Karl-Heinz Grasser und die Marke Ich
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Karl-Heinz Grasser und die Marke Ich
Prof. Dr. Klaus Ottomeyer Universität Klagenfurt Institut für Psychologie Karl-Heinz Grasser und die Marke Ich (erschienen in „Politische Kultur in Österreich“ promedia-Verlag 2005) Im Mai 2005 stand es um das Image des österreichischen Finanzministers KarlHeinz Grasser nicht gut. Der bekannte Kommentator Hans Rauscher vom „Standard“ schrieb auf der ersten Seite (als „Rau“) folgende Glosse. „Vorschläge. Karl-Heinz ist back! Nach den Stationen Paris, New York und Capri fand sich Österreichs Beitrag zum internationalen Jetset doch wieder zum Ministerrat in Wien ein. Gleich hatte er auch wieder eine Superidee, von der er offenbar glaubt, sie werde ihn wieder als Vertreter des < kleinen Mannes > ausweisen: < Besserverdienenden > ( also jenen, inzwischen schon 380.000, die mehr als 51.000 Euro brutto im Jahr verdienen) sollen die Sozialleistungen gekürzt werden. Für diesen (verfassungswidrigen) Vorschlag gebührt KarlHeinz der < Große Wanderpokal in Kristall >, wenn er ihn nicht schon hat. Für den Bundeskanzler ist derlei eine kleine Irritation, die aber doch zählt, weil er gleichzeitig bösartigere Ideen Jörg Haiders abzuwehren hat, nämlich die Kärntner Slowenen jetzt noch einmal zu zählen. In elf Tagen feiern wir 50 Jahre Staatsvertrag, den wir in Sachen Ortstafeln nicht erfüllt haben. Der Bundespräsident fragt zu recht, wer noch ernsthaft glaube, dass wir uns noch vor Gebietsansprüchen fürchten müssen. Ein Landeshauptmann, der den Staatsvertrag und ein Verfassungsgerichtsurteil ignoriert, gehört amtsenthoben, aber bei uns nennt ihn der Kanzler einen < konstruktiven > Partner.“ (Hans Rauscher in: Der Standard 4./5. Mai 2005) Soweit ist es damals gekommen. Der „kristallene“ Wanderpokal ist eine etwas bösartige Anspielung auf die kurz zuvor von den Medien aufgegriffene Affäre von Karl-Heinz Grasser mit der Kristall-Firmenerbin und Jet-Set-Dame Fiona Swarovski, welche offenbar die zuvor von Grassers PR-Büro uns präsentierte argentinische „Verlobte“ abgelöst hat. Die Medien kennen wenig Schonung gegenüber dem Privatleben Grassers, nachdem dieser selbst auf seiner berühmten (von der Industriellen-Vereinigung finanzierten) home-page und bei anderen Gelegenheiten dem Publikum ganz unaufgefordert seine privaten Vorlieben und Eigenschaften als Teil der öffentlichen „Marke“ Karl-Heinz Grasser vorgestellt hatte. Es ist ihm gelungen, seit Ende der 90er Jahre durchaus eine eigene persönliche Identität mit hohem Wiederkennungswert aufzubauen. 1 Damals war Grasser ja noch Fan des im obigen Kommentar ebenfalls erwähnten Jörg Haider und in dessen Auftrag in Kärnten der jüngste LandeshauptmannStellvertreter, den es je gegeben hatte. Er verweigerte die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen für Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und erklärte im Brustton der Überzeugung, dass ehemalige Partisanen aus seiner Hand niemals ein Ehrenzeichen überreicht bekämen. Kärntner Unternehmen, die Ausländer beschäftigten, wollte er die öffentlichen Aufträge entziehen. Wenn man damals in Kärnten das Radio aufdrehte, konnte man an Stimme, Dialektfärbung und Inhalt kaum unterscheiden, ob gerade Grasser oder Haider sprachen. Einige Karikaturisten und Kommentatoren sprachen von den „HaiderKlonen“, die unter den jüngeren Männern um den politischen Führer herum, der sogenannten „Buberl-Partie“ häufiger vorkamen. Identifikation ist ein unbewusster Vorgang, der sich oft stimmlich, in Gesten und Bewegungen abbildet – das kann uns allen passieren, vor allem in Phasen der Identitätssuche, der Verliebtheit und des Schwärmens für einen Star oder ein Vorbild. Es gehört zur Haider-Inszenierung, dass er als narzisstische Zentralfigur, die „Komplementärnarzissten“ um sich herum, die gewissermaßen Teil seines Selbst wurden und sich dadurch selbst groß und lebendig fühlen durften, immer wieder gebraucht und aufgebaut hat. Die schöne narzisstische Einheit zerbricht aber unter dem Druck der realen Anforderungen an den dienenden Teil mit ebenso schöner Regelmäßigkeit. Viele Diener und Dienerinnen entdecken dann doch den Aspekt des Missbrauchtwerdens in der narzisstischen Einheit und ihr Recht auf ein eigenes Urteil. Die Vizekanzlerin der schwarz-blauen Koalition ab 2002 Susanne Riess-Passer („Susie, geh du voran!“) war nur eine von vielen. Auch zwischen Haider und Grasser kam es zu einer Enttäuschung nach der honey-moon Phase, ja geradezu zu einem öffentlich inszenierten Bruch. Haider verwendete damals interessanterweise in einem Radio-Interview selbst Bruchstücke aus der psychologischen Narzissmustheorie, um das Problem KarlHeinz Grasser zu erklären: Ein Zuviel an Macht und Bestätigung könne bei einem jungen Politiker zu einem gewissen Narzissmus und zu einer Verkennung der Realität führen. Einige Angehörige der Universität Klagenfurt freuten sich schon über die zumindest partielle Ausstrahlung ihrer Arbeit ins Kärntner Umland und bis ins Bärental hinein. Mit Selbstreflexion hatte das aber nicht viel zu tun. – Jedenfalls kam es zu einem Bruch zwischen Haider und Grasser. Grasser fand bald einen neuen Mentor, den austro-kanadischen Großindustriellen Frank Stronach, der ihm wahrscheinlich bis zum heutigen Tag ein Rückkehrversprechen gegeben hat. Haider war jahrelang skeptisch gegenüber Stronach. Jetzt scheinen die beiden aber ein Herz und eine Seele zu sein, weil Haider dringend Stronachs Investitionen in Kärnten braucht, um die Landespolitik zu retten. Der Bruch mit dem Jungnarzissten Grasser wurde bereits im Jahr 2000 gekittet, als Grasser für die FPÖ und Haider der Finanzminister der neuen schwarzblauen Koalition unter Wolfgang Schüssel wurde. Möglicherweise blieb Grasser 2 innerlich auf Distanz zu Haider. Was man aber schon im Jahr 2000 voraussagen konnte, war, dass die Robin-Hood-Inszenierung der FPÖ unter Haider von Kärnten aus mit der des obersten Steuereintreibers der Nation, des Sheriffs von Nottingham, der ja ebenfalls für die Haider-FPÖ handelte, unvereinbar werden würde. Es musste zu einem neuerlich Bruch kommen. Dass dieser im Herbst 2002 die Gestalt von Knittelfeld und dann des Überlaufens von Grasser zur ÖVP-Regierungsmannschaft annahm, war natürlich so nicht voraussagbar. Grasser hatte sich mittlerweile zu einer erfolgreichen „Marke“ stilisiert, die von der Firma-ÖVP gerne übernommen wurde. Die Wirkung der Marke ist dann durch das Offenkundigwerden des home-page-Skandals, des MarkenSponsoring durch die Industriellenvereinigung mit seinen juristischen Nachspielen geschwächt worden. Sie ist auch durch wenig intelligente Äußerungen innerhalb und außerhalb des Parlaments angekratzt worden. Der größere Demontageakt vollzog sich, als Grasser während der TsunamiKatastrophe erst noch mit der damaligen „Verlobten“ weiterhin seelenruhig Urlaub auf den Malediven machte, später die Lügengeschichte erzählte, die dortige Regierung habe ihn darum gebeten, und außerdem gerne das „Upgrading“ seines Economy-Tickets zwischen den Malediven und Wien zum Erste-Klasse-Flug in Anspruch nahm (das letztere durch ein Unternehmen, über das er als Finanzminister die Aufsicht hat und gleich auch mit für Verlobte). Wie ist der im Standard-Kommentar von Rauscher zitierte Grasser-Vorschlag zu verstehen, dass man den Besserverdienenden die Sozialleistungen kürzen soll, wenn er überhaupt nicht praktikabel ist und auch beim Kanzler nur einen kopfschüttelnden Verweis auf die bestehende Gesetzeslage ausgelöst hat? – Es geht gar nicht um Praktikabilität, sondern um Pflege der Marke Ich, so wie sie Grasser wahrscheinlich in entsprechenden Seminaren, von seinem Coach oder aus Lehrbüchern gelernt hat. Die schlechten Nachrichten in der Klatschpresse über die Marke Karl-Heinz Grasser müssen einfach überdeckt werden. Wenn vorher ein Teil des Images darin bestand, der ideale Schwiegersohn für alle älteren Damen in Österreich zu sein, so ist das jetzt ziemlich weggebröckelt. Eine neue Nachricht lenkt ab. Und der Inhalt der Nachricht knüpft im Frühjahr 2005 an die „Kapitalismuskritik“ an, die u.a. im Anschluss an die Äußerungen des SPD-Chefs Müntefering über den „Heuschreckenkapitalismus“ und die offenkundigen Desaster des Neoliberalismus auch nach Österreich gekommen ist. Schließlich will sich auch Haider neuerdings der Globalisierungsverlierer annehmen. Ein neuer Wähler- oder Kundenmarkt entsteht. Man muss also zumindest rhetorisch hin und wieder gegen die Reichen auftreten, ohne dass die Industriellenvereinigung, Frank Stronach oder andere Großinvestoren ärgerlich werden. Die „Besserverdienenden“ bieten sich hier an. Karl-Heinz Grasser ist offenbar, nachdem der umschwärmte politische Führer als Identifikations- und Liebesobjekt verlorengegangen war, voll und ganz zum 3 Programm der „Marke Ich“ als neuer Ich-Stütze übergewechselt. Dieses Programm der Ich-Stützung und Selbstvermarktung wurde seit Ende der 90erJahre, parallel zur sich seifenblasenartig entwickelnden „New-Economy“ mit viel Aufwand von Seminaranbietern, Trainern und Bestseller-Autoren verbreitet. Es mag kurzfristig Wirkung erzielen, verträgt sich aber mittel- und langfristig nicht mit der Natur des Menschen, der auch im Kapitalismus immer noch eine verletzliche und nach Authentizität suchende Psyche hat. Von daher ist KarlHeinz Grasser weniger als Person von Interesse für die Wissenschaft (ich schreibe auch keine Psychogramm), sondern als jemand, der das Leben unter dem Programm der Marke-Ich in einer extremen und öffentlichen Form vorführt und uns zeigen kann, welche Risiken und Peinlichkeiten damit verbunden sind. Karl-Heinz Grasser stilisierte sich selbst zum Markenartikel, indem er sich einen Anstecker mit „KHG“ ans Revers heftete, darauf achtete, in feinen SakkoMarken wie „Tommy Hilfiger“ zu erscheinen (wofür er gratis eingekleidet wurde) und indem er sich vom Geld der Industriellenvereinigung und über die „Freunde der New-Economy“ die berühmte home-page mit Baby-Fotos, Jugendbildern und deutschem Schäferhund erstellen ließ. In Österreich war es das Buch von Conrad Seidl und Werner Beutelmeyer „Die Marke Ich“ ® (Überreuter / Wirtschaft 1999), das Angestellten, Managern und Politikern eine solche „persönliche Erfolgstrategie“ empfahl. Offenbar haben viele geglaubt, was in diesem Buch steht. Die Autoren haben eigentlich nur den simplen, von Marx als menschheitsgeschichtlichen Skandal genau untersuchten Umstand betont und aufgegriffen, dass Menschen im Kapitalismus ihre eigene Arbeitskraft (oder Dienstleistung) als Ware auf einem Markt verkaufen müssen. (Vgl. S. 17 ff.) Keine Ware kann verkauft werden, ohne dass sie ausgestellt und angepriesen wird. Wenn die Konkurrenz größer wird, wächst die „Überzähligkeitsangst“ (J.P.Sartre) der Besitzer der Ware Arbeitskraft und ihr Anpreisungsverhalten, in dem sie die Einzigartigkeit und den hohen Gebrauchswert ihrer Ware für den Käufer betonen, muss lauter und intensiver werden. Auch die Verpackung und die ästhetische „Gebrauchswerthülle“ (W.F. Haug) um die Ware herum müssen beständig optimiert werden. Dabei ist bei allem Selbststyling gleichzeitig darauf zu achten, dass der Wunsch des heutigen Kunden nach „Natürlichkeit“ und „Echtheit“ des Produkts entsprochen wird. Das Buch von Seidl und Beutelmeyer zielt auf die besser Qualifizierten und „Kreativen“ unter den Anbietern; „Schließlich haben wir etwas anderes anzubieten als die Kraft unserer Hände (und das Potential unserer Hirne): unsere Arbeitskraft ist ein Markenartikel. Wir vermarkten Die Marke ICH ®“ (S.20, Hervorhebungen und Zeichen für registrierte Marke im Original) Der Mensch hat sicherlich immer schon die Fähigkeit zur „exzentrischen Positionalität“ (Helmut Plessner) gehabt. Er kann zu sich in eine reflexive Beziehung treten, „Leib sein und Köper haben.“ Dieses Sich-Zu-Sich-SelbstVerhalten, zu dem auch das Spielen von Rollen, die Fähigkeit zur Überlistung 4 und das Sich-Schmücken gehören gibt es in allen Kulturen. Aber nur in der kapitalistischen Gesellschaft – und vollends unter der Globalisierung – nimmt die Selbstobjektivierung die Gestalt der Selbstverdinglichung für Geld an. Die Arbeitskraft wird mit einer lockenden Hülle umgeben, sie wird poliert, verpackt, gepflegt, mit einem Wiedererkennungsmerkmal für die potentiellen Kunden ausgestattet und – das ist in dieser Form neu und „postmodern“ – als ein einzigartiges Ding mit einer demonstrativen Begeisterung vom eigenen Besitzer geliebt. Diese merkwürdige Liebe soll auf die Kunden ansteckend wirken. Es gibt wahrscheinlich einen Zusammenhang zwischen der Selbstverdinglichung der Menschen als Ware und den modernen Erscheinungsformen des Narzissmus. Es fällt auf, dass ein neuer Politikertypus über sich selbst besonders gerne in der dritten Person redet, so als würde er sich gerne liebevoll von außen betrachten und den Gesprächspartner in diese Beziehung hinein holen wollen. Georg Lukács schrieb 1923: „Der spezialistische Virtuose, der Verkäufer seiner objektivierten und versachlichten geistigen Fähigkeiten, wird aber nicht nur Zuschauer dem gesellschaftlichen Geschehen gegenüber, (...) sondern gerät auch in eine kontemplative Attitude zu dem Funktionieren seiner eigenen objektivierten und versachlichten Fähigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus, wo gerade die Subjektivität selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdruckfähigkeit zu einem abstrakten, sowohl von der Persönlichkeit des Besitzers wie von dem materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstände unabhängigen und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird. Die <Gesinnungslosigkeit> der Journalisten, die Prostitution ihrer Erlebnisse und Überzeugungen, ist nur als Gipfelpunkt der kapitalistischen Verdinglichung begreifbar.“ (Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S.111) Heute kann man Kreativität, Subjektivität, Originalität und die Überlistung der Anderen auch noch sehr gut mit dem „Neurolinguistischen Programmieren“ trainieren. Subjektivität (oder ihr Surrogat) wird ablösbar von der Fülle gelebter Beziehungen und zwischenmenschlicher Anregungen. Ein interessantes Problem entsteht, wenn sich zwei NLP-Trainierte, die über „Pacing“, „Ankern“ usw. zur Manipulation des Anderen Bescheid wissen, begegnen und sich gegenseitig etwas verkaufen wollen. Der Erwerb solcher Programme macht nur Sinn, solange man im ökonomischen Wettlauf zu denen gehört, die gegenüber der Masse der loser die Nase vorn haben. Wenn jeder kleine Angestellte schon über NLP-Kenntnisse verfügt oder das Leben nach den Prinzipien der Marke Ich entdeckt hat, wird der Wettlauf um die pole position für alle nur noch anstrengender. Das wird von Bestseller-Autoren, denen es natürlich auch um Breitenwirkung geht, tunlichst verschwiegen. Auch wenn alle gerne Sieger wären – wie wir auf den in Österreich verbreiteten Wahl-Kennzeichen für Autos „Karl 1“ oder „Lord 1“ ablesen können – bleibt ihre Anzahl doch strukturell begrenzt oder wird sogar kleiner. 5 Das Markenprogramm in Bezug auf Menschen, wie es Seidl und Beutelmeyer empfehlen, ist nicht nur unkritisch in Bezug auf die Gesellschaft, sondern es ist auch ein überzogenes Gebrauchswertversprechen in Bezug auf die Kunden des Buch- und Beratungsmarktes. Hier ein längeres Zitat (aus der Ausgabe von 1999, die noch 2003 nachgedruckt wurde): „Bei der Vorbereitung dieses Buches haben wir ein Experiment mit Studenten an der Universität Salzburg gemacht. Drei Gruppen wurde eine Wasserprobe vorgesetzt, die geschmacklich beschrieben werden sollte. Das Wasser war immer dasselbe, nämlich ganz normales Leitungswasser. Einer Gruppe von Studenten wurde dieses Wasser als neuartiges Mineralwasser kredenzt, einer zweiten Gruppe verkauften wir dieses Produkt als destilliertes Wasser und die dritte Studentengruppe erhielt den Hinweis, was sie da geschmacklich zu beschreiben hätten, sei Leitungswasser. Das Experiment gelang vorzüglich. Ein und dasselbe Produkt, nämlich Wasser aus dem Wasserhahn, produzierte recht unterschiedliche Geschmacksanmutungen. Die Mineralwassergruppe interpretierte ein recht hochwertiges, teuer schmeckendes stilles Mineralwasser in das Testprodukt. Beim vermeintlich destillierten Wasser konnten die meisten Studenten keinen Geschmack feststellen. Das Leitungswasser aus dem Wasserhahn wurde am allerhäufigsten mit den Urteil <schmeckt nach Chlor> und <ist geschmacklich furchtbar> klassifiziert. Dieses simple Experiment bestätigt, dass das Geschmackserlebnis bei den meisten Menschen nicht am Gaumen, sondern im Hirn entsteht. – Genau auf diesem Wahrnehmungsmechanismus baut die Markenmechanik auf. – Der erste Eindruck zählt. Die zentrale Frage lautet: Wie wird ein Produkt wahrgenommen? Oder auf die Die Marke ICH ® übertragen: Wie werde ich von meiner Umgebung wahrgenommen? Als chloriertes Leitungswasser oder als hochwertiges stilles Mineralwasser?“ (S.48) Später heißt es, das muss zur Ehrenrettung der Autoren gesagt werden, dass man keine Marke präsentieren sollte, „die offensichtlich gelogen hat“. Und ein praktischer Ratschlag „Achtung, nicht bluffen! Wer erwischt wird, ist nämlich out.“ (S.49) Aber wir wissen, dass auf manchen Märkten, zum Beispiel dem für Kosmetika oder dem für Politik, der Nachweis der „offensichtlichen Lüge“ nicht so leicht ist. Die Selbst-Wertschätzung des Markenbesitzers, die uns im Falle Grassers als zur Schau gestellte narzisstische Gelassenheit imponiert, ist eine wichtige Verkaufsstrategie „Der finanzielle Wert, der unserer Marke ICH ® zugemessen wird, ist zwar nur einer der Werte, die mit einer Marke verknüpft werden – aber er ist ein recht verlässlicher Gradmesser für die Summe der Wertschätzungen, die einer Marke entgegengebracht werden“ (S.66). Wer an den finanziellen Wert als Gradmesser für die Marke Ich glaubt, darf zum Beispiel nicht zuviel Rabatt geben, weil das nur von Selbstzweifeln kündet und den Sinkflug der Marke 6 einleiten könnte. Im Gegenteil: Er muss wie selbstverständlich für sich selbst Rabatte und Vergünstigungen in Anspruch nehmen, so wie es uns vor einiger Zeit der steinreiche ÖVP-Wirtschafts- und Arbeitsminister Bartenstein beim Kauf seiner Schuhe oder Karl-Heinz Grasser bei den Flugtickets für den Privaturlaub vorgeführt haben. Auch Leihgaben von teuren Autos zum Privatgebrauch oder immense Honorare für kleinere Vorträge vor Bankdirektoren unterstreichen eigentlich nur den Wert der Marke für den Besitzer und das engere Publikum. Der Vorteil steht einem gewissermaßen zu, nach dem Motto „Weil ich es mir wert bin.“ Anwandlungen von Selbstkritik, erkennbare Scham- und Schuldgefühle würden überhaupt zu einem Zerfall des Marken-Egos führen. Schon Schwitzen, Stirnrunzeln oder Sprachunsicherheiten können die verkaufsfördernde Maske schwer beeinträchtigen und bei den Kunden Reaktionen zwischen Abwendung und Schadenfreude hervorrufen. Eine Coca-Cola-Dose oder ein Porsche sollten ja auch keine Kratzer und Flecken aufweisen. Die Berater empfehlen tatsächlich, dass die Menschen sich für ihre Identitätsgestaltung die großen Markenfirmen als Vorbild nehmen sollen. Eine besondere Rolle spielen in unserer unsicheren, bindungsarmen Welt die Wünsche der Kunden, sich irgendwo anzuhalten und emotional zu binden – die Psychoanalyse würde vom Wunsch nach dem „konstanten Objekt“ sprechen. Seidl und Beutelmeyer schreiben: „Johnny Walker hat seit Jahrzehnten seinen Slogan < Der Tag geht, Johnny Walker kommt. > Was immer der Tag gebracht haben mag – der Whisky danach ist eine Konstante, ein Fels in der Brandung“ (S.43). Der Markenbesitzer, der ja selbst verunsichert und von der Konkurrenz verfolgt ist, wird eigentlich zu einer Art Mimikry eingeladen. Mimikry ist die Imitation großer, gefährlicher Tiere durch schwache und verletzliche Lebewesen. Ein Schmetterling, der auf seinen Flügeln eine große beeindruckende Augenzeichnung hat, ist vor den Fressfeinden einigermaßen geschützt. Es kommt psychoanalytisch zu einer „Identifizierung mit dem Angreifer“, wie sie zuerst Anna Freud beschrieben hat. Kinder verlieren zum Beispiel die Angst vor Gespenstern am ehesten, wenn sie selbst Gespenster spielen. Unsere Welt wird von einer Art gespenstischer Subjekte beherrscht: den großen kapitalistischen Unternehmen oder „unsterblichen Giganten“ wie Jean Ziegler sie nennt. (Das Monströse an diesen Subjekten taucht auch in Münterferings Heuschrecken-Bild auf – Marx sprach vom Kapital als einem „beseelten Ungeheuer“.) Die Menschen werden eingeladen, sich mit dem Kapital zu identifizieren, dessen Absatz über den Besitz und die Pflege einer Marke „auf ewig“ gesichert scheint. Wenn Du wie Coca-Cola oder Johnny Walker bist, brauchst Du keine Angst mehr haben, man wird Dich immer brauchen! Du kannst wie ein Fels in der Brandung werden! Seidl und Beutelmeyer tragen ordentlich zur Verwechslung von authentischer, gelungener Identität und ökonomisch erfolgreicher Marken-Identität bei. Zur Erhärtung der These „Das gekaufte fremde Ding wird durch seinen 7 Markencharakter zum Freund“ wird Präsident Abraham Lincoln zitiert: „Bevor man einen Menschen für etwas gewinnen kann, müssen wir ihn davon überzeugen, dass wir sein Freund sind. Das ist für ihn wie Honig, wie Balsam für sein Herz. So gewinnen wir ihn“ (S. 52). Wer diesen Unsinn glaubt, darf sich nicht wundern, wenn sich seine wirklichen Freundschaften und Liebesbeziehungen bald in einem elenden Zustand befinden. Die in der westlichen Welt um sich greifende „narzisstische Störung“ zeichnet sich laut den einschlägigen diagnostischen Handbüchern u. a. dadurch aus, dass der Betroffene mit Menschen befreundet ist wie mit Dingen, die eine Zeitlang große Freude und Selbstwertsteigerung liefern, dann aber auch leicht ausgetauscht werden können. Und der narzisstisch gestörte Mensch (von dem fast alle erfolgreichen Bewohner der westlichen Welt etwas haben) erfährt sich in manchen Situationen – vor allem solchen, wo er nicht Star ist – selbst als ein Ding, das innerlich unlebendig und abgestorben ist. Zum Identitäts-Verwirrungsprogramm der Marke-Ich-Propagandisten gehört es auch, menschliche Lebensläufe als Beispiele für die gelungene Marke Ich aufzuführen, die damit überhaupt nichts tun haben, bzw. eher das Gegenteil verkörpern. „Im Bereich des Antirassismus ist es nur zwei Personen gelungen, weltweite Markengeltung zu erlangen: dem Pastor und Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King und dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela. In anderen Bereichen ist das aber durchaus möglich – so hat etwa Hugh Johnson eine weltweite Geltung als Rotweinpapst“ (Seidl / Beutelmeyer, S.74). Martin Luther King zahlte für seine Bekanntheit mit dem Leben, Nelson mit jahrzehntelanger Inhaftierung. Der Rotweinpapst erhält für seine Bekanntheit monatlich sicher große Überweisungen auf seine Bankkonten. Haben die beiden ersteren während ihres Engagements für die Menschenrechte auf irgendeine Art von Gewinnsteigerung geschielt? Warum sind Elvis Presley und Marilyn Monroe nicht glücklich geworden? Weil Menschen eben keine Firma sind. Die Marke Ich kann allenfalls Teil einer verkaufsfördernden Rolle sein. Marx sprach von „ökonomischen Charaktermasken“ der Wirtschaftssubjekte, die mit der Person nicht identisch ist (vgl. zur Brauchbarkeit der Marx´schen Theorie mein Buch „Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen“, Lit-Verlag, Münster 2004). Die Befürworter der Marke Ich sehen nicht, dass wir in der kapitalistischen Ökonomie psychologisch nur überleben können, wenn wir gegenüber den funktionalen „erfolgreichen“ Rollen auch zu einer Rollendistanz fähig sind, bei der wir gewissermaßen das Ganze „ sportlich sehen“ (Helmut Stockhammer, mündliche Mitteilung) und über uns selbst den Kopf schütteln können. Diese Rollendistanz schließt ein vorübergehendes role embracement (Erving Goffman) im Beruf, ein Verschmelzen mit der Aufgabe und der Berufsrolle nicht aus. Entscheidend ist nur die Beweglichkeit. Die Marke-Ich kann nur eine Partialidentität sein, mit der wir spielen sollten. Die Distanz ist schon deshalb 8 notwendig, weil anders als bei Coca Cola die Zeitspanne für den Markenerfolg von den äußeren Marktbedingungen her oft kurz bemessen ist und der sinnlichkonkrete Träger der Marke Ich gebrechlich, traurig, alt oder krank werden kann. Wer dann noch glaubt, die Marke sei sein Ich, ist von Absturz und einer narzisstischen Krise bedroht, die sogar mit Suizid enden kann. Das Publikum weiß mit einer gewissen Schadenfreude über das Unglück Bescheid, welches entsteht, wenn die erfolgreiche Marke am Gesicht von Menschen festwächst und sie beherrscht. Zum Muttertag 2005 wurde in der „Kleinen Zeitung“ vom ehemaligen singenden Kinderstar Heintje berichtet, der – sehr wohlhabend – nach Jahrzehnten immer noch ein Comeback nach dem anderen versucht, obwohl er sich mit einer Rap-Version seines absoluten Bestsellers „Mama“ schon vor ein paar Jahren ziemlich lächerlich gemacht hatte. Im deutschsprachigen Privatfernsehen hatte man im Jahr 2004 sogar eine eigene Show eingerichtet, bei der man sich anschauen konnte, wie verschiedene alternde Stars bei demütigenden Mutproben in einem künstlichen australischen Dschungel darum kämpfen durften doch noch einmal die Nummer-Eins zu werden. Auch im realen kapitalistischen Dschungel der Gegenwart ist Aufmerksamkeit das knappste Gut, um das Menschen ringen müssen. Hinsichtlich des Verhältnisses von Person und Marke finden sich bei Seidl und Beutelmeyer Ausführungen, die sozialwissenschaftlich ziemlich unsinnig und ein Beitrag zur massiven Desorientierung der Kundschaft sind. Zum Beispiel diese: „Unter den vielen Eindrücken, die wir in einem Geschäft oder Lokal haben, stechen die Marken deutlich hervor, so wie alte Bekannte. So wie Die Marke ICH ® unter anderen Menschen hervorstechen sollte. Wir werden daran arbeiten. Denn Marken sind wie Persönlichkeiten. Mehr noch: Marken sind Persönlichkeiten. Marken haben genau wie Menschen eine Persönlichkeit, die sie auf dem Markt erfolgreich oder erfolglos macht“ (S.47). Die Waren und das Kapital sind keine persönlichen, sinnlich-konkreten Subjekte. Ihre scheinbare Subjektivität beruht immer noch auf der entfremdeten Verausgabung von Arbeits- und Schöpferkraft der sinnlich-konkreten Subjekte, die den gesellschaftlichen Reichtum geschaffen haben, nun aber das Gefühl haben, von den Produkten gesteuert, „mitgeschleift“ zu werden. „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere der Arbeitsprodukte selbst als gesellschaftliche Natureigenschaft dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen. Hier scheinen die Produkte mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verbindung stehende Gestalten“ (Marx, „Das Kapital“ Bd. 1 , Marx-Engels Werke Bd. 23, Berlin 9 S.86). Marx spricht in diesem Zusammenhang vom „Fetischcharakter“ der Ware und auch des Kapitals. Die Menschen sollen sich neuerdings mit der Subjekthaftigkeit ihrer Produkte, deren Personenähnlichkeit, die realer Schein und Folge einer Verkehrung von Subjekt und Objekt ist, auch noch identifizieren, damit sie zu einer erfolgreichen Persönlichkeit werden. Werbeexperten der großen Unternehmen machen sich die strukturelle SubjektObjekt-Verkehrung und die Unsicherheit der Menschen, was denn nun eine erfolgreiche und liebenswerte Person ist, zunutze und verstärken sie noch. Besonders Autos kann man so verkaufen: „Ein Auto wie ein Freund“ oder vor einigen Jahren: „Ja, ja, ein Mazda müsste man sein“. Das Resultat ist bestenfalls eine waren- und markengestärkte Pseudopersönlichkeit. Die Fallstricke des Scheiterns sind eingebaut. Im Mai 2005 sah es so aus als könne Karl-Heinz Grasser als Marke scheitern. „Die Marke <KHG> verliert durch die jüngsten Fotos aus dem bunten Privatleben des Finanzministers an <Premiumqualität> hieß es auf den Internetseiten des „Standard“ vom 25.5.2005 und es folgten eine Graphik über den „Absturz der Marke KHG“ sowie Statements von Meinungsforschern, zu denen auch Beutelmeyer gehörte: „Hohe Aufmerksamkeitswerte seien zwar immer gut, findet auch Beutelmeyer, aber die <Skandalaufmerksamkeit> KarlHeinz Grassers entwickle sich zu einer <problematischen Angelegenheit >“ (S.1). Der „Standard“ und Beutelmeyer blieben in diesen Formulierungen ganz dem Markendenken verhaftet. Der Sinkflug der Marke KHG konnte aber in folgenden Monaten erfolgreich gestoppt werden, dadurch dass sie sich mit der Marke Swarovski offensiv und medienwirksam verband. Die stille und heimliche Hochzeit auf dem Lande zwischen Karl Heinz Grasser und Fiona Swarovski wurde rechtzeitig und exklusiv den wichtigsten Fernsehstationen und Medien mitgeteilt. Da Frau Swarovski schon einmal verheiratet war, musste die eigentlich gar nicht mögliche katholische Hochzeit mit Hilfe eines willigen Geistlichen gewissermaßen in der Kirche nachgestellt werden. Ein eigens erfundenes Ritual für Prominente. Etwas später, in freier Natur, erfolgte eine Liebeserklärung der Partner füreinander in Porträteinstellung vor laufender TV-Kamera. An soviel Authentizität kann das Publikum nur selten teilhaben. Später konnte auch die ersten Schwangerschaftswochen und deren tragischem Ende verfolgen. Der vorläufige Höhepunkt bei der Rückkehr zu „Premiumqualität“ der Marke war aber der gemeinsame Auftritt von Grasser und Swarovski bei „Wetten dass“, der großen Fernseh-Show von Thomas Gottschalk im Februar 2006. Während der ebenfalls eingeladene Boris Becker – offenbar eine sinkende Marke – vom Moderator ständig spöttische Bemerkungen wegen seines sexuellen Vorlebens einstecken musste, gab es gegenüber dem attraktiven neuen Paar nur Bewunderung: „Das Erotischste am deutschen Finanzminister Eichel war ja sein Name.“ Die kleine Bildungslücke von Frau Swarovski, die im Talk 10 mit dem Moderator meinte, Mozart sei vor etwa 100 Jahren verstorben, wurde ganz schnell mit einem Wortschwall zugedeckt, so als hätten wir nichts gehört. Mir ging es im vorliegenden Beitrag nicht so sehr um die Person Grassers, sondern darum, an seinem prominenten Beispiel zu zeigen, welche Risiken für die Identität mit dem Konzept der Marke Ich, dem Grasser wie Beutelmeyer offenkundig anhängen, verbunden sind. Wenn wir schon den sense of self (Daniel Stern) der Menschenkinder und Erwachsenen, die in der globalisierten Warenwelt leben, stärken wollen, dann ist – neben einem vielleicht unvermeidlichen und „sportlich“ anzugehenden Selbstvermarktungstraining – vor allem etwas anderes wichtig: die Erfahrung eines „Könnens“, in dem wir uns lebendig und unabhängig fühlen. Dieses Konzept entnehme ich Richard Sennets Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ (Berlin, Berlin-Verlag 2002), in dem es auch um Selbstrespekt geht. Sennet, der als Kind einer Sozialarbeiterin im Slum aufwuchs, stellte fest, dass es das Hervorbringen von sehr schwierigen und schönen Tonkombinationen auf der Bratsche war, das ihm unabhängig vom Urteil anderer ein freudiges und sicheres Selbstgefühl gab. Wenn dann die Freude anderer und vielleicht auch noch ein erfolgreiches Konzert hinzukommt, ist das natürlich gut. Aber die selbstvergessene und kompetente Hingabe an eine Sache ist als Basis aller Anerkennung wahrscheinlich wichtig. Das „Können“ kann sich auf sehr unterschiedliche Dinge und Prozesse beziehen. Es kann sich um das Eintauchen in die Welt der Natur, der Pflanzen, der Tiere, der Musik, des Schreibens und Malens, der Technik, vielleicht auch um den Umgang mit Kindern und hilfsbedürftigen Menschen handeln. Man spürt das Gelingen (wie zwischendrin auch den Misserfolg) durchaus für sich selbst und braucht weder großes Publikum noch home-page, um es zu verkünden. Wer das Glück und die Ermutigung hat, ein solches Können zu entwickeln, ist in gewisser Hinsicht autonom und hat es vielleicht leichter, gegenüber den Schwankungen seines ökonomischen und sozialen Marktwertes resistent zu bleiben. 11