial. Auch dort, wo man sich des Unterschieds sehr wohl bewusst ist, tut man sich teilweise
mit der Diagnose von Potenzial schwer: Welche Führungskraft hat die Grenzen ihrer Leistungskraft schon erreicht und bei wem geht noch was?
Eine Studie des renommierten amerikanischen Corporate Leadership Council, an der sich
die Personalchefs von rund 150 Konzernen weltweit beteiligten, ergab beispielsweise, dass in
den befragten Unternehmen 93 Prozent der High Potentials zugleich High Performer waren, aber
nur 29 Prozent der aktuellen High Performer auch High Potentials. Das heißt, dass vergangene
und gegenwärtige Leistungsfähigkeit durchaus wichtige Hinweise auf die Talente im Unternehmen
liefern und auch anzeigen, bei wem es sich lohnt, genauer hinzuschauen – aber eben nicht
mehr. Als alleinige Indikatoren und vor allem als Entscheidungsgrundlage reichen sie nicht aus.
Freie Valenzen
_
Schlüsselelemente
Für die umfassende Beurteilung einer Führungskraft muss sich der Blick
auf drei Elemente richten:
die Leistungen in der Vergangenheit, die heute
demonstrierten Kompetenzen und das noch nicht
ausgeschöpfte Potenzial
für die Zukunft.
_
VUCA
Die Abkürzung kennzeichnet ein Umfeld, das von
Volatility, Uncertainty,
Complexity und Ambiguity
geprägt wird. Ursprünglich von amerikanischen
Militärs in Entscheidungsfindungsprozessen genutzt,
hat das Konzept inzwischen
Eingang in den wirtschaftlichen Diskurs gefunden.
Die umfassende Beurteilung einer Führungskraft erfordert also den genauen Blick auf drei
Schlüsselelemente: die Leistungen in der Vergangenheit, die heute demonstrierten Kompetenzen
und das noch nicht ausgeschöpfte Potenzial für die Zukunft. Alle drei Elemente sind bei einer
umfassenden Evaluierung wichtig, doch sie müssen getrennt voneinander betrachtet und bewertet werden. Erst die fundierte Analyse des Potenzials ermöglicht dabei mehr als nur eine kurzfristige Aussage über den nächsten Karriereschritt. Sie erlaubt – und das ist der entscheidende
Unterschied zu den bisher mehrheitlich angewandten Bewertungsmethoden – einen recht sicheren Blick auf die freien Valenzen eines Managers, auf sein mittel- und langfristiges Potenzial,
deutlich größere und komplexere Aufgaben zu übernehmen, und auf das Tempo, mit dem ihm
das gelingen könnte – als Bereichsleiter, Vorstand oder Vorstandsvorsitzender.
Die in der Praxis gelegentlich anzutreffende methodische Vermischung des Potenzials mit
anderen Karrierefaktoren kann dagegen zu unterschiedlichen Fehleinschätzungen führen. Fehler
erster Art wären, Potenzial nicht oder nicht frühzeitig genug zu erkennen und „ungeschliffene
Diamanten“ zu übersehen. Die betroffenen Talente werden nicht entsprechend gefördert, verkümmern oder gehen.
Fehler zweiter Art wären, dass einer Führungskraft Potenzial fälschlich zugesprochen oder
ihr Potenzial entscheidend überschätzt wird. Das kann ebenfalls gravierende Folgen für die
Organisation haben: Es werden die falschen High Potentials ge- und befördert, während vielleicht verkannte Talente das Unternehmen bereits verlassen haben. Beides kann die Organisation auf Dauer teuer zu stehen kommen; nicht nur in Form nicht punktgenau eingesetzter Mittel
in der Personalentwicklung und im Talentmanagement. Schwerer wiegt, dass darunter auf
lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit des ganzen Unternehmens leiden kann: operativ und strategisch unter einer schwachen Führung und/oder im Kampf um Talente unter einem schlechten
Ruf als Employer.
Ein neues Führungsparadigma
Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität kennzeichnen die neue Normalität, in
der Unternehmen heute agieren. Diese Faktoren beeinflussen nicht nur Geschäftsmodelle und
Abläufe in den Organisationen, sondern ganz gravierend auch die Art, wie Unternehmen geführt
werden müssen. Die Erfahrungen, Fähigkeiten und Kompetenzen, die Führungskräfte in der Vergangenheit entwickelt haben, um ihre Unternehmen erfolgreich zu lenken, reichen nicht länger
für eine weiterhin erfolgreiche Zukunft. Märkte, das Wettbewerbsumfeld und Geschäftsmodelle
verändern sich in immer kürzeren Zyklen.
Neue Märkte, von deren Spielregeln viele etablierte Unternehmen wenig bis gar nichts verstehen, überholen mit ihrem Entwicklungstempo jeden Geschäftsplan. Kundenbedürfnisse
verändern sich von Grund auf. Das Internet eröffnet neue Kommunikations- und Vertriebswege
und lässt tradierte veröden. Die etablierten Muster der Zusammenarbeit zwischen Führungskräften unterschiedlicher Seniorität, aber auch zwischen Führungskräften und Mitarbeitern haben
sich grundlegend geändert und sind weiter im Wandel. Führungskräfte müssen sich darauf
nicht nur einstellen, sondern die Implikationen von Nachhaltigkeit, Vielfalt und etwa des völlig
veränderten Kommunikationsverhaltens nachwachsender Generationen für ihr Unternehmen
verstehen und nutzen können – mit Lernbereitschaft, Phantasie, strategischem Denken, klaren
Zielsetzungen und Handlungsfähigkeit.
44
Focus Potenzial
Führung
_
Persönlichkeitsmerkmale
bezeichnen eine relativ
dauerhafte Disposition, die
bestimmte Aspekte des
Verhaltens eines Menschen in
bestimmten Situationen
beschreiben und vorhersagen soll.
Aufgrund dieser vielfältigen Veränderungen und neuen Anforderungen haben wir uns bei
egon zehnder die Frage gestellt, über welche Fähigkeiten Führungskräfte künftig verfügen
müssen und wie diese möglich frühzeitig identifiziert werden könnten. ergebnis ist ein tool
zur Potenzialanalyse, das seine Validität im Praxiseinsatz inzwischen bewiesen hat. in dieses
tool sind neben unseren langjährigen Praxiserfahrungen aus executive Search, Management
Appraisal, talent Management und Board Consulting die erkenntnisse renommierter Wissenschaftler unterschiedlicher Fakultäten – von der Psychologie über die Personalwirtschaft bis hin
zur erziehungswissenschaft – eingeflossen. Wir haben die Potenzialanalyse in ausgewählten
Unternehmen praktisch erprobt und mit hohem erkenntniswert für die Unternehmen wie für
die beteiligten Manager angewandt.
im Wesentlichen untersuchen wir mit dem Analysetool die Ausprägung von vier Persönlichkeitsmerkmalen bei den zu bewertenden Führungskräften.
Neugier: eine neugierige Persönlichkeit sucht proaktiv nach neuen erfahrungen, ideen und
Wissen, ist stets offen für lernprozesse und Veränderungen. Sie hat Spaß am experimentieren
und liebt ständige intellektuelle und persönliche Herausforderungen.
Ganzheitliches Denken: Diese eigenschaft beschreibt die Fähigkeit, aus einer Vielzahl von teilweise auch widersprüchlichen informationen ein sinnvolles ergebnis zu destillieren, einen
intelligenten zusammenhang zwischen einzeldaten und -ereignissen etwa in der eigenen
Organisation und dem großen Ganzen herzustellen und daraus Handlungsalternativen abzuleiten. Ganzheitlich denkende Persönlichkeiten überwinden tradierte Raster und Muster,
verändern mit ihren einsichten überkommene Sichtweisen und geben neue Richtungen vor.
Überzeugungskraft: eine überzeugende Persönlichkeit versteht es, sowohl auf emotionaler
als auch auf rationaler ebene engen Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen; nicht
nur im Vieraugengespräch, sondern auch mit Gruppen. er oder sie kann andere von seinen/
ihren Visionen überzeugen oder sie dafür begeistern, schafft ein enges Gefühl der Verbundenheit zum team oder zu einer ganzen Organisation. Die überzeugende Führungskraft ist
zugleich achtsam, empathisch, inspirierend und anfeuernd.
Entschlossenheit: Diese eigenschaft umfasst eine Kombination verschiedener Attribute – den
Mut und die Bereitschaft, intelligente Risiken einzugehen, Durchhaltevermögen bei Schwierigkeiten und die Fähigkeit, sich von Rückschlägen schnell zu erholen und sich nicht entmutigen zu lassen. Sie meint aber auch die Bereitschaft, die eigenen ziele selbstgesteuert ständig
zu überprüfen und, wenn nötig, zu korrigieren.
Karrieretreiber Neugier
Diese Persönlichkeitsmerkmale kommen durchaus bereits in den Kompetenzen zum Ausdruck,
die ein executive für seine gegenwärtige Aufgabe braucht. So haben strategische Orientierung
und Change leadership ganz klar einen Bezug zum ganzheitlichen Denken. team leadership, die
Fähigkeit zur zusammenarbeit und inclusiveness sind ohne Überzeugungskraft schwerlich
denkbar und ergebnisorientierung setzt entschlossenheit voraus. Der entscheidende Unterschied
ist aber, dass mit der Bewertung der Kompetenzen nur die Ad-hoc-leistungsfähigkeit einer
Führungskraft festgestellt wird. Die Analyse des Potenzials setzt tiefer an. Sie untersucht die psychologische Basis, quasi die persönlichkeitsimmanenten treiber der Kompetenzen.
eine fundierte Aussage über das Potenzial ist somit auch schon in den frühen Stadien einer
Führungskarriere möglich. Jüngere Führungskräfte haben vielleicht die gesuchten Persönlichkeitsmerkmale, hatten bisher aber noch keine Gelegenheit, ihre Kompetenzen vollumfänglich
zu entwickeln. Wenn eine Potenzialanalyse diese frühzeitig zu tage fördert, können Vorgesetzte und HR-Verantwortliche mit entsprechenden entwicklungsprogrammen und Aufgaben
zunehmender Komplexität darauf reagieren. Bei einem Senior executive ergibt der Abgleich
zwischen seinen Kompetenzen und Potenzialmerkmalen möglicherweise, dass er mit seiner
aktuellen Aufgabe optimal ausgelastet ist und jede weitere Beförderung in Aufgaben größerer
Komplexität eine Überforderung darstellen würde.
eines der interessantesten ergebnisse bei der entwicklung unseres Potenzialmodells ist die
wesentliche Rolle der neugier. zeitgenössische Business-ikonen wie Bill Gates oder der Brite
Richard Branson zum Beispiel fanden in ihren frühen Jahren mit ihrer experimentierfreude sicher
nicht immer den Beifall des Mainstreams. Aber sie haben mit ihrem Mut, neuland zu betreten,
milliardenschwere Unternehmen, neue industrien und Märkte begründet.
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neugier ist ein psychologisches Konstrukt. Psychologen beschreiben damit die Reaktion eines
individuums auf Veränderungen in seinem Umfeld. in der wissenschaftlichen literatur wird häufig
der kanadische Psychologe Daniel e. Berlyne zitiert, der in den 1960er Jahren als einer der ersten
in (tier-)experimentellen Studien untersuchte, welche Bedingungen seine kleinen Probanden
neugierig machten. Berlyne fand dafür vier Aspekte: neuartigkeit, Komplexität, Ungewissheit und
Konflikte; Faktoren, mit denen nicht nur Berlynes labormäuse konfrontiert waren, sondern die,
wie bereits beschrieben, auch die heutige Situation in der Unternehmenswelt entscheidend bestimmen. Aktuell hat deshalb der Wirtschaftspsychologe Patrick Mussel, Wissenschaftler an der
Julius-Maximilians-Universität in Würzburg, erforscht, ob und wie neugier als indikator für die
künftige berufliche Performance taugt. Mussels Fazit: neugier sei eine entscheidende, womöglich gar die wichtigste Variable für die Vorhersage und erklärung von beruflichen leistungen.
Angesichts der dramatischen Veränderungen in der Arbeits- und Unternehmenswelt spiele die
neugier eines Menschen auch bei seiner eignung als Führungskraft eine entscheidende Rolle.
Die beschriebenen vier Persönlichkeitsdimensionen in unserem Potenzialmodell sind deshalb so aussagekräftig, weil ihnen die – oft unbewussten – Motive persönlichen Verhaltens, die
emotionalen Antriebskräfte eines Menschen zugrunde liegen. Sie sind im Gegensatz etwa zu
Wissen und Können nur schwer zu ändern, da sie schon sehr früh in der Sozialisation einer Persönlichkeit festgelegt werden und neurophysiologisch verankert sind. Da oft unbewusst, sind
sie aber nur schwer greifbar. Um ihnen dennoch auf die Spur zu kommen und ihre Ausprägung
zu erfassen, verwenden wir ausführliche, nach wissenschaftlichen erkenntnissen strukturierte
interviews bzw. psychometrische testverfahren.
Auch wenn Motive – im Sinne einer triebfeder – schwer zu ändern sind, kann eine Führungskraft
lernen, bewusst mit ihnen umzugehen, und verstehen, wie sie ihre Stärken optimal für ihre persönliche Weiterentwicklung und die des Unternehmens nutzen kann. Das Gegenteil gilt natürlich
auch: Wohl dem, der den Rahmen seiner Möglichkeiten erkennt und sich darin zufrieden bewegt.
Talentmanagement auf neuer Basis
Dr. Tilman Gerhardt
ist seit 1995 Berater im Münchener Büro von egon zehnder.
er ist Co-leader der deutschen
Aktivitäten der leadership
Strategy Services Practice und
ist Mitglied der technology
and Communications Practice.
[email protected]
Dr. Jens Riedel
ist seit 2005 Berater im Berliner
Büro von egon zehnder. er ist
Mitglied der Financial Services,
leadership Strategy Services,
Public and Social Sector und CeO
Succession Practices.
[email protected]
Wenn Potenzial klar definiert ist und seine einzelmerkmale dementsprechend erfasst und bewertet werden, kann das Unternehmen sein talentmanagement neu ausrichten.
Potenzial früh identifizieren. Die Persönlichkeitsmerkmale und individuellen Motivationsstrukturen, die Rückschlüsse auf das Potenzial zulassen, können schon früh in einer Führungslaufbahn erfasst und bewertet werden. zwar sind, wie gesagt, die den Merkmalen des Potenzials zugrunde liegenden Motive nur schwer zu ändern. Aber wer sie kennt, kann bewusster
Positionen wählen, die zu seiner Motivstruktur passen, oder gezielter energie in den Bereichen
investieren, die ihm aufgrund seiner Motivstruktur schwerer fallen.
Individuelle Karrierechancen entwickeln. Umgekehrt kann das Unternehmen mit passenderen
beruflichen Aufgaben reagieren, die das anfangs nur in Ansätzen erkennbare Potenzial herausfordern und fördern. eine Karriere und berufliche Aufgaben, die dem jeweiligen Potenzialträger
optimal entsprechen, verhindern, dass er unterfordert oder falsch eingesetzt vor sich hin kümmert oder das Unternehmen verlässt.
Personelle Fehlinvestitionen vermeiden. Mit einer Potenzialanalyse zeigt sich früh, wer zu den
High Potentials gehört und wer „nur“ High Performer ist. Damit wird ein zielgerichtetes und
individuell angepasstes talentmanagement möglich. Das Unternehmen kann von Anfang an
die entwicklung seiner vielversprechendsten Führungstalente vorantreiben. Fehlinvestitionen
in die falschen Kandidaten werden vermieden.
Risiken für die Organisation minimieren. Wenn also die Potenzialanalyse ein fester Bestandteil
des talentmanagements der Führungskräfte in der gesamten Organisation wird – bei der einstellung externer talente ebenso wie bei internen Beförderungen auf allen ebenen und bei der
nachfolgeplanung für die toppositionen –, dann profitieren davon nicht nur die High Potentials,
sondern das Unternehmen insgesamt.
Auch Organisationen haben ihre Stärken und Schwächen. Wer genau weiß, welche Führungstalente wo im Unternehmen tätig sind und wo sie möglicherweise fehlen, kann umfassende Strategien entwickeln, um seine personellen Stärken optimal zu nutzen. Wo es Schwachstellen gibt, können gezielt High Potentials mit den gesuchten eigenschaften rekrutiert werden. Oder das Unternehmen könnte sich entsprechend seinem talentpool neu auszurichten. Denn die richtige Besetzung
aller Führungspositionen wird in zukunft noch weit stärker als bisher darüber entscheiden, ob
ein Unternehmen zu den Siegern im globalen Wettbewerb gehört – oder zu den Verlierern.
46
Focus Potenzial
Führung
Letztverantwortung
––––––––
Entscheidungskriterien
bei der Besetzung
der Spitzenposition
Von Johannes Graf von Schmettow
und Stephan L. Buchner
Es ist eine Situation, mit der sich jedes Unternehmen über kurz
oder lang regelmäßig konfrontiert sieht – die Neubesetzung seiner
Topposition. Nehmen wir folgendes Beispiel: In einem großen
Industrieunternehmen mit mehr als 100 000 Mitarbeitern und
einem Umsatz im deutlich zweistelligen Milliardenbereich
stand die reguläre Nachfolge des CEO an. Schon mehrere Jahre
zuvor hatte der Aufsichtsrat drei potenzielle Kandidaten ausgewählt. Alle drei waren bereits länger im Unternehmen und auf
der zweiten Ebene der Organisation für große Verantwortungsbereiche zuständig.
In einem zweijährigen Prozess wurden die Kandidaten gründlich auf die Probe gestellt. Jeder erhielt zusätzlich ein großes strategisches Projekt – Marketing-Sales-Optimierung der eine, Outsourcing bzw. Risikomanagement die beiden anderen. Daneben
wurde jeder sorgfältig bei seinen operativen Aufgaben beobachtet. Allen dreien war bekannt, worum es ging, und sie wussten um
ihre Konkurrenten. Die Entscheidung fiel schließlich für jenen
Kandidaten, dem der Aufsichtsrat die entscheidende strategische
Kraft zutraute, das Unternehmen im kommenden Jahrzehnt neu
zu definieren. Die beiden anderen verließen den Konzern wenig
später und nehmen heute andernorts Führungspositionen ein.
Der CEO ist immer noch im Unternehmen tätig. Den Ausschlag gab
am Ende übrigens die Performance der drei Kandidaten in ihren
„normalen“ Jobs, nicht jene in den Sonderprojekten.
Alles richtig gemacht?
Keine der Aufgaben im Unternehmen ist
mit dem Sprung auf die Vorstandsebene zu
vergleichen. Ein CEO muss heute weit mehr
leisten, als eine Organisation zu führen. Vielmehr wird die Transformation des Unternehmens zur Daueraufgabe. Deshalb geht es
bei der Wahl eines neuen CEO vor allem um
die objektive Einschätzung seines Potenzials,
gemessen an den Herausforderungen seiner
künftigen Position.
Auf den ersten Blick haben Unternehmen und Aufsichtsrat in diesem Fall alles richtig gemacht. Es gab in der unternehmenseigenen Pipeline mehrere Anwärter auf die Spitzenposition. Sie
wurden mit zunehmend anspruchsvollen Aufgaben betraut und
dabei sorgfältig beobachtet. Der Auswahlprozess erstreckte sich
über mehrere Jahre, die finale Entscheidung fiel nicht hektisch
in letzter Minute, sondern gut abgewogen. Dennoch stellt sich
auch hier eine ganze Reihe von Fragen: Wie hoch sind die Opportunitätskosten durch die beinahe unvermeidliche Selbstpositionierung der ausgewählten potenziellen Nachfolger? Inwieweit
wurden auch externe Kandidaten betrachtet? Wie unabhängig
war das Auswahl- und Entscheidungsgremium? Worauf gründet es seine Entscheidung? Welche Methoden und Instrumente
standen den Aufsichtsräten zur Verfügung? Wie wurden sie angewandt? Und vor allem: Welche Rolle spielte neben den schon
gezeigten Fähigkeiten und Kompetenzen der einzelnen Kandidaten ihr für die neue, größere Rolle weit wichtigeres erwartetes
Leistungsvermögen, mithin ihr Potenzial? Und wie objektiv und
genau konnte dieses eingeschätzt werden?
Natürlich gibt die Performance der Vergangenheit wichtige
Hinweise auf die zu erwartende Leistung und das Verhalten.
Gerade bei der Auswahl eines neuen CEO ist die entscheidende
Frage, wie viel Luft nach oben bei den einzelnen Kandidaten
noch vorhanden ist; ob sie – wie im Fall des beschriebenen Industriekonzerns – beispielsweise die visionäre Kraft haben, das
Unternehmen insgesamt strategisch in einer immer komplexer,
volatiler und ambivalenter werdenden Welt neu auszurichten.
Können sie in einer medialen Welt das Unternehmen nach innen
und außen glaubhaft vertreten und die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Stakeholder-Gruppen entsprechend
managen? Können sie eine Kultur der permanenten Transforma-
47
Gerade bei der Auswahl eines neuen CeO ist die
entscheidende Frage, wie viel luft nach oben bei
den einzelnen Kandidaten noch vorhanden ist.
tion implementieren, um das Unternehmen in die
zukunft zu führen? Gelingt es ihnen, andere davon
zu überzeugen und sie mitzureißen? Und haben sie
die Durchsetzungsstärke und entschlossenheit,
ihre ideen auch gegen Widerstände zu verwirklichen? Der Fragenkatalog ließe sich vor dem Hintergrund der konkreten Unternehmenssituation
beliebig erweitern.
Warum CEO-Nachfolge etwas Besonderes ist
Der CeO eines Unternehmens, sei es der Geschäftsführer eines Mittelständlers oder der Vorstandsvorsitzende eines DAX-Unternehmens, ist ein treuhänder im klassischen Sinn. ihm wird das Unternehmen anvertraut. er oder sie trägt damit die Verantwortung beispielsweise für einen stabilen,
besser aber wachsenden Unternehmenswert, für
eine nachhaltige entwicklung, für die Mitarbeiter
und für die Verankerung der Organisation in der
Gesellschaft.
Der CeO hat damit die sogenannte letztverantwortung für alle wichtigen, vor allem die zukunftsweisenden strategischen entscheidungen des
Unternehmens. Dafür wird er an Bord geholt. Dieses hohe Maß an Verantwortung erfordert vom
CeO wie nie zuvor große Stabilität in seiner Persönlichkeit und außergewöhnliche leadershipKompetenzen.
Aus seiner Verantwortlichkeit ergibt sich auch
die Alleinstellung des CeO. er hat keine Kollegen
auf der gleichen ebene. Das klassische Modell der
Organverantwortung, bei dem das Vorstands- bzw.
Geschäftsführungsgremium gemeinsam verantwortlich auftritt, ist auch hierzulande zunehmend
vom amerikanischen CeO-Prinzip mit einem „starken ersten Mann“ an der Unternehmensspitze
abgelöst worden. Bisher galt auf jeder anderen
Karrierestufe einer talentierten Führungskraft die
Fähigkeit zur effektiven zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen als eine der wichtigsten
Kernkompetenzen. Beim CeO hingegen braucht
diese Kompetenz nicht mehr so ausgeprägt zu sein.
Unsere Beobachtungen in der Praxis zeigen in
der tat, dass mancher erfolgreiche Unternehmenschef in einer früheren Position – zum Beispiel als
Bereichsleiter – in dieser Hinsicht oft nicht so gut
abgeschnitten hat. Unlängst konnten wir in einer
breit angelegten Studie über globale oberste Führungskräfte feststellen, dass gerade in den Chefsesseln überdurchschnittlich viele sogenannte „Spiky
leaders“ zu finden sind; Manager, die in manchen Bereichen exzellent sind, aber bei anderen
Führungsfähigkeiten deutliche Defizite aufweisen. Bei der Wahl
eines neuen CeO muss der Aufsichtsrat sich also auch darüber
klar werden, welche der bisherigen leistungen und Kompetenzen
der Kandidaten für die künftige Führungsrolle wirklich von entscheidender Bedeutung sind, welche weniger.
Worauf es wirklich ankommt
Der CeO muss heute weit mehr leisten, als die Organisation nur
zu führen. Fast immer muss er das Unternehmen stark verändern,
und das nicht nur in Krisenzeiten, sondern als proaktive Anpassung an ein sich ständig wandelndes Umfeld. Dazu braucht
er eine scheinbar widersprüchliche Kombination persönlicher
und emotionaler eigenschaften – ein zwischen einfühlungsvermögen, Begeisterungsfähigkeit, ausgeprägtem Selbstbewusstsein und Durchsetzungsstärke oszillierender Charakter gepaart
mit der Fähigkeit, in Systemen denken und agieren zu können.
Da keine der bisherigen Aufgaben im Unternehmen mit dem
Sprung auf die höchste, die fünfte ebene, wie sie der renommierte
US-Organisationsexperte Jim Collins nennt, zu vergleichen ist,
geht es also bei der Wahl eines neuen CeO vor allem um die objektive einschätzung seines Potenzials, bezogen auf die speziellen
Herausforderungen seiner künftigen Position. er muss vor allem
über folgende eigenschaften verfügen.
Seine Führungsfähigkeiten kontinuierlich und selbstgesteuert
weiterzuentwickeln und aktiv nach neuen ideen, informationen, Denkanstößen zu suchen.
Komplexität zu erkennen und zu verstehen. Dazu gehört
auch die Fähigkeit, einen Handlungsrahmen zu gestalten,
der es dem Unternehmen ermöglicht, auf die von der Umwelt
(Markt, Kunden, Wettbewerb, regulatorisches Umfeld etc.)
erzeugte Vielfalt mit oft widersprüchlichen tendenzen bestmöglich zu reagieren.
Alle Stakeholder des Unternehmens, intern wie extern, zu verbinden und zu inspirieren. Das beinhaltet: die Fähigkeit, das
kreative Potenzial von Mitarbeitern als Ressource für innovation und transformation zu erkennen, zu stärken, zu vernetzen
und für das Unternehmen nutzbar zu machen; die Fähigkeit,
Veränderungsprogrammen eine klare Bedeutung in der „lebensgeschichte“ des Unternehmens zu geben, die es den Mitarbeitern ermöglicht, sich emotional mit der anstehenden Aufgabe
zu verbinden; die Fähigkeit, das Unternehmen strategisch
und operativ in das politische und gesellschaftliche Umfeld
einzubinden und mit diesem einen Dialog zu führen.
Die entschlossenheit, auch unter schwierigen Bedingungen
und gegen Opposition standhaft in seinen entscheidungen
zu bleiben, ohne starrköpfig auf einer einmal eingenommen
Position zu beharren. Und sich dabei persönliche energie
und engagement zu bewahren.
Die große Herausforderung für das Auswahlgremium ist nun,
die richtige Mischung dieser Fähigkeiten für die speziellen Belange
48
Focus Potenzial
Führung
des betreffenden Unternehmens zu identifizieren.
Auch für andere Führungsaufgaben sind viele
dieser elemente von großer Bedeutung, aber nur
bei der CeO-Rolle ist die Kombination dieser elemente so zu finden. Das macht sowohl die entscheidung für den richtigen Kandidaten als auch dessen Vorbereitung auf die neue Rolle besonders
anspruchsvoll.
im besten Fall ist der oder die Vorsitzende des
Aufsichtsrats in Bezug auf die High Potentials
in der zweiten und dritten Führungsebene des
Unternehmens stets à jour. Denn dort entwickeln
sich die möglichen CeOs der zukunft. Das Aufsichtsgremium kennt die talentiertesten Kandidaten persönlich, ist zudem genau über deren leistungen, Fähigkeiten und weitere entwicklungspotenziale informiert. Das ist der idealfall, der
leider nicht immer der Praxis entspricht. Am ehesten gerecht werden diesem Anspruch unserer
erfahrung nach größere Familienunternehmen.
Die richtige Vorbereitung
Wie also kann ein einmal erkannter potenzieller
nachfolgekandidat angemessen auf die neue Rolle
vorbereitet werden? Am einfachsten ist die Aneignung formaler Kenntnisse. Komplizierter ist die
Sachlage bei den Managementkompetenzen. Die
sogenannte „strategische Kompetenz“ beispielsweise – und genau die wird von einem CeO erwartet – basiert nur zu einem kleinen teil auf der
Kenntnis von Methoden. Sie stellt vielmehr eine
Mischung von analytischen und kombinatorischen
Fähigkeiten dar, ist somit an intelligenz und intuition gekoppelt. Und nur die intuition kann im laufe
der Jahre wirklich reifen. Und noch viel wichtiger:
lässt sich Potenzial entwickeln oder erweitern?
Wer bereits einige Jahre in Organverantwortung agiert hat, vielleicht Vorsitzender eines
großen tochterunternehmens gewesen ist, für
den wird die Aufgabe des CeO nicht völlig neu
sein. Sinnvoll scheint auch, die Perspektive eines
zukünftigen CeO durch Übertragung eines anspruchsvollen strategischen Projekts zu erweitern.
Dabei kann der Chef-Aspirant zugleich seine Fähigkeit stärken, andere hochqualifizierte Mitarbeiter in einem komplexen Stakeholder-Prozess einzusetzen. Aber alle wirklich wirksamen entwicklungsmaßnahmen haben eines gemeinsam – sie
dauern Jahre. Und damit bestätigt sich, dass es
nicht nur Aufgabe des Aufsichtsrats, sondern die
des amtierenden CeO ist, möglichst früh über
seine potenziellen nachfolger nachzudenken. An
ihm liegt es, eine Kultur und Strukturen im Unternehmen zu schaffen, in denen sich neue CeOs
entwickeln können.
De facto werden rund 80 Prozent aller CeOPositionen intern besetzt. Gemessen am Sharehol-
der Return ist die Performance intern besetzter CeOs im Schnitt
tatsächlich etwas höher; aber eben nur im Schnitt. Gerade in
besonderen Change-Situationen treffen extern berufene CeOs
manchmal auf weniger Widerstand, weil das Umfeld sich innerlich ohnehin auf eine neue zeit eingestellt hat. ein interner Kandidat kennt dagegen die informellen Kräftefelder des Unternehmens besser und kann vielleicht gerade in Krisenzeiten zielgenauer agieren; so er denn nicht dem alten System verhaftet ist.
es hat sich gezeigt, dass bei den erfolgreichsten CeO-nachfolgeprozessen immer beide Optionen analysiert werden. es gibt
ein gründliches Assessment interner und externer Kandidaten;
zumindest aber ein Benchmarking der internen Kandidaten gegen
mögliche Außer-Haus-Konkurrenten. es trägt sehr zur Glaubwürdigkeit und legitimation eines internen Kandidaten bei, wenn
er auch im Vergleich mit externen Optionen die erste Wahl ist.
Jeder Wechsel an der Unternehmensspitze, wie sorgfältig er
auch vorbereitet worden sein mag, bedeutet für die Organisation
ein hohes Maß an Diskontinuität. Das komplexe System „Unternehmen“ muss sich bei jedem Führungswechsel neu austarieren.
Für den neuen CeO ist es deshalb gerade am Anfang besonders
wichtig, offenes Feedback zu bekommen, um seine Aktionen gut
auf sein Umfeld gut abzustimmen. Doch seine zuvor beschriebene Rolle als Solist in der topetage und seine hohe Verantwortung sorgen zumeist dafür, dass die sonst üblichen Kanäle zum
Feedback oder gar Coaching versperrt sind. Der neue Chef muss
also einen eigenen Weg finden, sich zu erden und seine Defizite
zu erkennen, ohne von Kollegen und Mitarbeitern direkt darauf
hingewiesen zu werden. eine wichtige Rolle als Coach, als möglichst objektiver Berater und Begleiter kann in dieser integrationsphase vor allem der Aufsichts- oder Beiratsvorsitzende spielen.
insgesamt braucht dieser Prozess vor allem eines – zeit. Somit ist der
wirkliche erfolg eines neuen CeO kaum in den ersten 100 tagen
erkennbar, sondern eher nach drei Jahren. Doch da hat mancher
den Chefsessel schon wieder verlassen.
Dr. Johannes Graf von Schmettow
ist seit 1998 Berater bei egon zehnder, Düsseldorf,
und gehört dem globalen executive Committee
der Firma an. er ist Mitglied der life Sciences and
Healthcare Services, der Public and Social Sector
und der Board Consulting Practices.
[email protected]
Dr. Stephan L. Buchner
ist seit 1997 Berater im Münchner Büro von egon
zehnder. er ist Mitglied der Consumer, der Private equity, der Supply Chain und der Family Business Advisory Practices.
[email protected]
02 _ Ideen für die Zukunft
Seth Cooper
Der Game Designer von der University of Washington in Seattle hat es geschafft, bei Computer-Freaks eine Faszination für Proteine zu entfachen,
die Auslöser für schwere Krankheiten wie Aids, Krebs oder Alzheimer sind. Mit
seinem Online-Spiel Foldit lässt er sie spielerisch die Struktur dieser Bausteine
des Lebens erkunden und verändern. Foldit nutzt die menschliche Fähigkeit,
dreidimensional zu erkennen, und eröffnet eine neue Ära der Arbeitsteilung
von Mensch und Computer. Bislang größter Erfolg der Gamer-Community: Vor
gut zwei Jahren konnte die Struktur eines Proteins entschlüsselt werden, das
Aids bei Rhesusaffen ausgelöst.
50
Focus Potenzial
Führung
Neue Spielregeln
––––––––
Der Chief Human
Resources Officer –
Katalysator einer
nachhaltigen
Potenzialstrategie
Von Stefan Ries und Isabelle Langlois-Loris
Im Zeitalter eines verschärften Wettbewerbs
um die besten Köpfe nimmt der Personalverantwortliche oder Chief Human Resources
Officer (CHRO), wie wir ihn im Folgenden
nennen, eine Schlüsselrolle bei der Talententwicklung ein. Insbesondere muss er dafür
sorgen, dass die Entwicklung des Potenzials
vielversprechender Mitarbeiter nicht an den
Egoismen einzelner Führungskräfte scheitert.
Eine Herausforderung, die ein hohes Maß an
Kommunikationskompetenz erfordert.
Bis vor einigen Jahren galt das Personalwesen im Unternehmen
oft als angestaubtes, abgeschlossenes Subsystem mit behäbiger
Behördenstruktur. Verwalten statt gestalten lautete nicht selten
die Devise. Doch der scharfe Wind der Veränderung weht längst
auch durch die Amtsstuben der Personaler. Denn wenn sich die
Unternehmenswelt in rasantem Tempo verändert, immer globaler wird und an Komplexität zunimmt, müssen die HumanResources-Manager mindestens das Tempo halten, wenn nicht
gar einen Schritt voraus sein, um sinnvoll agieren zu können.
Im Fokus steht hier vor allem der Chief Human Resources
Officer. Der Vorstandschef oder Geschäftsführer kann zwar relativ schnell eine Strategie entwickeln oder ändern, neue Dienstleistungen, Produkte und ihre Herstellungsprozesse initiieren
oder die Konzentration auf das Kerngeschäft verordnen – ohne
die Umsetzung durch die passenden, qualifizierten Mitarbeiter
blieben sie Theorie. Hier ist der CHRO als Taktgeber seiner HRMannschaft maßgeblich gefordert, die Unternehmensziele mit
einem proaktiven und auf die Unternehmensstrategie abgestimmten HR-Management maßgeblich zu unterstützen und
zu realisieren.
Zukunftsorientierte und über die Kirchturmspitze ihres
Ressorts hinausschauende HR-Manager verstehen sich auch längst
als Business-Partner der Unternehmensführung. Die Aufgabe
der Personalabteilung ist es dabei nicht, den Führungskräften
die Arbeit abzunehmen, sondern sie sollen diese dazu befähigen, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Dabei haben die Personalmanager und besonders der CHRO selbst eine Vielzahl von
Herausforderungen zu bewältigen. Sie müssen das Unternehmensziel Wachstum auch unter schwierigen Bedingungen im
Auge behalten, gleichzeitig haben sie es im Rahmen der Globalisierung mit einer zunehmend vielfältigen und divergenten
Belegschaft zu tun. Zudem erfordert die demographische Entwicklung in den Industrieländern neue Ansätze zur Mitarbeiterrekrutierung und -entwicklung. Eine neue anspruchsvolle
Generation von Führungskräften und Mitarbeitern hat eigene
Vorstellungen von Work-Life-Balance und Karrierechancen,
fordert neue Formen der Zusammenarbeit und mehr Flexibilität.
Dazu braucht es effektive und effiziente HR-Prozesse.
Trotz dieser Fülle an Aufgaben ist vielen CHROs sehr klar, wo
der Schwerpunkt der HR-Arbeit in den kommenden Jahren liegen muss. In Umfragen unter den obersten Personalverantwortlichen großer Konzerne nannte über die Hälfte der Befragten
ein internationales und integriertes Talentmanagement als ihr
primäres Ziel. Die Personalleiter in mittelständischen Firmen
sehen die Situation ähnlich. In einer von der Leuphana Universität
in Lüneburg wissenschaftlich begleiteten Studie bezeichnete
die Mehrheit der beteiligten HR-Chefs die Aufgabe, Talente zu
finden und zu entwickeln, als ihre größte Herausforderung.
Rund drei Viertel der Befragten aus 323 mittelständischen Unternehmen gaben an, dass die Gewinnung qualifizierter Mitarbeiter den Schwerpunkt für die Personalarbeit in den kommenden
drei bis fünf Jahren bilden wird. Den größten Handlungsbedarf
sahen die Teilnehmer der Studie darin, die Arbeitgeberattraktivität
am Arbeitsmarkt herausstellen, effektivere Rekrutierungswege
zu nutzen und den Auswahlprozess insgesamt zu verbessern.
Doch es reicht nicht, High Potentials für das eigene Unternehmen zu gewinnen; vielmehr kommt es darauf an, sie optimal weiterzuentwickeln. Talentmanagement beginnt bei der
51
Potenzialanalyse zur Teilnehmerauswahl und reicht
über die Gestaltung der Förderprogramme bis hin
zur Laufbahnplanung für talentierte Nachwuchskräfte, um diese mit einer attraktiven Entwicklungsperspektive an das Unternehmen zu binden.
Dabei übernimmt der CHRO zwischen der
Unternehmensführung, dem Management der
Geschäftsbereiche und Abteilungen sowie den
Talenten eine wichtige Scharnierfunktion. Er muss,
unterstützt von seinem Team, vor allem intensiv
mit den Fachbereichen kommunizieren. Denn gerade beim Thema Potenzialbewertung gibt es in
der Praxis noch große Unsicherheiten, obwohl die
überragende Bedeutung des Potenzials speziell
von Führungskräften für die langfristige Unternehmensstrategie unbestritten ist. Zum einen fehlte
es lange an einer aussagekräftigen Methodik zum
Potenzial-Assessment. Diese Lücke ist inzwischen
geschlossen (siehe auch den Beitrag S. 42). Zum
anderen gibt es im Umgang mit den identifizierten
High Potentials im Unternehmensalltag einige
Schwachstellen, die nicht selten ins Gegenteil der
intendierten Ziele umschlagen.
Talentmanagement als integrierte Aufgabe
In der Vergangenheit hatten Organisationsexperten oft eine Verlagerung der Verantwortung von
Personalaufgaben auf die direkten Führungskräfte
beobachtet; eine Entwicklung, die teils der Schwäche mancher Personalabteilungen geschuldet
war, teils der in vielen Unternehmen jahrelang
favorisierten Dezentralisierung. Wirkungsvolles
Talentmanagement kann aber nur funktionieren,
wenn es in der Organisation als integrierte Aufgabe verstanden wird, bei der die Führungsverantwortlichen der Bereiche und Abteilungen Hand
in Hand mit dem CHRO zusammenarbeiten. Beim
Personalchef der Organisation müssen die Fäden
zusammenlaufen. Er muss mit seinem Team dafür
sorgen, dass Potenzial überall in der Organisation
nach einem einheitlichen und nachvollziehbaren
Standard erfasst wird. Die HR-Spezialisten müssen wissen, wo die identifizierten High Potentials
in der Organisation arbeiten und in Abstimmung
mit der Unternehmensführung Einfluss auf ihre
weitere Entwicklung nehmen können.
Zu den entscheidenden Aufgaben des CHRO
zählt, dass die HR die Bedeutung des Themas
Potenzial bei den Führungskräften in den Geschäftsbereichen und Abteilungen, den unmittelbaren
Vorgesetzten der Talente, verankert. Zunächst sollte
der CHRO in seiner Arbeit mit den Führungskräften dabei der
Bekämpfung eines weit verbreiteten Irrglaubens große Aufmerksamkeit widmen: dass bisherige Erfahrung und derzeitige
Performance hinreichende Informationen über das Potenzial
eines möglichen Nachwuchsstars liefern. Was ein Mitarbeiter in
der Vergangenheit geleistet, welche Erfahrungen er gesammelt,
welche Hürden er genommen hat und wie er im Leistungsvergleich zu seinen Kollegen im Team aktuell abschneidet, sagt nur
begrenzt etwas darüber aus, was er in der Zukunft zu leisten
noch im Stande ist. Genau diese Frage aber muss stellen, wer das
Potenzial eines Mitarbeiters ausloten will. „Have they …?“ und
„Do they …?“ sind zweifellos relevante Fragen, wenn das Potenzial
von Mitarbeitern zur Diskussion steht – aber weit entscheidender sind „Can they …?“ und „What if …?“. Entscheidend ist, dass
Potenzial dabei überall im Unternehmen mit Hilfe der gleichen
Methodik erfasst und bewertet, somit objektiv vergleichbar wird
und nicht von persönlichen Sympathien oder subjektiven Bewertungen einzelner Vorgesetzter abhängig ist.
Der CHRO und seine Mitarbeiter müssen, unterstützt vom
Vorstand, bei allen Führungskräften mit Personalverantwortung
die entsprechende Sensibilität nicht nur für die Einschätzung,
sondern auch für die weitere Entwicklung von Potenzial wecken
und fördern. Gelingt es nicht, hier ein gemeinsames Mindset
zu erarbeiten, ist die Gefahr groß, dass die Führungskräfte die
falschen Mitarbeiter auf die Überholspur setzen, während wirkliche Talente – unterfordert oder mit inadäquaten Aufgaben abgespeist – entweder verkümmern oder dem Unternehmen frustriert
den Rücken kehren. In mehr als 60 Prozent aller Fälle, in denen
Mitarbeiter ein Unternehmen verlassen, sind Probleme mit dem
unmittelbaren Vorgesetzten der ausschlaggebende Grund.
HR- oder Business-Profi?
Stellt sich die Frage, über welche Fähigkeiten und Kompetenzen
der CHRO verfügen muss, um diesen vielfältigen Herausforderungen am besten gerecht zu werden. Zwei Denkschulen haben
sich hier etabliert. Die einen geben dem gediegenen HR-Professional den Vorzug, der die administrativen Basisaufgaben des
Personalressorts aus dem Effeff beherrscht. Andere Unternehmen
wiederum präferieren bei der Wahl ihres CHRO solche Manager,
die nicht originär aus dem Personalwesen kommen und stattdessen
beispielsweise erfolgreich einen Geschäftsbereich geleitet haben.
Welchem Typus der Vorzug gegeben wird, hängt nicht zuletzt auch
von der Branche und der Situation des Unternehmens ab. Bei
Dienstleistungen, die stark vom direkten persönlichen Kontakt
zwischen Mitarbeitern und Kunden bestimmt werden, etwa im
Consulting, bietet sich eher der „naturalisierte“ HR-Manager an.
Handelt es sich um ein klassisches, stark reguliertes Industrieunternehmen, spricht einiges für den gestandenen HR-Professional.
Ideal ist eine Kombination des Besten aus beiden Welten – HR und
Business. Denn jeder Perspektivwechsel fördert die nötige Offenheit im Denken und Handeln, die ein guter CHRO heute braucht.
Vor allem eine Erkenntnis gehört heute in die Magna
Charta jeder Unternehmens-HR: Talent muss
der gesamten Organisation zur Verfügung stehen.
52
Focus Potenzial
Führung
zu einem solchen „open mindset“ zählt heute
vor allem eine ganz zentrale erkenntnis: talent
muss der gesamten Organisation zur Verfügung
stehen, nicht dem unmittelbaren Vorgesetzten,
der Abteilung oder einem Bereich. Dieser Grundsatz gehört in die Magna Charta jeder Unternehmens-HR. Auch wenn jeder Vorgesetzte seine hochtalentierten Mitarbeiter verständlicherweise nur
ungern ziehen lässt, sind persönliche oder Ressortegoismen gerade im Umgang mit High Potentials
nicht nur fehl am Platz, sondern kontraproduktiv.
Sie bergen die Gefahr einer Fehlallokation der
talent-Ressourcen: Weil die Führungskraft nicht
„loslassen“ kann oder will, wird der Mitarbeiter in
einer Abteilung oder in einem team festgehalten,
wo er sein Potenzial für das Unternehmen nicht
voll entfalten kann. Häufig sorgt auch fehlende
nachhaltigkeit bei der Potenzialentwicklung für
Frustration. Die Führungskraft erteilt einem Mitarbeiter den Status „hoffnungsvolles talent“ –
doch anschließend passiert nichts mehr. Mit seinem Strohfeuer hat der Vorgesetzte größeren
Schaden angerichtet, als hätte er das thema gar
nicht erst zur Sprache gebracht. Der symbolische
Ritterschlag zum potenzialträchtigen talent hat
Hoffnungen geweckt, die enttäuscht werden –
Hoffnungen auf mehr Gehalt, ein spannendes
Projekt, eine Auslandsentsendung. irgendwann
wird der High Potential vermutlich kündigen und
im schlimmsten Fall ausgerechnet beim schärfsten Konkurrenten aufblühen.
Wo derartige Gefahren erkennbar sind, muss
der CHRO seine Prozess- und toolhoheit geschickt
einsetzen – also mögliche Defizite des Vorgesetzten bei der talententwicklung ergründen, ihn auf
das Problem ansprechen und gemeinsam mit ihm
und dem Mitarbeiter einen besseren Weg suchen.
Dazu bedarf es vor allem eines gut moderierten
Kommunikationsprozesses mit allen Beteiligten.
Das mag mitunter mühsam sein und einige zeit
kosten – aber es ist eine investition in talent und
damit in die zukunftsfähigkeit des Unternehmens.
ders dringender twitter- oder Facebook-Anfragen einrichten.
Das Beispiel zeigt: Die allseits umworbenen High Potentials der
Generation Y verlangen – und erreichen –, dass die potenziellen
Arbeitgeber sich auf ihre Spielregeln einlassen.
ein schlecht geführtes interview mit einem Bewerber führt
mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu, dass der Kandidat seinem
Ärger per twitter luft macht, sobald er den Ausgang passiert hat.
Bei entsprechender Verbreitung können derartige nachrichten
äußerst negativ auf das employer Branding des betreffenden
Unternehmens zurückschlagen. Gleiches gilt für Unternehmen,
die sich dem thema Potenzial nur bei sonniger Konjunktur
widmen und in schwierigen zeiten die entwicklung ihrer talente
vernachlässigen. Damit schaden sie dem Ruf des Unternehmens
nachhaltig – und dürften später, bei anziehender Konjunktur,
Schwierigkeiten haben, bei den High Potentials zu punkten.
Ganz abgesehen davon böten gerade Restrukturierungsaufgaben
vielversprechenden talenten ideale Gelegenheiten, sich in einem team zu bewähren und ihre besonderen Fähigkeiten unter
Beweis zu stellen.
Die Generation Y oder die Digital natives, jene nachwuchstalente, die mit Smartphone, Computer und internet aufgewachsen sind, stellen die HR-Verantwortlichen in den Unternehmen
aber noch in anderer Beziehung vor besondere Herausforderungen. noch nie hat sich eine nachwachsende Generation so
uneinheitlich in ihren erwartungen, Wünschen und Vorstellungen gezeigt. zu diesem ergebnis kommt eine kürzlich von
egon zehnder veröffentlichte Studie. Aus der starken individualisierung lässt sich kein Muster ableiten, kein einheitliches
Bild zeichnen. Aufgabe des CHRO wird es sein, die heterogenen
erwartungshaltungen der talente und die Spielregeln auf dem
sich ständig verknappenden Markt für High Potentials korrekt
einzuschätzen und daraus eine Potenzialstrategie zu entwickeln,
die sich als integraler Bestandteil in die allgemeine Unternehmensstrategie einfügt – und gleichzeitig mit den zielen der Organisation harmoniert. Doch auch mit dem besten team kann der
CHRO diese Herausforderung nicht bewältigen: Benötigt wird eine
gemeinsam mit dem Vorstand entwickelte Vision und Strategie,
die von allen Führungskräften im Unternehmen verstanden und
unterstützt wird.
Kommunikationskompetenz gefragt
Die Kommunikationskompetenz der Personaler
ist aber bereits vor dem eigentlichen PotenzialAssessment gefordert. insbesondere die Ansprüche
der vielfältig vernetzten „Generation Y“ stellen
die HR-Verantwortlichen heute vor neue Herausforderungen. Der Personalchef eines deutschen
Automobilkonzerns berichtete kürzlich, dass seinen Mitarbeitern abends um acht eine Frage per
Facebook gepostet wurde – und am nächsten Morgen um sieben kam schon die erboste nachfrage,
warum denn noch niemand geantwortet hätte.
Der Kritisierte reagierte umgehend und ließ ein
Schichtsystem für die 24/7-Beantwortung beson-
Stefan Ries
ist seit 2011 Berater im Frankfurter
Büro von egon zehnder. er ist Mitglied
der Human Resources, der technology
and Communications sowie der leadership Strategy Services Practices.
Isabelle Langlois-Loris
ist seit 1999 Beraterin bei egon zehnder,
Brüssel. Sie leitet die globalen Aktivitäten
der Human Resources Practice und ist
Mitglied der Consumer und Financial
Services Practices.
[email protected]
[email protected]
03 _ Ideen für die Zukunft
Katie Salen
Die von der vielseitigen Designerin in New York gegründete Schule Quest to Learn nutzt
die Kraft und die Faszination des spielerischen Entdeckens und verwandelt
Klassenräume in Spielzimmer. So konzipieren die Lehrer gemeinsam mit Spieleentwicklern Unterrichtseinheiten, die ihre Schüler in phantasievolle Paralleluniversen
entführen, wo sie in die Rolle von Helden schlüpfen und Schurken das Handwerk legen.
Die weltweit einzigartige Institution vermittelt dabei nicht nur den klassischen
Schulstoff, sondern kultiviert die Kardinaltugenden des 21. Jahrhunderts: Teamfähigkeit, vernetztes Denken, Kreativität und Empathie.
54
Focus Potenzial
Führung
Hebelwirkung
––––––––
Wie die richtigen Auswahlkriterien die Vielfalt im
Unternehmen nachhaltig
fördern können
Von Alin Adomeit und Moritz von Campenhausen
Stolz präsentieren heute viele Unternehmen ausgefeilte Strategien zur Förderung der
Diversität. Trotzdem dominiert in den Topetagen vielerorts auch nach Jahren immer noch
Homogenität. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die gängigen Methoden der Talentsichtung nicht auf das Potenzial fokussieren und damit „diverse“ Kandidaten meist gar
nicht erkennen. Ein Perspektivwechsel ist notwendig.
Auf den Last-Minute-Shoppingservice für seine Mitarbeiter ist
der Vorstand ganz besonders stolz. Wer vor lauter Arbeit nicht
zum Einkaufen kommt, kann sich Milch, Brot, Pasta und Fleisch
direkt ins Büro bringen lassen. Das Angebot soll die ausgefeilte
Diversity-Strategie des Unternehmens krönen. Man möchte
nichts mehr dem Zufall überlassen, hat die Zeichen klar auf
Offensive gestellt und vor allem für die Karriereförderung von
Frauen eine Menge auf den Weg gebracht – von tatkräftiger
Hilfe bei der Suche nach Kitaplätzen über flexible Arbeitszeiten
bis zur Möglichkeit, Arbeiten ins Home-Office zu verlagern. Fest
und unverrückbar scheint das Bekenntnis zur Diversity in der
Unternehmens-DNA verankert: Im Geschäftsbericht nimmt sie
ein eigenes Kapitel ein, der CEO preist in Interviews immer wieder
die kreativitäts- und innovationsfördernde Kraft der Vielfalt
und spannt dabei den Bogen vom altbekannten Sujet „Frauen
in Führungspositionen“ bis hin zur Vielfältigkeit von Werten,
Erfahrungen, Bildungshintergründen, Einstellungen, Perspektiven
und Lebensentwürfen. Wer all dies liest, muss zu dem Schluss
kommen, dass Diversity in diesem Unternehmen als wichtiges
Asset hochgehalten und gelebt wird. Der Blick auf die Realität
ist jedoch ernüchternd. Sowohl im Vorstand als
auch auf der zweiten Führungsebene dominiert,
allen Bemühungen und Bekenntnissen zum Trotz,
nicht Vielfalt, sondern Homogenität.
Unser Beispiel eines Unternehmens aus der
Konsumgüterbranche verdeutlicht, wie groß die
Kluft zwischen dem Anspruch einer ambitionierten Diversity-Strategie und ihrer Umsetzung in der
Praxis nach wie vor ist. „Diverse“ Talente, die zu
sehr von einem in der Vergangenheit offenbar bewährten Muster abweichen, finden entweder
den Weg ins Unternehmen nicht – oder sie gehen
auf dem Karriereweg verloren. Manche verkümmern in nachrangigen Stabsfunktionen, andere
verlassen nach einigen Jahren enttäuscht das Unternehmen – so berichten es die ratlosen Personalverantwortlichen. Vieles deutet auf die Existenz
von Barrieren hin, die Menschen, die sich im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Hintergrund oder
Lebensweg vom Mainstream unterscheiden, ent-
55
Eine zu starke Gewichtung sowohl der bisherigen
Erfahrung als auch der aktuellen Performance
benachteiligt systematisch Talente, die nicht linear
verlaufene Wege beschritten haben.
weder gar nicht erst an Bord kommen lassen oder aber verhindern,
dass sie sich ihren Fähigkeiten gemäß entwickeln und mit adäquaten Aufgaben und Projekten betraut werden.
Am besten dokumentiert ist das Missverhältnis zwischen Anspruch und Realität bekanntermaßen bei den Karrierechancen
von Frauen. So stieg in den vergangenen zehn Jahren der Anteil
von Frauen in den höchsten Entscheidungsgremien börsennotierter Unternehmen im EU-Durchschnitt lediglich von 8,5 auf
13,7 Prozent. Kein Wunder, dass der Ruf nach gesetzlichen Quoten
für Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten nicht leiser wird.
Blinde Flecken
Wenn trotz vieler Bemühungen Vielfalt im Unternehmen ausbleibt,
müssen sich die Personalverantwortlichen – Führungskräfte und
HR-Manager – die Frage stellen, ob mit ihren Auswahlkriterien
vielleicht etwas nicht stimmt. Mitarbeiter mit anderen Lebensläufen, diversen Erfahrungen und kulturell verschiedenartigen
Hintergründen haben wenig Chancen, in den Programmen zur
Führungskräfteentwicklung eines Unternehmens berücksichtigt
zu werden, wenn die Maßstäbe, mit denen nach Talent gesucht
wird, die gleichen bleiben, die zur existierenden homogenen Organisation geführt haben. Da wird meist auf bisherige Erfahrungen
und Leistungen geschaut. Das ist nicht grundsätzlich falsch, repliziert aber tendenziell die „gängigen“ Profile. Vom Mainstream
abweichende Kandidaten können eine entsprechende Historie
eben gerade nicht vorweisen. Damit bleibt das noch nicht erkundete, geschweige denn ausgeschöpfte Leistungsvermögen eines
vielversprechenden Mitarbeiters unzureichend berücksichtigt;
unabhängig von Bildungshintergründen, kulturellen Werthaltungen und Lebensentwürfen. Im Ergebnis führen die traditionell
angewandten Bewertungsmethoden und -parameter dazu, dass
das Potenzial entsprechender Kandidaten leicht verkannt oder
zumindest unterbewertet wird. Die verwendeten Kriterien sind
dabei nicht grundsätzlich ohne Aussagewert, verstellen aber
einen objektiven Blick auf das „Anderssein“.
Einer der am häufigsten und in der Regel unbewusst verwendeten Parameter ist die Entscheidung für Kandidaten, die ähnliche Stärken, ähnliche Werte und einen ähnlichen Background
aufweisen wie der Auswählende. Nicht selten erhalten sogar
scheinbare Nebensächlichkeiten wie der Kleidungsstil oder außerberufliche Interessen großes Gewicht. Da dieses Muster tendenziell stets den gleichen Kandidaten-Typus repliziert, fördert es
die Homogenität. Diverse Talente, ihr Leistungsvermögen, ihre
Werte und Einstellungen geraten gar nicht erst in den Fokus
des Auswählenden; sie fallen von vornherein durchs Raster. Dies
führt zu Benachteiligungen nicht nur hinsichtlich klassischer
Aspekte von Diversity wie Geschlecht, Alter oder Nationalität,
sondern kann beispielsweise auch Bewerber diskriminieren,
die aus einer Dienstleistungsbranche mit starker Kundenorien-
tierung stammen und sich nun in einem Unternehmen mit einer traditionell ingenieurgeprägten
Kultur bewerben.
Die Performance-Falle
Zu einem ähnlichen Resultat führt eine zu starke
Gewichtung sowohl der bisherigen Erfahrung als
auch der aktuellen Leistungsfähigkeit des Kandidaten. Zweifellos sind Leistungsbilanz und erworbene Kompetenzen ein relevanter Faktor bei jeder
Personalentscheidung und erlauben Aussagen darüber, wie Bewerber mit künftigen, artverwandten
Aufgaben umgehen werden. Beide Perspektiven
benachteiligen aber systematisch Talente, die nicht
linear verlaufene Wege beschritten haben, oder
solche, denen adäquate Entwicklungschancen bisher verwehrt waren. So können beispielsweise
Quereinsteiger oder Bewerber, die familienbedingt
eine Zeitlang vom geraden Karrierepfad abgewichen sind, die geforderte Erfahrung oft nicht nachweisen und bleiben unberücksichtigt. Bei der
Besetzung von Vorstandspositionen diskriminiert
die Forderung nach Erfahrung in gleicher oder
einer ähnlichen Aufgabe bislang vor allem Frauen –
die auf höchster Führungsebene bekanntermaßen
stark unterrepräsentiert sind und folglich nach einer
solchen Logik nicht in Betracht kommen können.
Aktuelle Leistungen wiederum sagen wenig
über die Fähigkeit eines Kandidaten aus, in Zukunft neue, komplexere und möglicherweise völlig
anders gestaltete Aufgaben zu übernehmen. Wie
schlägt sich der Mitarbeiter, wenn grundlegende
Veränderungen im Geschäftsmodell oder im Markt
einen anderen Typus verlangen? Allein durch die
Analyse der bisherigen Leistung wird es in einer
solchen Situation kaum gelingen, neue Ideen ins
Unternehmen, ins Team und ins Denken zu holen.
Die negativen Folgen sowohl für die unterschätzten Mitarbeiter als auch für das Unternehmen
liegen auf der Hand. Der Mitarbeiter spürt die
mangelnde Wertschätzung, er ist frustriert, weil er
beispielsweise nicht in die High-Potential-Förderung aufgenommen, stattdessen mit Aufgaben betraut wird, die ihn unterfordern. Seine Kreativität
und sein Potenzial bleiben ungenutzt. Dies entmutigt andere diverse Talente im Unternehmen und
limitiert auf lange Sicht die Leistungsfähigkeit und
die Innovationskraft des Unternehmens. Wo einseitig gedacht wird, kann Neues nur schwer entstehen.
56
Focus Potenzial
Führung
Allerdings empfiehlt sich auch der umgekehrte Weg, der ausschließliche Blick auf das „Anderssein“, nicht. erhebt man Diversität als solche zum entscheidenden Auswahlkriterium („es muss
eine Frau sein“, „es muss jemand sein, der anders tickt“), ist die
Gefahr des Scheiterns groß. „Anders sein“ an sich stellt ja noch
keine valide Aussage über die erfolgswahrscheinlichkeit eines
Kandidaten in einer bestimmten Aufgabe dar. Die erfahrung eines
gescheiterten experiments mit Vielfalt um ihrer selbst willen
führt vermutlich dazu, dass andere diverse talente es in der Organisation in zukunft spürbar schwerer haben und man wieder
zu den vermeintlich bewährten Auswahlkriterien zurückkehrt.
ein Perspektivwechsel erscheint notwendig.
Notwendiger Perspektivwechsel
einen solchen Perspektivwechsel bietet das von egon zehnder
entwickelte Modell zur Potenzialanalyse (siehe auch Beitrag
Seite 42). es fußt auf tief in einer Persönlichkeit verankerten
eigenschaften und Wesenszügen, mit denen sich längerfristiges
entwicklungspotenzial zuverlässig bereits in jungen Jahren prognostizieren lässt. es ist fair, weil es eben gerade nicht an lebensjahre, Geschlecht, Hautfarbe oder kulturelle Hintergründe gebundene erfahrungen berücksichtigt. Diverse Kandidaten verfügen
ja nicht automatisch nur aufgrund ihrer Andersartigkeit über
mehr oder weniger Potenzial. Wenn aber ihre Diversität gar keine
Rolle bei ihrer Bewertung mehr spielt, sondern vorrangig ihr
prognostiziertes leistungsvermögen, dürften ihre Chancen auf
interessante Karrieren deutlich steigen – und damit die Vielfalt
in der Organisation. es diskriminiert weder jüngere talente, deren
kurze berufliche laufbahn bislang wenig Rückschlüsse auf künftige leistungsfähigkeit zulässt, noch Mitarbeiter, deren Karriereweg nicht dem Usus entspricht. zudem erlaubt es, „diverse“ talente bereits im Frühstadium ihrer Karriere zu identifizieren und
rechtzeitig in ihre entwicklung zu investieren. Dies wiederum
stärkt die zufriedenheit und das Selbstbewusstsein der betreffenden Mitarbeiter – sie spüren, dass das Vertrauen des Unternehmens auf einer objektiver Analyse ihres Potenzials beruht und nicht
etwa auf einer beeindruckenden leistungsbilanz oder formalen
Diversity-Vorgaben.
natürlich kann Potenzial nicht isoliert betrachtet werden. Damit berufliche Weiterentwicklungsschritte erfolgreich sein können, muss
einbezogen werden, welchen Werkzeugkoffer
ein Kandidat für eine neue Aufgabe bereits mitbringt, wo Unterstützung notwendig ist oder
welcher Schritt zu groß ist. eine Potenzialanalyse
liefert aber indizien dafür, welchen Kandidaten,
die vordergründig nicht den „erwarteten“ erfahrungshintergrund mitbringen, ein großer Sprung
zuzutrauen ist. Vielleicht könnte bei einer solchen
Betrachtung der internationalen Kandidatin, die
noch nicht im Vorstand war, aber während ihrer
Kinderpause eine nGO erfolgreich etablierte,
eben doch der Schritt in das oberste Führungsteam zugetraut werden.
Die Beispiele für erfolgreiche „diverse“ Stellenbesetzungen auf Grundlage einer Potenzialanalyse sind ermutigend. Die Kunsthistorikerin
etwa, der kaum jemand die eignung für den Beiratsvorsitz des Familienunternehmens zugetraut
hätte. Oder der Wissenschaftler, der in seinem
Forschungsbereich nie eine große Organisation
führte – in seiner neuen Funktion als Präsident
einer großen akademischen einrichtung brilliert
er mit seinen Führungsfähigkeiten.
natürlich führt auch die vorrangige Orientierung am Potenzial bei der Auswahl künftiger
Führungskräfte nicht automatisch zu mehr Diversität. letztlich muss die Vielfalt von lebensläufen,
einstellungen und Perspektiven im Unternehmen
willkommen sein, als tatsächliche Bereicherung
empfunden werden. nur wenn die Unternehmensführung und die leiter der Geschäftsbereiche
eine Kultur der Offenheit und einbeziehung vorleben, wird das Bekenntnis zu Vielfalt und teilhabe glaubwürdig. eine objektive Potenzialanalyse
ist dabei nur ein Schritt in diese Richtung – aber
ein sehr wichtiger.
Dr. Alin Adomeit
ist seit 2003 Beraterin bei egon zehnder,
Frankfurt. Sie ist Mitglied der globalen
life Sciences and Healthcare sowie der
Family Business Advisory Practice.
[email protected]
Dr. Moritz von Campenhausen
ist seit 2009 Berater im Hamburger Büro
von egon zehnder. er ist Mitglied der
globalen Financial Services sowie der
leadership Strategy Services Practice.
[email protected]
04 _ Ideen für die Zukunft
Hod Lipson
Der weltweit anerkannte Experte für künstliche Intelligenz entwickelt Geräte, die die
Grenze zwischen Maschine und Lebewesen durchbrechen. Geschöpfe wie sein
„Starfish“, ein metallener Torso mit vier Gliedmaßen, verfügen über eine einfache Form
von Bewusstsein, über einen Grad von Freiheit, der größer ist als bei allen zuvor
konstruierten Maschinen. „Starfish“ ist in der Lage, sich ein Bild von sich selbst zu machen,
und dadurch beispielsweise die für ihn effizienteste Form der Fortbewegung zu
„erdenken“. Wird es irgendwann Maschinen geben, die denken, fühlen, sich vermehren
und sich um ihren Nachwuchs kümmern? Lipson hält das für nicht ausgeschlossen.
58
Focus Potenzial
59
Interview
„Führungstalent kommt
in unterschiedlicher Gestalt.
Wir nehmen uns die Zeit,
es zu erkennen.“
Als Markenunternehmen, das vom Vertrauen der Verbraucher lebt,
achtet General Mills bei der Auswahl seiner Hoffnungsträger auf
Integrität, visionäres Denken und Erfolgswillen. Kendall J. Powell,
Chairman und CEO des Unternehmens, hat seine gesamte berufliche Laufbahn bei General Mills verbracht. Mit FOCUS sprach er
darüber, wie das Unternehmen die Führungskräfte von morgen
identifiziert, entwickelt und an das Unternehmen bindet.
Fotos: Jürgen Frank
FOCUS: Das Forbes Magazine kürte General Mills –
nicht zuletzt wegen seiner hervorragenden
Personalpolitik – 2012 zum vertrauenswürdigsten Unternehmen Amerikas. Es ist bemerkenswert, dass die Jury auf den Zusammenhang
zwischen Ansehen beim Verbraucher und Führungsqualitäten hingewiesen hat.
Kendall J. Powell: Für mich ist dieser Zusammenhang ein ganz zentrales Element. Unser erprobter
Führungsansatz umfasst drei Ebenen: individuelle Führungsqualitäten, Teamstärke und langfristig
erstklassige Performance. Bei den individuellen
Führungsqualitäten steht bei uns persönliche Integrität ganz oben auf der Anforderungsliste. Nur
wenn das Handlungsprinzip unserer Executives
„Das Richtige tun“ lautet, schaffen sie als Führungskräfte Vertrauen. Es mag selbstverständlich
klingen, aber wer als Unternehmen hohes Ansehen genießen will, braucht Führungskräfte mit
tadellosem Charakter.
Was sind neben Integrität weitere wichtige persönliche Eigenschaften einer echten Führungspersönlichkeit?
Respektvoller Umgang miteinander ist ein unverzichtbares Zeichen erstklassigen Führungsstils.
Damit meine ich die Bereitschaft, den Rat anderer
anzunehmen, nicht impulsiv, sondern wohlüberlegt zu handeln, bereit zu sein, dazuzulernen, sich
rasch umzuorientieren und sich weiterzuentwickeln. Emotionale Resilienz ist ebenfalls von Vorteil,
denn Rückschläge bleiben nicht aus. Die Fähigkeit,
sich von Widrigkeiten nicht aus der Bahn werfen zu
lassen und nach dem Fallen wieder aufzustehen,
ist immens wichtig.
Individuelle Führungsqualitäten allein reichen
jedoch nicht aus. Die zweite Ebene ist Teamstärke.
Bei uns sind Erfolge immer Teamerfolge. Wir haben keine Stars. Aber wir haben Führungskräfte,
die die Fähigkeit haben, eine Vision und die dazugehörige Strategie zu entwickeln. Zur Teamstärke
gehört die Fähigkeit, grenzübergreifend zu arbeiten, unterschiedliche Standpunkte als Bereicherung zu sehen und sie zu einer überlegenen Lösung
zu verweben.
Die dritte Ebene, die wir aktiv fördern und pflegen,
ist die Bereitschaft, Überdurchschnittliches zu
leisten, also der „will to win“. Bei der Performance
geht es vor allem darum, konkrete Erfolge zu erzielen, also im Laufe der Tätigkeit einen wertvollen
Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Das
verlangt Entschlossenheit, ein festes Augenmerk
auf den Markt und die Fähigkeit, die persönliche
Führungsstärke in überdurchschnittlichen Unternehmenserfolg umzumünzen. Dies sind die drei
Ebenen, auf die wir uns bei der Beurteilung von
Führungskräften konzentrieren.
60
Focus Potenzial
Interview
Angenommen, Sie könnten die Herangehensweise Ihres Unternehmens auf einer
dieser Ebenen schlagartig optimieren,
für welche würden Sie sich entscheiden?
Die größten Stolpersteine auf dem Weg in
verantwortliche Managerpositionen sind
unserer Erfahrung nach Defizite bei persönlichen Führungsqualitäten wie Integrität,
der Bereitschaft, Rat von anderen anzunehmen, und Resilienz – also die Eigenschaften,
die viel über den tatsächlichen Charakter
eines Menschen aussagen. Je mehr wir hier
herausfinden, desto besser.
Sind genau diese Eigenschaften nicht
auch die stärksten Indikatoren für das
Potenzial als Führungskraft? Da sich
diese persönlichen Eigenschaften früh
herausbilden, müsste es doch möglich
sein, sie auch relativ früh zu identifizieren …
Das stimmt schon. Die Eigenschaften der
zweiten und dritten Ebene lassen sich bis
zu einem gewissen Grad erlernen, Teamführung etwa. Und auch die Fähigkeit,
Ergebnisse zu erzielen, lässt sich durch
gezielte Zusammenarbeit mit Mentoren
und internen Leistungsträgern erhöhen.
Persönliche Eigenschaften hingegen sind
größtenteils Veranlagung und daher nur
schwer veränderbar. Wir haben eine hochentwickelte Personalentwicklungskultur
und unsere HR-Manager leisten Großartiges. Dennoch: Wenn es bessere Möglichkeiten gäbe, persönliche Eigenschaften in
einer frühen Phase schlüssig zu beurteilen, würden beide Seiten – die Mitarbeiter
und das Unternehmen selbst – sehr davon
profitieren.
Haben Sie den Eindruck, dass sich
angesichts des rasanten Wandels in der
Welt einige früher eher untergeordnete
Attribute Ihres Führungsmodells als zunehmend wichtig herauskristallisieren?
Das Tempo unseres Geschäfts und unsere
verstärkte internationale Präsenz haben in
der Tat eine Reihe neuer Attribute in den
Vordergrund gerückt. Angesichts des rasanten Wandels müssen unsere Führungskräfte vor allem flexibel und anpassungsfähig sein. Sie müssen in der Lage sein, Trends
rascher zu erkennen, sich in kürzester Zeit
umzuorientieren – und sie müssen entschlusskräftig sein. Mehr als die Hälfte unserer Mitarbeiter agiert heute außerhalb
der USA. Dadurch wächst unser Bedarf an
Mitarbeitern, die in der Lage sind, in unterschiedlichen kulturellen Umfeldern erstklassige Ergebnisse abzuliefern. Die Entsendung von Expats ist eine hervorragende
Möglichkeit, um Know-how zu transferieren und unsere Unternehmenskultur
an neuen Standorten zu verankern. Das
bedeutet aber nicht, dass Expats unser Allheilmittel sind. In der Regel stellen wir in
den Ländern, in denen wir vertreten sind,
lokale Teams zusammen, wünschen uns
aber auch Mitarbeiter, die die persönlichen
Entwicklungschancen schätzen, die ein
Auslandseinsatz mit sich bringt.
Wie identifizieren Sie jene High Potentials, die einmal fähig sein werden,
höchste Aufgaben in Ihrem Unternehmen zu übernehmen?
Die Beurteilung beginnt mit dem ersten
Tag bei General Mills. Wir geben den
Mitarbeitern laufend Feedback, fördern
sie, beurteilen regelmäßig ihre Leistungen
und planen gemeinsam mit ihnen ihre
weitere Entwicklung. Wir beobachten die
Mitarbeiter laufend. An einem bestimmten Punkt in ihrer Karriere werden sie dann
in die Liste der High Potentials aufgenommen. Wir setzen uns mit ihren Vorgesetzten
zusammen und treffen gemeinsam Aussagen darüber, wie wir das Potenzial der
einzelnen Hoffnungsträger einschätzen.
Gemeinsam beurteilen wir, ob sie die erforderlichen persönlichen Führungseigenschaften mitbringen, ob sie in der Lage sind,
Teams wirksam zu führen und gleichbleibend erstklassige Ergebnisse abzuliefern.
Im nächsten Schritt übertragen wir ihnen
besonders anspruchsvolle Aufgaben und
beobachten, wie sie mit den extrem ambitionierten Zielen klarkommen und sich
weiterentwickeln.
Die geburtenstarken Jahrgänge bereiten
sich auf den Abgang aus dem Berufsleben vor. Viele Unternehmen sind dadurch mit Nachwuchsproblemen konfrontiert. Sollten Unternehmen angesichts dieses Talentemangels ihre Netze
nicht vielleicht doch weiter auswerfen
und Kandidaten in Erwägung ziehen,
die zwar nicht unbedingt erste Wahl
sind, bei entsprechender Entwicklung
und Förderung aber durchaus exzellente Topmanager werden könnten?
Das ist das große Plus eines gemeinschaftlichen Beurteilungsprozesses, in den Vertreter aus der gesamten Organisation eingebunden sind. Typischerweise sind fünf
oder sechs Führungskräfte aus ganz unterschiedlichen Funktionen und Sparten in
General Mills ______________________________________________________
General Mills wurde 1866 gegründet. Aus dem Zusammenschluss
zweier Mühlenbetriebe entwickelte sich rasch ein florierendes Unternehmen, das mit Mehl in erstklassiger Qualität die Branche revolutionierte. 1880 präsentierte General Mills seine Mehlsorten auf der ersten
Fachausstellung für Mühlenbetriebe in Cincinnati und holte dort prompt
die begehrten Gold-, Silber- und Bronzemedaillen. „Gold Medal“ ist
heute die Nr. 1 unter den Mehlmarken in Amerika. Das in Minneapolis
ansässige Unternehmen ist heute einer größten Lebensmittelhersteller weltweit und rangiert auf der Fortune-500-Liste 2013 auf Platz 169.
General Mills vertreibt mit 39 000 Mitarbeitern, davon etwa die Hälfte
außerhalb der USA, seine Produkte in mehr als 100 Ländern. Zu den
General-Mills-Topmarken gehören Betty Crocker, Cheerios, Green
Giant, Häagen-Dazs, Pillsbury, Jus-Rol, Liberté, Wanchai Ferry, Yoki und
Yoplait. Im Geschäftsjahr 2013 setzte das Unternehmen weltweit
17,8 Milliarden US-Dollar um.
61
den Evaluierungsprozess eingebunden,
die den zu beurteilenden Manager gut
kennen. So stellen wir sicher, dass interessante Kandidaten, die sonst vielleicht
übersehen würden, mit in den Auswahlprozess gelangen. Wir bringen auch in
Erfahrung, wie die nächsttiefere Hierarchieebene den zu beurteilenden Manager
einschätzt. Unsere kontinuierlichen Beurteilungsprozesse stellen zudem sicher, dass
Kandidaten für Führungspositionen nicht
nur einmal, sondern mehrfach unter die
Lupe genommen werden. Wir wollen langfristige Karrieren aufbauen. Führungstalent kommt in unterschiedlicher Gestalt.
Wir nehmen uns die Zeit, es zu erkennen.
Es kommt doch aber sicher vor, dass
ein High Potential an einem Stretch
Assignment scheitert. So ein Misserfolg
kann leicht demoralisierend wirken
und einen Schatten auf die Karriere
werfen. Inwieweit gestehen Sie Ihren
Hoffnungsträgern Fehler zu?
Karrieren verlaufen nicht immer geradlinig
und Kandidaten für Führungspositionen
sind nicht gegen Rückschläge gefeit. Wir
sind weitsichtig genug, das größere Bild
zu sehen, und lassen Hoffnungsträger, an
die wir wirklich glauben, nicht wegen eines Rückschlags fallen. Bei ihren StretchAufgaben müssen High Potentials genügend Raum haben, um sich in der neuen
Aufgabe zurechtzufinden und mit ihr zu
wachsen. Natürlich läuft nicht immer alles
glatt. Wenn sie sich aber in der Summe
nicht ganz klar als führungstauglich erweisen und die geforderte Leistung nicht
bringen, dann stimmt etwas nicht.
Die Suche nach High Potentials setzt
meist in der Konzernzentrale an,
während aussichtsreiche Kandidaten
an entfernteren Standorten eher
selten in Erwägung gezogen werden.
Wie stellen Sie sicher, dass bei General
Mills die nahe liegendere Option nicht
bevorzugt wird?
Typischerweise ist in allen General-MillsUnternehmen weltweit die Geschäftsleitung zu 95 Prozent mit Einheimischen
besetzt. Wir legen Wert darauf, dass die
Führungsriege an den verschiedenen Standorten unsere Kunden und Verbraucher
in den einzelnen Märkten genau kennt.
Wir sind uns auch der Tatsache bewusst,
dass diese Mitarbeiter zu unseren stärksten Trümpfen zählen und dass es sich um
sehr starke Führungskräfte mit hohem
Potenzial handelt.
„Wir sind weitsichtig genug,
das größere Bild zu sehen,
und lassen Hoffnungsträger,
an die wir wirklich glauben,
nicht wegen eines Rückschlags fallen.“
62
Focus Potenzial
Interview
Das Interview mit Ken Powell in Minneapolis
führten Justus O’Brien, Egon Zehnder, New York,
und Dick Patton, Egon Zehnder, Boston (links).
63
„Wenn man in eine
komplexere Position
wechselt, braucht es Zeit,
bis man erkennt, wie
man seine Stärken zum
Wohl des Unternehmens
einsetzen kann.“
Da wir uns erst vor relativ kurzer Zeit dafür
entschieden haben, unsere Präsenz global
auszubauen, gibt es hier sicher noch viel
zu tun. Wir alle wissen aber, dass wir dort,
wo wir präsent sind, lokale Teams aufbauen
müssen, und uns ist absolut bewusst, dass
es High Potentials überall auf der Welt gibt.
Es kostet Zeit und Mühe, Hoffnungsträger
für Führungspositionen fit zu machen.
Wie stellen Sie sicher, dass sich diese Investition auch auszahlt und Sie Ihre hervorragenden Leute nicht an die Konkurrenz
verlieren?
Unserer Erfahrung nach ist die Motivation,
bei uns zu bleiben, umso höher, je stärker
wir die angehenden Topmanager fordern.
Der Aufstieg in eine der 500 bis 600 Toppositionen bei General Mills ist extrem
schwierig. Wer bei uns in die oberste Führungsebene aufsteigt, hat einen gründlichen und umfangreichen Entwicklungsprozess durchlaufen, hat von allen Seiten
Förderung erfahren, wurde aber auch sehr
kritisch unter die Lupe genommen. Wer
alle diese Stufen erfolgreich genommen
hat, wird seine Aufgabe als sehr erfüllend
erleben, denn wir widmen jeder unserer
angehenden Topkräfte sehr viel Aufmerksamkeit, überlegen genau, wie wir ihre
Potenziale voll zur Entfaltung bringen
können, und unterstützen sie dabei, als
Topmanager immer besser zu werden. Weil
unsere Leute wissen, dass sie Teil eines
starken Führungsteams in einem Unternehmen werden, das gleichbleibend erstklassige Ergebnisse erzielt, bleiben die meisten
uns auch langfristig erhalten.
Wie passt die gezielte Förderung von
Hoffnungsträgern mit Ihrer früheren
Aussage zusammen, dass es bei General
Mills keine Stars gibt?
Führungskräften, die ihre Potenziale optimal
entfalten, übertragen wir zunehmend anspruchsvollere Aufgaben, was sehr erfüllend
ist. Dazu gehört auch, dass wir sie angemessen honorieren. Wir halten aber nichts
von Personenkult. Nicht die Topposition,
die jemand bei General Mills innehat, zählt,
sondern das Unternehmen General Mills
und die Werte, für die wir stehen. Es geht
darum, die Wirkungskraft des Teams
optimal zu nutzen und Shareholder-Value
zu schaffen.
Je weiter die Hoffnungsträger in einer
Organisation aufsteigen, desto komplexer
wird auch ihr Aufgabenspektrum. Sie
müssen in der Lage sein, mit Ambiguität
und Unsicherheit umzugehen, gleichzeitig aber entschlusskräftig sein.
Das ist sicher so. Nicht nur die Aufgaben
werden komplexer, auch die Organisationen selbst. Je größer und komplexer eine
Organisation ist, desto schwieriger ist es,
die richtige Vision zu entwickeln und die
richtige strategische Richtung vorzugeben.
In der ersten Zeit nach der Beförderung
hat manch einer vielleicht das Gefühl, ganz
allein dazustehen. Wenn man von einem
vertrauten, klar definierten Aufgabenbereich in eine viel komplexere Position wechselt, braucht es Zeit, bis man erkennt, wie
man seine Stärken zum Wohl des Unternehmens einsetzen kann.
Der größte Sprung ist natürlich der Wechsel auf den CEO-Posten. Wie entscheiden Sie und Ihr Board, wer das Potenzial
dazu hat, eines Tages das Ruder bei
General Mills zu übernehmen?
Unser Board weiß, dass Nachfolgeplanung
zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört.
Die Board-Mitglieder lernen unsere Senior
Leaders mit der Zeit genau kennen und
das Thema Nachfolgeplanung steht mehrmals im Jahr bei uns auf der Tagesordnung.
Wir führen intensive Gespräche darüber,
welche Eigenschaften der CEO mitbringen
muss, was das Unternehmen in Zukunft
braucht, was wir tun, um unsere zehn bis
15 Leader zu entwickeln, und wie die ein-
zelnen Topkandidaten vorankommen.
Der Beurteilungsprozess und die Entscheidung brauchen Zeit und sind deshalb
regelmäßig Gesprächsthema.
Ein CEO muss heute nicht nur das Unternehmen mit sicherer Hand lenken,
sondern auch die Interessen und Anliegen
der Stakeholder fest im Blick behalten.
Wie können sich angehende Top-Executives das dafür notwendige Rüstzeug
aneignen?
Das ist eine gute Frage. Als wären die Anliegen der Stakeholder nicht schon komplex
genug, kommt heute als zusätzliche Herausforderung hinzu, dass von Seiten der
Aktionäre und Interessengruppen der Ruf
nach unabhängigen Boards immer lauter
wird. Vor 20 Jahren hätten sicher drei oder
vier Senior Executives einen Sitz im Aufsichtsrat gehabt – was auch sinnvoll war,
weil sie dadurch die Sichtweise der verschiedenen Anspruchsgruppen direkt kennenlernten. Heute, wo dies eher die Ausnahme ist, ermutigen wir unsere Vorstandsmitglieder, externe Aufsichtsratsmandate
zu übernehmen.
General Mills ist bekannt dafür, dass
ehrenamtliches Engagement fest
im Unternehmen verankert ist. Geht
es Ihnen darum, hierdurch bestimmte
Führungsqualitäten zu entwickeln,
oder wollen Sie eher den Blick der aufstrebenden Executives dafür schärfen,
welche Rolle die Wirtschaft in der Gesellschaft spielen soll?
Es geht um beides. Erstens ist es eine erstklassige Entwicklungschance. Auch große
Non-Profit-Organisationen müssen sich
strategischen Fragen stellen. Wenn GeneralMills-Führungskräfte ein Mandat im Board
solcher Institutionen übernehmen oder sich
in anderer Form einbringen, erhalten sie
eine neue Perspektive. Sie finden dort ganz
64
Focus Potenzial
Interview
Ken Powell __________________________________________________
Kendall J. Powell, 1954 in Denver, Colorado, geboren, schloss
1976 sein Studium an der Harvard University ab und erwarb drei
Jahre später einen MBA an der Stanford University. Anschließend
trat er als Marketing Assistant bei General Mills ein. Powell verbrachte mehr als ein Drittel seiner Laufbahn im Ausland und
war 1990 an der Einführung von Cereal Partners Worldwide (CPW),
dem Joint Venture mit Nestlé im schweizerischen Lausanne, beteiligt. Nach weiteren Jahren in den USA, wo er u. a. zum President
der General Mills Division Big G ernannt wurde, ging er 1999
erneut in die Schweiz und übernahm dort die Position des CEO
für CPW. Unter seiner Ägide entwickelte sich das Joint Venture
zum globalen Cerealien-Geschäft mit aktuell 2 Milliarden USDollar Umsatz. 2006 wurde Powell zum President und COO
von General Mills ernannt. Im September 2007 folgte die Wahl
zum Chief Executive Officer und im Mai 2008 zum Chairman.
Powell hält zudem zahlreiche Board-Mandate.
andere Gegebenheiten vor und haben die
Möglichkeit, die Organisation mitzugestalten. Es ist eine Chance, selbst herauszufinden, was in ihnen steckt. Außerdem decken sich die Stakeholder-Themen vieler
Non-Profit-Unternehmen vielfach mit
denen kommerzieller Unternehmen wie
General Mills.
Zweitens ist die Rolle der Wirtschaft in der
Gesellschaft im Umbruch. Bürger und Verbraucher haben heute höhere Erwartungen.
Sie schauen bei Unternehmen genauer hin
und achten darauf, dass wir in unserem Streben nach wirtschaftlichem Erfolg auch
ethisch und moralisch korrekt handeln. Sind
die Lebensmittel, die wir produzieren, sicher? Werden sie nachhaltig produziert?
Meinen wir es ernst mit unserem gesellschaftlichen Engagement im lokalen Umfeld unserer Standorte? General Mills ist
ein Markenartikelunternehmen – unser
Handeln fußt auf dem Vertrauen, das uns
die Verbraucher entgegenbringen. Um
dieses Vertrauen zu verdienen und zu erhalten, müssen wir den Verbrauchern nachvollziehbar beweisen, dass wir weit mehr
im Blickfeld haben als nur die Erhöhung
des Shareholder Value.
Gab es in Ihrer eigenen Karriere eigentlich ein Schlüsselerlebnis, das Ihnen dabei
half, Ihr Potenzial optimal zu entfalten?
Ich wollte ursprünglich Arzt werden. Während des Studiums bin ich in einer von
Studenten geführten Firma namens Harvard
Student Agencies gelandet, einem NonProfit-Unternehmen, das Studenten Praktika
in Unternehmen vermittelte. Wir haben
Reiseführer herausgegeben und hatten auch
Charterflüge im Angebot. Wir steckten
voller Energie, Ideen und Pläne. Damals
erkannte ich, dass ich über einen ausgeprägten Geschäftssinn verfügte. Diese Erkenntnis und meine miserablen Prüfungsleistungen in Organischer Chemie waren
entscheidend dafür, dass ich den Gedanken
an ein Medizinstudium aufgab und mich
stattdessen an der Business School immatrikulierte. Als ich den Abschluss in der
Tasche hatte, kam für mich weder eine Karriere als Consultant noch als Banker in
Frage, sondern nur eine Tätigkeit, die mir
die praxisorientierte Arbeit ermöglichte,
die ich von Harvard Student Agencies kannte. General Mills bot mir genau das.
Sie sind seit 34 Jahren bei General Mills
und dort vom Marketingassistenten
zum Chairman und CEO aufgestiegen.
Was war für Sie die entscheidendste
Erfahrung in Ihrer Karriere?
Ich wurde ins schweizerische Lausanne
entsandt, um die Markteinführung von
Cereal Partners Worldwide – dem Joint
Venture mit Nestlé – mit vorzubereiten.
Diese Mission war eine Schlüsselerfahrung
für mich, erstens weil es ein Auslandseinsatz war und zweitens aufgrund der Struktur. Wir berichteten einem international
besetzten Board. Unsere Standorte waren
über den gesamten Globus verteilt. Wir
waren auf 100 Märkten vertreten und arbeiteten überall mit sehr fähigen und hochmotivierten Leuten zusammen – unter Lei-
tung eines kleinen, zentralen Managementteams. Es war eine sehr herausfordernde
Erfahrung. Ich musste entscheiden, wie die
internationalen Standorte am besten zu
organisieren waren, was machbar war und
wie der Spagat zwischen einer Strategiezentrale und dem richtigen Maß an Autonomie in den Märkten gelingen konnte.
Nicht alles funktionierte auf Anhieb. Anfangs waren die Abläufe zu stark zentralisiert und wir mussten einiges an Lehrgeld
zahlen. Alles in allem war es aber eine sehr
wichtige Lernerfahrung, und mit der Zeit
bekamen wir die Dinge in den Griff.
Sie haben einmal gesagt, der Nachteil,
seine gesamte berufliche Laufbahn in
einem einzigen Unternehmen zu absolvieren, liege darin, dass es in der persönlichen Einschätzung der Dinge blinde
Flecken gibt. Wie bewahren Sie sich persönlich Ihre Neugier und die Offenheit
für neue Ideen?
Uns kommt entgegen, dass in unserer
Branche derzeit vieles im Umbruch ist:
Die Art, wie sich Verbraucher informieren,
das Verbraucherverhalten selbst und die
Erwartungen, die die Verbraucher an die
Nahrungsmittelhersteller haben – hier
ändert sich gerade sehr viel. Das betrifft
auch unser Unternehmen. Mit dem Ausbau unserer internationalen Präsenz geht
einher, dass wir unsere Abläufe und Konzepte auf den Prüfstand stellen. Tendenziell
geben wir zwar der „Beförderung aus den
eigenen Reihen“ den Vorzug. Das heißt aber
nicht, dass wir nicht gewillt sind, externe
High Potentials ins Boot zu holen, wenn
unser eigener Talentpool nicht ausreicht.
Zudem war fast die Hälfte meines Topmanagementteams auch in anderen Unternehmen tätig – in Consultingfirmen und
mittelständischen Unternehmen bis hin
zu großen Lebensmittelkonzernen. Zudem
hat die Hälfte meines Senior-Teams umfangreiche Erfahrungen auf dem internationalen Parkett gesammelt, was der Ideenvielfalt in den Vorstandssitzungen eindeutig
förderlich ist. Ich selbst habe elf Jahre lang
in verschiedenen Positionen weltweit gearbeitet und dadurch Kontakte und wertvolle
Beziehungen zu Kollegen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund in einer Vielzahl von Ländern geknüpft – Kollegen, die
meine eigenen Ideen und Überzeugungen
immer wieder kritisch begleitet und hinterfragt haben. Das ist eine sehr spannende Erfahrung und einer der erfüllendsten
Aspekte meiner Tätigkeit überhaupt.
65
66
Focus Potenzial
Essay
Ehrgeiz – Tugend oder Laster?
Über den ambivalenten
Charakter einer
menschlichen Triebfeder
Von Guy Kirsch
Zwischen gesellschaftlicher Achtung und Ächtung angesiedelt, zählt der Ehrgeiz heute nicht nur in der Wirtschaft zu den wichtigsten Antriebskräften. Guy Kirsch,
Essayist und Professor für Neue Politische Ökonomie,
geht der Frage nach, wie sich das schillernde Phänomen
des Strebens nach Ehre und Anerkennung wirklich bewerten lässt.
Sollte Cäsar ehrgeizig gewesen sein, so lässt William Shakespeare
den Marcus Antonius in seiner Trauerrede auf den ermordeten
Diktator sagen, sollte also Cäsar „ambitious“ gewesen sein, wie sein
Mörder Brutus unterstellt, so wäre dies ein großes Vergehen gewesen. Doch warum eigentlich sollte das der Fall sein? Zwei Situationen sind denkbar. Die eine: Da beklagen sich Eltern, ihr Sohn sei
ohne jeden Ehrgeiz; er hänge die ganze Zeit herum, interessiere sich
für nichts und schere sich keinen Deut darum, was Lehrer, Eltern
und Mitschüler von ihm denken. Die andere: In einer Firma distanzieren sich die Mitarbeiter von einem Kollegen, weil er ehrgeizig
ist. Für die Eltern ist der Mangel an Ehrgeiz ein Übel, für die Kollegen das Übermaß. Ehrgeiz ist also eine konträr bewertete Eigenschaft. Schon seinem Ursprung nach verbindet der Begriff etwas,
was als positiv gilt – die Ehre –, mit etwas, was durchweg negativ
bewertet wird: die Gier oder Sucht. Denn „Geiz“ bedeutet hier nicht
im neueren Sinne die „übertriebene Sparsamkeit“, vielmehr geht
das Grundwort zurück auf „git“ oder „gheidh“, die „Begierde“ oder
„Gier“. Damit verbietet es sich, den Ehrgeiz von vornherein als
eine Tugend zu preisen; es verbietet sich aber auch, ihn a priori als
Laster zu verurteilen. Eine differenziertere Analyse ist angebracht.
Entscheidend ist nun, dass die in ihr aufgeführten Werte jenseits der eng gefassten Eigeninteressen desjenigen liegen, der sich engagiert. Genauer:
Er stellt sich in den Dienst einer gemeinsamen
Sache, nicht aber handelt er aus Eigennutz. Anders
jener, der aus schierem Ehrgeiz handelt. Er mag
sich für dieselben Ziele einsetzen, doch sind sie ihm
im Letzten gleichgültig. Sie sind ihm allenfalls
Mittel, um sich selbst in den Augen anderer glanzvoll in Szene zu setzen.
Man kann es auch so sagen: Wer aus Engagement handelt, stellt sich selbst gleichsam hintan.
Der allzu Ehrgeizige, der Ehrsüchtige, wird sich
nur dann für etwas einsetzen, was ihn übersteigt,
wenn ihn dies in den Augen anderer erhöht. Im
Zweifelsfall mag er gar bereit sein, die Werte – zum
Beispiel den gesellschaftlichen Frieden, den Firmengewinn, die Geschlechtergleichstellung – zu
beschädigen, wenn dies seinen eigenen Glanz in
den Augen anderer steigert.
Zusammenfassend: Während der engagierte
Mensch sich selbstvergessen in den Dienst einer
gemeinsamen Sache stellt, verfolgt der ehrgeizige
Mensch im Zweifel nur seine eigenen Ziele. So
kann ein ökologisch engagierter Unternehmer um
der Umwelt willen auf einen Teil seines Gewinns
verzichten. So kann aber auch ein ehrgeiziger Angestellter mutig-riskante Geschäfte tätigen, die zwar
das Unternehmen gefährden, ihm aber den Ruf
eines cleveren Traders einbringen.
II.
III.
Schaut man genauer hin, dann zeigt sich als Erstes, dass es ein Zuviel und ein Zuwenig an Ehrgeiz geben kann. Allerdings erschöpft
sich das Problem nicht im Austarieren des quantitativen Optimums. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Ehrgeiz mit
einer Motivation in Vergleich setzt, die ihm gemeinhin gegenübergestellt wird: dem Engagement. Dieses betont nämlich, dass
der Handelnde sich für etwas einsetzt, das er wertschätzt: etwa
eine gerechtere Gesellschaft, den Profit der Firma, die Gleichstellung der Geschlechter ... Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Warum ist dem Einzelnen so sehr daran gelegen,
in den Augen anderer zu glänzen? Warum genügt
es ihm nicht, in den eigenen Augen groß, anständig, ehrlich, tüchtig, menschenfreundlich oder gerecht zu sein? Die Antwort auf diese Frage ist so
einfach wie weitreichend: Wer morgens in den Badezimmerspiegel schaut, ist nie allein; neben ihm
stehen unsichtbar, aber sehr real jene, von denen
er annimmt, dass sie ihn sehen und beurteilen.
I.
67
Wer meint, dass ihn niemand sieht, der wird auch
in den eigenen Augen unsichtbar; sein Badezimmerspiegel erblindet – ein gespenstisch-unheimlicher Vorgang.
Der allzu ehrgeizige Mensch ist ein Mensch,
der seiner selbst, richtiger: der seines Selbst nicht
sicher ist und deshalb die Anerkennung durch die
anderen sucht. Hierbei gilt: Je größer die Selbstunsicherheit, desto größer der Ehrgeiz. Wohl ist
es zugestanden, dass jeder den Blick der anderen
braucht. Doch wer seines Selbst einigermaßen
sicher ist, giert weniger nach (an-)erkennenden
Blicken als jener, dem es an Selbstgewissheit fehlt.
IV.
Aber sollte es nicht möglich sein, dass Ehrgeiz
und Engagement in eins fallen? Warum soll ein
Mensch nicht dadurch in den Augen anderer
glänzen wollen, dass er sich für übergeordnete
Werte engagiert? Warum sollte er sich nicht seines
Selbst versichern, indem er sich vor den Augen
anderer für hehre Ziele engagiert?
Die Antwort: Ehrgeiz und Engagement sind
dann grundverschieden, wenn die hehren Ziele nur
Mittel im Dienst des eigenen Renommees sind.
Man kann kein guter Mensch sein mit dem Ziel,
als guter Mensch zu gelten. Wer dies trotzdem versucht, setzt sich zumindest dem Verdacht aus,
auch bereit zu sein, ein schlechter Mensch zu werden, wenn er dadurch zu Glanz und Gloria gelangt.
V.
Foto: Michael Hauri
Nach dem Gesagten mag man den Eindruck haben, Ehrgeiz sei eine durch und durch negative
Eigenschaft und die oben erwähnten Eltern sollten den fehlenden Ehrgeiz ihres Sohnes nicht
beklagen, sondern begrüßen. Doch dieser Eindruck ist falsch.
Zwei Punkte verdienen hier besondere Beachtung. Erstens: Wenn es richtig ist, dass der Einzelne sich auch mit den Augen der anderen sieht,
dann ist a priori nichts dagegen zu sagen, wenn er wegen seines Engagements einen gewissen Respekt genießt. Mutter Teresa steht ob ihres
Engagements für die Armen in hohen Ehren, ohne dass man unterstellt,
sie habe sich aus Ehrgeiz für die Armen eingesetzt.
Die erwähnten Eltern mögen sich also durchaus wünschen, dass ihr
Sohn ehrgeiziger ist. Es würde ihnen aber kaum gefallen, wenn ihr Kind
in der Schule nur deshalb gute Arbeiten schreibt, weil er Klassenprimus
sein will, nicht aber, weil er sich für Mathe oder Latein interessiert. Gleichfalls mögen in der Firma die Mitarbeiter einen Kollegen deshalb als
ehrgeizig ablehnen, weil sie spüren, dass er mit seinem Selbst Probleme
hat und für sie und das Unternehmen gefährlich sein kann. Sie werden
ihn und seinen Ehrgeiz deshalb nicht mögen, wenn und weil sie davon ausgehen müssen, dass er um des eigenen Rufes ein performanter Mitarbeiter sein will, ihn der „gesamte Laden“ aber nicht wirklich interessiert.
Zweitens: Da es auch darauf ankommt, womit der Einzelne Ehre einlegen will, geht ein ehrgeiziger Mensch in die Irre, der etwa im Drogenhandel
Karriere machen will. Denn der Euphemismus von der „ehrenwerten Gesellschaft“ ist außerhalb der Mafia nur ein ironisch verwendetes Synonym für
das organisierte Verbrechen. Ein ehrgeiziger Mensch kann aber für sich
und andere auch ein erfreulicher Zeitgenosse sein, wenn und weil er durch
sein zivilgesellschaftliches Engagement in den Augen seiner Mitmenschen
hervorstechen will. So sehr die oben erwähnten Eltern es also begrüßen
würden, wenn ihr Sohn den Ehrgeiz entwickelte, eine gute Mathearbeit
zu schreiben, so alarmiert wären sie, wenn ihr Filius den Ehrgeiz hätte, auf
dem Schulhof der erfolgreichste Drogendealer zu sein. Und in einem Unternehmen mag der ehrgeizige Mitarbeiter, der durch besondere Kollegialität auffällt, zu Recht sehr geschätzt sein, während jemand, der seinen
Ehrgeiz dareinsetzt, durch unsaubere Tricks Karriere zu machen, vielleicht
bewundert, aber mit gutem Grund kaum gemocht wird.
VI.
Zusammenfassend: Der Ehrgeiz ist weder eine Tugend noch ein Laster;
vielmehr kommt es darauf an, wie stark oder schwach er ausgeprägt ist;
auch kommt es darauf an, auf welchen Wert oder Unwert sich der Ehrgeiz richtet, mit welchem Engagement er sich verbindet.
Für den Einzelnen, für ganze Organisationen wie etwa Unternehmen,
gar für die Gesellschaft insgesamt kann er sich als ein Phänomen erweisen,
das mehr oder weniger störend, gar zerstörend wirkt. Er kann aber auch
für den Einzelnen zu jener Triebkraft werden, die ihn zu seinem Selbst,
zur Selbstachtung führt, er kann für Organisationen zu jenem Motor werden, der sie zur Dynamik antreibt, und für die ganze Gesellschaft zu jener Kraft, ohne die Stagnation und Untergang kaum zu vermeiden sind.
Guy Kirsch ___________________________________________________
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, geboren 1938 in
Luxemburg, ist seit 1972 ordentlicher Professor für Neue
Politische Ökonomie an der Universität Fribourg in der Schweiz.
Kirsch ist ein international gefragter Autor und Berater.
Foto: RJW/getty images
68
Focus Potenzial
69
Social Entrepreneurship
„Wir bewegen
die Menschen,
ihr Leben
zu ändern.“
Vielerorts haben sich in den
vergangenen Jahren Initiativen
für den Anschluss benachteiligter und alter Menschen
an die Informationsgesellschaft
formiert. Vorreiter der Bewegung zur Überwindung der
digitalen Spaltung der Gesellschaft in Industriestaaten, in
Schwellen- und Entwicklungsländern ist der brasilianische
Sozialunternehmer Rodrigo
Baggio.
In den Favelas von Rio de Janeiro
begann vor zwei Jahrzehnten
Rodrigo Baggios Kampagne für
den digitalen Anschluss der
Unterprivilegierten.
Focus Potenzial
Social Entrepreneurship
Das Center for Digital Inclusion (CDI),
1995 von Rodrigo Baggio gegründet,
zählt zu den bedeutendsten NGOs Lateinamerikas. CDI setzt alles daran, den
Bewohnern der Armenviertel Anschluss
ans Informationszeitalter zu verschaffen. Doch die Technologie ist für Baggio
lediglich ein – unverzichtbares – Werkzeug, das die Menschen auf einer Expedition vom Ich zum Wir begleiten soll.
Von Bill Drayton weiß man, dass er ein Mann mit
Blick für die großen Zusammenhänge ist. Der
Gründer und Vorsitzende von Ashoka, der weltweit agierenden größten und einflussreichsten
Pressure Group zur Förderung sozialen Unternehmertums, ist unablässig auf der Suche nach
Schrittmachern des ökonomischen Paradigmenwechsels, nach Prototypen für jene Unternehmerspezies, die sich weltweit in der Nische moralisierter Märkte ausprobiert, professionalisiert und
expandiert. Kurz gesagt: nach Menschen, die Social
Business auf die ganz große Bühne bringen.
In dem Brasilianer Rodrigo Baggio hat Drayton
einen solchen Modell-Entrepreneur gefunden.
Mit Computerschulen in Großstadt-Favelas und
abgelegenen Dörfern bekämpft Baggio seit fast
20 Jahren die „digitale Spaltung“ der lateinamerikanischen Gesellschaft. Was Drayton allerdings
noch viel mehr fasziniert als die zweifellos beeindruckende Erfolgsbilanz Baggios, ist seine Fähigkeit, selbst in solchen Menschen einen unternehmerischen Geist zu entfachen, die bis dato nicht
einmal ahnten, dass es für sie eine Perspektive jenseits ihrer armseligen Blechhüttensiedlungen
geben könnte. Im Laufe der Jahre ist es Baggio gelungen, Hunderte, wenn nicht Tausende von
Menschen aus den Favelas zu „Change Agents“ zu
entwickeln, zu Menschen, die ihre eigenen Lebensentwürfe umschmieden, in ihren Siedlungen eine
Führungsrolle übernehmen, durch ihr positives
Beispiel andere aus der Lethargie reißen und so zu
Katalysatoren des sozialen Wandels werden.
„Dieser Führungsansatz ist das neue Modell“,
prognostiziert Drayton voller Enthusiasmus mit
Blick auf Baggios Empowerment-Strategie zur Überwindung des Digital Divide – und auf Initiativen
mit ähnlicher Stoßrichtung, die in den vergangenen
Jahren entstanden sind: In Großbritannien kümmert sich die „Digital Inclusion Force“ um den Anschluss der rund 15 Millionen Briten, vor allem
alter und sozial ausgegrenzter Menschen, die nach
wie vor von der IT-Welt ausgeschlossen sind. In
Schweden hat „Digidel 2013“ das Ziel ausgegeben,
in den nächsten Jahren 1,5 Millionen Landsleute
ans Internet heranzuführen. In ganz anderen Grö-
ßenordnungen denkt man naturgemäß bei Microsoft. Youth Sparks,
die weltweite Initiative des Software-Konzerns zur Förderung
der Zukunftschancen Jugendlicher, will bis 2022 allein in Indien
Millionen von jungen Menschen fit für den Arbeitsmarkt und,
wo immer sich die Möglichkeit bietet, für die Gründung eines
Unternehmens machen. Bill Drayton schaut zurück auf Rodrigo
Baggio, den Pionier der Digital-Inclusion-Bewegung, und schlägt
den ganz großen Bogen: „Angesichts des heutigen Tempos der
Veränderung im Unternehmenssektor muss man sich geradezu
fragen, ob Baggio mit seinem Ansatz nicht genau das vorlebt,
worauf es heute in der Führung eines Unternehmens ankommt.“
Nicht nur in Brasilien, nicht nur in den Armensiedlungen dieser
Welt, nicht nur im Sozialunternehmertum, sondern überall.
Starke Worte!
Es ist ziemlich genau 20 Jahre her, da war Rodrigo Baggio
weit entfernt von der Vorstellung, einmal solchermaßen geadelt
zu werden. Im Gegenteil: Baggio, ein junger Mann aus gutem
Hause, aufgewachsen in der wohlhabenden Südstadt der 6-Millionen-Metropole Rio de Janeiro, sah sich damals mit einer ernsthaften Lebenskrise konfrontiert. Gerade Anfang 20, war er schon
ein erfolgreicher IT-Unternehmer, der unter anderem für IBM
arbeitete. Er war ein Glückskind des gerade anbrechenden Computer-Zeitalters. Doch zufrieden war er nicht. „Wenn ich mir
meine Zukunft vor Augen führte, sah ich mich immer wohlhabender werden, aber nicht glücklicher“, erinnert sich der heute
44-Jährige. „Etwas ganz Wichtiges fehlte. Ich hatte das Gefühl
einer großen Leere.“
Baggio begann, ausgediente, aber noch intakte Rechner und
Drucker zu sammeln, und gründete eine Computerschule. Dort
sollten nicht die Söhne und Töchter der Mittelschicht von Rio lernen,
sondern die Entbehrlichen aus Dona Marta, einer übel beleumdeten Favela. Brasiliens erste Computerschule für Arme war nicht
Schon Kinder sollen sich in
den CDI-Computerschulen mit
dem digitalen Rüstzeug
für die Informationsgesellschaft
vertraut machen.
Foto ff.: CDI
70
Foto: Nadine Rupp/getty images
71
Resultat nüchternen Kalküls, sondern eines Traums. „Ich hatte
die Vision, dass die Technologie den Menschen in solchen Armensiedlungen helfen kann, ihre Situation besser zu begreifen – und
dass sie mit Hilfe der Technologie einige ihrer dringlichsten Probleme lösen können.“ Rodrigo Baggio glaubte an die lebensverändernde Kraft der Informations- und Kommunikationstechnologie – auch wenn seine Freunde und Geschäftspartner von
den besonderen Talenten und Fähigkeiten der Favela-Bewohner
lieber gar nichts wissen wollten.
Baggios kleine Armee der Katalysatoren
Schon zwei Jahre nach der Gründung der ersten Computerschule
betrieb Baggios Organisation, die sich jetzt „Center for Digital
Inclusion“ (CDI) nannte, 15 Computerschulen im ganzen Land. Mehr
als 5 000 Teilnehmer hatten das viermonatige Programm durchlaufen. Die meisten hatten noch nie zuvor an einem PC gesessen.
Im CDI verschmelzen Rodrigo Baggios Passionen: Informationstechnologie und soziales Engagement. Seit er von seinem Vater
Anfang der 80er Jahre einen Computer geschenkt bekam – damals
einer der ersten privaten PC in Brasilien –, fasziniert ihn die ITWelt. Doch Baggio erinnerte sich stets auch daran, wie er sich schon
als Zwölfjähriger in den Schulferien um Straßenkinder gekümmert und in einem Favela-Kindergarten mitgeholfen hatte. „Nun
Rodrigo Baggio ________________________
Rodrigo Baggio, geboren 1969 in Rio de
Janeiro, entwickelte schon in früher
Jugend zwei Leidenschaften: für Computer und für soziales Engagement.
Nach einem Studium der Informationstechnologie war er auf dem bestem
Wege zu einer erfolgreichen Karriere als
Unternehmer, er entschied sich dann
aber 1995 zur Gründung der „Information
Technology and Citizens Right School“ –
Brasiliens erster Computerschule für
Arme. Daraus entstand das „Center for
Digital Inclusion“ (CDI), dem Baggio
bis heute als Präsident vorsteht. Für seine
erfolgreichen Bemühungen um die „digitale Inklusion“ der Unterprivilegierten
wurde Baggio vielfach ausgezeichnet.
72
Focus Potenzial
Social Entrepreneurship
„Die Menschen kommen zum
CDI, um ihr eigenes Leben
zu verändern – und plötzlich
verändern sie auch die
Lebenswege von anderen.“
sah ich die Chance, beides zusammenzubringen“,
erinnert er sich an die Anfangszeit von CDI.
Baggio glaubte an das Potenzial der Menschen in
den Armenvierteln – und vor allem daran, dass
man es nicht nur für Drogengeschäfte, Diebstähle
und Hehlereien nutzbar machen konnte. Doch
ohne den Zugang zu Informationstechnologie,
daran hatte er keinen Zweifel, würde es bestenfalls einer kleinen Minderheit der Unterprivilegierten gelingen, ihrem Leben einen Schub nach
vorn zu verpassen – und damit würde sich auch
an der trostlosen Lage in ihren armseligen Hüttensiedlungen nichts ändern.
Dank des beharrlichen Festhaltens an seiner
Vision ist Rodrigo Baggio heute einer der weltweit
angesehensten Social Entrepreneurs. CDI, das
von ihm geführte Sozialunternehmen, 18 Jahre
nach seiner Gründung ein bestens funktionierendes multinationales Netzwerk, zählt zu den bedeutendsten NGOs Lateinamerikas. In fast zwei
Jahrzehnten hat Baggio ein dichtes Netz aus 780
autonom agierenden lokalen Computerschulen –
er nennt sie Community Center – über die benachteiligten Gegenden Brasiliens und weiterer acht
lateinamerikanischer Staaten gespannt.
Die Signale stehen auf Expansion
In Lateinamerika ist sein Anliegen heute so aktuell
wie ehedem. Auch im Jahr 2013 sind rund 80 Prozent der Bevölkerung „digitally excluded“ – also vom
Zugang zum Internet und zu anderen digitalen
Informationsquellen ausgeschlossen. „Digitale
Apartheid“ nennt Baggio das. Vier Fünfteln der Menschen bleibt damit die Teilhabe an der sich immer
schneller entfaltenden digital vernetzten Welt
komplett verschlossen – was die ohnehin existierenden sozialen Gräben zwischen Arm und Reich,
zwischen Zentrum und Rand der Gesellschaft noch
weiter vertieft. Baggio setzt alles daran, die große
Masse der „Digitally Excluded“ an die Welt der
anderen heranzuführen, die jenseits ihrer Blechhüttensiedlungen beginnt.
Von Anfang an hatte Baggio erkannt, dass es
um weit mehr ging als nur um den digitalen
Anschluss der Unterprivilegierten. „Es reicht nicht,
den Leuten nur ein paar PC hinzustellen“, sagt er.
„Was soll das denn bringen? Auch dadurch, dass
man Menschen ans Internet anschließt, ändert
sich zunächst mal überhaupt nichts.“ Zwar ist CDI tief durchdrungen von der Überzeugung, dass „Technologie ein ungemein
wirksamer Katalysator des sozialen Wandels“ sein kann – aber
für sich genommen ist sie nicht mehr als ein Werkzeug, „ein Hilfsmittel, das die Menschen nutzen, um konkrete Probleme anzugehen“. Wenn sich das Leben in den Brutstätten von Armut und
Kriminalität ändern soll, braucht Technologie eine soziale Dimension. Nicht umsonst spricht Baggio gern von „Digital Empowerment“. Es geht nicht ums Surfen, sondern ums Leben. Um den
intelligenten Einsatz von IT auf einer Expedition vom Ich zum Wir,
vom Einzelkämpfer zum sozialen Wesen, die im Idealfall zur
Erkenntnis führt, dass das neu entdeckte Gemeinwesen mehr Halt,
mehr Sicherheit und mehr Zukunft verspricht als die Gang, die
Gewalt und die Flucht in die Drogen.
Vom Problem zum Aktionsplan
Genau diesen Ansatz verfolgt die CDI-Methodik. Das Curriculum
der viermonatigen Kurse verbindet soziale und IT-Techniken.
Zu Beginn des Lehrgangs verständigen sich die Schüler auf ein
konkretes Problem in ihrem Wohngebiet – etwas, das sie besonders stört. Das kann ein mit Fäkalien verschmutzter Bach sein,
ein Missstand in der örtlichen Schule, der Terror durch eine Gang
oder sexueller Missbrauch an Kindern. Mit Hilfe des Computers
und der erlernten IT-Fertigkeiten erfassen die Schüler die Dimension des Problems, sie beschaffen verlässliche Informationen,
finden Ansprechpartner und tauschen Erfahrungen mit anderen
aus, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Abschließend
erarbeiten sie gemeinsam einen Aktionsplan, wie das Problem
aus der Welt geschafft werden kann. „Wir packen die Menschen
nicht vor den Computer, sondern bewegen sie, Dinge anzupacken
und zu verändern“, umschreibt Rodrigo Baggio die „Magna Charta“
von CDI. „Unser Ziel ist der aktive, informierte Bürger, der sein
Gemeinwesen selbst organisiert und in Ordnung hält.“
In vielen Fällen ist der Erfolg konkret messbar. So gelang es
einem CDI-Kurs in einer Wohnsiedlung von São Paulo, eine
jahrelang grassierende Rattenplage erfolgreich zu bekämpfen.
Ein anderer Lehrgang in einem abgelegenen Dorf im Norden
Brasiliens deckte mit einem Foto- und Social-Media-Projekt eine
Kette von Missbrauchsfällen an Kindern auf – und sorgte mit
einer mehr als einjährigen engagierten Kampagne dafür, dass
die Missbrauchsopfer und ihre Familien jetzt vor Ort psychologische und medizinische Hilfe erhalten.
Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess des technologischen
und sozialen Lernens nehmen die lokalen „Change Agents“ ein –
Menschen aus den Siedlungen, die anfangs beispielsweise durch
besonderes Engagement in den Kursen auffallen. CDI „entdeckt“
sie und bildet sie zu Trainern aus, die dann weitere Lehrgänge
übernehmen. Sie kümmern sich um Finanzierungen, organisieren
Räumlichkeiten, werben Kursteilnehmer und verhandeln mit
den lokalen Behörden. Ohne diese Lebenslauf-Entrepreneure
würde ein Großteil des in den Kursen vermittelten sozialreformerischen Elans vermutlich verpuffen. Die Change Agents sind
diejenigen, die Baggios Idee des sozialen und ökonomischen
Empowerment vor Ort in die Praxis umsetzen und ihr Nachhaltigkeit verleihen.
In den vergangenen Jahren absolvierten jeweils mehr als
70 000 Menschen die CDI-Programme – und die meisten nahmen
73
weit mehr mit nach Hause als die Fähigkeit zum Umgang mit
PowerPoint, Excel und Internet. Laut einer externen Evaluation
sagen 70 Prozent der Teilnehmer, CDI habe ihnen geholfen, ihr
Leben zu verändern. Vier von fünf IT-Schülern erhielten durch den
Kurs einen besseren Einblick in die sozialen Bedingungen in
ihrem Wohngebiet, drei Viertel verbesserten ihre Lese- und Rechtschreibfähigkeiten, 47 Prozent fanden einen neuen Job, 34 Prozent verdienen mehr als zuvor. Immerhin 12 Prozent wagten den
Schritt in die wirtschaftliche Selbstständigkeit – sie eröffneten
einen Laden oder eine Werkstatt oder bieten jetzt eine Dienstleistung für die Bewohner ihrer Siedlung an.
Soziale Aktion statt Attentismus
Längst hat Rodrigo Baggio die Signale auf Expansion gestellt.
CDI-Community-Center entstehen nicht mehr nur in den
Armenvierteln, sondern beispielsweise auch in Gefängnissen
und psychiatrischen Kliniken. Geplant ist ein
Export eines modifizierten CDI-Modells in den
Mittleren Osten und nach Nordafrika. Und ein
Ableger von CDI, das Projekt Apps for Good,
war im vergangenen Jahr bereits an 97 britischen
Schulen fest installiert.
Die Steigerung der Effizienz steht derzeit im
Mittelpunkt der CDI-Strategie. Die Community
Center sollen sich schrittweise zu Mikro-Unternehmen entwickeln und kleine IT-Dienstleistungen
wie Druckaufträge, Computer-Reparaturen, Grafikdesign oder Internetanschlüsse anbieten. So will
Baggio die Abhängigkeit von Spenden verringern.
Ein Drittel der Community Center finanziert sich
bereits aus eigenen Einnahmen, ein weiteres Drittel
ist „auf gutem Wege dorthin“. Fernziel ist der Aufbau einer weltweiten Online-Lernplattform. Sie soll
den CDI-Programmen eine noch größere Reichweite verschaffen – bis in Gegenden, in denen der
Aufbau eines Community Center nicht möglich
ist. Nicht zuletzt wandeln sich mit den Kommunikationsgewohnheiten der IT-Nutzer auch die
Kursinhalte. So bietet CDI mittlerweile neben den
„klassischen“ PC-Lehrgängen auch Kurse für den
Umgang mit Smartphone, Tablet und Social Media
an. Die soziale Dimension des Programms bleibt
unangetastet – natürlich.
Rodrigo Baggio ging es nie darum, ein Strohfeuer zu entfachen. Und Geld an die Armen zu
verteilen, ist ihm erst recht zu wenig. Es verändert
ja auch nichts, sondern schafft lediglich neue
Abhängigkeiten. Baggio fördert nicht den Attentismus, sondern Engagement und soziale Aktion.
Schließlich definiert er sich nicht als Wohltäter,
sondern als Architekt eines nachhaltigen sozialen
und ökonomischen Wandels. Mit CDI verfolgt er
einen zutiefst unternehmerischen Ansatz, befeuert von einer sozialen Mission, die sehr viel mit
Empowerment und sehr wenig mit Fürsorge zu tun
hat. „Die Moral in den Spielregeln, die Effizienz
in den Spielzügen“, definiert der Wirtschaftsethiker
Karl Homann die Geschäftsgrundlage eines zukunftsfähigen Social Business. Ein Satz, der so auch
in den Unternehmensgrundsätzen von CDI stehen könnte.
„79 Prozent aller Menschen
auf dieser Erde haben keinen
Zugang zum Internet oder
zu anderen digitalen Kommunikationstechniken. Sie sind
digital ausgeschlossen.“
74
Focus Potenzial
75
Best Practice
Zu treuen Händen
Wie die Unternehmerfamilie
Merck die nächste Generation auf
die Verantwortung für das
Familienunternehmen vorbereitet
Fotos: Michael Hudler
Obwohl beim Chemie- und Pharmakonzern Merck
KGaA die Eignerfamilie am Tagesgeschäft nicht
mehr beteiligt ist, ist ihr Votum bei wichtigen strategischen Entscheidungen maßgebend. Dazu
braucht es Familienmitglieder, die sich auf der Basis
der Unternehmenswerte mit Leidenschaft und
Know-how in den Unternehmensgremien engagieren. Wie die Familie ihre fähigsten Köpfe findet
und die Kompetenzen der nächsten Generation fördert, beschreibt Frank Stangenberg-Haverkamp
im Gespräch mit FOCUS.
Wenn man als Außenstehender ein Gespür für den Geist im
Chemie- und Pharmakonzern Merck bekommen will, sollte man
vielleicht zunächst den Luisenplatz in Darmstadt aufsuchen.
Dort befindet sich im Parterre des Merck-Hauses, eines schlichten
Zweckbaus, die Engel-Apotheke. Auch hier ist alles modernfunktional – und doch steht man inmitten der Keimzelle des ältesten pharmazeutisch-chemischen Unternehmens der Welt.
Vor über 340 Jahren hatte Friedrich Jacob Merck die „Zweite Stadtapotheke“ mit Haus und Hof in der kleinen Residenzstadt erworben und damit den Grundstein für das traditionsreiche Familienunternehmen gelegt. Tatsächlich befindet sich die Apotheke noch immer im Besitz der Familie. Und genau darum geht es
wohl bei Merck: mit der Zeit zu gehen, ohne die Wurzeln aufzugeben.
Inzwischen wacht die elfte Merck-Generation über die Firmengeschicke. Einer ihrer wichtigsten Repräsentanten ist Frank
Stangenberg-Haverkamp, 65, Vorsitzender des Gesellschafterrates
bei Merck. Seinen Beruf als Investmentbanker
hat Stangenberg-Haverkamp schon vor einigen
Jahren aufgegeben, um sich ganz in den Dienst
des Familienerbes zu stellen. Und das ist ein bedeutendes: Mit rund 38 000 Mitarbeitern weltweit stellt die Merck KGaA Arzneien gegen Krebs
und Multiple Sklerose ebenso her wie Nasentropfen für die Selbstmedikation; engagiert sich
intensiv in der Biotechnologie und produziert
in ihren chemischen Sparten Flüssigkristalle für
Bildschirme und Displays oder Pigmente für
dekorative Kosmetik. Damit hat der Konzern 2012
knapp 11 Milliarden Euro umgesetzt.
Die Familie hält sich im Hintergrund, ist aber
stets präsent. Als einer ihrer wichtigsten Vertreter
ist Stangenberg-Haverkamp viel in der Konzernwelt unterwegs. Das sei nicht das Schlechteste, findet der Vorsitzende des Gesellschafterrates. Wenn
er heute auf Reisen geht, treibt ihn weniger die
Lust auf Abenteuer und fremde Kulturen an. Sondern er tut es vor allem, um die Eignerfamilie im
Unternehmen sichtbar zu machen; für die Mitarbeiter, aber auch als Signal für die Familie selbst,
denn deren Engagement und unbedingtes Bekenntnis zum Unternehmen sind ein wichtiger Teil des
Merck-Wertegerüstes. Stangenberg-Haverkamp
versteht sich denn auch als Fackelträger, der den
Funken der Begeisterung für das Unternehmen in
der nächsten Merck-Generation entzündet.
76
Focus Potenzial
Best Practice
Generationen im Dialog
Stärkung des Wir-Gefühls
Die weitverzweigte Familie ist inzwischen so
groß, dass es sich sogar lohnt, eine eigene Zeitung
aufzulegen, in der Familienneuigkeiten ausgetauscht, aber auch Fragen zum Unternehmen diskutiert werden. Und es sind vor allem die Vertreter
der jüngeren Generation, die 15- bis 29-Jährigen,
die kritische und auch mal unbequeme Fragen
stellen: „Muss Frank Stangenberg-Haverkamp tatsächlich so viel reisen? Was bringt das denn?“
Oder „Soll sich Merck wirklich an der Stammzellenforschung beteiligen?“ und „Sollten wir nicht
unsere wirksamsten Medikamente kostenlos oder
ganz billig an die Armen der Welt verteilen?“
Keine leichten Fragen, die StangenbergHaverkamp und sein kongenialer Counterpart Jon
Baumhauer, der Vorsitzende des Familienrates,
des Öfteren parieren müssen. Aber genau darum geht es ja auch: nicht nur befriedigende, sondern überzeugende Antworten für die MNG 1, die
15- bis 23-Jährigen der Merck Next Generation, und
die MNG 2, die 24- bis 29-Jährigen, zu finden, die
es ihnen emotional lohnend erscheinen lassen, sich
für das Familienunternehmen einzusetzen, darin
mehr zu sehen, als eine ohne eigenes Zutun glücklich ererbte Quelle des Wohlstands.
Zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst,
lädt der Familien- und Gesellschafterrat die jungen
Leute deshalb für ein ganzes Wochenende ein,
um über das Unternehmen zu informieren und
spezielle Themen aus Betriebswirtschaft, Chemie
und Pharmazie zu diskutieren. Gerade kürzlich
hat Stangenberg-Haverkamp mit einer Gruppe
von Jugendlichen die Fabrik von Merck Serono in
Vevey am Genfer See besucht. Man hat etwas über
den Unterschied zwischen groß- und kleinmolekular in der Biotechnologie gelernt, ist bei Montreux
durch die Weinberge gewandert, hat gemeinsam
gegessen und gelacht und versucht herauszufinden, wer nun wie mit wem verwandt ist. Das schweißt
eine Familie zusammen.
Aber auch die Älteren sehen sich regelmäßig. Wichtigstes Treffen ist alljährlich im Juni die Gesellschafterversammlung der
E. Merck KG, in der die Anteile der Familie gebündelt sind. Dort
geht es um die Entwicklung des Unternehmens in Vergangenheit und Zukunft. Höhepunkt des Tages und sehr beliebt ist das
anschließende große Familienfest, bei dem fast immer alle mehr
als 200 Mitglieder dabei sind; zuletzt im weitläufigen Stangenberg-Haverkamp’schen Garten. Ein zweites Familientreffen
bietet dann meist intensive Einblicke in einen Unternehmensteil. Neben der Stärkung des Wir-Gefühls werden so auch noch
Wissen und Kompetenz aufgebaut.
Denn die unterschiedlichen Stämme und Zweige der Familie
repräsentieren eine große Bandbreite von Berufen und Tätigkeiten: Handwerker sind darunter ebenso wie Künstler und Akademiker jeder Couleur. Chemiker oder Pharmazeuten sind wenige.
Frank Stangenberg-Haverkamp beispielsweise hat Volkswirtschaft studiert, arbeitete bei verschiedenen Banken, zuletzt in
der Londoner City, Jon Baumhauer ist ein renommierter Kinderpsychologe. Und der Merck-Konzern ist ein hochkomplexes
Gebilde. Allein der Bereich Merck Millipore, 2010 nach der Übernahme der amerikanischen Millipore Corp. entstanden, umfasst
mehr als 60 000 Produkte – Filtersysteme, Antikörper, Reagenzien. Etwa 150 000 sind es im gesamten Konzern – für den Fachmann schwer zu überschauen, für den Laien nahezu unmöglich.
Wie also kann die Familie, der 70 Prozent des Konzerns gehören,
fachkundig und verantwortungsvoll entscheiden, ob eine Übernahme wie die des schweizerischen Biotechnologieunternehmens
Serono für über zehn Milliarden Euro im Jahr 2006 oder eben
der Kauf von Millipore für mehr als fünf Milliarden Euro Sinn
macht? Wie findet sie unter ihren zahlreichen Kindern und
Kindeskindern diejenigen, die nicht nur das Zeug dazu haben,
sich so für das Unternehmen einzusetzen, dass es auch in den
nächsten 300 Jahren noch prosperiert, sondern dies auch mit
Leidenschaft tun?
Fern und nah zugleich
Zunächst einmal ist da das gesellschaftsrechtliche Konstrukt der
KG auf Aktien mit der familieneigenen KG als Komplementärin
und den wichtigen Organen Gesellschafterversammlung, Gesell-
Frank Stangenberg-Haverkamp __________________________________________
Dr. Frank Stangenberg-Haverkamp, 65, studierte in Freiburg Volkswirtschaftslehre und promovierte in Wirtschaftsgeschichte. Anschließend
arbeitete er als Investmentbanker für die Commerzbank, die Barings Bank
und die Hambros Bank in London. Seit 1984 gehört er dem Gesellschafterrat der E. Merck KG an. 1995 wurde er stellvertretender Vorsitzender dieses
Gremiums und 2004 dessen Vorsitzender. Zusammen mit Jon Baumhauer,
dem Vorsitzenden des Familienrates, ist Stangenberg-Haverkamp heute einer
der beiden Repräsentanten der Unternehmerfamilie Merck.
77
Focus Potenzial
Best Practice
Fotos: © Merck KGaA, Darmstadt Deutschland
78
Merck KGaA __________________________________________
Die Merck KGaA mit Hauptsitz in Darmstadt gehört mehrheitlich und mittlerweile in 13. Generation der Familie
Merck. Die Familienmitgliedschaft geht in direkter Linie
auf Heinrich Emanuel Merck (1794–1855) zurück, dessen
Vorfahr Friedrich Jacob Merck 1668 mit dem Kauf einer
Apotheke den Grundstein für das Familienunternehmen
gelegt hatte. Mit der Isolierung von Alkaloiden aus Pflanzen begann 1827 die pharmazeutisch-chemische Produktion.
Heute ist Merck in 68 Ländern vertreten. Seit 1995 werden
rund 30 Prozent der Anteile der Merck KGaA an der Börse
gehandelt.
schafterrat und Familienrat, in denen Merck-Abkömmlinge entweder allein das Sagen haben oder zumindest in
der Mehrheit sind. Es hält die Familie auf Nähe und Abstand zugleich, will sagen: Keine wichtige Entscheidung
kann ohne die Mercks getroffen werden, aber umgekehrt
ist ihnen ein direkter Durchgriff auf operative Entscheidungen verwehrt und nicht gewollt. Und Alleingänge
einzelner Familienmitglieder oder die Durchsetzung von
Partikularinteressen sind praktisch unmöglich.
Wer von der Familie in den bis zu 13-köpfigen Familienrat entsandt wird, muss von der Gesellschafterversammlung mehrheitlich gewählt werden. Alle fünf Jahre finden
Neuwahlen statt. Der Familienrat entscheidet wiederum
über die Besetzung des neunköpfigen Gesellschafterrates,
in dem auch vier familienfremde Ratgeber sitzen. Das
Management liegt ganz in der Hand familienfremder
Manager unter der Stabführung von CEO Karl-Ludwig
Kley. Vereinfacht gesagt: Je näher bei Merck Entscheidungen am operativen Geschäft liegen, desto weniger Einfluss kann die Familie nehmen, je mehr strategische
Fragen zu beantworten sind, die auch Vermögensfragen
berühren, desto stärker ist die Familie involviert.
Wie also geht die Familie vor, um ihre fähigsten Mitglieder in die Entscheidungsgremien zu entsenden?
Wie findet sie jene Nachkommen, die nicht nur wollen,
sondern auch können? Wie gelingt es, trotz der relativen
Ferne zu unternehmerischen Entscheidungen den Funken für das Unternehmen in den nächsten Generationen
zu entzünden und lebendig zu halten? Es sind keine
trivialen Fragen, die da zu beantworten sind, weiß Frank
Stangenberg-Haverkamp.
Zunächst einmal muss die Basis stimmen, und das
sind Werte, die in der Familie hochgehalten werden. Dazu
gehört trotz allen Wohlstands ein gewisses Maß an Bescheidenheit: „Bei uns fährt man Golf!“ Und alle, so sie im
berufsfähigen Alter seien, gingen einem normalen Broterwerb nach und ruhten sich nicht auf den jährlichen Gewinnausschüttungen aus. Wer in den Familienrat gewählt
wird, muss, so sieht es die Familientradition vor, ohnehin
eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, wenn auch
nicht unbedingt einen akademischen Abschluss.
Es zählen zudem Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl, nicht allein gegenüber dem Unternehmen
und seinen Mitarbeitern, sondern gegenüber der Gesellschaft allgemein. „Als Biotechnologieunternehmen
betreiben wir Stammzellenforschung, aber nicht mit
menschlichen embryonalen Stammzellen. Da gibt es andere Wege“, so Stangenberg-Haverkamp, der sich in dieser
Grundhaltung sowohl mit der Familie als auch mit seinen
Managern einig weiß.
Wer in den Familienrat gewählt werden will, muss als
Kandidat aus dem Gesellschafterkreis vorgeschlagen
werden. Die ausgefeilte Wahlordnung bringt die Familienmitglieder miteinander ins Gespräch und stärkt damit die
emotionale Bindung an das Unternehmen, hat die Wirtschaftswissenschaftlerin Sabine B. Klein festgestellt, die
sich in ihrer Forschungsarbeit seit Jahren mit den besonderen Bedingungen von Familienunternehmen beschäftigt.
79
Sorgfältige Auswahl
Wer bei Merck Interesse an der Mitarbeit im Familienrat hat, dem
empfiehlt der Familienrat inzwischen, sich einem professionellen
Assessment durch externe Berater zu unterziehen. Die Familie verwendet auf den Gremiennachwuchs sehr viel Sorgfalt. Nicht familiäre Sympathien sollen für die Wahl entscheidend sein, sondern
objektiv bewertete Kenntnisse und Fähigkeiten des Aspiranten.
Vor allem geht es dabei auch um dessen künftiges Potenzial, die
große Aufgabe und Verantwortung, die mit einem Sitz in den Vertretungsgremien verbunden sind, erfolgreich zu schultern. Wichtig
ist daneben die Motivation. Wer auf einen Posten nur des Geldes
wegen schielt, ohne Bezug zur Industrie, zur Firma und zu ihren
Werten, hat schon verloren.
Zwar werden die Ergebnisse der externen Bewertung nicht veröffentlicht, aber sie bieten die Basis für eine gute Selbstreflexion,
eine Kandidatur im Sinne der Eigentümer zu überdenken oder Unentschlossenen, wenn sie das Zeug dazu haben, zuzuraten. Denn
so groß ist der Pool trotz der vielköpfigen Verwandtschaft dann
doch nicht. Viele ziehen es vor, eine eigene Karriere zu verfolgen
oder sich um ihre eigene kleine Familie zu kümmern.
Zudem braucht es mindestens fünf, eher aber zehn Jahre, um
sich in die Komplexität des Unternehmens so einzuarbeiten, dass
man im Familienrat Wichtiges beitragen kann, schätzt Frank
Stangenberg-Haverkamp. Wer dann noch mal fünf Jahre im Gesellschafterrat tätig war und parallel dazu die entsprechende Berufsund Lebenserfahrung erworben hat, was nicht unbedingt in der
Industrie geschehen sein muss, kann dem Unternehmen erst wirklich nützen. Er selbst gehört seit 1984 dem Gesellschafterrat an,
wurde 1995 dessen stellvertretender Vorsitzender, bevor er im Jahr
2004 den Vorsitz übernahm.
Ganz wichtig sei, so Stangenberg-Haverkamp, deshalb bei der
Berufung von Familienmitgliedern in den Familien- und Gesellschafterrat deren Fähigkeit zur realistischen Einschätzung des
eigenen Könnens und Wissens sowie gerade beim Für und Wider
großer Investitionsentscheidungen ein Blick für das große Ganze.
Immer gilt es ja, das Interesse der Familie, ihr Vermögen vor Risiken
möglichst zu schützen, in Einklang mit dem Wachstumsimperativ
des Unternehmens zu bringen.
Und warum lernt die junge Generation das Familienunternehmen nicht einfach durch eigene Mitarbeit von innen kennen, um
später umso besser mitentscheiden zu können? „Da haben wir
eine ganz klare Linie“, sagt der Vorsitzende des Gesellschafterrates.
„Das wollen wir nicht!“ Die einzige Ausnahme seien Praktika. Er
würde es zwar begrüßen, wenn Mitglieder der Familie vielleicht
einmal wieder Toppositionen oder gar die Führung des Konzerns
übernähmen. „Aber ihre Sporen müssen sie sich woanders verdient
haben.“ Wer etwa bei Bayer oder Boehringer Karriere gemacht
und dort bewiesen habe, dass eine Zugehörigkeit zur Eignerfamilie keine Rolle beim Aufstieg gespielt habe, sei dann auch zu Hause
in Darmstadt wieder sehr willkommen.
Bei jeder Entscheidung, die von der Familie für das Unternehmen zu treffen sei, ob nun in finanzieller, strategischer oder personeller Hinsicht, sagt Frank Stangenberg-Haverkamp, gelte als
Leitsatz immer: „Wir sind nicht nur Eigentümer des Firmenvermögens, sondern Treuhänder.“ Und dieses Vermögen müsse unversehrt und möglichst gemehrt an die nächste Generation übergeben
werden.
„Wie gelingt es, den Funken
für das Unternehmen in
den nächsten Generationen
zu entzünden?“
Das Interview mit Frank StangenbergHaverkamp führte Johannes Graf von
Schmettow, Egon Zehnder, Düsseldorf.
80
Focus Potenzial
Campus
„Unsere Schüler müssen sich als
Erbauer einer Kathedrale
begreifen – und die Kathedrale
heißt Afrika.“
Er zählt selbst zu den größten Nachwuchstalenten
Afrikas. Bei einem Gespräch auf dem Campus
der von ihm ins Leben gerufenen African Leadership
Academy erläutert Fred Swaniker, wie er das
Führungspotenzial des Kontinents erschließen will.
Mit Hochdruck investiert der junge, aus
Ghana stammende Bildungsunternehmer Fred Swaniker in die Entwicklung
des wohl wichtigsten Guts für Afrikas
Zukunft: gut ausgebildete Führungskräfte.
Seine Organisation, die African Leadership Academy, war in den vergangenen
Jahren auf der Suche nach jungen High
Potentials überall auf dem Kontinent unterwegs. Die Besten werden in Südafrika,
auf dem Campus der Academy, ausgebildet
und auf künftige Führungsaufgaben
vorbereitet. Eine außerordentlich ambitionierte und inspirierende Initiative:
Als wahrscheinlich erster Mensch in der
Geschichte Afrikas verfolgt Swaniker einen Plan, der Auswirkungen auf das Wohlergehen des gesamten Kontinents hat.
Fotos: Fritz Beck
FOCUS: Nach Jahrzehnten, die gezeichnet
waren von Krieg, Armut und Korruption, wird Afrika jetzt zunehmend als aufstrebender Kontinent wahrgenommen.
Welche großen gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Trends haben zu dieser
veränderten Einschätzung geführt?
Fred Swaniker: Afrika beginnt langsam, aus
seinem Dornröschenschlaf zu erwachen,
und steht heute dort, wo China vor 20 oder
30 Jahren stand. Es gibt vor allem zwei
Trends, die Afrikas Rolle als Markt, aber auch
als Akteur der globalen Wirtschaft in den
kommenden Jahrzehnten stärken dürften.
Einer davon ist die Verstädterung: In den
nächsten 40 Jahren werden rund 800 Millionen Menschen in die afrikanischen
Städte ziehen. Städte bringen Käufer und
Verkäufer von Ideen und Gütern zusammen und lassen zugleich Infrastruktur und
Gebäude auf konzentriertem Raum entstehen. Das alles treibt das Wachstum in
Afrika voran. Der zweite Trend ist die Demographie: Nirgends auf der Welt wächst die
Bevölkerung so schnell wie in Afrika; bis
zum Jahr 2030 werden dort mehr Erwerbsfähige leben als in China, und zwar vor
allem junge Menschen, was für zusätzliche
Dynamik sorgt. Das Durchschnittsalter in
Afrika liegt derzeit bei 18 Jahren …
… in Deutschland bei 44 Jahren!
Ja, das ist beeindruckend, nicht wahr?
Und da gleichzeitig die Geburtenraten sinken, haben die Menschen weniger Angehörige zu versorgen und somit mehr frei
verfügbares Einkommen.
Ist die derzeitige politische und wirtschaftliche Elite in den afrikanischen
Staaten denn in der Lage, derartige Prozesse zu steuern und die richtigen Entscheidungen zu treffen, damit diese
Potenziale ausgeschöpft werden können?
Dazu müssen wir eine kleine Reise in die
Vergangenheit antreten. In den letzten
fünf, sechs Jahrzehnten haben wir drei
Generationen von Staatsführern erlebt –
und jede von ihnen hat ein anderes Vermächtnis hinterlassen.
Die Reise in die Vergangenheit beginnt
offenbar mit der Befreiung vom Kolonialismus.
Ja. Die erste Generation waren die Führer,
die Afrika die Unabhängigkeit brachten,
Politiker wie Kwame Nkrumah aus Ghana
und Julius Nyerere aus Tansania. Alles in allem haben sie ihr Ziel erreicht; dies muss
als ihr Vermächtnis gewürdigt werden. Allerdings entwickelten sich viele von ihnen
nach der Befreiung von den Kolonialmächten zu Diktatoren.
Ihre Nachfolger waren meist nicht besser.
Die Führer der zweiten Generation waren
sogar oft noch schlimmer. Sie hinterließen
das schlimmste Vermächtnis und prägten
81
82
Focus Potenzial
Campus
„Der Einfluss einer
einzelnen Person
in der Gesellschaft
ist in Afrika viel
größer als irgendwo
sonst auf der Welt.“
Afrika auf schreckliche Weise. Es waren
brutale und korrupte Diktatoren, die die
Menschenrechte mit Füßen traten: Machthaber wie Idi Amin in Uganda, Sani Abacha
in Nigeria, Mobutu Sese Seko im Kongo.
Sie haben Afrika ausgebeutet und geplündert. Zum Glück sind die meisten Vertreter
dieser Generation mittlerweile tot.
Und die dritte Generation?
Das sind die politischen Führer, die in den
vergangenen 15, 20 Jahren an die Macht
kamen. Nelson Mandela ist sicher der Prototyp dieser Generation. Ihr wichtigstes Vermächtnis war die Beendigung der Kämpfe,
wodurch mehr Frieden und Stabilität in
Afrika Einzug hielten. Noch vor 25 Jahren
waren zwei Drittel der afrikanischen Staaten in einen Konflikt verwickelt; heute sind
es gerade noch fünf von 54 Staaten. Nicht
zuletzt das Ende dieser Konflikte eröffnet
Chancen für künftiges Wachstum.
Besteht die Gefahr, dass sich diese Chancen bei schlechtem Management ins
Gegenteil verkehren?
Auf jeden Fall. Hier spielt Führungsqualität
eine entscheidende Rolle. Es liegt an den
neuen Leitfiguren, ob die aktuellen Trends,
die wir in Afrika erleben, Wachstumskräfte
freisetzen oder den Weg in die Katastrophe
beschleunigen.
Könnten Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Nehmen wir die Verstädterung. Sie wird zu
einem großen Problem, wenn wir die Entwicklung unserer Städte nicht sorgsam
planen und nicht für Beschäftigung für die
schnell wachsende Anzahl von Menschen
in den Städten sorgen. Bis 2050 werden
in Afrika 1,2 Milliarden Menschen Arbeit
benötigen. Wenn wir da nicht Schritt halten, sitzen wir bald auf einer tickenden
Zeitbombe. Sollten wir der ständig wachsenden jungen Bevölkerung keine Perspektive bieten können, wird es zu Aufständen kommen wie beim „Arabischen Frühling“ in Nordafrika.
Das hört sich an, als laste eine Menge
Erwartungen und Verantwortung auf
den Schultern der vierten Generation
von Führungspersönlichkeiten.
Diese vierte Generation, die zurzeit nachwächst, wird hier von uns geschult – und
sie wird etwas bewirken. Davon bin ich überzeugt. Letztlich wird die Geschichte allein
zeigen, ob ich Recht behalte – doch in meiner Vision wird der Wohlstand für Afrika
ihr Vermächtnis sein. Das ist der nächste
Kampf: Nachdem wir den Kolonialismus
und die wahnsinnigen Diktatoren losgeworden sind, gilt es, das Armutsproblem
anzugehen, Pläne für mehr Wohlstand zu
schmieden. Gelingt uns das nicht, werden
wir nie wirklich unabhängig sein.
In welchen Zeiträumen denken Sie da?
Glauben Sie, dass die bei Ihnen geschulten Führungskräfte noch selbst erleben
werden, wie die Früchte ihrer Arbeit
eingefahren werden?
Ich vergleiche unser Vorhaben manchmal
mit dem Bau der Kathedrale von Mailand.
Es dauerte 400 Jahre, bis sie fertig war. Von
den ungezählten Menschen, die am Bau
beteiligt waren, erlebten die meisten die
Vollendung dieses wunderschönen Bauwerks nicht mehr. Wir versuchen unseren
Schülern zu vermitteln, dass sie als Führungskräfte sich selbst als Baumeister einer
Kathedrale begreifen müssen – und die Kathedrale heißt Afrika. Dass man die Ergebnisse der eigenen Arbeit selbst nicht mehr
in vollem Umfang miterleben wird, ist kein
Grund, nicht heute schon mit dem Bau
zu beginnen. Man leistet seinen Beitrag und
dann führt die nächste Generation die
Arbeit weiter.
Ist es in Afrika – verglichen mit anderen Kontinenten – für Führungspersönlichkeiten einfacher, Veränderungen durchzusetzen?
Der Einfluss einer einzelnen Person in
der Gesellschaft ist in Afrika viel größer
als irgendwo sonst auf der Welt. Das liegt
vor allem daran, dass außerhalb Afrikas
der Einfluss einer Führungspersönlichkeit von der Kraft der existierenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen abgeschwächt wird.
In Afrika aber haben wir heute noch keine
Institutionen, die so stark sind, dass sie
Führer und die von ihnen ausgeübte Macht
unter Kontrolle halten.
Bisher war vor allem von politischer
Führung die Rede. Sie betonen aber
immer wieder, dass Afrika mehr Unternehmer braucht. Wie hängen diese
beiden Dimensionen von Führung zusammen?
Ohne Unternehmertun werden wir in
Afrika nicht zu Wohlstand kommen.
Eine Regierung kann keinen Wohlstand
schaffen, ebenso wenig wie Entwicklungshilfe aus dem Ausland. Wir benötigen also afrikanische Entrepreneure, die
Unternehmen in einer Größenordnung
aufbauen, dass dort die Millionen von Jobs
entstehen, die wir brauchen werden.
83
Der Campus der African Leadership Academy: Die Schüler lernen
nicht nur, sie leben auch hier.
Und wie vermitteln Sie den nötigen
unternehmerischen Spirit?
Wir unterrichten ein Konzept, das sich
„unternehmerische Führung“ nennt.
Dahinter steht die Idee, alle Herausforderungen in Afrika auch als Möglichkeiten zu verstehen. Die beste Definition
für Unternehmertum, die ich kenne, lautet: „Die Kunst, viel mehr zu schaffen, als
es irgendjemand für möglich hält, und
zwar mit viel weniger, als es irgendjemand
für möglich hält.“ Wenn man an den
Ressourcenmangel denkt, den wir hier in
Afrika haben, dann braucht man diese
Art von Unternehmergeist.
Wenn wir noch einmal einen Schritt
zurückgehen: Welche Überlegungen
haben Sie vor zehn Jahren zur Idee für
die Gründung der African Leadership
Academy geführt?
Ich habe in etlichen afrikanischen Ländern gelebt und gearbeitet. In dieser
Zeit wurde mir klar, über welches Potenzial
Afrika verfügt. Doch immer wieder verhinderte der Mangel an guter Führung,
dass dieses Potenzial auch ausgeschöpft
wurde. Liefen in einem Land die Dinge
gut, konnte man den Erfolg meist an ein
oder zwei echten Führungspersönlichkeiten festmachen. Lief es in einem Land
desaströs, musste man sich in der Regel
nur die politische und wirtschaftliche
Nomenklatura anschauen – und man verstand. Ich habe mich gefragt, ob wir nun
die Hände in den Schoß legen und dafür
beten sollen, dass die guten Führungskräfte irgendwann kommen. Damals entstand die Idee, selbst etwas zu unternehmen und die Führungskräfte auszubilden,
die dieser Kontinent braucht. Das Konzept, eine Art Fließbandproduktion für die
politische und wirtschaftliche Elite aufzubauen, die Afrika verwandelt und das
große Potenzial des Kontinents ausschöpfen kann, erschien anfangs verwegen.
Aber es war und bleibt die Vision hinter
der Academy.
Das klingt äußerst ambitioniert.
Wie ist es gelungen, diese Vision in
die Praxis umzusetzen?
Wir haben vor zehn Jahren begonnen und
bilden derzeit fast 600 junge künftige
Führungspersönlichkeiten aus. In den nächsten 50 Jahren wollen wir hier 6 000 Führungskräfte auf ihre Aufgaben vorbereiten.
Sie sollen Afrika den Wandel bringen –
eine ungeheure Aufgabe. Es geht ja nicht
um die Lösung der kleinen Probleme, es
geht um die ganz großen Herausforderungen. Wir wollen Menschen ausbilden, die
Führungsaufgaben auf nationaler Ebene
übernehmen – als künftige Präsidenten,
Zentralbankdirektoren oder CEOs großer
Unternehmen. Menschen, die Innovationen hervorbringen, die das Leben von Millionen Landsleuten beeinflussen, sei es
im Gesundheitswesen, in der Infrastruktur
oder in der Bildung. Uns geht es um Menschen, die diesen Kontinent wirklich nach
vorn bringen.
Sie selbst haben vor der Gründung der
Academy etliche akademische und berufliche Stationen durchlaufen. Welchen
Einfluss hatte diese Vielseitigkeit Ihrer
Ausbildung und beruflichen Erfahrungen
auf das Konzept der Academy?
Eine Menge, glaube ich, auch wenn es mir
nie darum ging, bewusst etwas zu kopieren.
84
Focus Potenzial
Campus
Das Interview mit Fred Swaniker in Johannesburg
führten: Xavier Leroy, Egon Zehnder, Johannesburg,
und Ulrike Krause, FOCUS.
Fred Swaniker________________________________________________
Fred Swaniker entstammt einer wohlhabenden Familie aus
Ghana und lebte als Heranwachsender unter anderem in Gambia,
Botswana und Zimbabwe. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften am Macalester College in St. Paul, Minnesota,
arbeitete er zunächst für McKinsey in den USA und Afrika, bevor
er die Stanford Business School absolvierte. Weltweite Anerkennung erhielt er insbesondere für die Ausbildung von Führungskräften an der von ihm gegründeten African Leadership
Academy. Er zählt zu den angesehensten aufstrebenden Sozialunternehmern der Welt, ist Fellow des Global Leadership Network des Aspen Institute und wurde 2010 aus 115 jungen Führungskräften für ein Treffen im Weißen Haus mit US-Präsident
Obama ausgewählt. Die Zeitschrift Forbes nahm ihn in die Top
Ten der jungen „Power Men“ Afrikas auf.
Wir bringen unsere Schüler mit globalen Führungskräften zusammen, genau wie zu meiner Zeit in
Stanford. Wir arbeiten mit Seminar-Vorlesungen
wie am Aspen Institute in Colorado. Und die Schüler erhalten Feedback von ihren Mitschülern ebenso wie von ihren Dozenten, ganz wie ich es aus
meiner Zeit bei McKinsey kenne. Im Mittelpunkt
unseres Moduls für Führungsentwicklung steht
allerdings ein Konzept, das wir selbst entwickelt
haben: Unserer Ansicht nach führt der beste
Weg zur Ausbildung einer Führungskraft über die
Praxis – und nicht über die Theorie wie bei fast
allen Einrichtungen, die wir uns vor der Gründung
der Academy angesehen hatten. Meist standen
dort Fallstudien im Vordergrund. Das blieb alles
sehr abstrakt; die Schüler oder Studenten machten sich bei der Erledigung von Führungsaufgaben
nie die Hände schmutzig. Unser Modell dagegen
ist stark darauf ausgerichtet, den jungen Menschen
das Führen in der Praxis üben zu lassen.
Wie sieht dieses praktische Lernen denn ganz
konkret aus?
Wenn unsere Schüler an die Academy kommen,
müssen sie Teams bilden, mit einem CEO, einem
CFO und einem Marketingleiter, eine Geschäftsidee entwickeln und diese tatsächlich umsetzen.
Rund 30 solcher Projekte laufen momentan auf
unserem Campus. Es gibt eine Bank, ein Bekleidungsgeschäft, eine Farm und vieles mehr. Einmal pro Quartal müssen die Schüler einem für
alle Projekte zuständigen Vorstand, den wir aus
südafrikanischen Business-Profis rekrutiert haben, ihre Ergebnisse präsentieren, wie in einem
richtigen Unternehmen. Am Ende des Jahres
muss jedes Projekt dann einen Jahresbericht
erstellen und veröffentlichen – der dann durch
EY geprüft wird.
Die ganze Zeit über versuchen wir, unseren Schülern praktische Führungserfahrungen zu vermitteln. Wir können unseren Schülern zwar die
komplette Theorie des Cashflow-Managements
vermitteln, doch sie werden sie als Führungskraft
erst dann souverän handhaben können, wenn sie
tatsächlich einmal mit der realen Situation eines
Liquiditätsengpasses konfrontiert waren. Wenn
sie dann in fünf, zehn oder 15 Jahren in ihrem eigenen Unternehmen vor ähnlichen Herausforderungen stehen, wird es ihnen zugutekommen, dass
sie sich seit ihrem 17. Lebensjahr mit solchen
Dingen befasst haben.
Sie wählen Ihre Schüler aus Tausenden aus
ganz Afrika stammenden Bewerbern aus.
Wie erkennen Sie die Kandidaten mit dem
größten Potenzial?
85
In diesem Jahr haben wir für die 100 Plätze
an der Academy 4 000 Bewerbungen aus
46 Ländern erhalten. Ständig durchkämmen
wir den Kontinent auf der Suche nach Menschen, die Afrika verändern können. Menschen, die über Eigenschaften verfügen, die
unserer Überzeugung nach eine große Führungspersönlichkeit ausmachen. Zum Beispiel Beharrlichkeit: Eine Führungspersönlichkeit darf nicht gleich aufgeben, wenn
sie auf ein Hindernis stößt. Wir suchen Menschen mit Mut, weil man nur mit Courage
wesentliche Veränderungen vorantreiben
kann. Auch die Leidenschaft zählt zu den
Eigenschaften, die wir für essenziell halten.
Ein Unternehmenslenker, ein hochrangiger Manager oder Politiker sollte derart besessen sein von seinen Ideen, dass er nicht
schlafen gehen kann, bevor er etwas geschafft hat, ein Stück weiter gekommen ist
auf dem Weg zur Verwirklichung seiner
Ziele. Diese Leidenschaft ermöglicht es ihm,
auch in schwierigen Zeiten nicht aufzugeben. Und zu guter Letzt glauben wir, dass
wahre Führungspersönlichkeiten ein Gespür für Gerechtigkeit haben. Wir suchen
also nach Menschen mit einem festen Gerüst moralischer Werte, die auch im Falle
eines ethischen Dilemmas die richtige
Entscheidung treffen.
Uns würde interessieren, wie Sie bei so
vielen interessanten Kandidaten eine
„Shortlist“ erstellen.
Wir treffen eine Vorauswahl, indem wir
die Bewerber auffordern, uns von einer
Begebenheit zu erzählen, bei der sie in ihrem Umfeld einen Missstand entdeckten,
gegen den sie selbst etwas unternahmen.
Die ALA arbeitet mit Bildungsministerien,
NGOs und dem UN-Hochkommissariat
für Flüchtlinge zusammen, um Ausschau
nach jungen Talenten zu halten.
Die eigene Aktivität, das eigene Engagement ist entscheidend. Wir wollen dadurch
jene, die lediglich große Reden schwingen,
von den tatsächlichen Machern trennen –
also jenen, die tatsächlich den Mut und
die Beharrlichkeit haben, vorzutreten und
etwas zu unternehmen. Wir hören dabei
immer wieder faszinierende Geschichten:
„Da es in meinem Dorf keinen Strom gab,
baute ich ein Windrad und erzeugte damit
Strom.“ Oder: „Der Mathematiklehrer in
meiner Klasse kam ständig betrunken zum
Unterricht. Also übernahm ich seine Aufgabe und wurde selbst Mathematiklehrer.“
Oder: „Es gab in meinem Flüchtlingslager
keine Schule, also baute ich eine.“
Das sind wahre Geschichten?
Ja, allesamt. Manchmal schimmert schon
ein erstaunliches Maß an Unternehmergeist aus diesen Geschichten heraus. Eine
junge Frau aus einer armen Gegend in
Kenia, die jetzt bei uns studiert, musste zum
Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen.
Sie gründete ein kleines Unternehmen und
züchtete Hasen. Als sie 14 Jahre alt war,
beschäftigte sie schon 15 Frauen und gründete einen Mikrofinanzierungsfonds, der
es drei weiteren Frauen ermöglichte, eigene Unternehmen zu gründen. Solche Dinge
haben einige unserer Schüler völlig ohne
fremde Hilfe zustande gebracht – ohne
Kapitalgeber und ohne Netzwerk. Stellen
Sie sich jetzt vor, was jemand wie diese
junge Kenianerin erreichen könnte, wenn
man tatsächlich in sie investiert, wenn
man sie mit Gleichgesinnten vernetzt, die
die gleiche unternehmerische Tatkraft
und Leidenschaft für Veränderungen mit
sich bringen. Stellen Sie sich vor, was mit
Afrika passieren könnte!
Sie haben eingangs gesagt, dass Führungspersönlichkeiten es in Afrika vergleichsweise leichter haben, Veränderungen
in Gang zu setzen, weil es kaum starke
Institutionen gibt, die in der Lage sind,
ihre Gestaltungsmacht zu kontrollieren.
Gehört es denn auch zu Ihren Zielen,
solche Institutionen aufzubauen?
Eine der Botschaften, die ich unseren jungen Führungskräften vermittle, lautet:
Nutzt die Chancen, die sich bieten, einen
tiefgreifenden Wandel für Afrika herbeizuführen, solange es noch keine starken
Institutionen gibt. Andererseits sollten der
Aufbau und die Stärkung der Institutionen Teil ihres Vermächtnisses als Führungspersönlichkeit sein. Damit ihre Arbeit fortgeführt werden kann, wenn sie einmal nicht
mehr da sind, benötigt man einen verlässlichen rechtlichen und institutionellen
Rahmen. Mugabe konnte nur deshalb
innerhalb von zehn Jahren Zimbabwe zu
Grunde richten, weil es keine Institutionen gab, die ihn hätten aufhalten können.
Konzentrieren Sie sich in der Ausbildung auf die Stärkung der bereits vorhandenen Talente oder versuchen Sie,
weitere Talente zu entdecken oder zu
entwickeln?
Wenn die Schüler zu uns kommen, bringen
sie ein Fundament mit. Auf diesem Fundament bauen wir auf, indem wir ihnen realistische Praxiserfahrungen, fortlaufendes
Mentoring und Inspiration bieten. Das führt
bei den meisten dazu, dass sie ihre Ziele
bald höher stecken und echte Führungs-
86
Focus Potenzial
Campus
„Ohne Unternehmertum
werden wir in Afrika nicht
zu Wohlstand kommen.“
87
qualitäten entwickeln. Wir betrachten
die Academy nicht als Bildungseinrichtung
im herkömmlichen Sinne, sondern eher
als „Fabrik für Führungskräfte“.
Es geht also von Anfang an nicht um Bildung, um die Vermittlung von Wissen,
sondern um Führungsfähigkeit?
Nicht ganz. Natürlich bieten wir unseren
Schülern auch eine Grundausbildung –
denn wer vielleicht einmal der Finanzminister eines Landes wird, muss die Grundlagen der Ökonomie beherrschen. Wer sich
für das Gesundheitswesen begeistert und
HIV in Afrika ausrotten will, kommt nicht
ohne fundamentale Biologiekenntnisse
aus. Die Schüler erhalten bei uns diese Bildungsgrundlagen und lernen auch, sich
schriftlich auszudrücken und in der Öffentlichkeit zu sprechen – allesamt Dinge, die
eine künftige Führungspersönlichkeit beherrschen muss. Für akademisches Spezialwissen sind wir allerdings nicht zuständig.
Das ist Sache der Universitäten. Fast alle
unsere Schüler besuchen ja, nachdem sie
die Academy absolviert haben, noch eine
Hochschule, wo sie sich weiter spezialisieren.
Wir bleiben dann mit ihnen in Kontakt.
In den meisten Fällen bedeutet das, dass
die Schüler das Land verlassen …
Ja, 80 Prozent unserer Absolventen werden
an führenden Universitäten weltweit aufgenommen. Als unser erster Jahrgang 2010
seinen Abschluss machte, wurden 81 der
88 Absolventen an Top-Universitäten zugelassen, 70 erhielten Vollstipendien. Drei
von ihnen gingen nach Harvard, drei nach
Stanford, drei nach Cornell und je vier besuchten Dartmouth und Yale.
Ihr Ziel ist ja sicher, dass die Studenten
nach dem Hochschulabschluss nach
Afrika zurückkehren – damit das Potenzial nicht im Ausland bleibt. Wie können Sie das fördern?
Wir verfügen über ein Team, das unsere
ehemaligen Schüler während des Studiums im Ausland betreut. Wir bringen sie
bei weltweiten Seminaren für berufliche
Entwicklung zusammen und helfen ihnen,
gründlich über ihre Karriereperspektiven
nachzudenken. Jeden Sommer holen wir
viele zurück nach Afrika, damit sie hier
Praktika absolvieren können. Im vergangenen Jahr beispielsweise konnten wir 97
unserer 120 jungen Führungskräfte, die an
den Hochschulen in den USA studieren,
Praktika in Afrika anbieten.
So etwas funktioniert nur, wenn es gelingt, ein gutes Netzwerk mit Regie-
Die African Leadership Academy (ALA)________________________
Ziel der unweit von Johannesburg beheimateten Organisation
ist es, Afrikas nächste Generation von Führungskräften heranzubilden. Die 2008 eröffnete Academy steht jungen Menschen
aus allen 54 afrikanischen Staaten offen, unabhängig von
Religion, Geschlecht und Hautfarbe. Das Auswahlverfahren gilt
als rigoroser als das der Harvard University. Alle Absolventen
werden ermutigt, sich weltweit die besten Weiterbildungsmöglichkeiten zu suchen, bevor sie schließlich nach Afrika zurückkehren. Viele besuchen Spitzenuniversitäten in den USA, in Großbritannien und anderen westlichen Ländern. In den nächsten
50 Jahren sollen 6 000 Führungskräfte (oder „Change Agents“)
ihren Abschluss an der Academy machen.
rungen, Organisationen und vor allem
Unternehmen zu knüpfen.
Genauso ist es. Unser Ziel ist es, Kontakte zu
all jenen Firmen zu knüpfen, die talentierte
junge Leute mit Führungspotenzial suchen.
Wir haben ein Vollzeitteam, das sich genau darum kümmert. Ich würde behaupten,
dass wir hier über ein „Warenlager“ mit
den besten Talenten Afrikas verfügen. Viele
afrikanische Unternehmen befinden sich
im Aufbruch; eine ihrer größten Herausforderungen ist die Suche nach Talenten.
Die Absolventen verfügen über Know-how
und Kompetenzen, Sie liefern Kontakte …
Richtig, denn ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Qualität und Effektivität
einer Führungskraft nicht ausschließlich
auf ihren Fähigkeiten basiert, sondern
auch auf ihrem persönlichen Netzwerk. Wer
als junges Führungstalent keine Menschen
kennt, die ihn beraten oder in ihn investieren, wird wahrscheinlich keinen Erfolg
haben. Zusammenarbeit ist alles – deswegen hat die Pflege unserer Netzwerke für
uns auch Priorität.
Besteht nicht die Gefahr, dass Sie vor allem Führungsnachwuchs für die Unternehmen ausbilden – zu Lasten des öffentlichen Sektors, der ja nur gedeihen kann,
wenn genug Menschen mit Potenzial in
verantwortliche Positionen gelangen?
Wir versuchen gar nicht erst, unseren jungen Führungskräften vorzuschreiben, ob
sie in die Wirtschaft, in die Politik oder in
die Verwaltung gehen sollen. Ich glaube,
wenn man jemanden in eine Führungsposition drängt, die nicht im Einklang mit seinen Leidenschaften steht, dann gerät er aus
dem Gleichgewicht. Leidenschaft und Führungsfähigkeiten müssen Hand in Hand
gehen. Wir haben festgestellt, dass sich im
Schnitt ein Drittel der jungen Menschen,
die zu uns kommen, für eine Karriere in der
Politik und im öffentlichen Sektor interessieren – und wir ermutigen sie natürlich.
Ein weiteres Drittel will Vollblutunternehmer werden, sozusagen das afrikanische
Gegenstück zu Bill Gates. Das letzte Drittel
hat eine starke Affinität zu Wissenschaft
und Technologie. Darunter sind möglicherweise Talente, die irgendwann einmal mit
einer revolutionären Erfindung aufwarten,
die ganz Afrika verwandelt.
Spitzentalente mit Führungspotenzial
sind weltweit gesucht. Wie gewährleisten
Sie, dass ihre ehemaligen Schüler nach
ihrem Universitätsabschluss nach Afrika
zurückkehren – von den regelmäßigen
Kontakten während des Auslandsstudiums einmal abgesehen?
Da gibt es zunächst einmal einen finanziellen Anreiz. Wir verzichten auf die Rückzahlung von Studiendarlehen, wenn die Studenten bis zum 25. Lebensjahr nach Afrika
zurückkehren und mindestens zehn Jahre
bleiben. Doch ich bin davon überzeugt,
dass die Leidenschaft für den Kontinent die
stärkste Kraft ist, die unsere Schüler nach
Afrika zurückbringt. Hier bei uns vermitteln
wir ihnen Unternehmergeist, hier lernen
sie, wie Unternehmer zu denken und zu handeln. Und für jemanden, der wie ein Unternehmer denkt, ist Afrika ein Paradies. Es
gibt hier so vieles, das noch keiner getan
hat, so viele Möglichkeiten für wirkliche
Pionierarbeit. Hätten wir die Academy vor
20 Jahren eröffnet, als Afrika ein Kontinent
im Kriegszustand war, wäre der Ansatz ein
ganz anderer gewesen. Heute ist Afrika jedoch ein Kontinent der Möglichkeiten. Und
genau diese Möglichkeiten sind es, die
unsere Schüler zurück nach Afrika führen.
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Potenzial
Potenzial – dieser in den Naturwissenschaften
vielfach angewandte Begriff meint allgemein
die Fähigkeit zur Entwicklung; eine noch nicht
ausgeschöpfte Möglichkeit zur Kraftentfaltung.
Und um die latent vorhandenen, aber eben noch
nicht genutzten Qualitäten und Fähigkeiten
eines Menschen geht es auch in ökonomischen
und sozialen Kontexten. Diesen Schatz zu entdecken – so früh wie möglich –, ihn zu heben und
zum Strahlen zu bringen, wird immer wichtiger.
Wir brauchen ihn dringend, um die vielfältigen
Aufgaben der Zukunft in einem von Schwankungen, Unsicherheit, Komplexität und Widersprüchlichkeiten geprägten Umfeld zu bewältigen. Aber Potenzial beinhaltet dem Wortsinn
nach zugleich immer nur Möglichkeiten. Es
kann, aber es muss sich nicht entfalten, wenn die
Bedingungen nicht stimmen. Es gilt also, die
Voraussetzungen zu schaffen, um Potenzial in
Kraft umzusetzen.

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