Masterarbeit - Institut für Romanistik

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Masterarbeit - Institut für Romanistik
Didaktische Potenziale von Graphic Novels
zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität
im Fremdsprachenunterricht
Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Education (MEd)
Humboldt-Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät II
Institut für Romanistik
eingereicht von:
Eva-Vera Wirthmann
geb. am 22.03.1981
in Berlin
1. Gutachter/in:
2. Gutachter/in:
Prof. Dr. Lutz Küster
Dr. Katharina Wieland
Berlin, den 08.10.2012
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1
2. Einführung in die Untersuchungsgegenstände
3
2.1. Multiliteralität
3
2.1.1. Genese
3
2.1.2. Programmatik
6
2.1.3. Praxisbeispiele
9
2.1.4. Multiliteralität im Kontext des Fremdsprachenlernens und -lehrens
2.2. Graphic Novels
13
15
2.2.1. Merkmale und Entstehungsgeschichte
15
2.2.2. Lese-Sehverstehen
18
2.2.3. Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht
21
2.2.4. Graphic Novels im Kontext der Multiliteralität
24
3. Analyse ausgewählter Graphic Novels
26
3.1. Auswahl des Textkorpus
26
3.2. Vorgehensweise
27
3.3. Analyse
28
3.3.1. Paco Roca: El Faro
28
3.3.2. Shaun Tan: The Arrival
36
3.3.3. Miguel Gallardo: María y yo
44
4. Fazit
48
Bibliografie
51
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1. Einleitung
Seit einigen Jahrzehnten, im verstärkten Maße jedoch seit Ende des letzten Jahrhunderts,
vollzieht sich weltweit ein tiefgreifender Wandel der gesellschaftlichen, politischen und
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, mit weitreichenden Auswirkungen auf die Arbeitswelt,
das politische und soziale Leben sowie die Lebenswelt jedes Einzelnen. In Folge von
Globalisierung und massiven Migrationsbewegungen haben insbesondere Diversität und
Heterogenität in allen Lebensbereichen und Kontexten an Bedeutung gewonnen und die Art
und Weise, wie Menschen unter Rückgriff auf verschiedene Zeichensysteme miteinander
kommunizieren, hat sich aufgrund des wachsenden Einflusses neuer
Kommunikationstechnologien und -medien grundlegend verändert. Diese lebensweltlichen
Veränderungen stellen neue Anforderungen an das Lernen und erfordern damit auch ein
Umdenken in der Pädagogik im Allgemeinen sowie in der Fremdsprachendidaktik im
Besonderen. Dem versucht das Konzept der Multiliteralität, das im deutschen und
europäischen Raum bis vor wenigen Jahren kaum rezipiert wurde, Rechnung zu tragen. Im
Zentrum des Ansatzes steht das Prinzip der Vernetzung diverser Teilkompetenzen, das
Schüler1 dazu befähigen soll, sich in den unterschiedlichsten Situationen mittels Sprache
kontext- und situationsadäquat zu verhalten, auf Veränderungen flexibel zu reagieren sowie
ihr Wissen konstant und dynamisch weiterzuentwickeln. Dabei wird von einem breiten
Kompetenzbegriff ausgegangen, der neben der Literalität im traditionellen Sinne eine Vielzahl
weiterer Kenntnisse und Fertigkeiten sowie persönliche Einstellungen umfasst, z. B.
multimodale und -mediale Kompetenzen, die Lernmotivation, die Fähigkeit zur kritischen
Reflexion sowie die Entwicklung einer eigenständigen und selbstorganisierten Arbeitsweise
(vgl. Bach 2007: 23-26; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 9-10; Küster 2007: 41-43; Küster
2009: 56).2
Sprache spielt bei der Umsetzung dieses pädagogischen Konzepts eine herausragende Rolle,
da sie der wichtigste Träger der menschlichen Kommunikation sowie ein zentrales Medium
zur Bedeutungskonstruktion und zur Ausbildung der individuellen und kollektiven Identität
1
Wenn hier und im Folgenden von Schülern die Rede ist, sind stets Schülerinnen und Schüler gemeint. Gleiches
gilt für die Begriffe Lerner, Lehrer, Leser und Autor. Die Verwendung der maskulinen Form wird in der
vorliegenden Arbeit lediglich aus Gründen der Lesbarkeit bevorzugt.
2 Teile der Einleitung wurden aus einer Hausarbeit zum Thema Mehrsprachigkeitsdidaktik übernommen, die von
der Autorin der vorliegenden Arbeit im Rahmen eines Seminars zum Thema Multiliteralität bei Prof. Dr. Lutz
Küster verfasst wurde.
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ist. Damit ermöglicht die Beherrschung sowohl der eigenen als auch fremder Sprachen die
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bzw. „an den Zukunftsprozessen in der persönlichen,
beruflichen und öffentlichen Sphäre“ (Hallet 2010a: 68). Dies ist auch das Ziel schulischer
Bildung und damit des modernen Fremdsprachenunterrichts, in dessen Mittelpunkt die
Entwicklung der entsprechenden sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen stehen
sollte. Gleichzeitig sind bei der Gestaltung fremdsprachlicher Lernarrangements die
Veränderungen der letzten Jahrzehnte im Bereich der Kommunikation zu berücksichtigen.
Dazu zählen insbesondere die gestiegene Anzahl an Texten im alltäglichen Leben, die
wachsende Bedeutung von visuellen Darstellungen sowie die Zunahme an mündlichen,
multimodalen und multimedialen Kommunikationsformen (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010:
93; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 11; Hallet 2008: 169-172; Hallet 2010a: 68; Küster 2009:
60).
Ein möglicher Lerngegenstand, mit dessen Hilfe die neuen Anforderungen an die Fähigkeiten
und Fertigkeiten der Lernenden im schulischen Fremdsprachenunterricht erworben werden
können, sind Graphic Novels. Dabei handelt es sich um eine literarische Gattung, die, in
Anlehnung an Comics, Bilder und Texte miteinander verbindet sowie Elemente des
traditionellen Romans aufgreift. Graphic Novels erfreuen sich seit einigen Jahren weltweit
wachsender Beliebtheit sowohl bei jungen als auch bei erwachsenen Lesern und werden von
immer mehr Literaturverlagen in ihr Programm aufgenommen.3 Darüber hinaus rücken sie
zunehmend in den Fokus der Fremdsprachendidaktik, da sie im Unterricht u. a. aufgrund ihres
hohen Motivationspotenzials und dank der Unterstützung des Leseprozesses durch visuelle
Informationen vielen jungen Lesern den Zugang zu authentischer und anspruchsvoller
fremdsprachiger Literatur ermöglichen. Ferner können sie gezielt zum Auf- und Ausbau
diverser Kompetenzen eingesetzt werden (vgl. Hallet 2012a: 3-7; Hecke 2010a: 21; Schwarz
2002: 262; Schwarz 2006: 58; Volkmann 2010: 243).
In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche didaktischen Potenziale
Graphic Novels zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität im
3
Das wachsende Interesse an Graphic Novels zeigt sich außerdem in der Presse und auf diversen
Literaturveranstaltungen. So z. B. auf der Frankfurter Buchmesse, die seit mehreren Jahren u. a. einen
eigenständigen Comicbereich anbietet und den Deutsche Cartoonpreis verleiht. Weitere Beispiele sind das
diesjährige Internationale Literaturfestival Berlin, in dessen Rahmen ein Graphic Novel Day veranstaltete wurde,
und die Ausstellung Die superreale Welt. Graphic Novels aus Europa, die derzeit am Institut français Berlin zu
sehen ist.
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Fremdsprachenunterricht, insbesondere für das Fach Spanisch, bieten. Hierzu werden
exemplarisch für drei Vertreter dieser literarischen Gattung Unterrichtsideen entwickelt bzw.
mögliche Lehr-Lernarrangements skizziert. Vor der Analyse werden zunächst das Konzept der
Multiliteralität vorgestellt sowie die Merkmale, die Entstehungsgeschichte und der Prozess
des Lese-Sehverstehens von Graphic Novels erläutert. Es folgt eine Diskussion beider
Untersuchungsgegenstände im Kontext des Fremdsprachenlehrens und -lernens, um im
Anschluss die Potenziale der ausgewählten Graphic Novels hinsichtlich der Umsetzung der
Ziele und Prinzipien der Multiliteralität zu untersuchen und die Analyseergebnisse schließlich
auszuwerten.
2. Einführung in die Untersuchungsgegenstände
2.1. Multiliteralität
2.1.1. Genese
Der Begriff „Multiliteralität“ (engl. multiliteracies)4 wurde von der New London Group
geprägt. Diese heterogene Gruppe von US-amerikanischen, britischen und australischen
Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen und Bildungstraditionen kam im Jahr
1994 in den USA zusammen, um ein neuartiges pädagogisches Konzept zu erarbeiten,
welches, vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, das
traditionelle Verständnis von Literalität erweitert bzw. ergänzt. Die New London Group wählte
die Bezeichnung multiliteracies, um die ihrer Meinung nach zwei zentralen Merkmale des
gesellschaftlichen Strukturwandels zu beschreiben: Zum einen „die weltweit zunehmende
sprachliche und kulturelle Diversität“ (Bach 2007: 26) und zum anderen die wachsende
Vielfalt an Kommunikationskanälen und -medien (vgl. Anstey/Bull 2006: 20; Bach 2007: 24;
Cope/Kalantzis 2000b: 3-5; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 9; Kupetz 2010: 225; Küster
2009: 55-56).
Ausgangspunkt für die Entwicklung des Ansatzes bildete eine detaillierte Analyse der soziokulturellen Veränderungen in der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden
20. Jahrhunderts. Im Wirtschaftsleben äußern sich diese in einem verstärkten
4
Obwohl der englische Terminus im Plural steht, hat sich in der deutschen Fachliteratur die Bezeichnung
„Multiliteralität“ im Singular durchgesetzt und wird in der vorliegenden Arbeit dementsprechend verwendet.
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Konkurrenzdruck sowie in erhöhten Anforderungen an die Marktteilnehmer und die Qualität
der Produkte. Parallel dazu werden in den Unternehmen die hierarchischen Strukturen
tendenziell flacher und an die Stelle einzelner, klar umrissener Aufgaben bzw. linearer und
wiederkehrender Arbeitsabläufe treten komplexe und ganzheitliche Arbeiten, die häufig in
Teamarbeit gelöst werden müssen und einen sicheren Umgang mit immer neuen Technologien
voraussetzen. Von den Arbeitnehmern in nahezu allen Berufen und Branchen wird daher
verlangt, dass sie umfassend und vielseitig qualifiziert sind, ein hohes Maß an
Anpassungsfähigkeit und Mobilität mitbringen sowie sich ständig weiterbilden bzw. in neue
Gegenstandsfelder einarbeiten. Berufsverläufe werden somit insgesamt flexibler und die
Aneignung von neuem Wissen bzw. die Fähigkeit zu lebenslangem Lernen gewinnen an
Bedeutung (vgl. Anstey/Bull 2006: 2-4; Bach 2007: 25-26; Küster 2011: 138; The New
London Group 2000: 10-11).
Neben den genannten Veränderungen in der Arbeitswelt, zeichnet sich auch ein Wandel im
politischen und sozialen Leben ab, das seit einigen Jahrzehnten durch den weltweit
wachsenden Einfluss neoliberaler Tendenzen bzw. die zunehmende Orientierung an
wirtschaftlichen Zielen und Prinzipien gekennzeichnet ist. Gleichzeitig verliert der
(Wohlfahrts)staat an Macht und Bedeutung. Hinzu kommt, bedingt durch massive
Migrationsbewegungen, eine gestiegene sprachliche und kulturelle Diversität innerhalb der
Bevölkerung (vgl. Bach 2007: 26-27; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 10; Küster 2011: 139;
The New London Group 2000:13-15). Damit werden Differenzen, also u. a. kulturelle,
ethnische oder geschlechtsspezifische Unterschiede, zu einem bestimmenden Merkmal der
postmodernen Gesellschaft, müssen aber „zugleich [...] in einem Spannungsfeld von ‘local
diversity‘ und ‘global connectedness‘ ausgehandelt werden“ (Küster 2009: 57).
Die oben aufgezeigten Entwicklungen in der Arbeitswelt sowie im öffentlichen Leben wirken
sich auch auf die Lebenswelt jedes Einzelnen aus. Hier haben ebenfalls Diversität und
Heterogenität an Bedeutung gewonnen und die Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft
abgelöst. Infolgedessen nimmt die Vielfalt an möglichen Lebensentwürfen zu, die Grenzen
zwischen den verschiedenen Lebenswelten werden durchlässiger und es entstehen
vielschichtige und komplexe Identitäten, die stets neu verhandelt und gefestigt werden
müssen. Ferner werden Diskurse, die das Privat- und Gemeinschaftsleben betreffen, vermehrt
öffentlich ausgetragen und das Alltagsleben wird immer stärker durch eine mediale
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Massenkultur durchdrungen, die der wachsenden Vielfalt gegenübersteht sowie diese
teilweise relativiert (vgl. The New London Group 2000: 15-17).
Der Wandel im öffentlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereich hat nicht zuletzt
Auswirkungen auf die Art und Weise wie Menschen miteinander kommunizieren. So
verändert sich parallel zu den betrieblichen Arbeitsabläufen und Strukturen die
Kommunikationskultur innerhalb der Unternehmen: Der Umgang mit mündlichen und
informellen Gesprächssituationen wird immer wichtiger und im Bereich der schriftlichen
Kommunikation, allen voran im E-Mail-Verkehr, lässt sich ein steigender Grad an
Informalität feststellen. Trotz des Potenzials, das diese Entwicklung birgt, zeichnet sich nach
Ansicht der New London Group die Gefahr ab, dass einzelne Mitarbeiter noch stärker als
früher ausgegrenzt werden, wenn sie beispielsweise aufgrund fehlender kommunikativer
Kompetenzen nicht Teil der Unternehmenskultur sind oder die gestiegenen Anforderungen an
das Anpassungsvermögen nicht erfüllen können (vgl. The New London Group 2000: 12).
Moderne Kommunikationstechnologien (z. B. Mobiltelefone oder Smartphones) und Medien
(insbesondere das Internet) haben darüber hinaus neue Formen der zwischenmenschlichen
Interaktion bzw. Kommunikation, der Wissensaneignung und der Mitgestaltung durch die
Nutzer geschaffen sowie zu einer Beschleunigung der Informationsvermittlung in Ausbildung,
Beruf und Privatleben geführt. Gleichzeitig zeichnet sich im Internet eine Tendenz zu
„gewachsene[r] Mehrsprachigkeit von Information und Kommunikation“ (Küster 2011: 139)
sowie zur zunehmenden Nutzung nicht-autorisierter Quellen ab (vgl. Anstey/Bull 2006: 7-13;
Bach 2007: 26; Küster 2011: 139).
Insgesamt erfordern die veränderten sozio-kulturellen Rahmenbedingungen und neuartigen
Kommunikationsformen ein weitreichendes Umdenken auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Die zentrale Herausforderung besteht darin, die Vielfalt der Lebenswelten zu bewahren sowie
jedem Menschen die aktive Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Den
Bildungseinrichtungen, allen voran den Schulen, kommt dabei die Aufgabe zu, Bedingungen
zu schaffen, unter denen die Heranwachsenden gezielt auf die lebensweltlichen
Anforderungen vorbereitet werden. Dazu muss Schule von einer auf Homogenisierung und
Anpassung ausgerichteten Organisation zu einer Institution werden, in der die subjektiven
Interessen, Einstellungen und Ziele jedes Lernenden Beachtung finden sowie die Vermittlung
und Aushandlung pluraler, flexibler Lebensformen und Denkweisen im Mittelpunkt stehen.
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Diversität und Differenzerfahrungen werden somit zur Norm, aber auch zu einer produktiven
Ressource und zur zentralen Kompetenz, die im Rahmen schulischer Bildung erworben
werden muss (vgl. Bach 2007: 27; Kupetz 2010: 225; The New London Group 2000: 9 u.
18-19).
2.1.2. Programmatik
Die Erkenntnis, dass aufgrund des gesellschaftlichen Strukturwandels Veränderungen in der
schulischen Erziehung und Bildung unumgänglich sind, spiegelt sich auch in einem neuen
Verständnis von Literalität (englisch: literacy) wider. Traditionell wird unter Literalität der
Erwerb und Gebrauch der beiden grundlegenden Kulturtechniken Lesen und Schreiben
verstanden. Diese Auffassung unterliegt „einem normativen, regelbasierten, monolingualen
und monokulturellen Code“ (Bach 2007: 24). Sie basiert zudem auf der Annahme, dass
Literalität in erster Linie durch die Auseinandersetzung mit schriftlichen Texten entwickelt
wird, geht häufig mit der Vermittlung tradierter, statischer Wissensbestände einher und
spiegelt sich meist in einem lehrerzentrierten Unterricht wider (vgl. Anstey/Bull 2006: 17-18;
Bach 2007: 24; Cope/Kalantzis 2000b: 5; Hallet 2010a: 66-67; Kupetz 2010: 225; Küster
2007: 41-42; Küster 2009: 56; The New London Group 2000: 9).
Im Gegensatz dazu liegt dem Konzept der Multiliteralität ein erweitertes, dynamisches und
flexibles Verständnis von Literalität zugrunde. Bach bestimmt Multiliteralität in einer
vorläufigen Arbeitsdefinition wie folgt:
„Multiliteralität bezeichnet die Fähigkeit, Sprache generell, auch eine fremde Sprache,
kontextadäquat, ziel- und aufgabenorientiert flexibel anwenden zu können. Multiliteralität
ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstorganisation, d.h. dazu,
Informationen und Ressourcen so nutzbar zu machen, dass Lernprozesse und Aufgaben
mit einem Fokus auf Lösungswege und Ergebnisse selbstständig und in konstruktivem
Dialog mit anderen organisiert werden können. Integraler Bestandteil von Multiliteralität
ist der Erwerb einer multi-medialen Kompetenz in der Verwendung von Informationsund Kommunikationstechnologien (ICT).“ (Bach 2007: 23)
Multiliteralität ist also eine vielschichtige soziale Handlungsfähigkeit, die sich an die
jeweiligen Bedürfnisse und Kontexte anpasst. Zentral ist dabei der Gedanke des Ausbaus und
der Vernetzung einer Vielzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Lernende „zum Umgang
mit komplexen, vernetzten Informationen in mehrsprachigen, vielstimmigen
Kommunikationskontexten“ (Küster 2009: 56) befähigen. Allerdings beschränkt sich
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Multiliteralität nicht auf die Ausbildung kognitiver Kompetenzen und die gezielte
Vorbereitung auf das Berufsleben bzw. auf die Arbeitswelt. Vielmehr handelt es sich um einen
ganzheitlich orientierten Ansatz, der das Ziel verfolgt, Lernende zu aktiven und
verantwortungsbewussten Gestaltern der sozialen Zukunft zu erziehen und sie am Aufbau
einer gerechteren Gesellschaft zu beteiligen. Daher sind auch die Entwicklung von
eigenverantwortlichem Handeln sowie die Stärkung der eigenen Identität Teil des Konzepts
und den “affektiven und soziokulturellen Bedürfnissen des Lerners [wird] besondere
Beachtung“ (Küster 2009: 58) geschenkt. Des Weiteren sollen die Lernenden sich ihrer
persönlichen Haltungen bewusst werden und ein kritisches Reflexionsvermögen ausbilden
(vgl. Anstey/Bull 2006: 37-39 u. 55; Bach 2007: 23-24; Cope/Kalantzis 2000b: 7; Hallet
2010a: 69; Küster 2007: 43; Küster 2009: 56-58; The New London Group 2000: 13).
Zur Entwicklung und Modifizierung von Wissen bzw. zum Aufbau multiliteraler
Kompetenzen erarbeitete die New London Group ein dreischrittiges Verfahren, in dessen
Mittelpunkt das Konzept des Designs steht. Dabei „geht [es] nicht um tradierte
Wissensbestände, sondern um die dynamische, den jeweiligen Praxen und Kontexten
(Arbeitswelt, Produktionsabläufe, Lehren und Lernen) inhärente Wissensentwicklung“ (Bach
2007: 27). Durch den Begriff „Design“ wird zudem unterstrichen, dass es sich um einen
schöpferischen Prozess handelt, den die daran beteiligten Personen aktiv mitgestalten. Den
Ausgangspunkt bildet das Available Design, d. h. das individuelle Vorwissen, das u. a.
lebensweltliches Allgemeinwissen, aber auch Kenntnisse über sprachliche Stile, Register und
Dialekte umfasst. Dieses wird im Prozess des Designings unter Rückgriff auf die produktiven
Tätigkeiten Hören, Reden, Lesen und Schreiben rekontextualisiert, umstrukturiert und
modifiziert. Gleichzeitig werden auch der Lerner selbst bzw. seine Identität transformiert. Das
Ergebnis dieses Vorganges ist The Redesigned, das weder eine bloße Reproduktion des
Vorwissens noch ein rein kreativer Akt ist. Vielmehr handelt sich um ein in historische und
kulturelle Kontexte eingebettetes „unique product of human agency“ (The New London
Group 2000: 23), das seinerseits wieder zum Available Design und damit zum Ausgangspunkt
für die erneute Entwicklung und Umformung von Wissen und Identitäten wird (vgl. Bach
2007: 27-28; Küster 2009: 56; The New London Group 2000: 19-23).
Im Prozess der Strukturierung und Transformation von Wissen kommen neben der Sprache
auch weitere “Literalitätskomponenten“ (Bach 2007: 28) bzw. Design Elements zum Tragen.
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Diese können visueller (z. B. Farben, Perspektive), auditiver (z. B. Musik, Soundeffekte),
mimisch-gestischer (z. B. Körpersprache, Verhalten) oder räumlicher Natur (z. B.
architektonische Elemente) sein. Sie werden von der ihnen übergeordneten multimodalen
Literalität, die sich durch einen hohen Grad an Hybridität (die Vermischung unterschiedlicher
Modi) und Intertextualität (die Verbindungen zu anderen Texten, Texttypen oder
Darstellungsformen) auszeichnet, in dynamischen Beziehungen miteinander verknüpft (vgl.
Bach 2007: 28; The New London Group 2000: 25-30).
Neben diesen sach- und inhaltsbezogenen Aspekten, stellte die New London Group in ihrem
Konzept methodisch-didaktische Überlegungen zur Gestaltung von multiliteralen LehrLernarrangements an, in die bereits vorhandene pädagogische Ansätze und Überlegungen
einflossen. Ausgehend von der Annahme, dass menschliches Wissen stets in soziale, kulturelle
und materielle Kontexte eingebunden ist und sich über den Austausch mit anderen Menschen
entwickelt, die unterschiedliche Fähigkeiten besitzen und Ansichten vertreten, versteht sie
Pädagogik5 als ein komplexes Zusammenspiel von vier interdependenten Faktoren bzw.
Dimensionen: Situated Practice, Overt Instruction, Critical Framing und Transformed
Practice (vgl. Bach 2007: 28-29; Kalantzis/Cope 2000: 239; Küster 2009: 58-59; The New
London Group 2000: 30-31).
Situated Practice greift das lebensweltliche Vorwissen der Schüler bzw. die Available
Designs, ebenso wie ihre individuellen Bedürfnisse und Identitäten auf und regt sie unter
Rückgriff auf Expertenwissen zu implizitem Lernen an. Allerdings kann eine solche
„Immersion des Lernenden in Prozesse der Bedeutungsaushandlung“ (Bach 2007: 29) nicht
sicherstellen, dass die Schüler Bewusstsein und Kontrolle über das Gelernte erlangen. Um
dieses Ziel zu erreichen, ist eine weitere Dimension, die Overt Instruction, notwendig. Sie
umfasst die aktive Intervention des Lehrers, der Lernprozesse initiiert, begleitet sowie gezielt
lenkt und fokussiert, und vermittelt den Lernenden explizites Metawissen. Um zu
gewährleisten, dass die Schüler eine kritische Distanz gegenüber dem erworbenen Wissen
erlangen, ist es zudem notwendig, den Lernern im Rahmen des Critical Framings das bereits
erworbene Wissen wieder fremd werden zu lassen bzw. es auf andere soziale und kulturelle
5
Bach weist darauf hin, dass der Begriff Pädagogik bzw. pedagogy „im Konzept der New London Group weiter
gefasst [ist] als der deutsche Terminus Pädagogik. Er ist sowohl auf der Ebene der theoretischen Rahmung
angesiedelt [...] als auch auf der Ebene unterrichtsmethodischer Strukturierung von Literalität in multiplen
Kontexten“ (Bach 2007: 28).
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Kontexte zu übertragen und damit zu relativieren. Schließlich muss das transformierte Wissen
im Sinne einer reflektierten Praxis in neuen Kontexten angewandt und damit erfahrbar und
überprüfbar werden. Dieser Schritt wird als Transformed Practice bezeichnet (vgl. Bach
2007: 29; Kalantzis/Cope 2000: 244-248; Küster 2009: 58-59; The New London Group 2000:
31-36).
Die vier erläuterten Faktoren sind zirkulär bzw. spiralförmig angelegt und beeinflussen,
bedingen und/oder ergänzen sich gegenseitig. Auch ihre Gewichtung kann je nach Situation
unterschiedlich ausfallen (vgl. Bach 2007: 29; Kalantzis/Cope 2000: 239-240; Küster 2009:
59; The New London Group 2000: 32 u. 36-37). Insgesamt steht im Konzept der
Multiliteralität die „Aushandlung von Differenzerfahrungen im Vordergrund; sie bilden die
Basis für neue Lernprozesse, die im Kontext einer multiliteralen Pädagogik durchaus
schmerzhaft sein können“ (Bach 2007: 29).
2.1.3. Praxisbeispiele
Die New London Group selbst hat keine konkreten Modelle oder Beispiele für die
Unterrichtspraxis entwickelt. Stattdessen weisen die Autoren darauf hin, dass es sich um ein
offenes, unabgeschlossenes und vorläufiges „programmatisches Manifest“ handelt, das
kontinuierlich verändert und erweitert werden soll (vgl. Bach 2007: 30; Cope/Kalantzis
2000b: 8). Dementsprechend wurden im Anschluss an die Veröffentlichung des Konzepts
nicht nur weiterführende didaktisch-methodische Überlegungen dahingehend angestellt, wie
die Ziele und Prinzipien der Multiliteralität im schulischen Unterricht umgesetzt werden
können, sondern auch diverse Forschungs- und Unterrichtsprojekte entwickelt und
durchgeführt, allerdings meist im Bereich der Primarschule oder Erwachsenenbildung und in
englischsprachigen Ländern. Dagegen gibt es derzeit so gut wie keine Anregungen für die
Entwicklung multiliteraler Kompetenzen im schulischen Fremdsprachenunterricht (vgl.
Küster 2009: 60). Drei Praxisbeispiele werden im Folgenden exemplarisch skizziert.
Die Förderung multiliteraler Kompetenzen bei bilingualen und monolingualen Kindern im
Grundschulalter ist Ziel des EU-Projekts Multilingual Virtual Talking Books (kurz: MuViT).
Im Rahmen des Projektes wurde von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler aus den
Bereichen Fremdsprachendidaktik sowie Informations- und Kommunikationstechnik eine
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Software entwickelt, die computergestützte Bilderbücher in fünf Sprachen (Deutsch,
Englisch, Russisch, Spanisch und Türkisch), sogenannte Multilingual Virtual Talking Books,
umfasst. Die Kinder entscheiden sich zunächst, auf welcher Sprache sie eine Geschichte, in
der Bilder und Text miteinander kombiniert werden, lesen möchten, haben aber jederzeit die
Möglichkeit, zwischen den Sprachen zu wechseln. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit,
sich die Erzählungen anzuhören, wobei die Wörter parallel zum gesprochenen Text visuell
hervorgehoben werden, und im Anschluss an die Lektüre passende Aufgaben, ebenfalls in
fünf verschiedenen Sprachen, zu lösen. Ergänzt wird die MuViT Software durch ein Authoring
Tool, mit dessen Hilfe Lernende selbst geschriebene Geschichten in unterschiedlichen
Sprachen zusammen mit Bild- und Audiomaterial hochladen und anderen Nutzern zur
Verfügung stellen können. Die Software bietet Schülern, Lehrern und Eltern zudem ein Forum
(Web Community) zum Austausch über ihre Erfahrungen mit dem Produkt an. Berichte über
den Einsatz der Software in der Unterrichtspraxis liegen bisher noch nicht vor, da erste
Fortbildungsseminare für Lehrer erst vor kurzem begonnen haben. Allerdings wird davon
ausgegangen, dass die Arbeit mit der MuViT Software die Ausbildung von Multiliteralität bei
Grundschülern unterstützt, indem sie Neugierde auf (mehr)sprachliche und (mehr)kulturelle
Phänomene weckt, die Entwicklung von Sprachaufmerksamkeit bzw. -bewusstheit, Lese- und
Medienkompetenz, metasprachliche Kommunikation sowie den aktiven, kritischen Umgang
mit multimodalen Texten fördert und die Lernenden für sprachübergreifende Vergleiche
sensibilisiert (vgl. Elsner/Armbrust 2011; Goethe-Universität Frankfurt am Main o. J.; Hegen
2012).
Ein Beispiel dafür, wie Sprachunterricht 6 zur Entwicklung von Multiliteralität beitragen kann,
ist das Graphic Journeys Project, das an einer US-amerikanischen middle school mit 32
Schülern mit Migrationshintergrund durchgeführt wurde. Ziel dieses umfangreichen
Schreibprojekts war das Verfassen einer Graphic Journey, eine Art Migrationserzählung in
Comic-Form. Als Einstieg in das Projekt wurden den Schülern zunächst diverse Comics und
Graphic Novels zur Verfügung gestellt, die sie sowohl in der Schule als auch zu Hause je nach
Interesse lesen konnten. Die individuelle Lektüre der Texte bildete die Grundlage für die
anschließende systematische Auseinandersetzung mit gestalterischen und erzählerischen
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In diesem Fall handelt es sich um Englisch als Zweitsprache.
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Aspekten grafischer Literatur7 im Unterricht. Ergänzend wurden unterschiedliche Aktivitäten
(u. a. das Finden von Überschriften zu Comics, das Erstellen von Dialogen zu
Bildgeschichten) durchgeführt, um den Umgang mit multimodalen Texten zu schulen. Diese
und weitere Übungen wurden als Vorbereitung auf den eigentlichen Schreibprozess in
individuellen „Schreibtagebüchern“ (journals) gesammelt. Während mehrerer Reflexionsund Schreibphasen lernten die Schüler zudem Strategien zum Verfassen von Texten kennen
und verbesserten anhand eigener Texte gezielt sprachliche und grammatische Strukturen im
Englischen. Parallel zu diesen Tätigkeiten wurde im Unterricht die Graphic Novel American
Born Chinese gelesen und analysiert. Die dadurch gewonnenen Informationen sollten die
Schüler anschließend mit ihren eigenen Migrationsgeschichten in Verbindung bringen. Ein
weiterer Schritt bestand darin, dass die Schüler Recherchen über ihre Familiengeschichte
anstellten. Dazu sollten sie mithilfe selbst erstellter Interviewbögen Familienmitglieder
befragen und nach geeigneten Fotos suchen. Am Ende wurden sie aufgefordert, schrittweise
ihre eigenen multimodalen Geschichten zu verfassen. Bei Bedarf stand ihnen dafür eine
geeignete Software zur Verfügung. Der Schreibprozess wurde zudem in einzelne Phasen
(Planung, Verschriftlichung, Überarbeitung und abschließendes Redigieren) untergliedert und
von den Lehrkräften begleitet. Die Ergebnisse des Projekts, d. h. die Graphic Journeys,
wurden zusammen als Buch gebunden und den Eltern vorgestellt. Insgesamt lernten die
Schüler durch das Projekt den Umgang mit einer Vielzahl von Kommunikationsformen,
symbolischen Ausdrucksformen und multimodalen Texten, konnten ihre Englischkenntnisse
im Rahmen authentischer und kommunikativer Lernszenarien verbessern und sich über ihre
kulturelle Identität bzw. Herkunft bewusst werden und diese ausdrücken (vgl. Danzak 2011:
187 u. 190-195).
Zur Erforschung von Multiliteralität im Bereich der Erwachsenenbildung wurden in den
Jahren 2002 und 2003 diverse Studien am Englischen Seminar der Universität Hannover
durchgeführt. Im Zentrum des Forschungsinteresses stand die Frage, wie multiliterale
Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien, insbesondere mit dem Internet, durch gezielte
Reflexion und Anleitung in Form eines Befähigungsexperiments modelliert werden können.
Eine der Studien (Hauptstudie I) befasste sich mit dem Literacy Event ,Searching for
Information‘, das neben der Suche nach Informationen im Internet (Web Literacy) auch die
7
Diese Bezeichnung wird in der vorliegenden Arbeit als Sammelbegriff für Comics und Graphic Novels
verwendet.
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kritische Bewertung von Webseiten (Critical Literacy) einschließt. An der Studie nahmen elf
Studierende der Anglistik mit unterschiedlichen, jedoch überwiegend fortgeschrittenen
Englischkenntnissen teil. Zunächst wurde über einen Fragebogen und die Anfertigung eines
Laut-Denk-Protokolls während einer Internetrecherche das Ausgangsniveau der Studenten
hinsichtlich der Computer- und Internetkenntnisse festgestellt. Diese erste Erhebung ergab,
dass die Probanden trotz langjähriger Erfahrung im Umgang mit Computer und Internet sowie
häufiger Nutzung dieser Medien kaum über fundierte Kenntnisse verfügten sowie wenig
systematische und elaborierte Suchstrategien verwendeten. Auch die Bewertung von
Internetseiten erfolgte eher nach subjektiven als nach objektiven und kritischen Kriterien. Die
Probanden ließen sich bei der Beurteilung der Webseiten zudem stark von deren Gestaltung
beeinflussen und vernachlässigten häufig den Inhalt. Teilweise waren sie sich über ihre
Defizite bzw. möglichen Verbesserungspotenziale bewusst. Nach der Feststellung des
Ausgangsniveaus folgten eine Anleitung zu Recherchestrategien im Internet und zur
Evaluation von Webseiten, eine Einführung in das Erstellen einer Webseite mit
zielsprachenkulturspezifischen Inhalt (Erstellung eines Programms für eine Australienreise)
sowie Reflexionen über den Lerneffekt. Als Ergebnisse der anschließenden zweiten Erhebung
konnte festgestellt werden, dass die Studienteilnehmer durch das Befähigungsexperiment
einen Zuwachs an explizitem Wissen über das Internet verzeichneten sowie ihre
Suchmöglichkeiten und -strategien deutlich verbessern konnten. Des Weiteren zeigten sich
positive Auswirkungen auf die Bewertung von Webseiten, die nun deutlich kritischer und
bewusster ausfiel. Durch das Erstellen einer eigenen Internetseite als Alternative zu
klassischen Schreibaufgaben konnte zudem eine Verbesserung der fremdsprachlichen
Ausdrucksfähigkeit festgestellt werden. Die Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, dass
solche oder ähnliche Aufgaben, am besten in einer Kombination aus eigenständiger
Erprobung und Anleitung, geeignet sind, um im Sprachunterricht gezielt Web Literacy und
Critical Literacy zu entwickeln und zu fördern (vgl. Kupetz/Schneller 2005: 379-409).
Die Ausführungen zu den drei Forschungs- und Unterrichtsprojekten zeigen, wie groß die
Bandbreite der didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten ist, die sich aus dem Konzept der
Multiliteralität ergeben. Darüber hinaus wird deutlich, dass unterschiedliche
Schwerpunktsetzungen möglich sind, d. h. gezielt einzelne Aspekte der Multiliteralität
12
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
gefördert werden können, und dass die Entwicklung multiliteraler Kompetenzen meist in
komplexe, umfassende und vernetzte Lehr-Lernarrangements eingebettet ist.
2.1.4. Multiliteralität im Kontext des Fremdsprachenlernens und -lehrens
Die Beherrschung der eigenen, aber auch fremder Sprachen bildet die wichtigste Grundlage
für die Kommunikation mit anderen Menschen und ermöglicht die Ausbildung der
individuellen und kollektiven Identität. Sprache modelliert somit die kulturellen Praktiken
und lebensweltlichen Erfahrungen jedes Einzelnen und ist gleichzeitig in die soziale und
mediale Umgebung eingebettet. In ihr spiegelt sich daher auch der gesellschaftliche Wandel
der letzten Jahrzehnte wider. Einen der einschneidendsten Umbrüche, der direkte
Auswirkungen auf Sprache und Kommunikation hat, sieht Hallet im „shift vom Wort zum
Bild“ (Hallet 2008: 169), d. h. in der wachsenden Bedeutung visueller Darstellungsformen,
die sich teilweise mit anderen Medien und Modi überschneiden oder durch diese ergänzt
werden. Dies hat zur Folge, dass Sprache nur noch ein Medium der Bedeutungsaushandlung
ist, das durch weitere Symbolsysteme ergänzt werden muss. Darüber hinaus verschwimmen
die Grenzen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die Schriftsprache verliert an
Bedeutung und wird durch multimodale und multimediale Kommunikationsformen ersetzt,
die wiederum durch neue, sich schnell wandelnde Konventionen geprägt sind. Ferner hat die
Menge an Texten in allen lebensweltlichen Situationen zugenommen und Diskurse werden
zunehmend mehrsprachig geführt (vgl. Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 11; Hallet 2008:
169-174; Hallet 2010a: 68; Küster 2007: 42; Küster 2009: 60; Küster 2011: 139 u. 144).
Als Folge dieser Entwicklungen werden die Anforderungen an die Literalitätskompetenzen im
Allgemeinen bzw. an das Erlernen einer Fremdsprache im Besonderen umfangreicher und
komplexer:
„Die Fähigkeit der aktiven Teilhabe an fremdsprachigen Diskursen beruht heute nicht
mehr nur auf der Nutzung verbalsprachlicher Kommunikationsmittel. Vielmehr muss
auch der Fremdsprachenunterricht die Lernenden auf das Verstehen und auf das aktive
Erzeugen eines Zusammenspiels verschiedener Medien und Modi sowohl in einzelnen
Kommunikationsakten als auch in größeren Diskurszusammenhängen vorbereiten, wie
sie bei der Verhandlung wichtiger gesellschaftlicher Fragen entstehen.“ (Hallet 2010b:
29)
13
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Um diesen neuen Anforderungen hinreichend gerecht zu werden, muss im
Fremdsprachenunterricht der Textbegriff weiter gefasst, der flexible und vernetzende Umgang
mit Sprache gefördert, aber auch die Produktion unterschiedlicher modaler und medialer
Darstellungsformen bzw. Texte geschult werden. An die Stelle eines überwiegend
schriftsprachlich ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts tritt somit der Umgang mit
multimodalen Formen der Kommunikation, bei dem die vielfältigen Bedeutungsformen,
Konventionen und Codes von den Lernenden nicht nur erkannt, sondern auch miteinander in
Beziehung gesetzt bzw. vernetzt werden müssen. Hinzu kommt die Ausbildung weiterer
Kompetenzen, insbesondere der Mehrsprachigkeit, der Medienkompetenz und der visuellen
Kompetenz.8 All diese Aspekte werden im Konzept der Multiliteralität zu einer umfassenden,
flexiblen und vernetzenden Handlungsfähigkeit zusammengefasst (vgl. Anstey/Bull 2006:
20-33 u. 54-55; Bach 2007: 24; Cope/Kalantzis 2000b: 5-6; Hallet 2008: 170-174; Hallet
2010a: 67-69; Hallet 2010c: 130-131; Küster 2007: 42-45; Küster 2009: 56; Küster 2011:
139-140).
Darüber hinaus stellen die Ziele und Prinzipien der Multiliteralität die Outputorientierung des
Fremdsprachenunterrichts in Deutschland in Frage, welche die Gültigkeit von Lern- und
Bildungszielen auf das Kriterium der Überprüfbarkeit verengt und die Ebene der
Persönlichkeits- und Identitätsbildung vernachlässigt (vgl. Küster 2007: 45; Küster 2009:
59-60; Küster 2011: 144). Das Konzept der Multiliteralität bietet hier eine wesentliche
Erweiterung und Ergänzung, „insofern es sprachlich-funktionale und
persönlichkeitsbezogene, kognitive und affektiv-attitudinale Kompetenzaspekte in ihrer
wechselseitigen Verzahnung modelliert“ (Küster 2009: 60).
Insgesamt leistet Multiliteralität also einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung des
Fremdsprachenlernens und -lehrens. Um die Ziele und Prinzipien dieses pädagogischen
Konzepts im schulischen Fremdsprachenunterricht umsetzen zu können, sind allerdings
Lerngegenstände notwendig, die die Schüler motivieren und Ansatzpunkte für eine
tiefergehende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten der Multiliteralität bieten.
Dieses Potenzial findet sich u. a. in Graphic Novels, auf die im folgenden Kapitel näher
eingegangen wird.
8
Die visuelle Kompetenz wird im Kapitel 2.2.3. näher erläutert.
14
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
2.2. Graphic Novels
2.2.1. Merkmale und Entstehungsgeschichte
Graphic Novels 9 „sind eine relativ junge Gattung, die sich aus der populären Kunstform der
amerikanischen Comics entwickelt hat“10 (Hallet 2012a: 4). Die ersten modernen Comics, die
mithilfe einer Folge von mindestens zwei Bildern und meist in Kombination mit formal
integrierter Sprache eine Geschichte erzählen, entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie
wurden zunächst in Zeitungen als comic strips veröffentlicht und leisteten häufig einen
wichtigen Beitrag zur Leserbindung. Aufgrund der wachsenden Beliebtheit erschienen sie
bald als Nachdrucke in Form von Comicheften (engl. comic books). Diese erlangten
schließlich mit der Veröffentlichung von Joe Shusters Superman im Jahr 1938 einen
eigenständigen Status. Gleichzeitig wurden Geschichten von Superhelden zum beliebtesten
Comic-Genre, das in seiner Popularität nur in den 50er Jahren durch Verbrechens- und
Horrorcomics übertroffen wurde. Comics sprachen in erster Linie Kinder und Jugendliche
sowie männliche Leser an und genossen lange Zeit sowohl in den USA als auch in weiten
Teilen Europas ein sehr geringes Ansehen.11 So wurden ihnen u. a. ein negativer Einfluss auf
die Entwicklung von Kindern nachgesagt sowie eine Mitschuld an der Entstehung von
Jugendkriminalität gegeben (vgl. Fingeroth 2008: 4, 12-15 u. 24; Hallet 2012a: 2-4;
Hertrampf 2012: 1; Lünstedt o. J.; Schüwer 2005: 3-6; Schüwer 2008: 2-10; Wolk 2007: 3-4
u. 14).
Ab den 50er Jahren wurden erste, wenn auch wenig erfolgreiche Comics veröffentlicht, die
auf ein erwachsenes Publikum ausgerichtet waren und im Laufe der 60er Jahre entstand die
Bewegung der underground comix, welche die Grenzen des Mediums zu erweitern versuchte
sowie sich neuen, oftmals tabuisierten Themen widmete. Diesen Trend setzten die Vertreter
der ground-level comics anschließend in abgemilderter Form fort. All dies waren wichtige
Schritte auf dem Weg zur Entstehung der Graphic Novel, ein Begriff, der vermutlich 1964
erstmals von Richard Kyle verwendet wurde. Bekanntheit erlangte er allerdings erst durch die
9
Obwohl der Begriff „Graphic Novel“ noch nicht im deutschen Sprachgebrauch etabliert ist, wird er in der
vorliegenden Arbeit in Anlehnung an die Bezeichnung „Comic“ in eingedeutschter Schreibweise verwendet.
10 Hier und im Folgenden werden die Begriffe „Gattung“ bzw. „Medium“ gebraucht, um die formelle
Beschaffenheit von Graphic Novels und Comics zu unterstreichen, während mithilfe des Terminus „Genre“
deren mögliche thematisch-inhaltliche Ausrichtung beschrieben wird.
11 Eine Ausnahme bildet Frankreich, wo Comics schon länger als literarisch-künstlerische Ausdrucksform
geschätzt werden und als Neunte Kunst gelten. Auch Spanien kann auf eine lange Comic-Tradition
zurückblicken und „das Image des Comics [ist] weitaus besser als etwa in Deutschland“ (Hertrampf 2012: 1).
15
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Publikation von Will Eisners Werk A Contract with God im Jahr 1978. Eisner, der zu diesem
Zeitpunkt bereits ein bekannter Comic-Autor war, gebrauchte die Bezeichnung „Graphic
Novel“ bewusst im Untertitel zu seinem Buch, um potenzielle Verleger von der
Ernsthaftigkeit seines Werkes zu überzeugen und sich von den traditionellen Comics mit eher
trivialen Inhalten zu distanzieren bzw. abzuheben. Seitdem wird der Begriff im Allgemeinen
zur Charakterisierung von „anspruchsvollen“ Comics verwendet. Graphic Novels erfreuen
sich in den letzten Jahren auch in Deutschland zunehmender Popularität und konnten sich
spätestens seit Art Spiegelmans Auszeichnung für sein Werk Maus mit dem renommierten
Pulitzerpreis als Kunstform etablieren. Gleichzeitig hat auch das wissenschaftliche Interesse
an grafischer Literatur sowohl in der Kultur- und Literaturwissenschaft als auch in der
Fremdsprachendidaktik zugenommen (vgl. Fingeroth 2008: 3 u. 16-28; Hallet 2012a: 2-4;
Lünstedt o. J.; Monnin 2010: xvii; Schüwer 2005: 2-4; Schüwer 2008: Vorwort u. 4; Wolk
2007: 7-11).
Ebenso wie Comics bestehen Graphic Novels aus narrativen Bildsequenzen, in denen meist
visuelle und sprachliche Elemente miteinander verbunden werden. Zudem greifen sie die
Darstellungsstrategien des Films auf, ermöglichen im Gegensatz zu diesem Medium jedoch
ein Verweilen bei einzelnen Bildern sowie das Vor- und Zurückspringen zwischen diesen.
Darüber hinaus knüpfen Graphic Novels „an die Tradition der großen Erzählform des Romans
an“ (Hallet 2012a: 3). Eine maßgebliche Weiterentwicklung gegenüber der Kunstform der
Comics ist die Vermarktung von Graphic Novels: Sie werden vornehmlich in Buchform
veröffentlicht und über den Buchhandel verkauft. Damit stehen sie im klaren Gegensatz zu
Comics, die traditionell als Heft gebunden und meist ausschließlich über den
Zeitschriftenhandel vertrieben werden. Als Beispiel für die Vermarktungsstrategie von
Graphic Novels sei auf die SZ Bibliothek Graphic Novels 12 hingewiesen. Diese wurde Anfang
2011 als Kollektion von zehn Werken ausgezeichneter Autoren „in hochwertiger HardcoverAusstattung mit Lesebändchen“ (Süddeutsche Zeitung o. J.) auf den Markt gebracht und im
Frühjahr dieses Jahres durch weitere zehn Graphic Novels ergänzt (vgl. Fingeroth 2008: 3 u.
23; Hallet 2012a: 2-4; Süddeutsche Zeitung o. J.).
12
Diese umfasst u. a. Will Eisners Werk A Contract with God (dt. Ein Vertrag mit Gott) und Shaun Tans The
Arrival (dt. Ein neues Land).
16
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Neben neuen Printformaten und Vertriebswegen unterscheiden sich Graphic Novels auch
inhaltlich von Comics und deren traditionellen „Superhelden-Image“, indem sie sich, unter
Rückgriff auf die gesamte Bandbreite an literarischen Genres, einer Vielzahl ernsthafter,
bildungsrelevanter und komplexer Themen widmen, die häufig von gesellschaftlicher
Bedeutung sind. Oftmals sind Graphic Novels auch autobiografisch inspiriert. Des Weiteren
zeichnen sie sich durch ein „komplexes Handlungsgefüge“ (Hallet 2012a: 4) aus, bedienen
sich „metaphorische[r] und symbolische[r] Darstellungsweisen“ (Hallet 2012a: 4), stellen
intertextuelle Verbindungen her und bieten dem Leser Einblicke in die Gefühls- und
Gedankenwelt der handelnden Personen sowie detailreiche Landschaftsbeschreibungen.
Schließlich haben Graphic Novels oftmals einen hohen künstlerischen Anspruch und
experimentieren „mit den ästhetischen Möglichkeiten des Mediums“ (Süddeutsche o. J.).
Insgesamt erreichen sie somit ein wesentlich breiteres, erwachseneres und anspruchsvolleres
Lesepublikum als Comics (vgl. Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 137-138; Fingeroth 2008: 3-6,
20 u. 23; Hallet 2012a: 2-4; Lünstedt o. J.; Süddeutsche Zeitung o. J.; Wolk 2007: 27-28).
Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von Graphic Novels ist der Verzicht auf Serialität.
Während Comics fast immer als Fortsetzungsgeschichten konzipiert sind, werden Graphic
Novels, selbst wenn sie zunächst in mehreren Teilen veröffentlicht wurden, als ein
zusammenhängendes Gesamtwerk wahrgenommen. Damit wird ihre Einzigartigkeit und
Originalität unterstrichen. Gleichzeitig kann der Leser keine Lese- und Sehgewohnheiten
entwickeln oder sich auf Wiedererkennungseffekte, z. B. im Hinblick auf bestimmte Figuren
oder den Erzähl- und Zeichenstil, stützen, was u. a. zu einer „Entschleunigung“ des Sehens
führen kann (vgl. Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 137-138; Fingeroth 2008: 6-7; Wolk 2007:
27-28).
Trotz ihrer gestiegenen Popularität existiert bisher keine einheitliche Definition von Graphic
Novels und „die Bandbreite dessen, was unter diesem Gattungsbegriff geführt wird,“ (Hallet
2012a: 4) ist groß. Darüber hinaus finden sich in der Fachliteratur diverse alternative
Bezeichnungen, wie z. B. „Comic-Roman“, „Graphic narrative“ oder „sequential art“, und es
wird immer wieder in Frage gestellt, ob Graphic Novels und Comics jeweils als eigenständige
Gattung gelten können. Häufig werden daher die Begriffe „Comic“ und „Graphic Novel“
synonym gebraucht. Douglas Wolk weist zudem darauf hin, dass der Begriff „novel“ insofern
17
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
irreführend ist, als dass er andere Erzählformen als den Roman, wie z. B. Kurzgeschichten 13
oder nichtfiktionale Erzählungen, als Graphic Novels ausschließt. Außerdem kritisiert er, dass
die begriffliche Unterscheidung von Comics und Graphic Novels oftmals mit deren
unberechtigten Zuordnung zur Populärkultur bzw. zur gehobenen Kultur einhergeht (vgl.
Fingeroth 2008: 3-5; Hallet 2012a: 4; Hertrampf 2012: 3; Lünstedt k. A; Wolk 2007: 60-64).
Auch wenn anhand der Ausführungen deutlich wird, dass in der Fachliteratur hinsichtlich der
Verwendung des Begriffs „Graphic Novel“ und seiner Abgrenzung gegenüber Comics
Uneinigkeit besteht, werden Graphic Novels in der vorliegenden Arbeit als eigenständige
literarische Gattung gesehen, u. a., weil sich diese Ansicht zunehmend in der
Fremdsprachendidaktik durchzusetzen scheint. Als Arbeitsgrundlage für die spätere Analyse
dient, neben den oben genannten Merkmalen, Hallets Definition, der unter einer Graphic
Novel „eine fiktionale, romanartige Langerzählung [versteht], die sich der Darstellungsweise
der Comics bedient“ (Hallet 2012a: 4). Dabei wird seine Betrachtungsweise von Graphic
Novels als „romanartige Langerzählung“ in der vorliegenden Arbeit im Sinne ihrer
inhaltlichen und thematischen Komplexität aufgefasst und nicht davon ausgegangen, dass ein
Werk dieser Gattung notwendigerweise wie ein Roman gestaltet sein muss.
2.2.2. Lese-Sehverstehen 14
Die Lektüre von Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht stellt hohe Anforderungen an
das Lese-Sehverstehen. Schwierigkeiten kann dabei u. a. die fremde Sprache, insbesondere
jedoch die Kombination unterschiedlicher Symbolsysteme bereiten (vgl. Hallet 2012a: 3-4).
Um den Formenreichtum und die Komplexität von Graphic Novels sowie die damit
einhergehenden hohen Anforderungen an die Rezeptionsleistung beim Lesen zu
verdeutlichen, sollen im Folgenden einige spezifische Erzählkonventionen und gestalterische
Mittel dieser literarischen Gattung skizziert werden.
13
Selbst bei Will Eisners Werk A Contract with God, das gemeinhin als erste Graphic Novel gilt, handelt es sich
streng genommen nicht um einen Roman, „sondern um eine lose durch die Örtlichkeit (ein Mietshaus in New
York) zusammenhängende Sammlung von vier Kurzgeschichten“ (Lünstedt k. A).
14 Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen Graphic Novels und Comics wird in der Fachliteratur häufig auf die
theoretischen Überlegungen zur Analyse und Interpretation von Comics zurückgegriffen und die entsprechende
Terminologie übernommen. Ebenso wird in diesem und den folgenden Kapiteln der Arbeit verfahren.
18
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Zentraler Bestandteil von Graphic Novels sind die sogenannten panels, d. h. „die in sich
geschlossenen visuellen Einheiten [...], die Bild und/oder Texte enthalten und mithilfe dieser
Mittel die Geschichte erzählen“ (Kimes-Link/Steininger 2012: 14). Sie werden jeweils von
einem frame umrahmt. Im Allgemeinen wird zwischen content panels und story panels
unterschieden. Content panels können die Geschichte nur mit Hilfe von Worten (word panel),
ausschließlich über Bilder (image panel) oder im Zusammenspiel von Bild und Text (word
and image panel) erzählen. Story panels entwickeln die Erzählung u. a. hinsichtlich der
Handlung, der Figuren und des Settings sowie durch den Einsatz von Symbolen. Der Raum
zwischen zwei panels wird als gutter bezeichnet. Gutters sind für das Verstehen einer Graphic
Novel von fundamentaler Bedeutung, da sie als Übergänge (transitions) zwischen mehreren
panels die Handlung vorantreiben und eine Leerstelle darstellen, die vom Leser interpretativ
gefüllt werden muss, um die panels in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Das
Ausfüllen der Leerstellen (engl. closure) ist kaum problematisch, wenn beispielsweise eine
einzelne, in verschiedene Teilschritte zerlegte Handlung durch eine Reihe von panels
dargestellt wird (moment-to-moment gutter) oder eine einzelne Person über mehrere panels
hinweg verschiedene Handlungen ausführt (action-to-action gutter). Hier sind „die
dargestellten Handlungen in ihrem Verlauf vorhersehbar“ (Kimes-Link/Steininger 2012: 14).
Wird dagegen durch mehrere panels eine einzelne Szene abgebildet, in der unterschiedliche
Personen oder Objekte aus verschiedenen Perspektiven fokussiert werden (subject-to-subject
gutter), der Blick des Lesers auf unterschiedliche Aspekte einer Szene gelenkt (aspect-toaspect gutters) oder die Handlung durch größere zeitliche und räumliche Sprünge abrupt
beschleunigt (scene-to-scene gutter), sind die Anforderungen an die Interpretationsleistung
seitens des Lesers wesentlich höher. Gleiches gilt für die non-sequitur gutters, die keinen
logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen panels erkennen lassen und diverse
Funktionen erfüllen können. Der Abstand zwischen den panels und die Wahl des gutters
bestimmen zudem die Lesegeschwindigkeit. So vermittelt z. B. eine Reihe von panels, die
dicht aufeinander folgen und im engen inhaltlichen Zusammenhang stehen, Bewegung und
Geschwindigkeit, während ein einzelnes Bild den Leser zum Verweilen, Betrachten der
Details und/oder zum Nachdenken über die bisherige Handlung einlädt (vgl. Frey/Fisher
2010: 12-13; Jacobs 2007: 21; Kimes-Link/Steininger 2012: 14-15; Monnin 2010: 2-8;
Schüwer 2008: 10, 273-275 u. 483; Wolk 2007: 131).
19
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Eva-Vera Wirthmann
Die Abfolge von panels und gutters bildet zusammengenommen das Gesamtlayout einer
Seite, das auch als tableau bezeichnet wird und „dem Leser das, was sonst als lineares
zeitliches Nacheinander rezipiert wird, in simultaner Blockhaftigkeit“ (Schüwer 2008: 483)
aufzeigt. In der klassischen Anordnung (9-panel-grid) bestehen die Seiten einer Graphic
Novel aus drei Zeilen mit jeweils drei panels, die, entsprechend der normalen Leserichtung,
von links nach rechts und von oben nach unten gelesen werden. Es gibt aber auch eine Reihe
weiterer Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des Seitenaufbaus. Beispielsweise können um
ein zentrales panel in der Mitte der Seite weitere panels gruppiert werden, die im
Uhrzeigersinn gelesen werden müssen. Zudem gibt es sogenannte splash pages, das sind
Bilder, die eine ganze Seite füllen oder deutlich größer sind als die anderen panels der Seite
zusammen. Sie können zu Beginn einer Geschichte als Titelseite oder zur Veranschaulichung
eines zentralen Ereignisses der Erzählung eingesetzt werden (vgl. Frey/Fisher 2010: 10-12;
Jacobs 2007: 21; Kimes-Link/Steininger 2012: 14-15; Monnin 2010: 2-8; Panknin/Wieland
2012: 17; Schüwer 2008: 10, 273-275 u. 483; Wolk 2007: 131).
Wird eine Graphic Novel im Fremdsprachenunterricht behandelt, muss zunächst der
fremdsprachliche Worttext 15 innerhalb jedes panels gelesen, verstanden und mit denen der
anderen panels in Verbindung gebracht werden. Gleiches gilt für die Ebene der visuellen
Darstellungen, auf der einzelne Objekte, nonverbale Informationen, Formen und Farben, der
Schrift- und Zeichenstil, verschiedene Arten von Sprechblasen (word balloon, thought ballon,
dialogue ballon etc.), Soundeffekt-Zeichen, Bewegungslinien, diverse Symbole und weitere
Elemente, die für die grafische Literatur typisch sind und deren Atmosphäre prägen, erfasst
und entschlüsselt werden müssen. Anschließend wird die panel-Sequenz durch die
interpretative Füllung der gutters und die Anordnung der panels auf der Seite erkannt (vgl.
Hallet 2012a: 4-5; Jacobs 2007: 21; Monnin 2010: 9-12; Panknin/Wieland 2012: 17; Schäfers
2012: 24).
Nach der Dekodierung der Text- und Bildebene müssen die sprachlichen und visuellen
Informationen schließlich zusammengeführt werden, um den Gesamttext zu rekonstruieren
und somit die Handlung zu erschließen. Die Interaktion der beiden Ebenen kann dabei sehr
unterschiedlich gestaltet sein. So können Wort und Bild beispielsweise kaum eine Verbindung
aufweisen (parallel combination), eng miteinander verzahnt und voneinander abhängig sein
15
Dieser befindet sich in den captions (Textkästen) und/oder in den Sprechblasen.
20
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(interdependent combination) oder sich gegenseitig ergänzen (additive combination). Möglich
ist auch, dass die Erzählung im Wesentlichen über die Worte bzw. Bilder entwickelt wird und
die andere Ebene eine untergeordnete Rolle spielt (picture-specific combination bzw. wordspecific combination), dass der Inhalt durch beide Ebenen vermittelt wird, obwohl eine für
sich genommen ausreichen würde (duo-specific combination), oder dass sich Text und Bild
widersprechen. Einen Sonderfall stellen Graphic Novels ohne Text dar16 (vgl. Hallet 2012a: 5;
Schäfers 2012: 24; Schüwer 2008: 451-454).
Als Ergänzung zur Lektüre einer Graphic Novel im Fremdsprachenunterricht muss schließlich
deren zentrales Thema mithilfe weiterer Texte und Informationen vertieft und in den
historischen und kulturellen Kontext eingeordnet werden (vgl. Hallet 2012a: 5).
2.2.3. Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht
Wie bereits erwähnt, hat parallel zur gestiegenen Beliebtheit bei den Lesern auch das Interesse
der Fremdsprachendidaktik an Graphic Novels in den letzten Jahren zugenommen. Dies kann
u. a. auf eine insgesamt „mildere“ Einstellung gegenüber populärkulturellen Erzeugnissen
zurückgeführt werden, die lange Zeit als minderwertig galten, mittlerweile jedoch als ein Teil
der Zielkultur gesehen werden, „der Denken, Handeln und Kommunizieren der Menschen [...]
stark beeinflusst und formt“ (Volkmann 2010: 241). Zunehmend befasst sich die
Fremdsprachendidaktik daher mit neuen Gattungen, Textsorten und Medien, u. a. auch mit
Comics und Graphic Novels (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010: 256; Schüwer 2005: 2;
Volkmann 2010: 241-242).
Einen Vorteil bei der Arbeit mit Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht erhofft man sich
durch das hohe Motivationspotenzial dieser Gattung, die besonders auch männliche
Jugendliche und „Lesemuffel“ anspricht und zum Lesen animiert. Des Weiteren sprechen
Graphic Novels mehrere Sinne und damit unterschiedliche Lerntypen an. Durch den
reduzierten Anteil an verbalsprachlichen Texten, die Möglichkeit, das Lesetempo selber zu
bestimmen, und den Rückgriff auf visuelle Kontextinformationen, können zudem
Verstehensprobleme verringert und die Rezeptionsfähigkeit erhöht werden. Damit erleichtern
Graphic Novels Lernenden aller Alters- und Niveaustufen den Zugang zu inhaltlich
16
Der Effekt, den der Verzicht auf Schriftsprache in einer Graphic Novel erzielt, wird im Rahmen der Analyse
von The Arrival (Kapitel 3.3.2.) näher erläutert.
21
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anspruchsvollen und komplexen Texten und ermöglichen ihnen „schon früh die Begegnung
mit einer originären fremdsprachigen Kunst- und kulturellen Ausdrucksform“ (Hallet 2012a:
3). Graphic Novels können aber auch gezielt genutzt werden, um bereits erworbene
Kompetenzen aufzugreifen, anzuwenden und/oder zu erweitern. So bieten sie den Schülern
beispielsweise Einblicke in die fremdsprachige Kultur und können gezielt zur Förderung von
(inter)kulturellem Lernen eingesetzt werden. Auch das Wissen über die Beschaffenheit von
Erzählungen und deren Erschließung mithilfe von Verstehensstrategien (narrative Kompetenz)
können entwickelt und damit die Lektüre von Romanen oder anderen Langerzählungen
vorbereitet werden. Graphic Novels leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Leseerziehung
bzw. zum Aufbau von Leseinteresse. Da sie häufig auf gestalterische Mittel von Filmen
zurückgreifen, liegt ein weiteres Potenzial in der gezielten Anwendung, Anbahnung und
Weiterentwicklung von Filmverstehenskompetenzen. Ferner kann durch Graphic Novels die
Entwicklung von Medienkompetenz gefördert werden, z. B. indem die unterschiedlichen
emotionalen Wirkungsweisen der visuellen und sprachlichen Ebene thematisiert werden (vgl.
Grünewald/Küster 2009: 160; Hallet 2012a: 3-7; Hecke 2010a: 21; Lütge 2011: 8; Schüwer
2005: 4-5; Schwarz 2002: 262-263; Schwarz 2006: 58-59; Volkmann 2010: 241-243).
Ein besonderes didaktisches Potenzial von Graphic Novels liegt schließlich in der Förderung
der Sehverstehenskompetenz bzw. der visuellen Kompetenz (engl. visual literacy). Visuelle
Medien, insbesondere Bilder, übernehmen im Fremdsprachenunterricht traditionell eine
instrumentale Funktion und dienen in erster Linie der Unterstützung des Sprachlernprozesses.
Dabei werden die „durch visuelle Texte vermittelten Inhalte sowie die kommunikative und
kulturelle Leistung von Bildern [...] so gut wie nicht thematisiert; sie sind kein expliziter
Gegenstand des Unterrichts und Lernens“ (Hallet: 2010b: 39). Gleichzeitig wird in der Regel
davon ausgegangen, dass Bilder von den Lernenden allein mithilfe ihrer im alltäglichen Leben
entwickelten Sehgewohnheiten erfasst und intuitiv richtig verstanden werden. Seit Ende der
80er Jahre ist jedoch das Bewusstsein dafür gestiegen, dass Sehen gezielt erlernt werden
muss, um ein umfassendes Bildverstehen sicherzustellen. Dies wird vor dem Hintergrund
einer zunehmenden Visualisierung des alltäglichen Lebens umso wichtiger, als diese
Entwicklung die Gefahr birgt, dass zwischen „jene[n], die bewusst die Neuen Medien in
Beruf und Freizeit zur Erweiterung ihrer Kompetenzen nutzen können und jene[n] weniger
Gebildeten, die vom Medienangebot überschwemmt und in immer größere Passivität gedrängt
22
Masterarbeit
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werden“ (Küster 2003: 212), eine Kluft entsteht. Überdies sind die Möglichkeit der
Fehlkommunikation und das Risiko des Missbrauchs von Bildern nicht zu unterschätzen. Um
solche und ähnliche Probleme zu verhindern, kommt der Schule im Rahmen der
Medienerziehung auch die Aufgabe zu, die Ausbildung der visuellen Kompetenz zu fördern.
Diese umfasst die Entwicklung von Dekodierungs- und Verstehensstrategien, die ein
tiefergehendes und kritisches Verständnis der formalen Gestaltung und Verwendung von
visuellen Medien ermöglichen, aber auch den produktiven Umgang mit diesen schulen. Damit
sollen die Schüler zugleich dafür sensibilisiert werden, dass Bilder ein hohes Manipulationsbzw. Täuschungspotenzial besitzen, u. a. weil sie häufig als Abbild der Wirklichkeit statt als
individuelle Interpretationen der Realität verstanden werden. Des Weiteren schließt visual
literacy die ästhetische Wertschätzung des Mediums sowie das Wissen um kulturelle
Sehgewohnheiten, die Kulturspezifik von Bildern und deren bewussten Einsatz, u. a. in der
Werbung, ein. Visual literacy ist damit Bestandteil einer umfassenden interkulturellen
kommunikativen Kompetenz, die im fremdsprachlichen Unterricht entwickelt werden muss.
Graphic Novels bieten in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, im Rahmen eines
handlungsorientierten und kreativen Einsatzes im Fremdsprachenunterricht Lernende an die
bewusste Bildwahrnehmung und -bewertung heranzuführen bzw. die dazu notwendigen
Fähigkeiten und Fertigkeiten gezielt auszubilden (vgl. Hallet 2010b: 31-41; Hallet 2012a: 7;
Hecke 2010a: 19-20; Hecke 2010b: 325-326; Hecke/Surkamp 2010b: 13-19; Küster 2003:
212-219; Lütge 2011: 6-8; Reinfried 2010: 277-279).
Insgesamt können Graphic Novels in allen Jahrgangsstufen und auf vielfältige Art und Weise
eingesetzt werden, z. B. als eigenständige Lektüre, als Kommunikationsimpuls oder als
Ergänzung zu anderen Texten. Im Hinblick auf mögliche Aufgabenformate bzw. -typen
unterscheidet Hallet zwischen leseunterstützenden Aufgaben (z. B. in Form von
Lesetagebücher), Plot-Rekonstruktionsaufgaben zum Erfassen der Handlungsverläufe und
kausalen Zusammenhänge (z. B. mithilfe eines Bild-Puzzles) sowie story-orientierten
Aufgaben, anhand derer die einzelnen Bestandteile der Erzählung, u. a. die Figuren,
Schauplätze und Erzähleinheiten, identifiziert und rekonstruiert werden sollen. Hinzu
kommen Aufgaben, mit deren Hilfe eine Graphic Novel inhaltlich und thematisch
durchdrungen wird, narrative Discourse-Aufgaben, in denen die Erzählweise von Graphic
Novels im Vordergrund steht, aufmerksamkeitslenkende Aufgaben, die auf eine vertiefende
23
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Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten zielen, und produktionsorientierte Aufgaben als
Ergebnis der Auseinandersetzung mit einem Text, zu denen z. B. das Füllen von Leerstellen,
das Umgestalten von Graphic Novels zu narrativen und deskriptiven Textsorten oder das
Nachspielen einzelner Szenen gehört. Zudem bieten sich Graphic Novels zur gezielten
Spracharbeit an, indem beispielsweise bestimmte grammatische Strukturen im situativen
Kontext erarbeitet oder unterschiedliche sprachliche Register und umgangssprachliche
Wendungen thematisiert werden. Bei all diesen Aktivitäten können immer wieder die
Mehrdeutigkeiten und unterschiedlichen Lesarten dieser Textsorte reflektiert werden. Wichtig
ist allerdings, sich bei der Lektüre von Graphic Novels nicht auf einen rein analytischen
Zugang zu beschränken. Stattdessen sollte „dem natürlichen Leseinteresse Raum gegeben
werden, das zunächst auf das Was gerichtet ist“ (Hallet 2012a: 5), um somit das ästhetische
Lesevergnügen zu fördern sowie affektiv-emotionale Zugänge zu literarischen Texten zu
ermöglichen (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010: 256; Grünewald/Küster 2009: 160-161; Hallet
2012a: 7-8; Schüwer 2005: 5-6; Volkmann 2010: 243).
2.2.4. Graphic Novels im Kontext der Multiliteralität
Die Ausführungen zum Prozess des Lese- und Sehverstehens bei Graphic Novels haben
gezeigt, dass die Erschließung dieser literarischen Gattung ein multiliteraler, ganzheitlicher
Verstehensakt ist, bei dem unterschiedliche Kenntnisse und Fähigkeiten bzw. literacies
gleichzeitig aktiviert und synthetisiert werden müssen, um über die Verknüpfung der
verschiedenen Darstellungsmodi die Erzählung in ihrer Gesamtbedeutung erfassen zu können.
Graphic Novels sind daher keineswegs als „minderwertige“ und vereinfachte literarische
Texte zu sehen, die lediglich die Lektüre „hochwertiger“, auf Schriftsprache basierender
Literatur vorbereiten (vgl. Hallet 2012a: 4 u. 7; Jacobs 2007: 19-21). Vielmehr können die
„Lektüre und der Umgang mit graphic novels [...] als paradigmatisches Beispiel für den
Erwerb einer multiliteralen Diskurskompetenz verstanden werden, die heute das Ziel jeden
Fremdsprachenunterrichts sein muss“ (Hallet 2012a: 7).
Mithilfe von Graphic Novels können alle traditionellen Aspekte von Literalität gefördert
werden. Über diese hautsächlich sprachlich bzw. wortbasierte literacy hinaus, spielen bei der
Lektüre von Graphic Novels allerdings weitere Literalitätskomponenten bzw. Design
24
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Elements eine Rolle, die im Konzept der Multiliteralität Teil des Prozesses der Strukturierung
und Transformation von Wissen sind. An visuellen Informationen enthalten Graphic Novels,
wie bereits erwähnt, u. a. Formen und Farben, den Schrift- und Zeichenstil, verschiedene
Arten von Sprechblasen sowie diverse Zeichen und Symbole. Hinzu kommen die gewählte
Perspektive sowie der Gebrauch von Linien, Licht und Schatten. Häufig geben die visuellen
Elemente in Graphic Novels, allen voran die Schriftart, Satzzeichen und Hervorhebungen,
dem Leser Auskunft über den Klang, den Tonfall sowie die emotionale Färbung der Stimme
einer Figur und vermitteln somit auch auditive Eindrücke. Ergänzt werden diese
Informationen durch mimisch-gestische Elemente, wie z. B. der Gesichtsausdrücke und die
Körperhaltung einzelner Figuren, sowie durch räumliche Komponenten, zu denen die
strukturelle Anordnung der panels und gutters untereinander und im tableau zählen.
Zusammengenommen bilden all diese Elemente ein multimodales System der
Bedeutungsaushandlung, das konstitutiv für grafische Literatur ist. Damit ist die Lektüre von
Graphic Novels wesentlich komplexer und umfangreicher als die literarischer Werke, die
ausschließlich aus schriftlichen Texten bestehen (vgl. Hallet 2012a: 5; Jacobs: 21-24; Schwarz
2002: 262-263; Schwarz 2006: 58-61).
Des Weiteren greifen Graphic Novels aufgrund ihrer multimodalen Beschaffenheit nicht nur
die medialen Erfahrungen und Gewohnheiten aus der Lebenswelt der Schüler auf, sondern
„modellieren [auch] die kommunikativen und semiotischen Anforderungen lebensweltlicher
[...] Kommunikation und Signifikation“ (Hallet 2011: 16), die sich u. a. durch die
zunehmende Kombination verschiedener Symbolsysteme und wachsende Visualisierung
auszeichnen. Die Vielzahl an Stimmen, die in den meisten Graphic Novels angelegt sind,
sowie die häufig anzutreffende interpretatorische Offenheit und kulturelle Hybridität der
Gattung fördern zudem das kritische, multiperspektivische Denken, ein Aspekt, der bei der
Ausformung multiliteraler Kompetenzen eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Hallet 2011:
10-16; Hallet 2012a: 6; Schwarz 2002: 264; Schwarz 2006: 62; The New London Group
2000: 28-30).
Schließlich ist die stetig wachsende Beliebtheit von Graphic Novels ein Ausdruck der soziokulturellen Entwicklungen, wie sie im Rahmen der Erläuterungen zum Konzept der
Multiliteralität erörtert wurden. Hallet beispielsweise erklärt den Erfolg dieser literarischen
Gattung mit der „allgemeine[n] Visualisierung und Mediatisierung aller Kommunikation
25
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
sowie des Erzählens“ (Hallet 2012a: 2). Monnin sieht sogar eine direkte Verbindung zwischen
den Ereignissen vom 11. September 2001 und der Popularität von Graphic Novels, deren
Verkaufszahlen nach diesem einschneidenden historischen Ereignis in den USA sprunghaft
anstiegen. Insgesamt sind Graphic Novels im Kontext der Multiliteralität also insofern von
Bedeutung, als dass sie ein geeignetes Ausdrucksmittel für „die schwer durchschaubaren
gesellschaftlichen Prozesse [...], einschneidenden historischen Erfahrungen [...], kulturellen
Entwicklungen [...] und vor allem auch technologischen Revolutionen [...]“ (Hallet 2012a: 3)
der postmodernen Gesellschaft zu sein scheinen, indem sie lebensweltliche Erfahrungen in
den schulischen Fremdsprachenunterricht einbringen und damit für die Lernenden erfahrbar
machen (vgl. Hallet 2012a: 2-3; Monnin 2010: xviii; Schüwer 2008: 507-508).
Wie Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden können, um ausgewählte
Aspekte der Multiliteralität zu fördern, soll im folgenden Kapitel näher untersucht werden.
3. Analyse ausgewählter Graphic Novels
3.1. Auswahl des Textkorpus
Bei der Auswahl der Graphic Novels, die im Folgenden analysiert werden, stand das Interesse
an einer möglichst umfangreichen Erfassung der inhaltlichen und gestalterischen Bandbreite
dieser literarischen Gattung im Vordergrund, um somit verschiedene Möglichkeiten für deren
Einsatz im Fremdsprachenunterricht, insbesondere im Fach Spanisch, aufzeigen zu können.
Daher wurden drei deutlich unterschiedliche Texte von einem englischsprachigen (Shaun Tan)
und zwei spanischsprachigen Autoren (Paco Roca und Miguel Gallardo) ausgewählt, die
bereits seit längerem als Schriftsteller und/oder Zeichner international erfolgreich sind. Paco
Roca begann als Zeichner in der Werbebranche und hat seit Ende der 90er Jahre diverse
Comics und Graphic Novels veröffentlicht. Eines seiner erfolgreichsten Werke ist Arrugas, in
dem der Verlauf einer Alzheimerkrankheit dokumentiert wird. Für diese Graphic Novel sowie
für deren erfolgreiche Verfilmung erhielt der Autor diverse Auszeichnungen und Preise (vgl.
Hertrampf 2012: 4-5). Auch der australische Autor Shaun Tan hat bereits mehrere
Bilderbücher und Graphic Novels herausgebracht, darunter The Red Tree und Tales from
Outer Suburbia. Für die Verfilmung seiner Erzählung The Lost Thing wurde er 2011 mit
einem Oscar ausgezeichnet und erhielt für sein Gesamtwerk im gleichen Jahr den
26
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
renommierten Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA). Miguel Gallardo hat sich u. a. als
Illustrator für die spanische und internationale Presse einen Namen gemacht. Seine
bekannteste Graphic Novel neben María y yo ist Un largo silencio, eine Geschichte, in der er
die Erinnerungen seines Vaters an die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs verarbeitet (vgl.
Hertrampf 2012: 3-4).
In der folgenden Analyse werden die Werke The Arrival (2006) von Shaun Tan17 sowie El
Faro (2004) von Paco Roca und María y yo (2007) von Miguel Gallardo untersucht. 18
Während El Faro eine eher klassische Graphic Novel ist, überschreiten The Arrival und
María y yo die Gattungsgrenzen in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Maße.
Gemeinsam ist allen drei Texten, dass sie sich jeweils mit „anspruchsvollen“ Themen, d. h.
mit Migration, Autismus und dem Spanischen Bürgerkrieg, auseinandersetzen. Neben dem
Kriterium, ein möglichst breites Spektrum der Gattung in die Analyse einzubeziehen, spielten
Überlegungen hinsichtlich der Eignung der Graphic Novels für den Fremdsprachenunterricht
eine zentrale Rolle bei der Auswahl des Textkorpus. So wurde versucht Werke zu finden, die
Überschneidungen mit den inhaltlichen bzw. thematischen Vorgaben des Berliner
Rahmenlehrplans für das Fach Spanisch aufweisen oder Themen von allgemeiner Relevanz
ansprechen, deren Behandlung auch im Rahmen dieses Faches oder anderer
fremdsprachlicher Fächer möglich ist. Gleichzeitig wurde auf eine inhaltliche und
gestalterische Offenheit der Graphic Novels geachtet, um die Ausbildung möglichst vieler
multiliteraler Kompetenzen zu ermöglichen. Darüber hinaus sollten die Werke nicht zu lang
oder so beschaffen sein, dass sie bei Bedarf auch in Ausschnitten behandelt werden können.
Ferner wurde versucht Graphic Novels zu wählen, die nicht zu viel und zu anspruchsvollen
fremdsprachlichen Text enthalten, um eine Überforderung der Schüler zu vermeiden.
3.2. Vorgehensweise
Anhand der gewählten Graphic Novels wird exemplarisch untersucht, wie ausgewählte
Aspekte der Multiliteralität im Fremdsprachenunterricht, insbesondere im Spanischunterricht,
gefördert werden können. Zu Beginn findet eine Analyse des Inhalts, Aufbaus und Stils der
17
Da es sich um eine wortlose Graphic Novel handelt, kann sie nicht nur im Englischunterricht, sondern auch in
anderen fremdsprachlichen Fächern eingesetzt werden.
18 In Klammern ist jeweils das Jahr der Erstausgabe angegeben.
27
Masterarbeit
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jeweiligen Graphic Novel statt, gefolgt von einer kurze Einordnung in die Gattung und
Erläuterungen zu den Anforderungen an das Lese-Sehverstehen. Im Anschluss werden die
didaktischen Potenziale für den Einsatz der Graphic Novels im Unterricht anhand möglicher
Unterrichtsideen bzw. Lehr-Lernarrangements skizziert, wenn möglich für unterschiedliche
Niveau- und Altersstufen. Dabei sollen in jeder Graphic Novel andere Schwerpunkte gesetzt
bzw. verschiedene Aspekte der Multiliteralität fokussiert werden. Als Grundlage für die
Entwicklung der Unterrichtsideen dienen die methodischen Leitlinien der New London
Group, d. h. die vier interdependenten Faktoren bzw. Dimensionen Situated Practice, Overt
Instruction, Critical Framing und Transformed Practice. Des Weiteren wird auf Anregungen
aus der Fachliteratur zum Einsatz von grafischer Literatur im Fremdsprachenunterricht
zurückgegriffen.19
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Vorschläge nicht als in sich geschlossene
Unterrichtseinheiten gedacht sind und in der jeweiligen konkreten Lehr-Lernsituation
angepasst, präzisiert und/oder erweitert werden müssen. Die Analyse erhebt zudem keinen
Anspruch auf Vollständigkeit. Sie ist vielmehr exemplarisch gedacht und soll erste
Schlussfolgerungen hinsichtlich der Frage ermöglichen, wie ausgewählte Aspekte der
Multiliteralität mithilfe von Graphic Novels gefördert werden können.
3.3. Analyse
3.3.1. Paco Roca: El Faro
El Faro spielt zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und erzählt die Geschichte von Francisco,
einem achtzehnjährigem Jungen, der auf Seiten der Republikaner kämpft. Auf seiner Flucht
vor den Falangisten und der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort, versucht er die Grenze
nach Frankreich zu überqueren, gerät dabei jedoch in eine Schießerei. Verwundet und
vollkommen erschöpft rettet ihn der Leuchtturmwärter Telmo. Dieser versucht mithilfe von
Erzählungen über Abenteurer und bessere Welten die Fantasie des jungen Mannes, der von
den Leiden des Krieges gezeichnet und vollständig desillusioniert ist, neu zu wecken. Nach
anfänglicher Skepsis und trotzdem Francisco die Geschichten des alten Mannes im Verlauf
der Geschichte als Lügen entlarvt, schafft es Telmo sein Vertrauen zu gewinnen und ihm
19
Diese stammen aus der Englisch-, Spanisch-, DaF-, Geschichts- und Französischdidaktik.
28
Masterarbeit
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neuen Lebenswillen einzuflößen. Die beiden Männer bauen gemeinsam ein Boot und
schmieden Pläne für ein zukünftiges Leben auf der sagenumwobenen Isla Laputa. Kurz bevor
sie die Reise dorthin antreten können, wird der Leuchtturm allerdings von Soldaten aus dem
falangistischen Lager überfallen. Telmo überlebt den Angriff nicht, Francisco schafft es
jedoch mit dem Boot zu fliehen und ein unbekanntes Land zu erreichen, wobei offen bleibt,
ob es sich um einen Traum oder die Realität handelt.
Die Geschichte beginnt in medias res mit Franciscos Flucht und wird anschließend in
chronologischer Reihenfolge fortgesetzt. Trotz der relativ schlichten Handlung und der
Konzentration auf wenige Personen, gewinnt die Erzählung in ihrem Verlauf durch diverse
Einschübe an Komplexität und Tiefe. Sie wird beispielsweise an zwei Stellen durch
Rückblenden unterbrochen, die dem Leser Einblicke in ausgewählte Ereignisse während des
Spanischen Bürgerkrieges, d. h. in den Ausbruch des Krieges und in die begangenen
Kriegsverbrechen, gewähren und ihm einen Eindruck vom persönlichen Schicksal des jungen
Soldaten vermitteln. Darüber hinaus findet sich in El Faro, teilweise verknüpft mit Telmos
Kindheitserinnerungen, eine Fülle an intertextuellen Bezügen in Form von Anspielungen auf
Figuren und Orte aus bekannten Erzählungen der Welt- bzw. Kinder- und Jugendliteratur, u. a.
aus Werken wie Kapitän Nemo, König Neptun, Gullivers Reisen, der Odyssee und
Geschichten aus 1001 Nacht. Der Worttext, dessen Anteil an der Graphic Novel insgesamt
verhältnismäßig gering ist, findet sich in El Faro überwiegend in Form von Dialogen, die in
den Einschüben durch eine Erzählerstimme ergänzt werden. Die verwendete Sprache ist durch
eine Mischung aus alltagssprachlichen und poetischen Wendungen sowie technischen
Begriffen aus dem Bereich der Seefahrt geprägt und zeichnet sich durch kurze, klar
strukturierte Sätze aus. Zudem gibt es längere Textstellen, in denen die Erzählung
ausschließlich von Bildern getragen wird. Wenn Bild und Text in Kombination miteinander
auftreten, vermitteln meist beide Ebenen gemeinsam den Inhalt, sind eng miteinander
verzahnt und ergänzen sich gegenseitig. Hinsichtlich der grafischen Gestaltung werden in
dieser Graphic Novel viele Gestaltungsmittel verwendet, die typisch für grafische Literatur
sind. So finden sich auf jeder Seite panels unterschiedlicher Anzahl und Größe, die alle in
natürlicher Leserichtung angeordnet sind. Hinzu kommen diverse gutter-Typen, verschiedene
Soundeffekt-Zeichen, Bewegungslinien, Sprechblasen, captions und Symbole. Allerdings
werden all diese Elemente verhältnismäßig „sparsam“ eingesetzt und sind minimalistisch
29
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
gestaltet, d. h. es gibt beispielsweise nur eine Art von Sprechblasen und kaum Variation im
Schriftstil. Auffallend ist auch, dass die Bilder ausschließlich in Blau und Schwarz gehalten
sind. Insgesamt kann El Faro als eine Graphic Novel im klassischen Sinne gelten, da sie
überwiegend Bilder und Texte miteinander verbindet, sich durch eine vielschichtige und in
sich geschlossene Handlung auszeichnet sowie dem Leser Einblicke in die Gefühle und
Gedanken der handelnden Personen gewährt.
Aufgrund der inhaltlichen Komplexität, die sich vor allem aus den intertextuellen Bezügen
und dem historischen Kontext ergibt, in den die Erzählung eingebettet ist, stellt El Faro hohe
Anforderungen an das Lese-Sehverstehen. Eine Herausforderung beim Lesen besteht darin,
die Einschübe und intertextuellen Bezüge zu erkennen, zu dekodieren, zu kontextualisieren
und mit der eigentlichen Handlung in Verbindung zu bringen. Ebenso verhält es sich mit den
in der Erzählung enthaltenen Leerstellen, d. h. mit den häufig nur angedeuteten Informationen
oder dem offenen Ende, in dem die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit
verschwimmen. All diese potenziellen Schwierigkeiten bei der Rezeption der Graphic Novel
betreffen auch die Ebene der Bilder, denn aufgrund des grafischen Minimalismus und der
reduzierten visuellen Informationen innerhalb eines panels, stehen dem Leser nur wenige
Anhaltspunkte für die Interpretation der Erzählung zur Verfügung. Umso bedeutender ist
daher die Dekodierung der mimisch-gestischen Elemente, über die ein Großteil der Handlung
sowie die Gefühlszustände der beiden Hauptfiguren vermittelt werden.
Mit Blick auf die inhaltlich-thematische Ebene bietet sich El Faro für eine kritische
Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg an, ein historisches Ereignis, das
Spanien nachhaltig geprägt hat und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein
deutlich spürbar sind. Dieses für die Erzählung zentrale Thema wird zwar nicht explizit im
Berliner Rahmenlehrplan für das Fach Spanisch erwähnt, ist jedoch Bestandteil der meisten
Lehrbücher für die gymnasiale Oberstufe. Ein wesentlicher Vorteil der Graphic Novel El Faro
besteht darin, dass sie abstraktes geschichtliches Wissen perspektiviert, mit persönlichen
Schicksalen verknüpft und den Schülern damit die Möglichkeit zur vorübergehenden
Identifikation mit den fiktiven Personen bietet. Darüber hinaus gewährt die Erzählung
Einblicke in eine historische Lebenswirklichkeit, zeigt die persönlichen Handlungsspielräume
der beteiligten Menschen sowie die Konsequenzen für deren Leben auf und vermittelt die
Bedeutung des historischen Ereignisses für die einzelnen Menschen, aber auch für die Nation
30
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
als Ganzes. Sie unterstützt somit die Ausbildung eines historischen Bewusstseins und
ermöglicht den Lernenden die spanische „Kultur auch in ihrer synchronen Ausprägung besser
[zu] verstehen“ (Genetsch 2012: 3-4). Aufgrund ihrer multimodalen und
multiperspektivischen Beschaffenheit bietet diese Graphic Novel den Lesern zudem
verschiedene Zugänge zum Text, macht sie mit unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven
vertraut und kann dazu beitragen, verallgemeinernde und eindimensionale Interpretationen
der Ereignisse während des Spanischen Bürgerkrieges zu verhindern (vgl. Genetsch 2012: 3-4
u. 6; Hochbruck/Hochbruck 2005: 27; Kopp 2010: 57-59; Olson 2011: 4). El Faro ordnet sich
zudem in eine Reihe weiterer Graphic Novels ein, die sich mit der Aufarbeitung der jüngsten
Vergangenheit des Landes beschäftigen und in den letzten Jahren erschienen sind. Dazu
gehören u. a. Un largo silencio (1997) von Miguel Gallardo und El arte de volar (2009) von
Antonio Altarriba und dem Zeichner Kim. Diese oder ähnliche Erzählungen könnten eventuell
als Ergänzung von oder als Alternative zur Lektüre von El Faro angeboten werden.
Wurde der Spanische Bürgerkrieg bereits ansatzweise im Spanischunterricht behandelt, reicht
vor Beginn des Leseprozesses eine kurze Rekapitulationsphase, in der das grundlegende
Faktenwissen aktiviert wird. Verfügen die Schüler über keine oder sehr geringe Kenntnisse,
sollten als Einführung die wichtigsten historischen Ereignisse und die beteiligten Akteure des
Bürgerkrieges individuell oder in kleinen Gruppen erarbeitet und im Anschluss die Ergebnisse
im Klassenverband mithilfe von kurzen Texten und Bildern zusammengetragen bzw.
dokumentiert werden. Eventuell ergeben sich dabei Schnittstellen mit dem
Geschichtsunterricht, z. B. hinsichtlich der Entwicklung von Strategien zur Suche, Auswahl
und Bewertung von geschichtlichen Quellen (vgl. Vignaud 2009: 42-43). Nach der Lektüre
der Graphic Novel könnte ein erster Schritt in der Erfassung der individuellen Reaktionen und
Einschätzungen der Schüler erfolgen, um ein Stimmungsbild von der Lerngruppe zu erhalten
und darauf aufbauend Schwerpunkte für die Arbeit mit dem literarischen Text zu
entwickeln.20 Gleichzeitig müssen Verständnisschwierigkeiten, die während des Lesens
entstanden sind, geklärt sowie die Ereignisse, auf die in der Erzählung Bezug genommen
wird, in den historischen Kontext eingeordnet und tiefergehend analysiert werden (vgl. Kopp
2010: 60). In El Faro sind dies der Ausbruch des Krieges, die Rolle Frankreichs und das
20
Diese Unterrichtsideen können der Dimension Situated Practice zugeordnet werden.
31
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Arbeitslager Argelès sowie die Kriegsverbrechen, die von den Angehörigen des
republikanischen Lagers begangen wurden. 21
Um weitere Perspektiven in die Auseinandersetzung mit der Thematik einfließen zu lassen
und den Schülern die besondere Brisanz und Reichweite eines Bürgerkrieges zu
verdeutlichen, bietet sich der Rückgriff auf sogenannte testimonios an. Anhand dieser
Erfahrungsberichte von Betroffenen aus beiden Kriegslagern können u. a. deren
Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede thematisiert und diverse Fragen diskutiert werden, z. B.:
„¿Existieron buenos y malos en esta guerra? ¿Qué situaciones/condiciones/circunstancias
hicieron a los españoles luchar por uno u otro bando?“ (Sánchez Serda 2009: 36). Dabei ist es
wichtig, auf ein ausgewogenes Verhältnis von kognitiven und affektiven Fragestellungen zu
achten sowie „politisch-ideologische Gesichtspunkte und de[n] Einfluss von
Propaganda“ (Kopp 2010: 60) zu berücksichtigen. Höchstwahrscheinlich wird sich die
kritische und ausgeglichene Abwägung der unterschiedlichen Standpunkte als schwierig
erweisen, was jedoch die Problematik dieses „guerra de todos“ unterstreicht. 22
Die so gewonnenen Erkenntnisse sollten schließlich wieder auf El Faro übertragen werden,
z. B. indem die Schüler Franciscos Rolle im Krieg mit der anderer Zeitzeugen vergleichen
(vgl. Genetsch 2012: 5; Kopp 2010: 60-61; Sánchez Serda 2009: 36-41). Ein weiterer Aspekt,
der diskutiert werden könnte, ist die Frage danach, ob Graphic Novels eine geeignete und
angemessene literarische Gattung sind, um solch „ernsthafte“ Themen, in diesem Fall den
Spanischen Bürgerkrieg, literarisch zu verarbeiten. An dieser Stelle bieten sich Verbindungen
zu ähnlichen Diskussionen über andere Graphic Novels, insbesondere über Art Spiegelmans
Maus, an (vgl. Ritzenhofen 2011: 36 und Copy 4 auf der CD-ROM). Um einen Bezug zur
gesellschaftspolitischen Gegenwart in Spanien herzustellen und den Schülern die
Auswirkungen des Spanischen Bürgerkriegs näherzubringen, kann im Rahmen der Lektüre
von El Faro auch das Thema Vergangenheitsbewältigung behandelt werden. Dazu ist es
zunächst notwendig, mit den Schülern die Bedeutung und den Einfluss der kulturellen
Erinnerung zu klären. Eine Vielzahl an Unterthemen, z. B. die Gesetzgebung, der Umgang
mit Denkmälern, die öffentliche Erinnerungskultur, die Umbenennung von Straßennamen und
die Freilegung von Massengräbern, ermöglichen anschließend eine Vertiefung der Thematik.
21
22
Diese Vorschläge sind im Bereich der Overt Instruction anzusiedeln.
Diese Anregungen entsprechen im Wesentlichen der Dimension Critical Framing.
32
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Dabei kann auf eine Fülle unterschiedlicher Materialien zurückgegriffen werden,
beispielsweise auf Schulbücher aus dem Geschichtsunterricht in Spanien oder den
Dokumentarfilm Mari Carmen España. Denkbar wäre auch darüber zu diskutieren, warum es
manchen Betroffenen bis heute schwer fällt über das Erlebte zu berichten und warum viele
spanische Autoren, darunter auch Paco Roca, in ihren literarischen Werken die Perspektive
der Republikaner wählen. Über Spanien hinaus können zudem Vergleiche zu anderen Ländern
und historischen Epochen angestellt werden. Mit Blick auf Deutschland wäre dies
beispielsweise die Aufarbeitung des Holocaust, aber auch der DDR-Diktatur und des Kalten
Krieges. Damit eröffnen sich fächerübergreifende Kooperationen, insbesondere mit dem
Geschichtsunterricht, die Schüler können bereits erworbenes Wissen in anderen Fächern aus
neuen Blickwinkeln beleucheten und eventuell Handlungsalternativen für ihre eigene
Gegenwart entwickeln (vgl. Kopp 2010: 60-61). 23
Aufgrund der „klassischen“ Gestaltung von El Faro ist es auch vorstellbar, anhand dieser
Graphic Novel die Darstellungsweisen der grafischen Literatur zu analysieren und somit die
visuelle Kompetenz zu fördern. Zum Einstieg sollten die Lernenden Gestaltungsmittel von
Comics und Graphic Novels nennen, die ihnen bereits bekannt sind. Zusätzlich könnten ihnen
mehrere Beispieltexte zur Verfügung gestellt werden, anhand derer sie sich erste Merkmale
dieser literarischen Gattung selbstständig erarbeiten und Vermutungen dahingehend anstellen,
wie und wozu diese eingesetzt werden. 24 Es folgen eine Systematisierung der Erkenntnisse
sowie die Einführung der entsprechenden Fachsprache (vgl. Hochbruck/Hochbruck 2005: 26).
Damit dieses Metawissen dauerhaft gefestigt wird und für die weiterführenden Aufgaben zur
Verfügung steht, schlägt Bakis vor, die Begriffe und Konzepte, z. B. gutter und frame, von
den Schülern mit eigenen Worten und Bildern definieren zu lassen (vgl. Bakis 2012: 20-23).
Um diese Phase zudem nicht zu „kopflastig“ zu gestalten, sollte sie mit Anwendungsaufgaben
verbunden werden. Hierzu bieten sich verschiedene Aufgabenformate und Vorgehensweisen
an: Eine Möglichkeit besteht darin, zunächst die Text- und Bildebene getrennt voneinander zu
dekodieren. Monnin lässt die Schüler beispielsweise zu einer panel-Sequenz zwei separate
Arbeitsblätter vervollständigen, auf denen die einzelnen panels entweder nur mithilfe von
Worten beschrieben oder die wichtigsten visuellen Informationen zeichnerisch dargestellt
werden sollen. Daran anschließend werden beide Ebenen zusammengebracht und erklärt, wie
23
24
Diese Aufgaben können der Dimension Transformed Practice zugeordnet werden.
s. Fußnote 20.
33
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
sie gemeinsam die Handlung der Erzählung konstruieren (vgl. Monnin 2010: 15-26). Diese
Aufgabe kann durch den Vergleich mit der Wirkungsweise einer Textpassage, in der ganz oder
nahezu vollständig auf Sprache verzichtet wird, erweitert werden. Als Szenen für eine solche
Analyse eignen sich in El Faro z. B. die erste Begegnung zwischen Francisco und Telmo (vgl.
Paco Roca 2011: 16-18) und die Rettung des Bootes während eines Sturms (vgl. Paco Roca
2011: 38-40). Eine weitere Übung zur Entwicklung von visueller Kompetenz besteht in der
Identifikation und Interpretation einzelner Elemente der Graphic Novel, insbesondere der
unterschiedlichen panel- und gutter-Typen. Dazu sollen die Schüler Beispiele im Text finden
und erklären, wie und warum sie verwendet werden bzw. welche Wirkung sie haben (vgl.
Monnin 2010: 178-183). Über den Vergleich der Ergebnisse der genannten Aufgaben kann
den Schülern anschließend aufgezeigt werden, wie unterschiedlich die visuellen Elemente
einer Graphic Novel gedeutet werden können.25
Das erworbene Wissen bilden im Anschluss die Grundlage für diverse Schreibaufgaben bzw.
die Versprachlichung von Textpassagen, die nur oder fast ausschließlich mit Bildern
auskommen. Typische Verfahren sind in diesem Zusammenhang, Titel für einzelne panels
oder panel-Sequenzen zu finden oder Sprech- oder Gedankenblasen auszufüllen. Dabei
sollten den Lernenden je nach Sprachniveau Vokabelhilfen zur Verfügung gestellt werden.
Wesentlich komplexer und anspruchsvoller ist das Verfassen eines Dialogs oder inneren
Monologs (vgl. Lütge: 7-8). Dazu müssen die Schüler alle visuellen Informationen, die sich in
den einzelnen panels finden, dekodieren und gleichzeitig ihr generisches Wissen über diese
Textsorten aktivieren. Für die Ausgestaltung eines monologischen Textes scheint mir
beispielsweise die Szene geeignet zu sein, in der Francisco nach seiner Verletzung zu
Bewusstsein kommt und sich in der ihm fremden Umgebung orientieren muss (vgl. Paco
Roca 2011: 14-16). Auch die Textpassage, in der er Telmos Lügen aufdeckt und sich
anschließend von ihm abwendet bzw. gekränkt zurückzieht, bietet sich für eine solche
Aufgabe an (vgl. Paco Roca 2011: 45-47).26
An dieser Stelle eröffnen sich darüber hinaus Ansatzpunkte für die Entwicklung oder
Erweiterung der narrativen Kompetenzen. So könnten z. B. die unterschiedlichen Versionen
des inneren Monologs verglichen werden, um anschließend darüber zu diskutieren, wie die
25
26
s. Fußnote 21 und 22.
s. Fußnote 23.
34
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Unterschiede zustande kommen und welche Textsorte am besten geeignet ist, um die Gefühle
des Protagonisten zu vermitteln. In eine ähnliche Richtung gehen Aufgaben, bei denen
Auszüge aus der Geschichte als Tagebucheintrag umgeformt oder in Form einer Inhaltsangabe
zusammengefasst werden. Dabei wird den Schülern vor Augen geführt, wie sie als Leser die
Bedeutung eines Textes konstruieren und auf ihr individuelles Vorwissen zurückgreifen.
Anhand der Ergebnisse können schließlich die Unterschiede bei der Rezeption, aber auch
beim Verfassen der unterschiedlichen Textsorten thematisieren werden (vgl. Doff/Wanders
2005: 10; Hochbruck/Hochbruck 2005: 26).27
Im Rahmen der Ausbildung narrativer Kompetenzen besteht beim Einsatz von El Faro im
Spanischunterricht zudem die Möglichkeit, den Umgang mit intertextuellen Bezügen zu
schulen. Durch diese Art von Verweisen stellen Graphic Novels, ebenso wie geschriebene
Literatur, Verbindungen zu anderen Texten und Diskursen her, siedeln die Erzählung „in
einem größeren kulturellen Kontext“ (Schüwer 2008: 270) an und können als Ausdruck des
kulturellen Gedächtnisses gesehen werden. Die Verknüpfungen können dabei explizit durch
„Zitate“, d. h. durch sprachliche Äußerungen oder eine grafisch-stilistische Abgrenzung der
entsprechenden Textstelle vom Rest des Textes erfolgen. Intertextuelle Bezüge sind aber auch
in impliziter Form möglich, indem entsprechende visuelle Hinweise in das Bild bzw. panel
integriert werden, sodass sie nur von Eingeweihten dekodiert werden können (vgl. Schüwer
2008: 259-261, 269-270 u. 484). In El Faro finden sich, wie bereits erwähnt, diverse
intertextuelle Bezüge zu anderen literarischen Werken. Diese werden in erster Linie in
expliziter Form hergestellt. Über die Bedeutung dieser Verweise sollten die Schüler zunächst
spekulieren und dabei auf ihr individuelles Vorwissen zurückgreifen, um anschließend durch
Recherchearbeiten genauere Informationen über die literarischen Werke zu erhalten, ihre
Rolle in der Erzählung zu deuten und sich damit darüber bewusst werden, dass es sich um
eine Neuinterpretation bzw. Rekontextualisierung der ursprünglichen Geschichte handelt. 28
Schließlich können die anhand der Graphic Novel El Faro erarbeiteten Kenntnisse zum
Umgang mit Intertextualität auf die Lektüre anderer Textsorten übertragen werden.29
27
s. Fußnote 23.
s. Fußnote 20 und 21.
29 s. Fußnote 22 und 23.
28
35
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
3.3.2. Shaun Tan: The Arrival
The Arrival erzählt die Geschichte eines Mannes, der seine Heimat und seine Familie,
verlässt, um sich in einem fernen, unbekannten Land auf die Suche nach einem besseren
Leben zu machen. Dort angekommen ist ihm zunächst alles fremd, angefangen von der
Sprache, der Architektur und den Verkehrsmitteln, über die Nahrungsmittel, die Kleidung und
die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, bis hin zu den Bräuchen und Sitten. Diese
Situation stellt den Immigranten täglich vor neue Herausforderungen, z. B. bei der Suche nach
einer Unterkunft oder nach Arbeit, und erschwert ihm die Eingliederung in die Gesellschaft.
Trotz diverser Rückschläge schafft er es schließlich mithilfe von fremden Menschen in seiner
neuen Heimat Fuß zu fassen und seine Familie zu sich zu holen. In diesen Haupterzählstrang
sind die Geschichten drei weiterer Einwanderer eingebettet, denen der Protagonist nach seiner
Ankunft in dem fremden Land begegnet und die in Form von Rückblenden von ihren
Migrationserfahrungen berichten. Dazu gehören eine junge Frau, die nur durch ihre
Auswanderung der Zwangsarbeit entkommen konnte, eine Familie, die vor der Gewalt und
Unterdrückung in ihrem Herkunftsland fliehen musste, und ein älterer Mann, der seine
Heimat nach der Rückkehr aus dem Krieg nahezu vollständig zerstört wiederfand.
Eine Besonderheit dieser Graphic Novel besteht darin, dass sie vollständig, d. h. abgesehen
vom Titel, auf sprachliche Elemente verzichtet und die Geschichte allein über die Bilder
erzählt. The Arrival ist in Form eines alten Fotoalbums gestaltet. Die panels sind entsprechend
in Sepia, teilweise auch in Schwarz-weiß bzw. verschiedenen Grauabstufungen gehalten,
wirklichkeitsnah gezeichnet und enthalten eine Fülle an Details. Die Erzählung greift zudem
auf eine große Bandbreite an panel-Typen und -Sequenzen zurück. So finden sich in The
Arrival neben losen Aneinanderreihungen von Einzelbildern und ein- oder zweiseitigen splash
pages auch tableaus mit zwanzig oder mehr kleinen, eng aufeinanderfolgenden panels, die an
die Bildfolgen eines Films erinnern. Auffällig sind zudem der Gebrauch fantastischer
Elemente und der Einsatz von Hell-Dunkel-Kontrasten. Andere Gestaltungsmittel der
grafischen Literatur, z. B. Bewegungslinien oder Soundeffekt-Zeichen, werden dagegen nicht
verwendet.
Im Gegensatz zu El Faro stellt The Arrival insofern einen Sonderfall dar, als dass die
Erzählung keinen Text enthält und damit von einer Graphic Novel im klassischen Sinne
36
Masterarbeit
abweicht.30
Eva-Vera Wirthmann
Dennoch vermag sie auch ohne Sprache eine komplexe Erzählung mit
romanartigem Charakter zu schaffen, in deren Verlauf eine Fülle von Figuren und
Schauplätzen eingeführt und dem Leser neben Einblicken in die Gefühls- und Gedankenwelt
der handelnden Personen auch beeindruckende Darstellungen fantastischer Städte und
Landschaften geboten werden.
Trotz oder gerade wegen des Verzichts auf Sprache sind die Anforderungen an die
Interpretationsleistung seitens des Lesers bei der Lektüre von The Arrival recht hoch. Die
Wirkung, die mit dem Verzicht auf Sprache erzielt wird, beschreibt Schüwer wie folgt: „Weil
jeglicher Kommentar und alle Erklärungen, wie sie nicht nur in Erzähleräußerungen, sondern
auch in Dialogen unweigerlich enthalten wären, hier fehlen, ist der Leser gezwungen, die
dargestellte Handlung wie eine Dokumentation fremden Lebens [...] zu betrachten“ (Schüwer
2008: 320). Er muss die Gesetzmäßigkeiten einer ihm unbekannten Welt ergründen, wodurch
seine Aufmerksamkeit geschärft und die Identifikation mit den handelnden Personen verstärkt
wird (vgl. Schüwer 2008: 319-322). Von diesem Verfremdungseffekt macht auch Shaun Tan
in The Arrival Gebrauch31 und verbindet ihn geschickt mit der Thematik des Buches. Die
Anforderungen an das Lese-Sehverstehen bestehen insbesondere darin, das Lesetempo an die
ständig wechselnde Erzählgeschwindigkeit anzupassen, die brüchigen Zeitebenen zu
identifizieren sowie die panels in all ihren Details zu erfassen, zu dekodieren und aufeinander
zu beziehen. Die in der Erzählung verwendeten Symbole sind zudem so gestaltet, dass sie für
diverse Interpretationen offen sind. Beispielsweise werden Gefahren in Form einer Schlange
oder monsterartiger Wesen dargestellt. Ob diese nun „wörtlich“ zu verstehen sind oder als
politische, wirtschaftliche oder andere Bedrohungen interpretiert werden, hängt von der
Perspektive des Lesers, aber auch von seinem Vorwissen über und Erfahrungen mit Ein- und
Auswanderung ab.
Shaun Tan zeichnet in seiner Erzählung ein authentisches Bild von Migrationserfahrungen,
verzichtet dabei allerdings auf die Darstellung einer real existierenden Kultur und schafft
stattdessen eine fiktive Welt, die Lesern aller kultureller Prägungen fremd ist. Daher bietet
30
Grafische Literatur ohne Sprache findet sich relativ selten, vor allem wenn es sich um längere Erzählungen
handelt. In manchen Graphic Novels oder Comics werden allerdings einzelne Abschnitte einer Geschichte nur
über Bilder erzählt, während im restlichen Teil sowohl Text als auch Bilder verwendet werden (vgl. Schüwer
2008: 319).
31 Dass der Autor aus den genannten Gründen bewusst auf Sprache verzichtet hat, wird in einem Kommentar zu
The Arrival deutlich, der im Viewpoint Magazine erschienen ist (s. http://www.shauntan.net/books.html).
37
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
sich The Arrival sowohl zur Behandlung des Themas Migration auf einer allgemeinen Ebene
als auch mit Blick auf ausgewählte Länder an.32 Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die
Erzählung aufgrund der nicht vorhandenen sprachlichen Barrieren in allen Alters- und
Niveaustufen eingesetzt werden kann. Ferner eignen sich fiktionale Texte im Allgemeinen für
die Vertiefung dieses oder ähnlicher Themen, da sie den Lernenden in einem geschützten
Rahmen Einblicke in ihnen unbekannte Welten eröffnen oder, wie im Fall von The Arrival,
Fremdheitserfahrung nachvollziehen lassen (vgl. Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 135-136).
Indem Schüler mithilfe literarischer Texte zur Auseinandersetzung mit kulturellen Inhalten
anregt werden, verspricht man sich zudem „Rückwirkungen auf ihre Einstellungen gegenüber
anderen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und Perspektivenkoordination und den Abbau
von Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit“ (Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 135).
Der Einstieg in das Thema Migration könnte über eine Analyse des Einbandes, der
Innenseiten des Umschlags und der Einstiegsseiten von The Arrival erfolgen. Dort sind u. a.
die Gesichter von Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und ethnischer Herkunft,
Teile von offiziellen Dokumenten und Stempeln sowie die Kinderzeichnung eines Hauses
abgebildet. Dabei sollten die Schüler ihre Assoziationen zu den Bildern, aber auch zum Titel
nennen, Vermutungen zum Thema der Graphic Novel äußern und begründen, wie sie zu ihren
Schlussfolgerungen gekommen sind. Alternativ bietet sich eine Untersuchung der Szene zu
Beginn von Kapitel 2 an,33 welche die Ankunft des Immigranten im Hafen des unbekannten
Landes darstellt. Diese doppelseitige splash page zeigt die ankommenden Einwanderer, die
Skyline einer Großstadt und zwei riesige Figuren, die sich begrüßen und in ihrer Symbolik an
die Freiheitsstatue in New York erinnern, deren Bedeutung den Schülern eventuell aus dem
Englischunterricht bekannt ist. Anhand dieses Bildes können die Lernenden ebenfalls erste
Vermutungen bezüglich des Inhalts und der Handlung der Erzählung anstellen. Ist das Thema
eingeführt worden, sollten die Schüler dazu angeregt werden, ihr Verständnis von Migration
zu erläutern und mit dem ihrer Mitschüler zu vergleichen. Zudem können an dieser Stelle
bereits erste Gründe, aus denen Menschen ihre Heimat verlassen, gesammelt werden (vgl.
Boatright 2010: 474; Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 140-142).34
32
Das Thema wird im Berliner Rahmenlehrplan der Sekundarstufe I und II für das Fach Spanisch explizit
erwähnt.
33 Da sich in The Arrival keine Seitenzahlen finden, werden die Kapitelangaben zur groben Orientierung
herangezogen.
34 s. Fußnote 20.
38
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Diese und weitere Ursachen für Migration müssen anschließend mithilfe der Graphic Novel
und unter Rückgriff auf geeignete Texte und Materialien zusammengetragen und
systematisiert werden, um in einem weiteren Schritt Informationen sowohl über die
Auswanderung aus spanischsprachigen Ländern als auch die Immigration in solche zu
sammeln. Dabei sollten die historischen Entwicklungen berücksichtigt und ein Vergleich
zwischen den verschiedenen Ländern angestellt werden. Im Rahmen dieser Vertiefung wird
den Schülern zum einen bewusst, dass Migration ein wesentlicher Bestandteil des
menschlichen Lebens sowie ein historisches und weltweites Phänomen ist, das die Kultur
einzelner Länder grundlegend und nachhaltig beeinflusst bzw. verändert. Zum anderen kann
ihnen, insbesondere anhand des Beispiels von Spanien, gezeigt werden, dass sich
Migrationsbewegungen im Verlauf der Geschichte mehrfach verändert haben und ein Land
keineswegs durchgängig ein Einwanderungs- oder Auswanderungsland ist. 35
Trotzdem The Arrival dem Leser Einsichten in verschiedene menschliche Schicksale gibt und
Gründe für ihr Auswandern nachvollziehbar darstellt, wird teilweise kritisiert, dass im
Zentrum der Erzählung ein weißer, männlicher Einwanderer steht, der nicht repräsentativ für
heutige Immigranten ist. Boatright weist zudem darauf hin, dass The Arrival die Geschichte
eines erfolgreichen Einwanderers erzählt, der sich trotz aller Widrigkeiten in die neue
Gesellschaft integrieren kann und stets dabei im Rahmen der Legalität bewegt (vgl. Boatright
2010: 470-471). Die Integration dieser Kritik an The Arrival in den Unterricht kann zu einer
tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen führen. Dazu sollte das Thema
Migration um zusätzliche Perspektiven erweitert werden. Einzelne sind in der Graphic Novel
selbst angelegt, z. B. in Form der eingeschobenen Geschichten oder der Bilder von Menschen
unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Herkunft auf der Innenseite des Buches,
und können gezielt aufgegriffen werden. Auch die Lektüre weiterer literarischer Texte mit
derselben oder ähnlicher Thematik, vor allem solcher, in denen das Misslingen der Integration
behandelt wird, wäre denkbar. Darüber hinaus können gezielt die Migrationserfahrungen der
Lerner und ihrer Familien aufgegriffen und in den Unterricht eingebracht werden. Je nach
Erfahrungshintergrund der Lerner sollten die entsprechenden Aufgaben unterschiedliche
gestaltet sein: Schüler mit Migrationshintergrund können über ihre eigenen Erfahrungen
berichten oder Recherchen über ihre Familie anstellen und herausfinden, welche
35
s. Fußnote 21.
39
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Schwierigkeiten die Generation ihrer Eltern und Großeltern nach ihrer Ankunft in
Deutschland zu bewältigen hatten und inwiefern ihnen die Eingliederung in die deutsche
Gesellschaft gelungen ist. Die Ergebnisse könnten z. B. in Form einer Graphic Journey (s.
Kapitel 2.1.3.) oder Oral history festgehalten werden. Oral histories sind personalisierte
Geschichten, die Einblicke in die Biografie einer Person, bezogen auf den gesamten
Lebensverlauf oder einzelne Lebensabschnitte, gewähren. Das Erstellen einer solchen
Erzählung umfasst die Klärung wichtiger Hintergrundinformationen, die Erarbeitung einer
Liste mit Fragen und das Durchführen eines Interviews. Schüler, die über keine eigenen oder
familiären Migrationserfahrungen verfügen, könnten Interviews mit Immigranten in
Deutschland durchführen oder, basierend auf den Erfahrungen dieser Menschen, Oral
histories erstellen. Als Abschluss sollten die von den Schülern zusammengetragenen
unterschiedlichen Migrationserfahrungen mit denen des Protagonisten in The Arrival
verglichen werden (vgl. Vogt 2011:8-9; Vogt /Holfter /Rasche, Hermann 2011: 3-4; Viebrock
2011: 36).36
Eine Vielzahl an Schreibanlässen und Aufgaben zur Versprachlichung ermöglichen im
Anschluss daran, die erworbenen Erkenntnisse auf die Erzählung anzuwenden und diese
damit aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Beispielsweise kann die Geschichte unter
der Vorgabe, dass die Hauptfigur keine Arbeit findet oder sich mit anderen unlösbaren
Problemen konfrontiert sieht, umgeschrieben werden. Denkbar wäre auch, die Schüler
aufzufordern, Spekulationen über die Zukunft der Tochter des Protagonisten, also der zweiten
Einwanderergeneration, anzustellen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ausgewählte
Szenen oder panels der Graphic Novel durch Standbilder zum Sprechen zu bringen. Dazu
stellen die Schüler zunächst die jeweilige Szene als Standbild dar und versuchen, sich in die
Situation einer Figur hineinzuversetzen sowie deren Mimik und Gestik zu imitieren. Bei
Bedarf können sie dabei Requisiten verwenden. Um die Standbilder zum Sprechen zu
bringen, kommen drei verschiedene Verfahren in Frage: Zum einen können die Schüler die
Gefühle und Gedanken einer Figur in Form eines inneren Monologs zum Ausdruck bringen.
Beim Verfahren „Befragung des Protagonisten“ stellen die Schüler der jeweiligen zentralen
Figur einer Szene Fragen, auf welche diese ihrer Rolle entsprechend Antworten muss. Als
dritte Möglichkeit können die an einem Standbild beteiligten Figuren in einen Dialog
36
s. Fußnote 22.
40
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
miteinander treten. Bei jedem der drei Verfahren tragen die Lernenden selbst das Vokabular
zusammen, das sie zur Erfüllung der Aufgabe benötigen. Die Aktivität endet mit einer
Reflexionsphase, in der die Aufmerksamkeit insbesondere auf die visuellen
Ausdrucksmöglichkeiten von Standbildern gelenkt werden kann (vgl. Rymarczyk 2011:
16-22; Leitzke-Ungerer 2010: 152-154).37
Die Lektüre von The Arrival lässt sich darüber hinaus durch eine medienkritische Analyse
ergänzen, in deren Rahmen diskutiert wird, welchen Einfluss die Medien auf die
Wahrnehmung von Migration in Spanien haben. Hier erscheint es angemessen, zunächst die
Vorannahmen der Schüler über die in Spanien lebenden Immigranten zu ermitteln, um zu
einem späteren Zeitpunkt darauf zurückgreifen zu können. Es folgt eine Untersuchung
verschiedener Medien, wenn möglich unterschiedlicher politischer Färbung, in verschiedenen
Sprachen und aus mehreren Ländern. Als Analysebasis bieten sich u. a. folgende Fragen an:
Wer hat die Nachricht mit welcher Absicht verfasst?, Welche Techniken werden verwendet,
um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen?, Welche Grundannahmen, Werte und
Sichtweisen vermittelt der Text?, Wie können diese interpretiert werden?, Was wird nicht
gesagt? (vgl. Monnin 2010: 104).38 Als nächstes müssen die Ergebnisse der Analyse
verglichen und kritisch hinterfragt werden. Hierzu ist es notwendig, die gesammelten
Informationen durch zusätzliche Fakten zu relativieren. Im Fall von Spanien muss
beispielsweise die Aufmerksamkeit der Schüler darauf gelenkt werden, dass, entgegen der
öffentlichen Wahrnehmung und der Darstellung in den Medien, nicht Immigranten aus Afrika,
sondern aus lateinamerikanischen Ländern die größte Gruppe an Einwanderern in Spanien
ausmachen und dass sich die illegale Einwanderung nach Spanien, vor allem die Einreise aus
Nordafrika mithilfe von sogenannten pateras, insgesamt in Grenzen hält. Mit den so
gewonnen Erkenntnissen können die Schüler schließlich z. B. ihre zu Beginn ermittelten
Vorannahmen über Einwanderer in Spanien oder einen Medienbericht über das Thema
kritisch überarbeiten.39
Aufgrund der anspruchsvollen künstlerischen Gestaltung und des Einsatzes einer Vielzahl von
Visualisierungstechniken, ist The Arrival auch für die Schulung der visuellen Kompetenz
geeignet. Der Einstieg dazu kann ähnlich wie bei El Faro gestaltet werden. Zur Aneignung
37
s. Fußnote 23.
s. Fußnote 20 und 21.
39 s. Fußnote 22 und 23.
38
41
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
von Wissen über die Gestaltungsmittel grafischer Literatur bieten sich in The Arrival
insbesondere die Analyse und der Vergleich der unterschiedlichen gutter-Typen an. Damit
wird den Schülern nicht nur die Bedeutung der Übergänge zwischen den panels, sondern auch
„ihr eigener Anteil als Leserinnen und Leser bei der Konstruktion einer Handlung aus
Einzelbildern“ (Hochbruck/Hochbruck 2005: 26) bewusst gemacht. In eine ähnliche Richtung
gehen Aufgaben, bei denen panels in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden müssen.
Dabei kann wie folgt vorgegangen werden: Jeder Schüler erhält zwei panels einer Sequenz,
für die er sich überlegt, was zuvor passiert sein muss und wie die Handlung sich entwickeln
wird. Die entsprechenden Textstellen sollten die Lernenden selbstverständlich noch nicht
gelesen haben. Anschließend müssen sich jeweils zwei Schüler finden, deren panels
aneinander anschließen, um abschließend gemeinsam zu erklären, welche Art der Übergänge
verwendet wurden (vgl. Hochbruck/Hochbruck 2005: 27; Lütge 2011: 7). Darüber hinaus
bietet sich in The Arrival ein Vergleich der drei Einschübe an, da diese unterschiedlich
gestaltet sind: Der erste und der dritte Einschub (Beginn Kapitel 3 bzw. Mitte Kapitel 4)
setzten sich von der eigentlichen Erzählung durch eine deutlich geänderte Struktur und
Farbgebung des Hintergrunds sowie eine andere Rahmung der panels ab. Die zweite
Binnenerzählung (Mitte Kapitel 3) ist dagegen zunächst nicht durch Veränderungen der
panels oder des Hintergrunds zu erkennen, sondern wird durch drei Bilder eingeleitet, die
einen anderen Einwanderer zeigen. Während dieser beginnt seine Geschichte zu erzählen,
wird eine Nahaufnahme seines Auges gezeigt, in dem sich Flammen spiegeln. Auf der
nächsten Seite findet sich der Leser plötzlich in den Erinnerungen des Immigranten wieder,
was anhand der veränderten Farbgebungen erkennbar ist.40
Die erworbenen Kompetenzen können u. a. für einen Vergleich der Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen den Gestaltungsmitteln, die Filme und Graphic Novels verwenden,
herangezogen werden, um darauf aufbauend die Stärken und Schwächen der beiden
unterschiedlichen Medien zu thematisieren. Als abschließende Aufgabe könnten die Schüler
aufgefordert werden, Überlegungen anzustellen, wie eine Verfilmung einzelner Szenen von
The Arrival aussehen müsste, um anschließend ein passendes Storyboard zu erstellen.41
40
41
s. Fußnote 20 und 21.
s. Fußnote 22 und 23.
42
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Ein weiterer Schwerpunkt der Lektüre von The Arrival kann schließlich auf der Ausbildung
von metakognitivem Reflexionsvermögen liegen.42 Dazu schlägt Bakis vor, die Schüler
zunächst das erste Kapitel der Graphic Novel eigenständig lesen und Fragen zum Inhalt und
zum Lese-Sehprozess beantworten zu lassen (z. B.: Worum geht es in dem Kapitel?, Wie bist
du zu dieser Interpretation gekommen?). Im Anschluss sollen die Schüler den ersten Teil der
Graphic Novel (eventuell auch nur einzelne panel-Sequenzen) ein zweites Mal lesen und die
panels durch Text in Form von Sprech- oder Gedankenblasen, captions etc. ergänzen. Als
Unterstützung kann der dazu notwendige fremdsprachliche Wortschatz vorentlastet werden,
was die Schüler allerdings ein Stück weit in ihrer Kreativität einschränkt. Einige der so
entstandenen Geschichten werden anschließend im Plenum vorgestellt, allerdings ohne sie zu
bewerten. Stattdessen wird eine Diskussion über die Unterschiede zwischen den
Interpretationen angeregt. Um diesen Aspekt zu vertiefen, werden einzelne Schüler
aufgefordert zu erklären, wie sie einzelne panels gedeutet haben. Dadurch sollen die Schüler
erkennen, wie sehr ihre Interpretationen vom jeweiligen Vorwissen abhängen und wie
Informationen, die sie außer Acht gelassen haben, Auswirkungen auf das Verständnis des
Textes haben können. 43 In einer Diskussion sollte den Lernenden zudem das gesamte
Spektrum von vollkommen freien zu komplett textgebundenen Interpretationen verdeutlicht
werden. Gleichzeitig bedarf es der Klarstellung, dass Interpretationen stets belegt werden
müssen, um nicht willkürlich zu erscheinen. Mit den neu gewonnenen Erkenntnissen kann die
Geschichte schließlich erneut gelesen und dabei die Veränderungen in der Wahrnehmung
dokumentiert werden. Insgesamt wird durch die Entwicklung von metakognitivem
Reflexionsvermögen unter Rückgriff auf die Graphic Novel The Arrival das Bewusstsein der
Schüler für den Informationsgehalt und die Wirkung von visuellen Darstellungen geschärft
und ihnen somit die Konstruiertheit von Bildern vor Augen geführt. Darüber hinaus wird
ihnen verdeutlicht, welche interpretatorische Leistung sie beim Lesen vollziehen und welche
Bedeutung sie ihrem Vorwissen beimessen müssen (vgl. Bakis 2012: 33-39).44
42 Aufgrund
der hohen Komplexität und sprachlichen Anforderungen sind die folgenden Aufgaben überwiegend
für den Spanischunterricht in der Sekundarstufe II geeignet.
43 s. Fußnote 20 und 21.
44 s. Fußnote 22.
43
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
3.3.3. Miguel Gallardo: María y yo
In seiner autobiografisch geprägten Graphic Novel María y yo gewährt Miguel Gallardo dem
Leser Einblicke in das Leben seiner autistischen Tochter María und berichtet von einem
gemeinsamen Sommerurlaub auf Gran Canaria. Diese relativ knapp und schlicht gehaltene
Handlungsebene wird immer wieder durch Erläuterungen zu Marías Tagesabläufen und ihrem
Verhalten in bestimmten Situationen ergänzt. Die Einschübe überschneiden sich zunehmend
mit der eigentlichen Handlung und verschmelzen mit ihr zu einer vielschichtigen und
multiperspektivischen Erzählung. Trotzdem María y yo als Autobiografie gestaltet und aus
Sicht des Vaters geschrieben ist, stehen seine Tochter und ihre Lebenswelt im Mittelpunkt der
Geschichte. Gleichzeitig lenkt der Ich-Erzähler den Blick des Lesers auf die Reaktionen der
Menschen gegenüber dem behinderten Kind, sodass María y yo auch als ein Zeugnis vom
Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen verstanden werden kann. Ergänzend
finden sich im Anhang zum Buch Zeichnungen von Marías Familie, Freunden und Bekannten,
sowie Piktogramme, die ihr als Orientierung im alltäglichen Leben dienen, und Erläuterungen
zum Autismus in Form eines Schaubildes. Darüber hinaus wird die Graphic Novel von einer
Kinder- und Jugendlichenpsychologin kommentiert, was den didaktisch-aufklärerischen
Charakter der Erzählung unterstreicht.
Die Verflechtungen und Überschneidungen auf der inhaltlichen Ebene spiegeln sich auch in
der Gestaltung der Graphic Novel wider: Nur einige wenige Passagen der Geschichte, u. a. die
Schilderung der Anreise zu Beginn, werden im „klassischen“ Format einer Graphic Novel,
d. h. unter Rückgriff auf panel-Sequenzen, erzählt. Diese enthalten Bilder und Texte, die sich
gegenseitig ergänzen, sowie die gesamte Bandbreite an comicspezifischen Gestaltungsmitteln,
z. B. Sprechblasen, Soundeffekt-Zeichen, Symbole und Bewegungslinien. Der größte Teil der
Graphic Novel besteht allerdings aus Seiten, auf denen ein einziges Bild bzw. panel
abgebildet ist, und aus Passagen, in denen sich sowohl Texte als auch Abbildungen in ständig
wechselnder Anordnung begegnen. Die Texte können unterschiedlicher Länge sein, einen
zusammenhängenden Absatz formen oder aus nur einem unvollständigen Satz bestehen. Auch
die Bilder, die die Aussage der Texte unterstreichen, haben kein einheitliches Format, sondern
variieren in ihrer Art und Größe, sind eher skizzenhaft gezeichnet und in Schwarz und Rot
gehalten. Die in der Erzählung verwendete Sprache weist überwiegend Merkmale
alltagssprachlicher und mündlicher Ausdrucksformen auf. Zudem wechselt der Autor immer
44
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
wieder zwischen einer eher erzählenden Art und Weise auf der einen und einem
kommentierenden Stil auf der anderen Seite. Zusammengenommen ergeben die inhaltliche
und die gestalterische Ebene der Erzählung eine einzigartige Mischung aus „Bilder- und
Tagebuch, Skizzenblock, Erlebnisbericht und Erklärungsversuch“ (Schlüter 2011).
María y yo überschreitet, spielt und experimentiert gleich an mehreren Stellen mit den
Grenzen des Mediums und weicht damit noch stärker als The Arrival von einer „klassischen“
Graphic Novel ab. Allerdings handelt es sich um eine einzigartige und kunstvoll inszenierte
Geschichte, die stets unter Rückgriff auf Bilder und Texte erzählt wird und trotz der
Brüchigkeit der Erzählebenen ihren narrativen Charakter bewahrt. Damit kann María y yo
durchaus als Graphic Novel klassifiziert werden.
Bei der Lektüre von María y yo sieht sich der Leser mit diversen Herausforderungen
konfrontiert. So muss er sich aufgrund der nicht einheitlichen Seitengestaltung permanent neu
orientieren und die sich teilweise überlappenden sprachlichen und visuellen Elemente
dekodieren. Darüber hinaus ist die Erzählung als Ganzes nicht sofort ersichtlich, sondern
muss nach und nach aus dem ständig unterbrochenen Handlungsstrang zusammengesetzt
werden. Im schulischen Fremdsprachenunterricht wird es daher, vor allem in der Unterstufe
schwer sein, die Graphic Novel als Ganzschrift zu lesen. Stattdessen sollten mit jüngeren
Schülern nur einzelne Unterkapitel oder Abschnitte der Erzählung genauer untersucht werden.
Eine besondere Stärke von María y yo liegt darin, dass sie dem Leser auf spielerische,
unverkrampfte Art und Weise Einblicke in das Leben einer autistischen Person gewährt, denn
anstelle von Selbstmitleid begegnet der Vater der Behinderung seines Kindes und den oftmals
schwierigen Situationen im Alltag mit Humor und Selbstironie. Zudem spielt er bewusst mit
der erhöhten Aufmerksamkeit, die er und María erregen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit
bewegen und kauft seiner Tochter z. B. ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift „I‘m unique
just like everyone else“. Auch wenn das Thema Autismus normalerweise nicht im
Spanischunterricht aufgegriffen wird, eignet sich María y yo auf einer allgemeineren Ebene
zur Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Andersartigkeit und Fremdsein. Als Einstieg in
diese Thematik können die Schüler gebeten werden, Situationen, in denen sie sich selbst oder
andere Personen als „anders“ oder „fremd“ empfunden haben, zu schildern und zu erklären,
wodurch sich diese auszeichnen. Anhand des Einbandes, auf dem María ihr rotes T-Shirt trägt,
und der Umschlaginnenseiten am Anfang und Ende des Buches, auf denen das Mädchen am
45
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
Strand sitzt und Sandkörner zählt, können die Lernenden anschließend Vermutungen
anstellen, inwiefern und warum María „anders“ sein könnte. Nach der Sammlung der Ideen
folgt die Lektüre des ersten Abschnitts der Erzählung, in der María vorgestellt sowie der Flug
und die Ankunft im Hotel geschildert werden. Nachdem alle inhaltlichen Fragen geklärt und
das Hintergrundwissen zum Thema Autismus eingeführt wurde, sollte der Blick der Schüler
darauf gelenkt werden, wie andere Menschen auf María bzw. ihr Verhalten reagieren. Dazu
bietet es sich an, einzelne Ausschnitte der Graphic Novel zu analysieren, beispielsweise eine
Gruppe von sieben Bildern, auf denen die Reaktionen der Menschen, die dem Mädchen
begegnen, mithilfe unterschiedlicher Gesichtsausdrücke abgebildet sind (vgl. Gallardo 2012:
21)45 oder ein ganzseitiges Bild, auf dem Vater und Tochter von einer Vielzahl bedrohlich
wirkender Augen umgeben sind (vgl. Gallardo 2012: 31).46 Um den Schülern bewusst zu
machen, was diese oder ähnliche Formen der Ausgrenzung bewirken können, sollten im
Anschluss die Gefühle des Vaters thematisiert werden (vgl. u. a. Gallardo 2012: 22). Die so
gewonnenen Erkenntnisse können beispielsweise dazu dienen, die Schüler mögliche
Handlungsalternativen für solche oder ähnliche Situationen entwickeln zu lassen, die
schließlich auch beim Umgang mit fremden Kulturen bzw. kulturell bedingten Unterschieden
hilfreich sein können.47
Bilder spielen in Marías Leben eine zentrale Rolle: Sie helfen ihr bei der Kommunikation mit
anderen Menschen, strukturieren ihren Tagesablauf und ermöglichen ihr somit bis zu einem
gewissen Grad am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Erzählung kann daher u. a.
genutzt werden, um den Schülern die Bedeutung von Bildern in ihrer eigenen Lebenswelt zu
verdeutlichen. In diesem Falle ist die Schulung der visuellen Kompetenz weniger auf konkrete
Gestaltungsmittel von Graphic Novels als viel mehr auf den bewussten Einsatz und die
Bedeutung von Bildern im alltäglichen Leben fokussiert. Um an die lebensweltlichen
Erfahrungen der Schüler anzuknüpfen, sollten diese zunächst überlegen, wo sie in ihrem
Alltag Bilder finden, welche Rolle diese spielen, wozu sie gebraucht werden und was sie
bewirken. Die unterschiedlichen Erfahrungen können die Schüler sowohl untereinander als
auch mit Marías Leben vergleichen.48
Zur Systematisierung der Ergebnisse werden
45
Da die Erzählung selbst keine Seitenzahlen enthält, wurde von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit eine
eigene Seitennummerierung durchgeführt. Seite 1 beginnt demnach mit der ersten Seite nach dem Einband.
46 s. Fußnote 20 und 21.
47 s. Fußnote 22 und 23.
48 s. Fußnote 20.
46
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
anschließend die verschiedenen Arten von Bildern (u. a. künstlerische, unterhaltende und
informierende Bilder) eingeführt sowie deren jeweilige Wirkung thematisiert. Gleichzeitig
kann das Problem der Glaubwürdigkeit und Vieldeutigkeit visueller Darstellungen
angesprochen werden, um anschließend an ausgewählten Szenen in María y yo (Beispiel:
Tagesablauf in Form von Piktogrammen im Anhang) zu untersuchen, wie Bilder dort
eingesetzt werden.49 Schließlich kann mit den Schülern diskutiert werden, wie sich Personen
über Bilder inszenieren bzw. ein bestimmtes Image von sich schaffen. In diesem
Zusammenhang bietet sich u. a. eine Analyse von Facebook-Profilen oder anderer sozialer
Netzwerke an, in denen Bilder, insbesondere auf den Einstiegsseiten, eine herausragende
Stellung einnehmen und meist einen bleibenden Eindruck von der jeweiligen Person
vermitteln. Um verschiedene Möglichkeiten der Inszenierung mithilfe von Bildern
kennenzulernen, könnten beispielsweise die Internetauftritte oder Facebook-Profile berühmter
Persönlichkeiten analysiert werden.50 Um abschließend den produktiven Umgang mit Bildern
zu schulen, könnten die Schüler für sich selber oder eine andere Person unter Rückgriff auf
Bilder unterschiedliche Images schaffen, die anschließend im Klassenverband präsentiert und
mit Blick auf ihre Wirkung kritisch reflektiert werden. 51
Im Jahr 2010, drei Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, wurde María y yo verfilmt.
Im Gegensatz zur Graphic Novel hat der gleichnamige Film allerdings einen eher
dokumentarischen Charakter und die Aufklärung der Zuschauer über Autismus steht im
Vordergrund. Dennoch bietet er sich an, um, ähnlich wie bei The Arrival, Schülern die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen filmischen und grafischen Darstellungsweisen
zu verdeutlichen. Dazu sollten Szenen verglichen werden, die sich sowohl im Buch als auch
im Film finden, so z. B. die Beschreibung eines Urlaubstages (vgl. Gallardo 2012: 29). Das so
erlangte Wissen ist auch auf weitere Erzählungen und Filme übertragbar.52
María y yo eröffnet schließlich die Möglichkeit, Schülern im Rahmen des
Fremdsprachenunterrichts mit Formen des autobiografischen Schreibens vertraut zu machen.
Gleichzeitig werden ihnen generische Modelle zur Verfügung gestellt, mithilfe derer sie ihre
eigenen Erfahrungen und Erlebnisse beschreiben können, denn „die visuelle Selbstdarstellung
49
s. Fußnote 21.
s. Fußnote 22.
51 s. Fußnote 23.
52 s. Fußnote 22 und 23.
50
47
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
in Fotos und Videos, aber auch in Zeichnungen aller Art ist für junge Menschen eine wichtige
Ausdrucksmöglichkeit und einer der Wege ihrer Identitätsfindung“ (Hallet 2012b: 36).
Zunächst sollten anhand verschiedener Autobiografien die Merkmale und Besonderheiten der
Textsorte erarbeitet werden. Die Ergebnisse können anschließend auf María y yo übertragen
werden und zu einer Diskussion darüber anregen, inwiefern die Erzählung von einer
„typischen“ Autobiografie abweicht.53 Um den produktiven Umgang mit autobiografischen
Texten zu schulen, sollen die Schüler im Anschluss ihre eigene kurze Autobiografie in Form
einer Graphic Novel verfassen, die sich allerdings auf eine Situation bzw. einen Konflikt in
ihrem Leben beschränken sollte. María y yo ist für eine solche Aufgabe insofern prädestiniert,
als dass sie mit wenig elaborierten und häufig skizzenhaften Zeichnungen arbeitet und den
Schüler damit zeigt, dass es keiner aufwendig gestalteten Bilder bedarf, um die eigene
Geschichte zu erzählen. Weniger zeichnerisch begabte Schüler können zudem Vorlagen aus
dem Internet, sogenannte templates, bei der Erstellung ihrer Erzählung verwenden. Den
Schülern sollte außerdem freigestellt werden, ob sie ihre Autobiografien als fiktionale oder
nicht-fiktionale Geschichte gestalten, denn der Wahrheitsgehalt steht beim autobiografischen
Erzählen nicht im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, dass der Leser einen Einblick in das
Leben einer anderen Person erhält und dessen Erfahrungen, Gefühle und Gedanken
nachvollziehen kann (vgl. Hallet 2012b: 36-38).54
4. Fazit
Wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, bieten Graphic Novels ein großes Potenzial zur
Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität. Dabei ergeben sich aufgrund der
unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung und Gestaltung der drei im Rahmen dieser Arbeit
analysierten Werke jeweils verschiedene Schwerpunkte: El Faro ermöglicht über die
Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg die Ausbildung eines historischen
Bewusstseins und bietet gleichzeitig Anknüpfungspunkte für die Beschäftigung mit der
Ve rg a n g e n h e i t s b e w ä l t i g u n g i n S p a n i e n , e i n e m w i c h t i g e n u n d a k t u e l l e n
gesellschaftspolitischen Thema. Über den Vergleich der Graphic Novel mit anderen
Textsorten und die Schulung im Umgang mit intertextuellen Bezügen, können darüber hinaus
narrative Kompetenzen ausgebildet werden. Im Zentrum der Lektüre von The Arrival steht
53
54
s. Fußnote 21.
s. Fußnote 23.
48
Masterarbeit
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das Thema Migration, anhand dessen sowohl verschiedene Migrationserfahrungen vermittelt
als auch ein kritisches Bewusstsein für die Darstellung des Themas in den Medien entwickelt
werden kann. Darüber hinaus eignet sich diese Graphic Novel besonders, um Bilder zu
versprachlichen und dabei die Perspektive fremder Personen einzunehmen. Auch die
Ausbildung von metakognitivem Reflexionsvermögen kann geschult werden. María y yo
bietet schließlich Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit Andersartigkeit und
Fremdheit. Ferner können mithilfe dieser Erzählung Formen des autobiografischen
Schreibens thematisiert werden.
Unabhängig von der jeweiligen grafischen Gestaltung bieten alle drei Graphic Novels
Ansatzpunkte für die Entwicklung der visuellen Kompetenz, wobei auch hier unterschiedliche
Akzente gesetzt werden: In El Faro geht es vor allem darum, spezifisches Wissen über die
Erzählkonventionen grafischer Literatur zu erwerben und anschließend auf die Erzählung
anzuwenden. Dies ist auch mithilfe von The Arrival möglich. Sowohl diese Graphic Novel als
auch María y yo bieten sich zusätzlich für einen Vergleich zwischen filmischen und
grafischen Gestaltungsmitteln an. In María y yo steht darüber hinaus das Schaffen eines
Bewusstseins für die Bedeutung von und den Umgang mit Bildern im Alltag im Vordergrund.
Die Graphic Novel The Arrival bietet insgesamt die meisten Einsatzmöglichkeiten im
Fremdsprachenunterricht. Dies ist insbesondere auf das Fehlen sprachlicher Elemente
zurückzuführen, wodurch die Erzählung Schülern aller Altersstufen und Sprachniveaus
zugänglich wird. The Arrival kann zudem komplett oder in Auszügen gelesen werden.
Gleiches gilt für El Faro. Allerdings beschränkt sich die Arbeit mit dieser Graphic Novel
aufgrund ihrer Thematik auf die gymnasiale Oberstufe. María y yo ist grundsätzlich für alle
Altersstufen offen, allerdings hängt dies von der jeweiligen Aufgabenstellung ab. Für eine
Lektüre als Ganzschrift ist die Erzählung dagegen weniger geeignet.
Wie bereits erwähnt, müssen die im Rahmen dieser Arbeit skizzierten Unterrichtsideen und
Lehr-Lernarrangements zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität an die
jeweilige konkrete Unterrichtssituation angepasst und gegebenenfalls präzisiert und/oder
erweitert werden. Zudem erscheint einen Kombination bzw. Verknüpfung der
unterschiedlichen Aufgaben sinnvoll. Dabei ist stets auf ein ausgewogenes Verhältnis
zwischen kognitiven und affektiv-emotionalen Zugängen zu achten, um die Verengung auf
einige wenige Kompetenzaspekte bzw. Literalitätskomponenten zu vermeiden. Gleichzeitig
49
Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
sollten wenn möglich Verknüpfungen zu weiteren (Fremd)sprachen oder Unterrichtsfächern
hergestellt werden, um somit im Sinne des Konzepts der Multiliteralität das vernetzende
Lernen in einer Vielzahl von Kontexten zu fördern.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, das Schüler mithilfe von Graphic Novels zu
einem kritischen und reflektierten Umgang mit multimodalen Texten angeregt werden und
eine Vielzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, die mit weiteren Kompetenzen
vernetzt sowie auf andere Kontexte übertragen werden können. Damit sind Graphic Novels
insgesamt geeignet, um den Leitgedanken der Multiliteralität im Fremdsprachenunterricht
umzusetzen.
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Masterarbeit
Eva-Vera Wirthmann
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