Tagesstruktur: Thema: Polittalk

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Tagesstruktur: Thema: Polittalk
Zeitschrift von BALANCE | Verein BALANCE – Leben ohne Barrieren | Ausgabe Nr. 59 | 2/2014, Jahrgang 17
Tagesstruktur:
Kerzen für die Herzen
Thema: Change Wohnen
Polittalk: Mag. Gerald Loacker
Mag. Helene Jarmer
Dr. Franz-Josef Huainig
Editorial
BALANCER 59, 2/2014
Editorial
Von Helga Hiebl
Inhalt
Vorgestellt
03 Miljana Stevic
BALANCE Intern
04 Rudolf Wögerer neuer
Vereins­obmann bei BALANCE
Veränderung bedeutet Entwicklung, Wachstum und neue Möglichkeiten. Es heißt aber auch, alte Gewohnheiten ablegen und loslassen. Mit
dem Anspruch von BALANCE, sich in Richtung einer personenzentrierten Organisation zu entwickeln, haben wir den vor zwei Jahren in der
Tagesstruktur begonnenen Weg mit dem Titel „Change!“ (S. 6–9) nun
konsequent auf den Wohnbereich ausgedehnt.
Und die Veränderungen zeigen sich nicht nur in Workshops, Arbeitsgruppen, Klausuren und klug verfassten Texten, sie sind mittlerweile überall bei BALANCE spürbar und innerhalb der Organisation angekommen. Die NutzerInnen unserer Dienstleistungen bringen sich
immer stärker ein, wir fragen uns immer häufiger, bei welchen Arbeitsgruppen welche Personen eingeladen werden sollen, damit die Chance
zur Mitsprache gewährleistet ist. MitarbeiterInnen arbeiten immer
selbstverständlicher in Projekten, die als Voraussetzung die Einbeziehung von Menschen erfordern.
Diese erfolgreiche Entwicklung von BALANCE wäre aber ohne das
langjährige Engagement einzelner Personen nicht denkbar. In dieser aktuellen Ausgabe sind zwei wesentliche Aspekte von Veränderung vorhanden: Loslassen und Neubeginn. Einer der Mitarbeiter, die schon am
längsten dabei sind, wird in diesem Heft von KollegInnen und BewohnerInnen teils fröhlich, teils wehmütig in die Pension verabschiedet,
gleichzeitig wird der noch relativ frisch gewählte Vereinsobmann vorgestellt.
Die Zwiespältigkeit bei jeder Veränderung hat uns auch in der Redaktion beschäftigt. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir in
Zukunft bei den Kommentaren immer zwei gegensätzliche Aspekte behandeln wollen. Wir beginnen in dieser Ausgabe mit einem Beitrag zur
aktuellen Genderdebatte und widmen uns der Frage der Geschlechterrollen. (S. 22)
Ich wünsche im Namen der Redaktion schöne spätsommerliche
Lesestunden!
06 T
hema
Workshop-Tag zu Change >>
Wohnen 2014
BALANCE Pinnwand
09Menschgeige
Von männlichen und weiblichen
Stärken
AssistentInnen gesucht!
Kultursalon Hörbiger
Die Fußball WM 2014 Wette
BALANCE Wohnen
10Erwin Floh – 26 Jahre bei BALANCE
BALANCE Kunst
10Das Bühnenbild zur Performance
Menschgeige
Tagessstruktur
16 Kerzen für die Herzen
18 I nterbalance
Balancer-Polittalk:
Gerald Loacker (NEOS)
Helene Jarmer (GRÜNE)
Franz-Josef Huainigg (ÖVP)
22 Kommentar
Geschlechterrollen überschreiten?
Die Krone wackelt ...
23 Veranstaltungen
Impressum
Das Cover
dieser Ausgabe zeigt eine Monotypie aus dem Jahr 2012 von Lisi Hinterlechner.
Sie ist am 6.01.1950 in Wien geboren und arbeitet seit 2001 bei bild.Balance in Wien: „Ich da gut!“
Foto: A. Berger
2
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9 Fragen an:
Miljana
Stevic
1 Ein guter Arbeitstag beginnt …
bereits zuhause mit einem
guten Kaffee und einer
ruhigen halben Stunde
ganz für mich.
2 Was lässt dich Berge versetzen? …
Meine innere Kraft.
3 Was hält dich in deinem Leben in
Meine innere
Ruhe und indem ich die
Menschen und Dinge so
annehme und akzeptiere
wie sie sind.
Balance? …
Vorgestellt
mit Behinderungen
unterstützen kann!
7 An meinem Job mag ich am mei-
dass ich mit so viel
verschiedenen Menschen
in Kontakt komme, mit
BewohnerInnen, Menschen
in der Tagesstruktur, MitarbeiterInnen im Büro und
mit der Geschäftsführung
sten …
8 Rollentausch: Wenn du bei BALANCE
Bewohnerin, Tagesstruktur-Teilnehmerin oder in der Zentrale im Büro
arbeiten würdest, was sollte eine Reini-
4 Was/wer imponiert dir am mei-
Starke eigenständige
Persönlichkeiten, die zu
ihrer Meinung stehen und
sich nicht beeinflussen
lassen.
sten? …
Steckbrief:
33 Jahre alt, verheiratet,
2 Kinder (11 und 9 Jahre),
seit 2008 bei BALANCE als
Reinigungskraft im Wohnhaus
Maxing 2, in der Zentrale und
Tagesstruktur ELF und wo
immer sie gebraucht wird.
5 Das Schönste an BALANCE ist …
Ich bin mit 18 Jahren allein und ohne Familie von
Bosnien nach Österreich
ausgewandert und habe
mittlerweile eine Familie
und Arbeit. Dass ich das so
gut geschafft habe, darauf
bin ich stolz.
6 Das Schönste an den drei WohnStandorten Bernstein, Böckh und Son-
dass es so einen
Verein wie BALANCE gibt
und ich mit meiner Arbeit
auch ein wenig Menschen
Bildnachweis: H. Hiebl
nenhof ist …
gungsfachkraft unbedingt können bzw.
welche Eigenschaften würdest du dir
wünschen? … Sie
muss immer
lieb sein. (lacht) Ich würde
es nicht gerne sehen, wenn
jemand in mein Zimmer
mit einem grantigen oder
bösen Gesicht kommt, aber
sie müsste auch kompetent sein und wissen was
sie tut!
9 Sonst noch etwas? Was du un-
bedingt loswerden möchtest … Ich
bin sehr froh, dass das Interview vorbei ist, weil ich
doch etwas nervös war, da
ich so etwas noch nie gemacht habe. (lacht) Ich bin
glücklich, dass ich in der
Zeitung vorgestellt werde,
es ist mir eine Ehre!
3
4
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Intern
Es lohnt sich hartnäckig
zu bleiben!
Seit Juni 2014 ist Rudolf Wögerer neuer Vereinsobmann bei BALANCE. In einem Gespräch gibt er über sein Engagement,
seine Ziele und Lebenseinstellung Auskunft. Ein Portrait.
Von Helga Hiebl
Oft ist es gerade das Einfache und Selbstverständliche, was
das Leben lebenswert macht. Die Zeit mit Familie und Freunden, Bergwanderungen, Radtouren, gutes Essen und einfach
die Natur genießen, beim Erzählen darüber hebt sich die
Stimme des gebürtigen Waldviertlers Rudolf Wögerer. Mit
freundlicher und ruhiger Miene sitzt er mir gegenüber und
beantwortet geduldig meine Fragen.
Über die Motivation des Engagements bei BALANCE
musste er nicht lange nachdenken, lässt er mich wissen.
Die im Berufsleben gemachten Erfahrungen, das daraus
resultierende Wissen um die Situation der behinderten
Menschen in der Gesellschaft und die Chance, die Weiterentwicklung von Balance mitgestalten zu können, sind
Motivation genug!
Bildnachweis: H. Hiebl
Der Integrationspionier
Der zweifache Familienvater Rudolf Wögerer bringt dafür
beste Voraussetzungen mit, 40 Jahre war er im Schuldienst
tätig, hat Menschen mit Behinderungen als Lehrer begleitet
und später als Leiter eines sonderpädagogischen Zentrums
Integrationsklassen in der Region (18. Und 19. Bezirk) eingerichtet. Als „ Integrationspionier“ würdigte ihn der damalige
Stadtschulratspräsident Kurt Scholz wegen seiner Bemühungen, Menschen mit Behinderungen eine Schulbildung in integrativem Unterricht zu ermöglichen. Für Optimierung der
Bildungschancen von Menschen mit Behinderungen, dafür
habe er sich sein ganzes aktives Berufsleben eingesetzt und
darauf sei er auch sehr stolz. Chancengleichheit endet aber
seiner Meinung nach nicht bei der Schulbildung, sondern erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Und dafür lohne es sich,
sich auch in der Pension weiter zu engagieren, um uns einer
inklusiven Gesellschaft immer mehr anzunähern.
„Eine inklusive Gesellschaft ist ein Ziel, auf das
wir hoffentlich alle zugehen.“
Der Weg dahin sei allerdings noch weit und verlange eine
permanente Anstrengung von uns allen, betont Wögerer.
Inklusion sei für ihn erst dann erreicht, wenn wir in allen
Lebensbereichen, beginnend im Kindergarten bis in den
geriatrischen Bereich hinein ohne Unterschiede, mit oder
ohne körperlicher oder intellektueller Beeinträchtigung gemeinsam Leben, Arbeiten und Lernen können. Für BALANCE
wünsche er sich, dass das Wort „Inklusion“ in diesem Sinn
mit Leben erfüllt werde.
Als geglücktes und beeindruckendes Beispiel in den
letzten Jahren bei BALANCE sieht er den Weg von Werner
Fichtinger, der sich seinen Traum verwirklichte und jetzt
einen Arbeitsplatz nach seinem Wunsch in der freien
Wirtschaft hat, wenn auch gefördert und gestützt. Viele
Menschen im Umfeld von Herrn Fichtinger, BALANCE MitarbeiterInnen, aber auch BALANCE als Organisation haben
hier wesentlich dazu beigetragen, dass dies möglich wurde.
„Ich denke, dieser Fall zeigt, dass es sich lohnt hartnäckig zu
bleiben, auch wenn man nur über lange Umwege zum Ziel
kommt! Ich sehe für BALANCE eine Notwendigkeit, solche
Schritte weiterhin zu gehen und für jede einzelne KlientIn
anzudenken.“
Darum findet er es beeindruckend, wenn Menschen
mit Beharrlichkeit und Treue ein Projekt über lange Zeit
verfolgen, selbst wenn sich der Erfolg nicht sofort einstellt.
Und was er von der Geschichte von BALANCE weiß, gab es
auch hier immer Menschen, die die Organisation nach ihrer
Grundidee beharrliche weiterentwickelt haben. „BALANCE
hat eine enorme Entwicklung seit Gründung durchgemacht.
Dazu braucht es eine solide Arbeit auf allen Ebenen“, ist
Rudolf Wögerer überzeugt.
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Intern
Rudolf Wögerer:
Der neue Vorstand:
64 Jahre
pensioniert
verheiratet
2 erwachsene Kinder
Seit 2010 im Vorstand von
BALANCE
OSR, Dir. Rudolf Wögerer Obmann
MinRat Mag. Rotraut Kopper Obmann Stellvertreterin
Marianne Kühtreiber Obmann Stellvertreterin
Dr. Karl Katary Schriftführer
Irmtraut Vaclavic Schriftführer Stellvertreterin
Gertrud Bartsch Kassierin
SenRat DI Harald Haschke Kassierin Stellvertreter
Seit 23. Juni 2014 Obmann
Weitere Vorstandsmitglieder:
Dipl.-Vw. Herbert Kopper
Leo Josef Neudhart
SD Edeltraut Frank-Häusler
Susanne Pisek
MMag. Martin Kopper
„Man hat das Gefühl, dass sich hier die Menschen
auf Augenhöhe begegnen können“.
Foto: A. Berger
Das zeige sich auch im Betriebsklima innerhalb der MitarbeiterInnen und in der Kommunikation zwischen den BetreuerInnen und NutzerInnen. Es gefalle ihm besonders, wie wohlwollend und respektvoll miteinander umgegangen werde.
Der respektvolle Umgang mit Menschen mit Behinderung auf gleicher Augenhöhe fällt ihm nicht schwer, denn
auch privat gehören Menschen mit Behinderungen zu
seinem Bekanntenkreis. Viele seiner SchülerInnen melden
sich regelmäßig bei ihm, kontaktieren ihn, um ihn um Rat zu
fragen oder laden ihn zu besonderen Anlässen ein.
„Das sind Kontakte, die oft rund um die Uhr wahrgenommen werden, wenn sie irgendein Anliegen haben, das sich in
ihrem Umfeld entwickelt, dann wird telefoniert, oder man
trifft sich zum Mittagessen, oder ist zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Demnächst ist das wieder der Fall“, lächelt
Rudolf Wögerer, „Luki feiert seinen 54. Geburtstag!“
Sein persönliches Bild von „Behinderung“ habe sich seiner Erinnerung nach aber bereits in der Volksschulzeit eingeprägt. Ein Schulkollege mit intellektueller Beeinträchtigung
besuchte damals die gleiche Klasse. Da es zu dieser Zeit aber
noch keine Angebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten
gab, ließ man diesen aus Mangel an Möglichkeiten einfach
mehrmals die ersten Klassen wiederholen. Später konnte er
als Hilfsarbeiter in einem Sägewerk arbeiten und so zumindest seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten. Mit
ihm sei er ebenfalls immer noch in Kontakt. „Er ist nun ebenso wie ich in Pension und es geht ihm gut“, erzählt Wögerer.
„Ich wünsche mir mehr Sensibilität im Umgang
mit Menschen mit „unsichtbaren“ Behinderungen!“
Der Begriff Behinderung umfasst eine Vielzahl von
unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Für viele ist „der
Behinderte“ entweder ein Rollstuhlfahrer oder ein Mensch
mit Down-Syndrom. „Ich denke bei dem Wort „Behinderung“
vor allem auch an Menschen mit nicht so augenscheinlichen
Behinderungen wie Trisomie 21 oder Rollstuhlbedürftigkeit.“
Diese Menschen würden es seiner Meinung nach besonders
schwer haben, weil die gesellschaftliche Akzeptanz gering
ist und Therapien und Fördermöglichkeiten oft nicht in
wünschenswertem Maß zur Verfügung stehen. Menschen in
Rollstühlen sind heute im Straßenbild und in vielen anderen
Bereichen beinahe selbstverständlich, obwohl mancherorts
noch Barrieren abgebaut werden müssen. Da fand ein
Umdenken in der Gesellschaft in den letzten 30 Jahren statt.
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben keine
Lobby.
Die konzentrierte Anspannung löst sich am Ende des
Gesprächs. Jetzt nur noch schnell ein paar Fotos machen,
bitte ich unseren neuen Obmann. Auch diese Prozedur lässt
er geduldig über sich ergehen, gibt sich hilfreich, positioniert
sich nach meinen Anweisungen ins bessere Licht. Und während wir über diverse übertrieben gestellte Fotos scherzen,
gelingen diese Aufnahmen.
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T hema
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Kein Tag wie jeder andere
Workshop-Tag zu
CHANGE Wohnen
2014
Von Andrej Rubarth
Bild: Bettina Onderka
Change war unsere Veranstaltung. Dieser 24. April war unser Tag. 100 Leute sind an diesem Tag im Festsaal des WIFI
zusammengekommen. Es gab viele Erlebnisse und Geschichten an diesem Tag. Zwei davon sollen hier im Balancer Platz
finden.
Dies hier ist meine Geschichte, wie ich den Tag als Organisator und Projektverantwortlicher erlebt habe. Viele
andere Geschichten wurden lange noch nach dem Workshop
erzählt. Ein großes Foto-Rückschauplakat im Juli hat die
Erinnerung noch einmal angestoßen.
CHANGE war mehr als nur ein einzelner Tag. Wir haben in der letzten Ausgabe dieser Zeitung schon darüber
geschrieben. CHANGE war ein Projekt über mehr als sechs
Monate. Viele NutzerInnen und MitarbeiterInnen haben sich
beteiligt.
Doch heute schreibe ich nicht von Projekt, Theorie und
Methode. Heute schreibe ich über meine Erlebnisse, die
deutlich machen, was das Konzept hinter CHANGE ist.
se begann auch gleich das Reden und Fragen, zu zweit, zu
dritt und in großer Runde. 130 Botschaften aus 75 Persönlichen Lagebesprechungen lagen im Saal aus. Alle tauschten
Geschichten dazu aus. Wie sie alle ihre Köpfe zusammensteckten: die NutzerInnen, MitarbeiterInnen, Angehörige,
Fördergeber, Peer-BeraterInnen, SelbstvertreterInnen, SachwalterInnen, KooperationspartnerInnen und mit Gabriele
Mörk (SPÖ) und Birgit Meinhard-Schiebel (Grüne) auch 2
Politikerinnen der Stadt Wien.
Eine Wand war plakatiert worden: was gut läuft bei BALANCE. Jetzt wurde besprochen, wo es hakt, was noch nicht
gut läuft. Zum Beispiel das Rauchen/Nichtrauchen in den
WGs. Die SachwalterInnen, die noch nie gesehen wurden.
Das wenige Geld, das für die Freizeit oder den Besuchsdienst
nicht reicht. Die Sorgen bei großen Entscheidungen, wie
zum Beispiel das Einziehen in eine eigene Wohnung. Die
Diskriminierung bei der Bewilligung von Rehabilitationsaufenthalten. Die Kritik, dass NutzerInnen zu wenige Informationen erhalten.
Das große Gespräch
Das große Miteinander
Wo soll ich anfangen? Ich habe das Bild des vollen Saales vor
mir. Irgendwie waren alle entspannt und gespannt zugleich.
Es gab viele Plaudereien beim Ankommen. Die sechs ModeratorInnen für die Themenkreise kamen früh und fingen
gleich mit ihren Flipcharts zu werken an. Gefühlte 1.000
Dinge wurden noch hin- und hergetragen, geklebt, sortiert.
Es war ein verschlungener Weg zum Festsaal. Doch Dank
unserer Zivis und eines wirksamen Pfeilsystems haben alle
gut durch das Labyrinth bis unter das Dach und in den Saal
gefunden. Mathias, ein Bewohner der Wohngemeinschaft
Goldschlag, hat sich vor die 100 Leute platziert und den Tag
eröffnet. Nach telefonischer Anfrage hatte er kurzentschlossen zugesagt. Als es soweit war, zog er die ganze Sache mutig durch. Mit Nervenflattern, aber doch cool.
Kurz danach begann schon das Gewusel der Menschen.
Jede/r wollte die passende Arbeitsgruppe finden. Ohne Pau-
Es gab ein dichtes Stimmengewirr. Es wurde immer schwieriger zu verstehen, was gesagt wurde. Eine Gruppe entschied in der Not, zu improvisieren und sich einen Platz im
Stiegenhaus zu suchen. Da war es ruhiger, aber es gab halt
ein paar durchlaufende Menschen, die immer um Entschuldigung baten. Das ist zuerst lustig, dann aber auch anstrengend. Aber wir alle sind gewohnt, auf die wechselnden
Widrigkeiten des Lebens Antworten zu finden. Wir waren
aufmerksam füreinander, organisierten uns alle je nach
Situation. Es war wie ein kleines Dorf, wo jede/r weiß, wie es
dem/der anderen geht und was gerade Gutes zu tun ist.
Wir alle ruderten kräftig durch den anwachsenden
Strom der Vorschläge und Ideen. Die ModeratorInnen kamen
ins Schwitzen, behielten aber ihre gute Laune und vor allem
den Überblick. Sie arbeiteten zum Teil auch in der Mittagspause. Waltraud und Tobias bekamen ein Jausenbrot, weil
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So geht’s
sie sich aus dem Berg von Flipcharts und bunten Karten
nicht rechtzeitig herausarbeiten konnten.
Wenn der Blick verstellt oder die Konzentration weg war,
konnte mensch sich auf der Dachterrasse über den Dächern
von Wien aufhalten, das Hirn lüften und einen weiten Blick
zurückgewinnen.
In der Mittagspause haben alle ihren Platz gefunden.
Wieder konnten neue Bekanntschaften gemacht werden:
Ach DU bist die, welche … Ja, und ICH bin da und dort. Große
und kleine Fragen wurden wie nebenbei weiter hin- und
hergedreht.
Am Nachmittag ging die Arbeit an der Zukunft los.
Zukunftsbriefe wurden geschrieben. Karten beschriftet.
Collagen kombiniert. Miniprojekte aufgestellt. Aufforderungssätze formuliert. Fünf große weiße Papierkreise waren
zu Beginn ein leerer Raum gewesen.
Jetzt füllten sich diese Kreise bunt und überbordend.
Jede Arbeitsgruppe fand ihren Weg, ihre Ideen darzustellen.
Ein gemeinsamer Weg
Dann kam der Moment, als die gefüllten fünf Kreise im großen Saal ausgelegt wurden und alle rundherum Platz nahmen. Es war die Zeit der, ich würde sagen, Großen Energie.
Durch den großen Kreis saßen alle beieinander und konnten
sich ins Gesicht schauen. Mit Blick auf die Ideen aller. SitznachbarInnen, die sich vorher nie gesehen hatten, redeten
über ihre Sichtweise auf das Ergebnis und ihren eigenen
Beitrag dazu. Es war wieder wie im großen Dorf.
Wer seine Meinung hier allen sagen wollte, konnte das
tun. Vor allem die NutzerInnen haben gesprochen. Es wurde
noch einmal festgehalten, was wir Neues schaffen wollen
und was wir aber auch loslassen können.
Es war ein wirklich reicher und anstrengender Tag,
aber kaum jemand war müde, ganz im Gegenteil. Uns ist
gelungen, anders zu sprechen, anders zuzuhören, anders
miteinander zu tun. Die Rollen, die wir sonst haben, waren
nicht wichtig an diesem Tag. LeiterIn oder NutzerIn, Angehörige oder SelbstvertreterIn, behindert oder nicht behindert,
MitarbeiterIn oder Politikerin. Es zählte, was jede/r an Erfahrung teilen wollte. Daraus wuchsen die Ideen und die gegenseitige Wertschätzung. Alle sind einander als BürgerInnen
dieser Stadt begegnet, die ein gemeinsames Interesse haben: dem eigenen Leben eine eigene Richtung zu geben und
darin gleich unter Gleichen zu sein. Einen Tag lang konnten
wir das erleben. Diese Erfahrung wird uns begleiten, wenn
wir unsere Dienstleistungen weiterentwickeln, sodass sie
eine Bedeutung für das Leben der NutzerInnen haben. Das
wird auch so sein, wenn die Hindernisse noch unüberwindbar scheinen.
Ich möchte an dieser Stelle auch vielfach Danke sagen: Danke an Ruth, die mich am Morgen so herzlich begrüßte. An
Helga, die Äpfel und Blumen besorgt hat und fast alles auf
gute Art auf die leichte Schulter nehmen kann. An Mona,
die immer wieder gefragt hat, ob sie etwas übernehmen
soll. An Markus, der sich aufmerksam um eine Kollegin
kümmerte, der es gesundheitlich nicht so gut ging. An Frau
Artner vom Bistro für den Transport des Gebäcks und ihre
Improvisation. An Michael für seine Begeisterung und sein
sofortiges Feedback. An Katharina, für die geometrisch anspruchsvolle Zusammensetzung der 3-Meter-Papier-Kreise.
An Karl für den flexiblen Materialtransport. An die beiden
Rezeptionisten vom WIFI für die perfekte Unterstützung am
Eingang. An Iris für das Anschieben unserer Blutkreisläufe
nach dem üppigen Mittagessen durch Action-Gymnastik.
An Thomas für seinen Allround-Einsatz als Praktikant. An
Cornelia, die unbemerkt zum richtigen Zeitpunkt so nette
Sackerln packt, dass alle ModeratorInnen ihre Materialien
haben.
Im Oktober wird eine Arbeitsgruppe aus NutzerInnen,
MitarbeiterInnen und Leitungen die Ideen sichten, ordnen
und erste Visionen dazu formulieren. Dann kann BALANCE
planen, wie wir das gemeinsam verwirklichen. Und noch
etwas haben wir erreicht: Wenn im übernächsten Jahr
die Menschen vom Bereich Tagesstruktur ihren nächsten
CHANGE-Workshop machen werden, dann werden wohl
viele wieder mit dabei sein wollen.
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Editorial / Vor den Vorhang
BALANCER 59, 2/2014
Mütter, Sachwalter
und Pausentanz
Der Workshop aus Sicht von Martin Kopper.
Bewohner in der WG Böckh.
Von Martin Kopper
Ich war im Arbeitskreis „Meine Zukunft planen“. Zwei Mütter waren
dort, mit ihren erwachsenen Töchtern. Ich muss sagen, die Einstellung
der Mütter hat sich schon verändert in den letzten Jahren. Sie können
sich besser in die Probleme ihrer erwachsenen Kinder hineindenken. Ich
habe das beobachtet. Bis vor ein paar Jahren haben die Mütter etwas
gesagt, und so war’s dann. Die „Kinder“ haben nicht viel dagegenreden
können. Das ist jetzt anders, habe ich den Eindruck.
Die Einführung, den 1. Teil am Morgen, habe ich leider verpasst. Obwohl ich später gekommen bin und die Lotsen schon weg waren, habe
ich selber gut zum Saal gefunden mit meinem E-Rolli. Wenngleich das
Gebäude riesig ist, die Beschilderung war gut ausgedacht.
Mit zwei Sachwaltern habe ich länger sprechen können. Das hat
mich bestärkt, dort eine Ausbildung zu machen. Ich habe ja ein Diplom
in Jus, das heißt in Rechtswissenschaften. Vielleicht kann ich einige
Personen als Sachwalter begleiten.
Seit dem Workshop interessieren mich die Angelegenheiten von
BALANCE noch mehr. Dieses ganze Drumherum. Wie die Organisation
funktioniert.
Iris mit ihrem Pausentanz hat mich sehr überrascht, das war wirklich mitreißend. Auch für Rollifahrer wie mich.
Ich hatte übrigens einen sehr speziellen Essensplatz, weil im Lokal
kein Platz mehr war wegen der sehr vielen RollifahrerInnen. Das war
sehr lustig. Ich saß draußen und habe mich um nix kümmern müssen.
Meine Mutter weiß genau, was mir schmeckt und hat mir nur gute
Sachen vom Buffet gebracht. Da kann ich nur sagen, das war sehr
angenehm.
Pinn
wand.
Diese fünf Arbeitsthemen wurden aus 75
Persönlichen Lagebesprechungen herausgefunden:
1: Ich als Person in der WG. 2: Mit anderen sein. 3: Erleben und Erfahrungen machen. 4: Meine Gesundheit und alle Hilfsmittel, die ich brauche. 5: Mein Leben
heute und in Zukunft.
Fotogalerie als Rückschau unter:
http://www.balance.at/unterstuetztes-wohnen/wie-arbeiten-wir/
change-wohnen-rueckschau
Was ist eine Persönliche Lagebesprechung?
http://trainingpack.personcentredplanning.eu/index.php/de/
person-centred-review-meeting-de
Menschgeige
Ein vielbeachteter Auftritt der tanzmontage.Balance fand am 27. Juni 2014
statt. Thema der tänzerischen Bearbeitung mit etlichen humor­vollen Elementen unter dem Titel „Menschgeige“ war die performative Umsetzung
der für seine Zeit grenzüberschreitenden Musik Antonio Vivaldis.
Foto: H.Hiebl
BALANCER 59, 2/2014
Leserbrief
Von männlichen und
weiblichen Stärken
zum Kommentar „Die Krone der Schöpfung“
Ausgabe Nr. 58/2014
Mit Neugier begann ich Ihre Lobeshymne auf die Frauen im letzten BALANCER
zu lesen. Anfangs war ich noch angetan, bis ich auf Ihr Beispiel aus dem BALANCE-Alltag gestoßen bin, aus dem heraus Sie scheinbar weibliche und
scheinbar männliche Verhaltensweisen verallgemeinern und dabei im Anschluss das „Männliche“ – falls es dieses so überhaupt gibt – auch aus meiner
Sicht entwerten.
Als zehn Jahre für den Wohnpersonalbereich Mitverantwortlicher ist mir das
mehr als sauer aufgestoßen! In diesen zehn Jahren habe ich Folgendes bei BALANCE erlebt: Zupackende Männer, Männer, die ihre Grenzen gut kennen und
sich nicht überfordern, Männer, die kühlen Kopf bewahren in hysterisierten
Situationen, einfühlsame Männer, Männer, die brillante Beiträge in Diskussionen und Auseinandersetzungen bringen, usw. usw. Ja, diese Männer gibt es
auch bei BALANCE und sie werden immer mehr. Im Sommer 2014 sind mittlerweile 40% aller MitarbeiterInnen männlich … und das ist gut so!
Pinnwand
Die Fußball WM 20
Wette
14
er
Von Andreas Tetting
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Foto: Tagesstruktur
Ich möchte hier noch ergänzen, was ich auch in den letzten 10 Jahren bei BALANCE erlebt habe: Zupackende Frauen, Frauen, die ihre Grenzen gut kennen
und sich nicht überfordern, Frauen, die kühlen Kopf bewahren in hysterisierten Situationen, einfühlsame Frauen, Frauen, die brillante Beiträge in Diskussionen und Auseinandersetzungen bringen, usw. usw.
Schon die alten Chinesen haben erkannt, dass die große Kraft aus einem Zusammenspiel von „Männlichem“ und „Weiblichem“ entsteht und Conchita
Wurst hat das in eindrucksvoller Weise beim diesjährigen Songcontest vorgelebt.
Bei einem sich zu einer personenzentrierten Organisation entwickeln wollenden sozialen Dienstleister können wir weder auf „männliche“ noch auf „weibliche“ Stärken verzichten. In der Wahrnehmung der STÄRKEN eines jeden Menschen, der mit BALANCE zu tun hat
– egal ob NutzerIn, MitarbeiterIn, Angehörige oder andere –
liegt die Kraft, die diese Organisation mit und für alle an ihr
Die BALANCE-KlientInnensprecherInnen
Teilhabenden entwickeln kann.
suchen gegen Aufwandsentschädigung
In diesem Sinne lassen Sie uns,
(ca. Euro 11,–/h) für ihre Sitzungen
wenn überhaupt, dann von DEN
(1–2 x im Monat, ca. 2 Stunden) Assistent­
KRONEN der Schöpfung spreInnen zur Unterstützung bei einfachen
chen.
Handreichungen, beim Trinken und
am WC.
Michael Katschnig, Stabstelle
Personal
AssistentInnen
gesucht!
Kontakt:
Brigitta Wallner
E-Mail: [email protected],
Tagesstruktur-Standort SoHo
9.00-16.00,
T +43-1-209 37 31
9
Kultursalon
Hörbiger
Am 13. Mai 2014 war BALANCE eingeladen, Produkte im Rahmen des 33. Kultursalon Hörbiger zu präsentieren.
Thema des Kultursalons war diesmal
der künstlerische Austausch zwischen
Wien und Sarajevo. Zwei Fotografinnen aus Wien und zwei Fotografen aus
Sarajevo zeigten ihre Werke.
Foto: COMPRESS/Koalamedia
10
Wohnen
BALANCER 59, 2/2014
Erwin Floh
26 Jahre
bei BALANCE
Einer der Mitarbeiter, die schon am längsten dabei sind,
ist heuer nach 26 Dienstjahren bei BALANCE in den
wohlverdienten Ruhestand eingetreten. BALANCE, die
BewohnerInnen und KollegInnen geben ihm mit dieser ihm
gewidmeten Seite ein persönliches Geschenk mit in die
Pension und wünschen alles Gute!
Fotos: Harald Großmayer
BALANCER 59, 2/2014
Lieber Erwin, du bist zwar nicht mehr so jung – aber
wieder so frei wie ein Kleinkind! Genieße die neue
Spielzeit! Alles Gute, Kerstin
Lieber Erwin! Ich danke dir für alles, und danke,
dass du für uns da warst. Ich kenne dich seit 2004
und wir haben eine schöne Zeit mit dir verbracht!
Ich wünsche dir viel Freude, viel Spaß und viel
Glück. Mach es gut! Wir freuen uns, wenn du uns
in Zukunft ein paar Mal besuchen kommst. Liebe
Grüße! Sayeste
Es war eine schöne Zeit,
genieße die Pension, so es geht.
Hannes
Hi Erwin, du HOOLIGAN! Ich wünsch dir alles Gute
in der Pension und bleib so wie du bist. Danke für
alles! Alles Gute! ÄNDY der Rocker
Die Besten gehen immer als Erste (in Pension)!
Lieber Erwin, ich werde deinen Schmäh, deine Geschichten, deine Ehrlichkeit … einfach alles an dir
vermissen! Einen Kollegen wie dich werden wir nicht
so leicht wieder finden! Wehe dir, du kommst uns
nicht oft besuchen!! Marion
Lieber Erwin! Ich bin zwar traurig, dass du gehst,
doch nun genieß „die Rente“! Schließlich hatte ich
mit dir ganz lustige Momente! Lg, Rosi
Wohnen
Lieber Erwin! Das ist kein Eierschmorrn. Deine Arbeit
mit uns war/ist/bleibt vorbildhaft. Roland Ü.
Lebe wohl, genieße den Ruhestand! Alles Gute!
Michael
Ist das Leben nicht hundertmal zu kurz für Langeweile? (Friedrich Nietzsche) In diesem Sinne
wünsche ich dir eine schöne Zeit in deiner Pension!
Genieße es in vollen Zügen! Richie
Hallöchen Flöhchen!
Nach deinem krankenstandsreichen Alltag kannst
du endlich ausruhen! Musst nicht mehr schuften
und hetzen oder dein Leben nach dem Wecker
richten. Genieße die Ruhe, Manu
Lieber Erwin, Mit dir hat einfach alles Spaß gemacht,
vor allem am Telefon haben wir viel gelacht!! Danke
Kathi
Lieber Erwin, für deinen weiteren Lebensweg alles
Gute. Thomas W.
Mit dir, Erwin, hatte ich immer sehr viel zu lachen.
Mit dir konnte ich auch sehr gut diskutieren und
auch Probleme bewältigen. Erwin, du bist für mich
ein sehr guter Freund geworden!
Danke, Mayer
Durch dich weiß ich … ein Auto braucht auch Öl.
Durch dich hab ich gelernt … Reifen zu wechseln.
Ich weiß heute auch, wie das mit dem Kochen
geht. (theoretisch ) Von dir weiß ich, wie man zu
einem Haus im Waldviertel kommt, Autos kauft,
mit Menschen streitet, bei seiner Meinung bleibt,
sich hinterfragt, Kritik annimmt, kreative Lösungen findet, Kompromisse sucht, verzeiht … (na,
vielleicht hab ich das nicht von dir), aber für 1.000
andere Dinge: DAUNKSCHEE!! Uschi
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Teil des Bühnenbilds zur Performance
„Menschgeige“, eine Kooperation
von tanzmontage.Balance und
bild.Balance Wien
Fotos: bild.Balance Wien
Lisi Hinterlechner, Acryl auf Leinwand, 2014, 250 x 190cm
Andrea Mejia Rocha, Acryl auf Leinwand, 2014, 250 x 190cm
14
Tagesstruktur
BALANCER 59, 2/2014
BALANCER 59, 2/2014
Tagesstruktur
Editorial / Vor den
Vorhang
Kerzen
für die
Herzen
In der Druck-Wachs-Gruppe werden
Kerzen aller Art hergestellt, die einen
ganz wichtigen Beitrag für BALANCEVerkaufsstände im und außer Haus
darstellen!
Fotos: H.Hiebl
Von Christian Zuckerstätter
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Tagesstruktur
Bei der Vorstellung der BALANCE-Gruppen am Tagesstruktur-Standort Fuchsenfeld gelangen wir hiermit schon zur
sechsten Gruppe. In der Druck-Wachs-Gruppe werden
insgesamt dreizehn NutzerInnen betreut, von denen einer
aber nur einen Tag pro Woche kommt. Die Druck-WachsGruppe ist somit die zahlenmäßig stärkste im Haus. Begleitet werden die vielen NutzerInnen von drei Betreuerinnen plus einem Betreuer, der speziell für eine Rollstuhlfahrerin in der Gruppe zuständig ist.
Die Haupttätigkeit der Gruppe ist, wie schon der Überschrift zu entnehmen, das Gießen von Kerzen. Die Aufgaben umfassen im Wesentlichen die Vorbereitung mit
allen erforderlichen Arbeitsschritten, das Gießen der Kerzen selbst und die Nachbereitung, insbesondere das Putzen der eingesetzten Hilfsmittel. Alle Arbeitsschritte sind
in der Gruppe fix verteilt.
Die hergestellten Kerzen haben vielerlei Formen, in
erster Linie aber Zylinderform. Zylinderkerzen werden
vorwiegend mit Streifen ausgeführt. Das ist aufwändiger,
als man bei oberflächlicher Betrachtung meinen könnte,
denn jeder Streifen muss extra getrocknet werden und ist
somit ein eigener Arbeitsgang!!
Eine weitere Art der Produktion ist die Herstellung von
Kerzen mittels Ausstechformen. Auf diesem Weg können
vielerlei Formen, auch kompliziertere, hergestellt werden,
wie zum Beispiel Rauten, Osterhasen, Sterne, verschiedene Weihnachtsmotive … Eine eigene „Schiene“ sind die
sogenannten Muffin-Kerzen mit blumenförmigem
Grundriss!
Weitere Produkte der Druck-Wachs-Gruppe sind:
Glaskerzen – für dieses Produkt wird das flüssige Wachs
in Gläser gegossen
Stabkerzen – deren Herstellung, das „Stabkerzen ziehen“,
erfordert einiges Fingerspitzengefühl
Duftkerzen – Wachsguss in kleinen Dosen, vor allem für
den Weihnachtsmarkt
Kerzen in Katzenfutterdosen – eine gute Anwendungsform des Recyclinggedankens
Anti-Brumm-Kerzen – Kerzen in verschließbaren Glasbehältern, halten mit ihrem Duft Insekten fern
Eine weitere Produktionsform ist der Plattendruck.
Dabei werden verschiedenfarbige Wachsstücke mit unterschiedlichsten Formen oder andere kleine Gegenstände in
große Wachsplatten eingegossen! Der Plattendruck ist
eine sehr aufwändige Produktionsform, die sehr viele
Arbeitsschritte erfordert!
BALANCER 59, 2/2014
Den werten LeserInnen wird womöglich auch schon
aufgefallen sein, was sich viele davor bereits gefragt haben: Hier ist die Rede von Wachs, Wachs, Wachs und Kerzen, Kerzen, Kerzen. Warum nur heißt diese Gruppe
„Druck-Wachs“? Nun, der primäre Grund ist, dass die
Gruppe früher einmal selbst gedruckt hat. Diese Tätigkeit
ist in den letzten Jahren stark in den Hintergrund getreten, abgesehen von gelegentlichen kleinen StempeldruckAufgaben wie etwa dem Bedrucken von Billets oder Stoffen! Zurzeit aber ist auch der Siebdruck wieder in Planung
bzw. in Vorbereitung. Das würde eine große neue Aufgaben-Schiene in die Gruppe bringen und zwei zusätzliche
Arbeitsschwerpunkte wären: Siebdruck und Stempeldruck!
Nun noch ein paar Worte zum Klima in der Gruppe.
Das Zusammenarbeiten in der Gruppe verläuft sehr harmonisch. Die Leute kennen einander schon sehr gut und
es ist bei allen Tätigkeiten ein höchst angenehmes Miteinander! Gelegentlich werden Versuche unternommen, die
„Tagesaufgaben“ durch einzelne NutzerInnen verteilen zu
lassen, was sich ebenso gut bewährt hat wie sie durch die
Betreuerinnen zu vergeben.
Die idealen Produktionszeiten sind – bedingt durch
die niedrige Schmelztemperatur von Wachs – im Frühjahr
und im Herbst! Das bedarf einer sorgfältigen Planung,
weil die Hauptverkaufszeiten genau umgekehrt der Sommer und der Winter sind! Natürlich hauptsächlich im
Winter, insbesondere vor Weihnachten, aber mittlerweile
auch im Sommer wegen der Nachfrage nach AntiBrumm-Kerzen!
Der Verkauf spielt sich in erster Linie auf Märkten,
allen voran dem Weihnachts- und dem Adventmarkt, ab.
Es gibt aber auch Aufträge, wie zum Beispiel von einem
Hotel, der Pfadfinder-Schule oder der Caritas!
Tagesstruktur
Fotos: H.Hiebl
BALANCER 59, 2/2014
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interbalance
BALANCER 59, 2/2014
Balancer-Polittalk
Gerald Loacker (NEOS), Helene Jarmer (GRÜNE) und Franz-Josef Huainigg, (ÖVP)
stehen Rede und Antwort. In dieser Ausgabe stellen wir Ihnen wieder einen
Vertreter einer Regierungspartei (ÖVP) und zwei VertreterInnen von Oppositionsparteien vor. In der nächsten Ausgabe folgt dann der letzte Teil unseres Polittalks
mit VertreterInnen von nicht im Parlament vertretenen Kleinparteien.
Behinderungen sind Querschnittsmaterien: Sie finden
sich unter anderem in Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnen,
Tourismus, Gesundheit und Pflege. Überall gibt es einerseits ernstzunehmende Probleme und andererseits wieder spannende Projekte, über die man mehr wissen
möchte. Wir versuchen uns so intensiv wie möglich zu
vernetzen und nehmen gerne Anregungen von Seiten
Betroffener an, um hier gemeinsam zu arbeiten.
Gerald Loacker /
NEOS
Foto: Parlamentsdirektion/SIMONIS
Stellen Sie sich bitte kurz vor, wieso sind Sie Behindertensprecher geworden und wie war der Weg
dorthin?
Mein Name ist Gerald Loacker, geboren 1973 in Dornbirn/
Vorarlberg. In Wien absolvierte ich ein Rechtswissenschaftsstudium mit anschließender Gerichtspraxis am
Oberlandesgericht. Beruflich bin ich seit Jahren im Personalbereich tätig. Seit Oktober 2013 bin ich Abgeordneter
zum Nationalrat und im Parlamentsklub der NEOS. Dort
bin ich neben meiner Arbeit für Menschen mit Behinderungen auch für die Bereiche Arbeit, Soziales und Integration zuständig.
Mein persönlicher Zugang zum Thema Behinderung ist
auch durch eigene Erfahrungen geprägt. Nach einem
Unfall hatte ich zeitweise nur eine ganz geringe Sehleistung auf einem meiner Augen. Dieser temporäre Verlust
der Sehkraft eines Auges hat mir bewusst gemacht, wie
im Alltag manches von einem Tag auf den anderen plötzlich anders wird. Bis auf kleine Einschränkungen im
mehrdimensionalen Sehen ist die Sehkraft wieder hergestellt – doch erinnere ich mich noch oft an diese Zeit und
bin daher sehr interessiert an allen Entwicklungen in
diesem Bereich.
Was sind die besonderen Herausforderungen an
der Arbeit als Behindertensprecher?
Nachdem wir erst seit Herbst im Nationalrat sind, liegt
eine der größten und auch schönsten Herausforderungen darin, mit Unterstützung durch Betroffene, Expert_
innen und Selbstvertreter_innenorganisationen Wissen
zu sammeln und diesen vielfältigen Bereich gut kennenzulernen. Die Themen rund um Menschen mit
Warum hinkt Österreich bei der Umsetzung der
UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen
nach?
Viele Punkte in der Konvention bedeuten große Einschnitte in österreichische Strukturen. Am Beispiel Bildung etwa sieht man, wie viel noch zu tun ist, ehe von
inklusiven Systemen gesprochen werden kann. Einzelne
engagierte Projekte zeigen uns vor, in welche Richtung
unser Weg führen könnte.
NEOS hat im Juni im Nationalrat gemeinsam mit den
Grünen und den Regierungsparteien einem Abänderungsantrag zugestimmt, in dem die Sonderpädagogischen Zentren in „Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik“ umbenannt werden. Wir wollen jedoch mehr
Tempo bei inklusiven Maßnahmen, die in unseren Augen
ein ganz wesentlicher Faktor für ein ganzheitliches Bildungsverständnis und Chancengerechtigkeit darstellt.
Gelungene Beispiele wie etwa Reutte in Tirol zeigen, dass
Länder hier Pilotprojekte starten können, die zukunftsweisend für alle anderen Bundesländer dienen können.
Wie schätzen Sie das aktuelle Regierungsprogramm in Bezug auf Behindertenpolitik ein?
Die Regierung hat sich viel vorgenommen, wir werden
laufend die Fortschritte bei der Umsetzung des NAP beobachten und mittels parlamentarischer Anfragen und
Anträge unsere Vorschläge einbringen. Derzeit befasst
uns die Novelle des Bundesbehindertengesetzes. Hier
kritisieren wir aktuell den mangelnden Datenschutz und
fordern eine Verbesserung beim barrierefreien Zugang
zu Gesetzen.
Ein weiterer Punkt ist die persönliche Assistenz. Derzeit wird diese im Freizeitbereich von den einzelnen Bundesländern in unterschiedlichen Modellen geregelt. In
manchen Bundesländern gibt es sie noch gar nicht. Menschen mit Behinderung müssen sich also immer noch
gut überlegen, wo in Österreich sie leben wollen. Ein
unhaltbarer Zustand, denn persönliche Assistenz im
BALANCER 59, 2/2014
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BALANCE Beschäftigung
Interbalance / 19
Freizeitbereich bedeutet aktive Teilnahme an der Gesellschaft – die in unseren Augen eine unabdingbare Vorbedingung für das Gelingen von inklusivem Zusammenleben ist.
ihren eigenen Wegen zu unterstützen und nicht einfach
über sie zu bestimmen. Wir wünschen uns chancengerechten Zugang zu Bildung und notwendigen Gesundheitsleistungen und Hilfsmitteln.
Was wäre im Wahlprogramm Ihrer Partei besser
gewesen als im aktuellen Regierungsprogramm in
Bezug auf Behindertenpolitik?
In unserem Wahlprogramm haben wir den Bereich „inklusive Bildung“ angesprochen – seitdem arbeiten wir
laufend an behindertenpolitischen Positionen.
Zurzeit werden in Österreich von verschiedenen
Stellen die Bedürfnisse von Menschen mit
Behinderungen festgestellt. Wie könnte dies in
Zukunft besser koordiniert werden, um Synergien
und mitunter Einsparungen zu ermöglichen?
Wir befassen uns intensiv mit Fragen rund um die effizienten, transparenten und vor allem bürgerfreundlichen
Prozesse. Besonders im Bereich Hilfsmittel liegen die
Abstände zwischen Einreichung des Antrags, Bewilligung
und Klärung der Finanzierung noch viel zu weit auseinander. Hier ist es ganz wichtig, Stellen zusammenzufassen – Mitarbeiter_innen gut zu schulen, Doppelgleisigkeiten in der Verwaltung zu erkennen und sofort zu reduzieren. Der Rechnungshof hat hier viele gute Vorschläge gemacht, die dringend umgesetzt werden sollten.
In Bezug auf den Bildungsbereich: Was muss sich
ändern, damit behinderte Menschen in Österreich
Matura auf normalem Weg, also nicht am zweiten
Bildungsweg, machen können?
Hier befinden wir uns aktuell in intensivem Austausch
mit Expert_innen. Im Parlament wird es dazu eine Spezialdebatte im Unterausschuss des Unterrichtsausschusses geben. Wir hoffen hier auf gute Vorschläge!
Was würden Sie sich als Behindertensprecher für
die Zukunft der Behindertenpolitik in Österreich
wünschen?
Selbst zu bestimmen, wo und wie man leben möchte, ist
für uns ein zentrales Anliegen und eine Voraussetzung
für das Gelingen von inklusiven Modellen. Ziel muss auf
jeden Fall sein, betroffene Menschen so lange es geht in
Welche Initiativen sehen Sie auf EU-Ebene bezüglich
einheitlicher Gesetzgebung zur Inklusion in
Europa?
Am 1. Juli wurde Angelika Milnar als Mitglied des Europäischen Parlaments in Straßburg angelobt. Wir beobachten
und unterstützen somit auch dort Initiativen.
wichtige Herausforderung ist es, die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention in Österreich genau zu beobachten und einzumahnen. Parlamentarische Anfragen und
Entschließungsanträge sind dazu wichtige Instrumente.
Stellen Sie sich bitte kurz vor, wieso sind Sie
Behinderten­sprecherin geworden und wie war der
Weg dorthin?
Ich bin als Expertin in eigener Sache und über meine Arbeit
im Gehör­losenbund zur Politik gekommen.
Was sind die besonderen Herausforderungen an
der Arbeit als Behindertensprecherin?
Als Behindertensprecherin einer Oppositionspartei sehe ich
meine Aufgabe mehr in einer Kontrollfunktion. Eine
Wie schätzen Sie das aktuelle
Regierungsprogramm in Bezug auf
Behindertenpolitik ein?
Es ist leider kein ambitioniertes Programm, denn es sind
Projekte enthalten, zu denen es schon jahrelange Arbeitsgruppen gibt (persönliche Assistenz, eigenständige Absicherung bei Tätigkeiten in Werkstätten). Es ist nicht klar, wann
Foto: Parlamentsdirektion/WILKE
Helene Jarmer /
Die Grünen
Warum hinkt Österreich bei der Umsetzung der
UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen
nach?
Ein großes Hindernis bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention liegt in der föderalen Struktur Österreichs, d. h. in Kompetenzaufteilung zwischen Bund und
Ländern. Dies spiegelt sich im Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012–2020 wider, an dessen Erstellung sich die
Länder nicht beteiligt haben, obwohl große Teile der Behindertenpolitik in Länderkompetenz liegen. Eine Nachverhandlung des NAP mit den Ländern ist deshalb dringend notwendig.
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interbalance
es hier endlich zu Durchbrüchen kommen wird. Positiv ist,
dass ein Kritikpunkt der UNO, die Großeinrichtungen, in
denen Menschen mit Behinderung noch immer leben müssen, abgebaut werden sollen. Aber auch hier fehlen konkrete
Maßnahmen und Stufenpläne. Es soll zwar eine zentrale
Anlaufstelle für Hilfsmittel geben, aber die Zersplitterung
bei der Zuständigkeit und Finanzierung wird beibehalten.
Der Bereich „inklusive Bildung“ wird nicht erwähnt. Ein
Staatssekretariat zur zügigen Umsetzung der UN-Konvention wird es leider nicht geben.
Was wäre im Wahlprogramm Ihrer Partei besser
gewesen als im aktuellen Regierungsprogramm in
Bezug auf Behindertenpolitik?
Das Wahlprogramm der Grünen enthielt z. B. auch die Erhöhung der Ausgleichszahlungen für Unternehmen, die die
Behinderteneinstellungspflicht nicht einhalten, einen
Rechtsanspruch auf Beseitigung und Unterlassung von Barrieren bzw. Diskriminierungen im Behindertengleichstellungsgesetz oder die jährliche Wertanpassung des Pflegegeldes.
Foto: Parlamentsdirektion/SIMONIS
In Bezug auf den Bildungsbereich: Was muss sich
ändern, damit behinderte Menschen in Österreich
Matura auf normalem Weg, also nicht am zweiten
Bildungsweg, machen können?
Ich setze mich klar für die Abschaffung der Sonderschulen
ein. Jedes Kind soll unabhängig von Behinderungen oder
Förderbedarf die beste Unterstützung an der Schule bekommen. Südtirol hat den Weg schon vor 30 Jahren erfolgreich
eingeschlagen. Es ist eine Herausforderung für das System,
aber es ist umsetzbar, wenn die Ressourcen statt in Sonderschulen in die individuelle Förderung der SchülerInnen gesteckt werden. Die neue Zentralmatura ist übrigens schon so
gestaltet, dass SchülerInnen mit Behinderungen daran teilnehmen können. Aber die Hürden auf dem Weg zur Matura
sind noch sehr hoch. Derzeit wird leider bei der Inklusion
Franz-Joseph Huainigg /
ÖVP
BALANCER 59, 2/2014
gespart, das macht es für Eltern besonders schwierig, von
ihrem Recht auf Beschulung der Kinder und Jugendlichen
mit Förderbedarf in allgemeinen Schulen Gebrauch zu machen.
Was würden Sie sich als Behindertensprecherin für
die Zukunft der Behindertenpolitik in Österreich
wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen endlich in den Köpfen der Menschen ankommt, dass alle Gesetze auf ihre Barrierefreiheit
hin überprüft und angepasst werden und dass Menschen
mit Behinderungen ein gleichberechtigtes Leben mitten in
der Gesellschaft führen können.
Zurzeit werden in Österreich von verschiedenen
Stellen die Bedürfnisse von Menschen mit
Behinderungen festgestellt. Wie könnte dies in
Zukunft besser koordiniert werden, um Synergien
und mitunter Einsparungen zu ermöglichen?
Regelungen, die derzeit bundesländerweise verschieden
sind, müssen bundeseinheitlich geregelt werden, z. B. die
persönliche Assistenz oder die Regelungen für barrierefreies
Bauen. Derzeit gibt es je nach Sozialversicherungsträger und
Bundesland eine völlig unterschiedliche Genehmigungspraxis für viele Angelegenheiten, z. B. die Bewilligung von Hilfsmitteln, und Betroffene werden im Kreis geschickt. Es sollte
endlich eine einzige Anlaufstelle für Hilfsmittelansuchen
geben (One-Stop-Shop-Prinzip).
Welche Initiativen sehen Sie auf EU-Ebene bezüglich
einheitlicher Gesetzgebung zur Inklusion in
Europa?
Die EU hat 2010 eine „Europäische Strategie zugunsten von
Menschen mit Behinderungen 2010–2020: Erneuertes Engagement für ein barrierefreies Europa“ verabschiedet. Auch
die EU hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert!
Stellen Sie sich bitte kurz vor, wieso sind Sie Behindertensprecher geworden und wie war der Weg
dorthin?
Als ich mit sieben Jahren in die Schule hätte kommen sollen,
wollte mich aufgrund meiner Behinderung der Schuldirektor
nicht aufnehmen. Meine Eltern waren aber hartnäckig und
eine Lehrerin erklärte sich schließlich bereit, es einmal mit
mir zu versuchen. Später setzte ich mich selbst für schulische Integration und ein selbstbestimmtes Leben ein. Durch
mein Engagement wurde ich 2002 vom damaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Generalsekretärin Maria
Rauch-Kallat gefragt, ob ich für den Nationalrat kandidieren
möchte. Da es mir wichtig erscheint, dass behinderte Menschen selbst ihre Anliegen in der Politik vertreten, habe ich
mich zur Kandidatur entschlossen. Seit 2002 bin ich mit
kurzen Unterbrechungen Abgeordneter zum Nationalrat
BALANCER 59, 2/2014
und ÖVP-Sprecher für Menschen mit Behinderungen, seit
2013 zusätzlich ÖVP-Sprecher für Entwicklungszusammenarbeit (EZA).
Was sind die besonderen Herausforderungen an
der Arbeit als Behindertensprecher?
Bewusstseinsbildung und die Beseitigung von Diskriminierungen! Barrieren müssen in den Gesetzen, aber vor allem
auch in den Köpfen abgebaut werden. Meine KollegInnen im
Parlament sehen täglich, wie ich mit meiner Behinderung
und der Unterstützung durch Persönliche Assistenz lebe. Im
Laufe der Zeit ist die Unsicherheit in der Arbeit miteinander
verschwunden. Während sonst im Plenarsaal manchmal
große Unruhe herrscht, hören sie mir aufmerksam zu, wenn
ich mit vergleichsweise leiser Stimme eine Rede halte.
Warum hinkt Österreich bei der Umsetzung der
UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen
nach?
Ich finde nicht, dass Österreich im Vergleich etwa zu
Deutschland nachhinkt. Ich gebe aber zu, dass noch viel getan werden muss. Die UN-Konvention ist dabei die wichtigste Zielsetzung der Behindertenpolitik. In den letzten Jahren
konnte ein Paradigmenwechsel – weg von Almosen, Fürsorge
und Mitleid hin zu Gleichberechtigung, Inklusion und selbstbestimmtem Leben – angestoßen werden. Durch das Behindertengleichstellungsgesetz wurde in den letzten 10 Jahren
viel für Barrierefreiheit in Verkehrsmitteln, öffentlichen
Gebäuden und Medien getan. Auch die Österreichische Gebärdensprache ist als Minderheitensprache verfassungsrechtlich verankert. Die gleichberechtigte Teilhabe in allen
Lebensbereichen wird Schritt für Schritt umgesetzt, das ist
ein Prozess, der uns Tag für Tag vor neue Herausforderungen
stellt. Besonders schwierig sind Veränderungen im Bildungssystem hin zur schulischen Inklusion.
Wie schätzen Sie das aktuelle Regierungsprogramm in Bezug auf Behindertenpolitik ein?
Es sind einige wichtige Punkte enthalten, etwa die Verbesserung der Hilfsmittelversorgung, die Fortführung des Pflegefonds oder ein/e Selbstvertreter/in im Bundesbehindertenbeirat. Besonders hervorheben möchte ich auch das Pilotprojekt zur „Unterstützten Entscheidungsfindung“. Die Sachwalterschaft muss neu geordnet werden, weg von drohender Entmündigung hin zu einer Unterstützung auf Augenhöhe. Wichtig ist mir zudem, dass die Würde am Ende des
Lebens mit dem Verbot der Tötung auf Verlangen verfassungsrechtlich verankert wird. Dazu wird eine Enquete-Kommission ins Leben gerufen, die bis Jahresende in drei bis vier
Enqueten gesetzliche Maßnahmen zum Ausbau von Hospizund Palliativmedizin vorschlagen wird. Wichtig ist mir, dass
die aktive Sterbehilfe in Österreich verboten bleibt. Wenn
wir also das Regierungsprogramm umsetzen, wird es wesentliche Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen
geben.
21
BALANCE Beschäftigung
Interbalance / 21
Was wäre im Wahlprogramm Ihrer Partei besser
gewesen als im aktuellen Regierungsprogramm in
Bezug auf Behindertenpolitik?
Zum Glück findet sich vieles aus meinem Wahlprogramm im
Regierungsprogramm wieder: Barrierefreiheit, Hilfsmittelversorgung, Menschenwürde und selbstbestimmtes Leben.
Wichtig ist mir auch, dass die Persönliche Assistenz bundesweit einheitlich geregelt und finanziert wird. Das soll, nach
Zusage des Sozialministers, im Zuge des nächsten Finanzausgleiches mit den Ländern passieren.
In Bezug auf den Bildungsbereich: Was muss sich
ändern, damit behinderte Menschen in Österreich
Matura auf normalem Weg, also nicht am zweiten
Bildungsweg, machen können?
Umsetzung der schulischen Inklusion! Es muss zum Regelfall
werden, dass Kinder mit Behinderung die Regelschule besuchen. Die Sonderschule führt in eine Bildungssackgasse.
Natürlich wird nicht jeder behinderte Mensch die Matura
machen können, aber jeder Jugendliche mit Behinderung
soll entsprechend seinen Fähigkeiten gefordert und gefördert werden.
Was würden Sie sich als Behindertensprecher für
die Zukunft der Behindertenpolitik in Österreich
wünschen?
Zum Beispiel, dass jede Partei eine/n selbst behinderte/n
Abgeordnete/n als Behindertensprecher/in hat. Derzeit haben das von den aktuellen Parlamentsparteien nur ÖVP,
Grüne und FPÖ – nicht SPÖ, NEOS und Team Stronach.
Zurzeit werden in Österreich von verschiedenen
Stellen die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen festgestellt. Wie könnte dies in Zukunft
besser koordiniert werden, um Synergien und mitunter Einsparungen zu ermöglichen?
Wie das funktioniert, haben wir in der letzten Legislaturperiode durch die Reform des Pflegegeldes gezeigt. Es gab über
200 Stellen, die die Einstufungen vorgenommen haben, jetzt
gibt es nur noch 9. Nahezu alle pflegebedürftigen Menschen
werden einheitlich durch den Bund eingestuft. Ähnliche
Verwaltungsreformen braucht es auch in anderen Bereichen.
Welche Initiativen sehen Sie auf EU-Ebene bezüglich
einheitlicher Gesetzgebung zur Inklusion in Europa?
Die EU hat die UN-Konvention ebenso ratifiziert und es wird
derzeit ein Monitoringverfahren entwickelt. Das Sozial- und
Bildungssystem wird von den Nationen gestaltet und nimmt
dadurch Rücksicht auf regionale Bedürfnisse. Es ist aber
wichtig, dass es EU-weit einheitliche Grundsätze gibt, die
auf nationaler Ebene verpflichtend umgesetzt werden
müssen.
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Kommentar
BALANCER 59, 2/2014
Kommentar
Geschlechterrollen
überschreiten?
Die Krone wackelt ...
CONTRA
Von Christian Zuckerstätter
Auf meinen Kommentar in der letzten Ausgabe mit
dem Titel „Die Krone der Schöpfung“ erwartete ich einen
großen Proteststurm vor allem von männlichen Lesern. Dieser Sturm fiel zwar eher als laues Lüfterl aus, jedoch genau
im erwarteten Wortlaut, nämlich – summa summarum
– „die Fraun san’ a net besser ...“ Auch dazu hab ich mir einiges überlegt.
Am Ende des vorigen Kommentares sprach ich folgenden Wunsch aus: bitte, ihr lieben Männer, schaut’s euch
was von den Frauen ab!! Ihr könnt’s viiiel von ihnen lernen,
wirklich!!! Leider aber ist es genau umgekehrt: Um sich in der
„Welt der Männer“ behaupten zu können, kopieren viel zu
viele Frauen die Methoden der Männer. Mit folgendem Ergebnis: Anstatt dass Frauen ihre Emotionalität und ihren Intellekt
einsetzen, um damit der Gewaltbereitschaft der Männer entgegenzuwirken, imitieren viele die Wege der Männer und es
regiert im übertragenen Sinn das „Faustrecht“ – das Recht
des Stärkeren, von Frau und Mann gemeinsam getragen!! ...
schade, schade!!
Um zu vermeiden, dass ich mit Worten wie „Gewalt-
bereitschaft“ und „Faustrecht“ einen falschen Eindruck erwecke, möchte ich noch Folgendes klarstellen: natürlich
fällt darunter im Extremfall auch physische Gewalt, in den
allermeisten Fällen jedoch ist dies eine rein „rhetorische
Gewalt“! Diese Form der Gewalt tut mir allerdings auch
sehr, sehr weh!! Ich erlebe das leider so gut wie täglich bei
meinen Fahrten mit der U-Bahn oder der Straßenbahn. Ja,
und beim Schimpfen oder beim Beschweren über dieses
und jenes schlagen Frauen ihre männlichen „Konkurrenten“
bei weitem …
Darum richte ich diesmal meine dringende Bitte an
die Frauen: Bitte besinnt euch auf die Stärken, die euch als
Frauen zum starken Geschlecht machen … und schwächt
euch nicht selbst und die ganze Gesellschaft insgesamt, indem ihr versucht, die vermeintlichen Stärken eurer männlichen Artgenossen nachzuahmen!! Bitte, bitte, ihr tut damit
euch selbst und uns allen einen riesengroßen Gefallen!
PRO
Von Jürgen Plank
Transvestiten, Transsexuelle, Transgender – das Ge-
schlecht ist heute auch eine Frage der Selbstzuschreibung
und nicht nur eine von der Natur gegebene Tatsache. Androgyne Models und Popstars wie David Bowie, Michael Jackson
oder Lady Gaga haben die Grenzen zwischen Mann und Frau
längst aufgeweicht. Nicht nur für ihresgleichen, sondern
auch für Conchita Normalwurst gilt: JedeR kann heute alles
sein, er/sie muss sich nur entscheiden.
Oder nicht einmal das: Die Auflösung der Geschlechterrollen ist eine der letzten Freiheiten in einer reglementierten Einheitswurst-Welt – Freiheit, die nicht einmal eine Entscheidung verlangt. Denn Conchita Wurst ist halb Mann und
halb Frau und bricht gleich zwei Mal mit Geschlechtszuschreibungen: Erstens indem er sich als Frau verkleidet, zweitens indem sie als Frau ein männliches Geschlechtsmerkmal
(Bart) trägt. Eine brillante Idee, denn so singt Conchita uns zu:
Ich bin alles, was ihr wollt! Auch ihr könnt alles sein! Ich bin
nur eine Projektionsfläche – ob ich Mann oder Frau bin, ist
von mir bestimmt und wurst! Und dass es egal ist, bestimme
ebenfalls ich selbst!
So wird Conchita Wurst vielleicht zu einer Vorkämpferin in einem neuen Kampf um Gleichberechtigung: Im Kampf
um die freie Wahl der individuellen Geschlechterrolle.
Freilich: Ein sich outender Transvestit im Tor einer ProfiFußballmannschaft würde anno 2014 ausgeschlossen werden
und als sich John Browne, der CEO eines internationalen
Ölkonzerns, nicht einmal als transgender, sondern „nur“ als
schwul geoutet hat, war es um seine Karriere schlecht
bestellt.
Conchita Wurst hat also noch jede Menge in punkto
freie Geschlechtswahl zu tun und bekommt überraschend
Unterstützung aus Übersee: In einer Region im Süden des
prüden Mexikos leben Männer in Frauenkleidern ihre gesellschaftlich anerkannte Rolle als „drittes Geschlecht“. Auch in
Thailand und Laos werden androgyne Männer zu so genannten Ladyboys. Conchita selbst verwandelt sich jeden Morgen
und hat vor kurzem gemeint, sie würde es gut finden, am
Abend wieder ein Mann zu sein. Vielleicht sogar ein Mann
mit Dreitagesbart. Wenn nicht: Das Gras im Gesicht kann
man auch aufmalen.
BALANCER 59, 2/2014
Veranstaltungen
Veranstaltungen:
Balance-Fußballturnier
Wann:
Sonntag, 14. September 2014, 10:00-18:00
ASKOE SPENADLWIESE, Prater
Impressum
Wo:
Medieninhaber, Herausgeber, Verleger:
Wechselstube im AU
Verein BALANCE – Leben ohne Barrieren,
1130 Wien, Hochheimgasse 1,
Wann: Donnerstag, 4. September bis Samstag Versand: Tagesstruktur-Standort
20. September 2014, 11:00-18:00
Eröffnung: Do, 4. September 2014, 18:00 mit Livemusik, bild.Balance Vernissage
Lesung: Do 11. September 2014, 18:00
Ende mit Frühschoppen und Livemusik: Sa, 20. September 2014
Wo: viennau Brunnengasse 76
1160 Wien
Grafische Gestaltung: Frau Ober
Handwerkstätten – bild.Balance KünstlerInnen – Mitgliedern der Band Haltestelle
T 01/8048733-8105, F DW 8050
E-Mail: [email protected]
Internet: www.balance.at
Chefredaktion: Mag. Helga Hiebl
Redaktion: David Galko, Iris Kopera,
MMag. Martin Kopper, Mag. Jürgen
Plank, Cornelia Renoldner, Mag. Andrej
Rubarth, Andreas Tettinger und Christian
Zuckerstätter
Fuchsenfeld
Begegnung – Präsentation – Verkauf mit Menschen von BALANCE-
Redaktionsadresse: Zeitschrift Balancer,
und befreundeten DesignerInnen wie stammbäumchen – hannanaht – fairytailors
Hochheimgasse 1, 1130 Wien,
T 01/ 804 87 33-8105,
E-Mail: [email protected]
– Kellerwerk – Thomas Poganitsch – Johannes Lerch – Kaffeehaus am Ring –
violettsays – Liliaswelt
Erscheinungsweise: 1/4-jährlich
Erscheinungsort: Wien
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz:
Eigentümer: BALANCE, gemeinnütziger,
überparteilicher, nicht-konfessioneller
Verein.
Vorstand: DOSR, Dir. Rudolf Wögerer,
Obmann; MinRat Mag. Rotraut Kopper,
Obmann Stellevrtreterin; Marianne
Kühtreiber, Obmann Stellvertreterin;
WECHSELSTUBE...
Dr. Karl Katary, Schriftführer; Irmtraut
Vaclavic, Schriftführer Stellvertreterin;
Gertrud Bartsch, Kassierin; SenRat DI Harald
Haschke, Kassierin Stellvertreter;
Dipl.-Vw. Herbert Kopper; Leo Josef
Neudhart; SD Edeltraut Frank-Häusler;
1160, Brunnengasse 76 www.viennau.com
DO 4. September 2014 bis SA 20. September 2014
11:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Geschäftsführung: Marion Ondricek,
Vernissage insider & outsider art
Blattlinie: Der „Balancer“ berichtet als
Wo: Susanne Pisek; MMag. Martin Kopper
Mona Schuch
Fach- und Vereinszeitschrift über die
Aktivitäten von BALANCE, bekennt sich
zu dessen Leitbild und thematisiert
besonders relevante Themen und
Ereignisse, die Menschen mit
Behinderungen betreffen. Der „Balancer“
Wann:
Samstag, 4. Oktober 2014
galerie3
Alter Platz 25
9020 Klagenfurt
Werke von Shpresa Krasnici , Franz Wedl und Iris Kopera
Mit einer Performance von Iris Kopera
7 der Bundesverfassung, nach welchem
Work & Shop
gleichberechtigt und ohne Diskriminierung
Wo: folgt inhaltlich dem Bekenntnis des Art.
es ein Grundrecht aller Menschen ist,
zu leben. Als Grundvoraussetzung für
Integration werden Selbstbestimmung und
Selbsttätigkeit der BALANCE-KlientInnen
und Integrationsbedürfnisse und
-bemühungen unterstützt. Gemäß diesem
Anspruch setzt sich das Redaktionsteam
des „Balancers“ zu gleichen Teilen aus
KlientInnen und MitarbeiterInnen
zusammen.
Wann: Freitag, 14. November
Tagesstruktur-Standort SoHo
Viktor-Kaplan-Straße 6-8
1220 Wien
Fachkräfte leiten an, handwerkliche Tätigkeiten kennen zu lernen. Die
hergestellten Produkte können anschließend mit nach Hausen genommen
werden.
Anmeldung unter T 01/209 37 31, [email protected]
23
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1120 Wien
1220 Wien
01/ 817 93 44-13
01/209 37 31
FR 8.30-12.00 Uhr
Verein BALANCE – Leben ohne Barrieren
Österreichische Post AG /
Raiffeisen Landesbank NÖ-Wien AG
GZ: 08Z037718S
Hochheimgasse 1, A-1130 Wien
Konto-Nr. 07 479 868 BLZ 32000
Nr. 59, 2/2014, Jahrgang 17
Verlagspostamt 1130 Wien
Erscheinungsort Wien
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