Masterarbeit - Institut für Romanistik
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Masterarbeit - Institut für Romanistik
Didaktische Potenziale von Graphic Novels zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität im Fremdsprachenunterricht Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Education (MEd) Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät II Institut für Romanistik eingereicht von: Eva-Vera Wirthmann geb. am 22.03.1981 in Berlin 1. Gutachter/in: 2. Gutachter/in: Prof. Dr. Lutz Küster Dr. Katharina Wieland Berlin, den 08.10.2012 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Einführung in die Untersuchungsgegenstände 3 2.1. Multiliteralität 3 2.1.1. Genese 3 2.1.2. Programmatik 6 2.1.3. Praxisbeispiele 9 2.1.4. Multiliteralität im Kontext des Fremdsprachenlernens und -lehrens 2.2. Graphic Novels 13 15 2.2.1. Merkmale und Entstehungsgeschichte 15 2.2.2. Lese-Sehverstehen 18 2.2.3. Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht 21 2.2.4. Graphic Novels im Kontext der Multiliteralität 24 3. Analyse ausgewählter Graphic Novels 26 3.1. Auswahl des Textkorpus 26 3.2. Vorgehensweise 27 3.3. Analyse 28 3.3.1. Paco Roca: El Faro 28 3.3.2. Shaun Tan: The Arrival 36 3.3.3. Miguel Gallardo: María y yo 44 4. Fazit 48 Bibliografie 51 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann 1. Einleitung Seit einigen Jahrzehnten, im verstärkten Maße jedoch seit Ende des letzten Jahrhunderts, vollzieht sich weltweit ein tiefgreifender Wandel der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, mit weitreichenden Auswirkungen auf die Arbeitswelt, das politische und soziale Leben sowie die Lebenswelt jedes Einzelnen. In Folge von Globalisierung und massiven Migrationsbewegungen haben insbesondere Diversität und Heterogenität in allen Lebensbereichen und Kontexten an Bedeutung gewonnen und die Art und Weise, wie Menschen unter Rückgriff auf verschiedene Zeichensysteme miteinander kommunizieren, hat sich aufgrund des wachsenden Einflusses neuer Kommunikationstechnologien und -medien grundlegend verändert. Diese lebensweltlichen Veränderungen stellen neue Anforderungen an das Lernen und erfordern damit auch ein Umdenken in der Pädagogik im Allgemeinen sowie in der Fremdsprachendidaktik im Besonderen. Dem versucht das Konzept der Multiliteralität, das im deutschen und europäischen Raum bis vor wenigen Jahren kaum rezipiert wurde, Rechnung zu tragen. Im Zentrum des Ansatzes steht das Prinzip der Vernetzung diverser Teilkompetenzen, das Schüler1 dazu befähigen soll, sich in den unterschiedlichsten Situationen mittels Sprache kontext- und situationsadäquat zu verhalten, auf Veränderungen flexibel zu reagieren sowie ihr Wissen konstant und dynamisch weiterzuentwickeln. Dabei wird von einem breiten Kompetenzbegriff ausgegangen, der neben der Literalität im traditionellen Sinne eine Vielzahl weiterer Kenntnisse und Fertigkeiten sowie persönliche Einstellungen umfasst, z. B. multimodale und -mediale Kompetenzen, die Lernmotivation, die Fähigkeit zur kritischen Reflexion sowie die Entwicklung einer eigenständigen und selbstorganisierten Arbeitsweise (vgl. Bach 2007: 23-26; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 9-10; Küster 2007: 41-43; Küster 2009: 56).2 Sprache spielt bei der Umsetzung dieses pädagogischen Konzepts eine herausragende Rolle, da sie der wichtigste Träger der menschlichen Kommunikation sowie ein zentrales Medium zur Bedeutungskonstruktion und zur Ausbildung der individuellen und kollektiven Identität 1 Wenn hier und im Folgenden von Schülern die Rede ist, sind stets Schülerinnen und Schüler gemeint. Gleiches gilt für die Begriffe Lerner, Lehrer, Leser und Autor. Die Verwendung der maskulinen Form wird in der vorliegenden Arbeit lediglich aus Gründen der Lesbarkeit bevorzugt. 2 Teile der Einleitung wurden aus einer Hausarbeit zum Thema Mehrsprachigkeitsdidaktik übernommen, die von der Autorin der vorliegenden Arbeit im Rahmen eines Seminars zum Thema Multiliteralität bei Prof. Dr. Lutz Küster verfasst wurde. 1 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann ist. Damit ermöglicht die Beherrschung sowohl der eigenen als auch fremder Sprachen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bzw. „an den Zukunftsprozessen in der persönlichen, beruflichen und öffentlichen Sphäre“ (Hallet 2010a: 68). Dies ist auch das Ziel schulischer Bildung und damit des modernen Fremdsprachenunterrichts, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung der entsprechenden sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen stehen sollte. Gleichzeitig sind bei der Gestaltung fremdsprachlicher Lernarrangements die Veränderungen der letzten Jahrzehnte im Bereich der Kommunikation zu berücksichtigen. Dazu zählen insbesondere die gestiegene Anzahl an Texten im alltäglichen Leben, die wachsende Bedeutung von visuellen Darstellungen sowie die Zunahme an mündlichen, multimodalen und multimedialen Kommunikationsformen (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010: 93; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 11; Hallet 2008: 169-172; Hallet 2010a: 68; Küster 2009: 60). Ein möglicher Lerngegenstand, mit dessen Hilfe die neuen Anforderungen an die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lernenden im schulischen Fremdsprachenunterricht erworben werden können, sind Graphic Novels. Dabei handelt es sich um eine literarische Gattung, die, in Anlehnung an Comics, Bilder und Texte miteinander verbindet sowie Elemente des traditionellen Romans aufgreift. Graphic Novels erfreuen sich seit einigen Jahren weltweit wachsender Beliebtheit sowohl bei jungen als auch bei erwachsenen Lesern und werden von immer mehr Literaturverlagen in ihr Programm aufgenommen.3 Darüber hinaus rücken sie zunehmend in den Fokus der Fremdsprachendidaktik, da sie im Unterricht u. a. aufgrund ihres hohen Motivationspotenzials und dank der Unterstützung des Leseprozesses durch visuelle Informationen vielen jungen Lesern den Zugang zu authentischer und anspruchsvoller fremdsprachiger Literatur ermöglichen. Ferner können sie gezielt zum Auf- und Ausbau diverser Kompetenzen eingesetzt werden (vgl. Hallet 2012a: 3-7; Hecke 2010a: 21; Schwarz 2002: 262; Schwarz 2006: 58; Volkmann 2010: 243). In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche didaktischen Potenziale Graphic Novels zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität im 3 Das wachsende Interesse an Graphic Novels zeigt sich außerdem in der Presse und auf diversen Literaturveranstaltungen. So z. B. auf der Frankfurter Buchmesse, die seit mehreren Jahren u. a. einen eigenständigen Comicbereich anbietet und den Deutsche Cartoonpreis verleiht. Weitere Beispiele sind das diesjährige Internationale Literaturfestival Berlin, in dessen Rahmen ein Graphic Novel Day veranstaltete wurde, und die Ausstellung Die superreale Welt. Graphic Novels aus Europa, die derzeit am Institut français Berlin zu sehen ist. 2 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Fremdsprachenunterricht, insbesondere für das Fach Spanisch, bieten. Hierzu werden exemplarisch für drei Vertreter dieser literarischen Gattung Unterrichtsideen entwickelt bzw. mögliche Lehr-Lernarrangements skizziert. Vor der Analyse werden zunächst das Konzept der Multiliteralität vorgestellt sowie die Merkmale, die Entstehungsgeschichte und der Prozess des Lese-Sehverstehens von Graphic Novels erläutert. Es folgt eine Diskussion beider Untersuchungsgegenstände im Kontext des Fremdsprachenlehrens und -lernens, um im Anschluss die Potenziale der ausgewählten Graphic Novels hinsichtlich der Umsetzung der Ziele und Prinzipien der Multiliteralität zu untersuchen und die Analyseergebnisse schließlich auszuwerten. 2. Einführung in die Untersuchungsgegenstände 2.1. Multiliteralität 2.1.1. Genese Der Begriff „Multiliteralität“ (engl. multiliteracies)4 wurde von der New London Group geprägt. Diese heterogene Gruppe von US-amerikanischen, britischen und australischen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen und Bildungstraditionen kam im Jahr 1994 in den USA zusammen, um ein neuartiges pädagogisches Konzept zu erarbeiten, welches, vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, das traditionelle Verständnis von Literalität erweitert bzw. ergänzt. Die New London Group wählte die Bezeichnung multiliteracies, um die ihrer Meinung nach zwei zentralen Merkmale des gesellschaftlichen Strukturwandels zu beschreiben: Zum einen „die weltweit zunehmende sprachliche und kulturelle Diversität“ (Bach 2007: 26) und zum anderen die wachsende Vielfalt an Kommunikationskanälen und -medien (vgl. Anstey/Bull 2006: 20; Bach 2007: 24; Cope/Kalantzis 2000b: 3-5; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 9; Kupetz 2010: 225; Küster 2009: 55-56). Ausgangspunkt für die Entwicklung des Ansatzes bildete eine detaillierte Analyse der soziokulturellen Veränderungen in der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Im Wirtschaftsleben äußern sich diese in einem verstärkten 4 Obwohl der englische Terminus im Plural steht, hat sich in der deutschen Fachliteratur die Bezeichnung „Multiliteralität“ im Singular durchgesetzt und wird in der vorliegenden Arbeit dementsprechend verwendet. 3 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Konkurrenzdruck sowie in erhöhten Anforderungen an die Marktteilnehmer und die Qualität der Produkte. Parallel dazu werden in den Unternehmen die hierarchischen Strukturen tendenziell flacher und an die Stelle einzelner, klar umrissener Aufgaben bzw. linearer und wiederkehrender Arbeitsabläufe treten komplexe und ganzheitliche Arbeiten, die häufig in Teamarbeit gelöst werden müssen und einen sicheren Umgang mit immer neuen Technologien voraussetzen. Von den Arbeitnehmern in nahezu allen Berufen und Branchen wird daher verlangt, dass sie umfassend und vielseitig qualifiziert sind, ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Mobilität mitbringen sowie sich ständig weiterbilden bzw. in neue Gegenstandsfelder einarbeiten. Berufsverläufe werden somit insgesamt flexibler und die Aneignung von neuem Wissen bzw. die Fähigkeit zu lebenslangem Lernen gewinnen an Bedeutung (vgl. Anstey/Bull 2006: 2-4; Bach 2007: 25-26; Küster 2011: 138; The New London Group 2000: 10-11). Neben den genannten Veränderungen in der Arbeitswelt, zeichnet sich auch ein Wandel im politischen und sozialen Leben ab, das seit einigen Jahrzehnten durch den weltweit wachsenden Einfluss neoliberaler Tendenzen bzw. die zunehmende Orientierung an wirtschaftlichen Zielen und Prinzipien gekennzeichnet ist. Gleichzeitig verliert der (Wohlfahrts)staat an Macht und Bedeutung. Hinzu kommt, bedingt durch massive Migrationsbewegungen, eine gestiegene sprachliche und kulturelle Diversität innerhalb der Bevölkerung (vgl. Bach 2007: 26-27; Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 10; Küster 2011: 139; The New London Group 2000:13-15). Damit werden Differenzen, also u. a. kulturelle, ethnische oder geschlechtsspezifische Unterschiede, zu einem bestimmenden Merkmal der postmodernen Gesellschaft, müssen aber „zugleich [...] in einem Spannungsfeld von ‘local diversity‘ und ‘global connectedness‘ ausgehandelt werden“ (Küster 2009: 57). Die oben aufgezeigten Entwicklungen in der Arbeitswelt sowie im öffentlichen Leben wirken sich auch auf die Lebenswelt jedes Einzelnen aus. Hier haben ebenfalls Diversität und Heterogenität an Bedeutung gewonnen und die Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft abgelöst. Infolgedessen nimmt die Vielfalt an möglichen Lebensentwürfen zu, die Grenzen zwischen den verschiedenen Lebenswelten werden durchlässiger und es entstehen vielschichtige und komplexe Identitäten, die stets neu verhandelt und gefestigt werden müssen. Ferner werden Diskurse, die das Privat- und Gemeinschaftsleben betreffen, vermehrt öffentlich ausgetragen und das Alltagsleben wird immer stärker durch eine mediale 4 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Massenkultur durchdrungen, die der wachsenden Vielfalt gegenübersteht sowie diese teilweise relativiert (vgl. The New London Group 2000: 15-17). Der Wandel im öffentlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereich hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die Art und Weise wie Menschen miteinander kommunizieren. So verändert sich parallel zu den betrieblichen Arbeitsabläufen und Strukturen die Kommunikationskultur innerhalb der Unternehmen: Der Umgang mit mündlichen und informellen Gesprächssituationen wird immer wichtiger und im Bereich der schriftlichen Kommunikation, allen voran im E-Mail-Verkehr, lässt sich ein steigender Grad an Informalität feststellen. Trotz des Potenzials, das diese Entwicklung birgt, zeichnet sich nach Ansicht der New London Group die Gefahr ab, dass einzelne Mitarbeiter noch stärker als früher ausgegrenzt werden, wenn sie beispielsweise aufgrund fehlender kommunikativer Kompetenzen nicht Teil der Unternehmenskultur sind oder die gestiegenen Anforderungen an das Anpassungsvermögen nicht erfüllen können (vgl. The New London Group 2000: 12). Moderne Kommunikationstechnologien (z. B. Mobiltelefone oder Smartphones) und Medien (insbesondere das Internet) haben darüber hinaus neue Formen der zwischenmenschlichen Interaktion bzw. Kommunikation, der Wissensaneignung und der Mitgestaltung durch die Nutzer geschaffen sowie zu einer Beschleunigung der Informationsvermittlung in Ausbildung, Beruf und Privatleben geführt. Gleichzeitig zeichnet sich im Internet eine Tendenz zu „gewachsene[r] Mehrsprachigkeit von Information und Kommunikation“ (Küster 2011: 139) sowie zur zunehmenden Nutzung nicht-autorisierter Quellen ab (vgl. Anstey/Bull 2006: 7-13; Bach 2007: 26; Küster 2011: 139). Insgesamt erfordern die veränderten sozio-kulturellen Rahmenbedingungen und neuartigen Kommunikationsformen ein weitreichendes Umdenken auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die zentrale Herausforderung besteht darin, die Vielfalt der Lebenswelten zu bewahren sowie jedem Menschen die aktive Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Den Bildungseinrichtungen, allen voran den Schulen, kommt dabei die Aufgabe zu, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Heranwachsenden gezielt auf die lebensweltlichen Anforderungen vorbereitet werden. Dazu muss Schule von einer auf Homogenisierung und Anpassung ausgerichteten Organisation zu einer Institution werden, in der die subjektiven Interessen, Einstellungen und Ziele jedes Lernenden Beachtung finden sowie die Vermittlung und Aushandlung pluraler, flexibler Lebensformen und Denkweisen im Mittelpunkt stehen. 5 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Diversität und Differenzerfahrungen werden somit zur Norm, aber auch zu einer produktiven Ressource und zur zentralen Kompetenz, die im Rahmen schulischer Bildung erworben werden muss (vgl. Bach 2007: 27; Kupetz 2010: 225; The New London Group 2000: 9 u. 18-19). 2.1.2. Programmatik Die Erkenntnis, dass aufgrund des gesellschaftlichen Strukturwandels Veränderungen in der schulischen Erziehung und Bildung unumgänglich sind, spiegelt sich auch in einem neuen Verständnis von Literalität (englisch: literacy) wider. Traditionell wird unter Literalität der Erwerb und Gebrauch der beiden grundlegenden Kulturtechniken Lesen und Schreiben verstanden. Diese Auffassung unterliegt „einem normativen, regelbasierten, monolingualen und monokulturellen Code“ (Bach 2007: 24). Sie basiert zudem auf der Annahme, dass Literalität in erster Linie durch die Auseinandersetzung mit schriftlichen Texten entwickelt wird, geht häufig mit der Vermittlung tradierter, statischer Wissensbestände einher und spiegelt sich meist in einem lehrerzentrierten Unterricht wider (vgl. Anstey/Bull 2006: 17-18; Bach 2007: 24; Cope/Kalantzis 2000b: 5; Hallet 2010a: 66-67; Kupetz 2010: 225; Küster 2007: 41-42; Küster 2009: 56; The New London Group 2000: 9). Im Gegensatz dazu liegt dem Konzept der Multiliteralität ein erweitertes, dynamisches und flexibles Verständnis von Literalität zugrunde. Bach bestimmt Multiliteralität in einer vorläufigen Arbeitsdefinition wie folgt: „Multiliteralität bezeichnet die Fähigkeit, Sprache generell, auch eine fremde Sprache, kontextadäquat, ziel- und aufgabenorientiert flexibel anwenden zu können. Multiliteralität ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstorganisation, d.h. dazu, Informationen und Ressourcen so nutzbar zu machen, dass Lernprozesse und Aufgaben mit einem Fokus auf Lösungswege und Ergebnisse selbstständig und in konstruktivem Dialog mit anderen organisiert werden können. Integraler Bestandteil von Multiliteralität ist der Erwerb einer multi-medialen Kompetenz in der Verwendung von Informationsund Kommunikationstechnologien (ICT).“ (Bach 2007: 23) Multiliteralität ist also eine vielschichtige soziale Handlungsfähigkeit, die sich an die jeweiligen Bedürfnisse und Kontexte anpasst. Zentral ist dabei der Gedanke des Ausbaus und der Vernetzung einer Vielzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Lernende „zum Umgang mit komplexen, vernetzten Informationen in mehrsprachigen, vielstimmigen Kommunikationskontexten“ (Küster 2009: 56) befähigen. Allerdings beschränkt sich 6 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Multiliteralität nicht auf die Ausbildung kognitiver Kompetenzen und die gezielte Vorbereitung auf das Berufsleben bzw. auf die Arbeitswelt. Vielmehr handelt es sich um einen ganzheitlich orientierten Ansatz, der das Ziel verfolgt, Lernende zu aktiven und verantwortungsbewussten Gestaltern der sozialen Zukunft zu erziehen und sie am Aufbau einer gerechteren Gesellschaft zu beteiligen. Daher sind auch die Entwicklung von eigenverantwortlichem Handeln sowie die Stärkung der eigenen Identität Teil des Konzepts und den “affektiven und soziokulturellen Bedürfnissen des Lerners [wird] besondere Beachtung“ (Küster 2009: 58) geschenkt. Des Weiteren sollen die Lernenden sich ihrer persönlichen Haltungen bewusst werden und ein kritisches Reflexionsvermögen ausbilden (vgl. Anstey/Bull 2006: 37-39 u. 55; Bach 2007: 23-24; Cope/Kalantzis 2000b: 7; Hallet 2010a: 69; Küster 2007: 43; Küster 2009: 56-58; The New London Group 2000: 13). Zur Entwicklung und Modifizierung von Wissen bzw. zum Aufbau multiliteraler Kompetenzen erarbeitete die New London Group ein dreischrittiges Verfahren, in dessen Mittelpunkt das Konzept des Designs steht. Dabei „geht [es] nicht um tradierte Wissensbestände, sondern um die dynamische, den jeweiligen Praxen und Kontexten (Arbeitswelt, Produktionsabläufe, Lehren und Lernen) inhärente Wissensentwicklung“ (Bach 2007: 27). Durch den Begriff „Design“ wird zudem unterstrichen, dass es sich um einen schöpferischen Prozess handelt, den die daran beteiligten Personen aktiv mitgestalten. Den Ausgangspunkt bildet das Available Design, d. h. das individuelle Vorwissen, das u. a. lebensweltliches Allgemeinwissen, aber auch Kenntnisse über sprachliche Stile, Register und Dialekte umfasst. Dieses wird im Prozess des Designings unter Rückgriff auf die produktiven Tätigkeiten Hören, Reden, Lesen und Schreiben rekontextualisiert, umstrukturiert und modifiziert. Gleichzeitig werden auch der Lerner selbst bzw. seine Identität transformiert. Das Ergebnis dieses Vorganges ist The Redesigned, das weder eine bloße Reproduktion des Vorwissens noch ein rein kreativer Akt ist. Vielmehr handelt sich um ein in historische und kulturelle Kontexte eingebettetes „unique product of human agency“ (The New London Group 2000: 23), das seinerseits wieder zum Available Design und damit zum Ausgangspunkt für die erneute Entwicklung und Umformung von Wissen und Identitäten wird (vgl. Bach 2007: 27-28; Küster 2009: 56; The New London Group 2000: 19-23). Im Prozess der Strukturierung und Transformation von Wissen kommen neben der Sprache auch weitere “Literalitätskomponenten“ (Bach 2007: 28) bzw. Design Elements zum Tragen. 7 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Diese können visueller (z. B. Farben, Perspektive), auditiver (z. B. Musik, Soundeffekte), mimisch-gestischer (z. B. Körpersprache, Verhalten) oder räumlicher Natur (z. B. architektonische Elemente) sein. Sie werden von der ihnen übergeordneten multimodalen Literalität, die sich durch einen hohen Grad an Hybridität (die Vermischung unterschiedlicher Modi) und Intertextualität (die Verbindungen zu anderen Texten, Texttypen oder Darstellungsformen) auszeichnet, in dynamischen Beziehungen miteinander verknüpft (vgl. Bach 2007: 28; The New London Group 2000: 25-30). Neben diesen sach- und inhaltsbezogenen Aspekten, stellte die New London Group in ihrem Konzept methodisch-didaktische Überlegungen zur Gestaltung von multiliteralen LehrLernarrangements an, in die bereits vorhandene pädagogische Ansätze und Überlegungen einflossen. Ausgehend von der Annahme, dass menschliches Wissen stets in soziale, kulturelle und materielle Kontexte eingebunden ist und sich über den Austausch mit anderen Menschen entwickelt, die unterschiedliche Fähigkeiten besitzen und Ansichten vertreten, versteht sie Pädagogik5 als ein komplexes Zusammenspiel von vier interdependenten Faktoren bzw. Dimensionen: Situated Practice, Overt Instruction, Critical Framing und Transformed Practice (vgl. Bach 2007: 28-29; Kalantzis/Cope 2000: 239; Küster 2009: 58-59; The New London Group 2000: 30-31). Situated Practice greift das lebensweltliche Vorwissen der Schüler bzw. die Available Designs, ebenso wie ihre individuellen Bedürfnisse und Identitäten auf und regt sie unter Rückgriff auf Expertenwissen zu implizitem Lernen an. Allerdings kann eine solche „Immersion des Lernenden in Prozesse der Bedeutungsaushandlung“ (Bach 2007: 29) nicht sicherstellen, dass die Schüler Bewusstsein und Kontrolle über das Gelernte erlangen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine weitere Dimension, die Overt Instruction, notwendig. Sie umfasst die aktive Intervention des Lehrers, der Lernprozesse initiiert, begleitet sowie gezielt lenkt und fokussiert, und vermittelt den Lernenden explizites Metawissen. Um zu gewährleisten, dass die Schüler eine kritische Distanz gegenüber dem erworbenen Wissen erlangen, ist es zudem notwendig, den Lernern im Rahmen des Critical Framings das bereits erworbene Wissen wieder fremd werden zu lassen bzw. es auf andere soziale und kulturelle 5 Bach weist darauf hin, dass der Begriff Pädagogik bzw. pedagogy „im Konzept der New London Group weiter gefasst [ist] als der deutsche Terminus Pädagogik. Er ist sowohl auf der Ebene der theoretischen Rahmung angesiedelt [...] als auch auf der Ebene unterrichtsmethodischer Strukturierung von Literalität in multiplen Kontexten“ (Bach 2007: 28). 8 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Kontexte zu übertragen und damit zu relativieren. Schließlich muss das transformierte Wissen im Sinne einer reflektierten Praxis in neuen Kontexten angewandt und damit erfahrbar und überprüfbar werden. Dieser Schritt wird als Transformed Practice bezeichnet (vgl. Bach 2007: 29; Kalantzis/Cope 2000: 244-248; Küster 2009: 58-59; The New London Group 2000: 31-36). Die vier erläuterten Faktoren sind zirkulär bzw. spiralförmig angelegt und beeinflussen, bedingen und/oder ergänzen sich gegenseitig. Auch ihre Gewichtung kann je nach Situation unterschiedlich ausfallen (vgl. Bach 2007: 29; Kalantzis/Cope 2000: 239-240; Küster 2009: 59; The New London Group 2000: 32 u. 36-37). Insgesamt steht im Konzept der Multiliteralität die „Aushandlung von Differenzerfahrungen im Vordergrund; sie bilden die Basis für neue Lernprozesse, die im Kontext einer multiliteralen Pädagogik durchaus schmerzhaft sein können“ (Bach 2007: 29). 2.1.3. Praxisbeispiele Die New London Group selbst hat keine konkreten Modelle oder Beispiele für die Unterrichtspraxis entwickelt. Stattdessen weisen die Autoren darauf hin, dass es sich um ein offenes, unabgeschlossenes und vorläufiges „programmatisches Manifest“ handelt, das kontinuierlich verändert und erweitert werden soll (vgl. Bach 2007: 30; Cope/Kalantzis 2000b: 8). Dementsprechend wurden im Anschluss an die Veröffentlichung des Konzepts nicht nur weiterführende didaktisch-methodische Überlegungen dahingehend angestellt, wie die Ziele und Prinzipien der Multiliteralität im schulischen Unterricht umgesetzt werden können, sondern auch diverse Forschungs- und Unterrichtsprojekte entwickelt und durchgeführt, allerdings meist im Bereich der Primarschule oder Erwachsenenbildung und in englischsprachigen Ländern. Dagegen gibt es derzeit so gut wie keine Anregungen für die Entwicklung multiliteraler Kompetenzen im schulischen Fremdsprachenunterricht (vgl. Küster 2009: 60). Drei Praxisbeispiele werden im Folgenden exemplarisch skizziert. Die Förderung multiliteraler Kompetenzen bei bilingualen und monolingualen Kindern im Grundschulalter ist Ziel des EU-Projekts Multilingual Virtual Talking Books (kurz: MuViT). Im Rahmen des Projektes wurde von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler aus den Bereichen Fremdsprachendidaktik sowie Informations- und Kommunikationstechnik eine 9 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Software entwickelt, die computergestützte Bilderbücher in fünf Sprachen (Deutsch, Englisch, Russisch, Spanisch und Türkisch), sogenannte Multilingual Virtual Talking Books, umfasst. Die Kinder entscheiden sich zunächst, auf welcher Sprache sie eine Geschichte, in der Bilder und Text miteinander kombiniert werden, lesen möchten, haben aber jederzeit die Möglichkeit, zwischen den Sprachen zu wechseln. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, sich die Erzählungen anzuhören, wobei die Wörter parallel zum gesprochenen Text visuell hervorgehoben werden, und im Anschluss an die Lektüre passende Aufgaben, ebenfalls in fünf verschiedenen Sprachen, zu lösen. Ergänzt wird die MuViT Software durch ein Authoring Tool, mit dessen Hilfe Lernende selbst geschriebene Geschichten in unterschiedlichen Sprachen zusammen mit Bild- und Audiomaterial hochladen und anderen Nutzern zur Verfügung stellen können. Die Software bietet Schülern, Lehrern und Eltern zudem ein Forum (Web Community) zum Austausch über ihre Erfahrungen mit dem Produkt an. Berichte über den Einsatz der Software in der Unterrichtspraxis liegen bisher noch nicht vor, da erste Fortbildungsseminare für Lehrer erst vor kurzem begonnen haben. Allerdings wird davon ausgegangen, dass die Arbeit mit der MuViT Software die Ausbildung von Multiliteralität bei Grundschülern unterstützt, indem sie Neugierde auf (mehr)sprachliche und (mehr)kulturelle Phänomene weckt, die Entwicklung von Sprachaufmerksamkeit bzw. -bewusstheit, Lese- und Medienkompetenz, metasprachliche Kommunikation sowie den aktiven, kritischen Umgang mit multimodalen Texten fördert und die Lernenden für sprachübergreifende Vergleiche sensibilisiert (vgl. Elsner/Armbrust 2011; Goethe-Universität Frankfurt am Main o. J.; Hegen 2012). Ein Beispiel dafür, wie Sprachunterricht 6 zur Entwicklung von Multiliteralität beitragen kann, ist das Graphic Journeys Project, das an einer US-amerikanischen middle school mit 32 Schülern mit Migrationshintergrund durchgeführt wurde. Ziel dieses umfangreichen Schreibprojekts war das Verfassen einer Graphic Journey, eine Art Migrationserzählung in Comic-Form. Als Einstieg in das Projekt wurden den Schülern zunächst diverse Comics und Graphic Novels zur Verfügung gestellt, die sie sowohl in der Schule als auch zu Hause je nach Interesse lesen konnten. Die individuelle Lektüre der Texte bildete die Grundlage für die anschließende systematische Auseinandersetzung mit gestalterischen und erzählerischen 6 In diesem Fall handelt es sich um Englisch als Zweitsprache. 10 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Aspekten grafischer Literatur7 im Unterricht. Ergänzend wurden unterschiedliche Aktivitäten (u. a. das Finden von Überschriften zu Comics, das Erstellen von Dialogen zu Bildgeschichten) durchgeführt, um den Umgang mit multimodalen Texten zu schulen. Diese und weitere Übungen wurden als Vorbereitung auf den eigentlichen Schreibprozess in individuellen „Schreibtagebüchern“ (journals) gesammelt. Während mehrerer Reflexionsund Schreibphasen lernten die Schüler zudem Strategien zum Verfassen von Texten kennen und verbesserten anhand eigener Texte gezielt sprachliche und grammatische Strukturen im Englischen. Parallel zu diesen Tätigkeiten wurde im Unterricht die Graphic Novel American Born Chinese gelesen und analysiert. Die dadurch gewonnenen Informationen sollten die Schüler anschließend mit ihren eigenen Migrationsgeschichten in Verbindung bringen. Ein weiterer Schritt bestand darin, dass die Schüler Recherchen über ihre Familiengeschichte anstellten. Dazu sollten sie mithilfe selbst erstellter Interviewbögen Familienmitglieder befragen und nach geeigneten Fotos suchen. Am Ende wurden sie aufgefordert, schrittweise ihre eigenen multimodalen Geschichten zu verfassen. Bei Bedarf stand ihnen dafür eine geeignete Software zur Verfügung. Der Schreibprozess wurde zudem in einzelne Phasen (Planung, Verschriftlichung, Überarbeitung und abschließendes Redigieren) untergliedert und von den Lehrkräften begleitet. Die Ergebnisse des Projekts, d. h. die Graphic Journeys, wurden zusammen als Buch gebunden und den Eltern vorgestellt. Insgesamt lernten die Schüler durch das Projekt den Umgang mit einer Vielzahl von Kommunikationsformen, symbolischen Ausdrucksformen und multimodalen Texten, konnten ihre Englischkenntnisse im Rahmen authentischer und kommunikativer Lernszenarien verbessern und sich über ihre kulturelle Identität bzw. Herkunft bewusst werden und diese ausdrücken (vgl. Danzak 2011: 187 u. 190-195). Zur Erforschung von Multiliteralität im Bereich der Erwachsenenbildung wurden in den Jahren 2002 und 2003 diverse Studien am Englischen Seminar der Universität Hannover durchgeführt. Im Zentrum des Forschungsinteresses stand die Frage, wie multiliterale Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien, insbesondere mit dem Internet, durch gezielte Reflexion und Anleitung in Form eines Befähigungsexperiments modelliert werden können. Eine der Studien (Hauptstudie I) befasste sich mit dem Literacy Event ,Searching for Information‘, das neben der Suche nach Informationen im Internet (Web Literacy) auch die 7 Diese Bezeichnung wird in der vorliegenden Arbeit als Sammelbegriff für Comics und Graphic Novels verwendet. 11 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann kritische Bewertung von Webseiten (Critical Literacy) einschließt. An der Studie nahmen elf Studierende der Anglistik mit unterschiedlichen, jedoch überwiegend fortgeschrittenen Englischkenntnissen teil. Zunächst wurde über einen Fragebogen und die Anfertigung eines Laut-Denk-Protokolls während einer Internetrecherche das Ausgangsniveau der Studenten hinsichtlich der Computer- und Internetkenntnisse festgestellt. Diese erste Erhebung ergab, dass die Probanden trotz langjähriger Erfahrung im Umgang mit Computer und Internet sowie häufiger Nutzung dieser Medien kaum über fundierte Kenntnisse verfügten sowie wenig systematische und elaborierte Suchstrategien verwendeten. Auch die Bewertung von Internetseiten erfolgte eher nach subjektiven als nach objektiven und kritischen Kriterien. Die Probanden ließen sich bei der Beurteilung der Webseiten zudem stark von deren Gestaltung beeinflussen und vernachlässigten häufig den Inhalt. Teilweise waren sie sich über ihre Defizite bzw. möglichen Verbesserungspotenziale bewusst. Nach der Feststellung des Ausgangsniveaus folgten eine Anleitung zu Recherchestrategien im Internet und zur Evaluation von Webseiten, eine Einführung in das Erstellen einer Webseite mit zielsprachenkulturspezifischen Inhalt (Erstellung eines Programms für eine Australienreise) sowie Reflexionen über den Lerneffekt. Als Ergebnisse der anschließenden zweiten Erhebung konnte festgestellt werden, dass die Studienteilnehmer durch das Befähigungsexperiment einen Zuwachs an explizitem Wissen über das Internet verzeichneten sowie ihre Suchmöglichkeiten und -strategien deutlich verbessern konnten. Des Weiteren zeigten sich positive Auswirkungen auf die Bewertung von Webseiten, die nun deutlich kritischer und bewusster ausfiel. Durch das Erstellen einer eigenen Internetseite als Alternative zu klassischen Schreibaufgaben konnte zudem eine Verbesserung der fremdsprachlichen Ausdrucksfähigkeit festgestellt werden. Die Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, dass solche oder ähnliche Aufgaben, am besten in einer Kombination aus eigenständiger Erprobung und Anleitung, geeignet sind, um im Sprachunterricht gezielt Web Literacy und Critical Literacy zu entwickeln und zu fördern (vgl. Kupetz/Schneller 2005: 379-409). Die Ausführungen zu den drei Forschungs- und Unterrichtsprojekten zeigen, wie groß die Bandbreite der didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten ist, die sich aus dem Konzept der Multiliteralität ergeben. Darüber hinaus wird deutlich, dass unterschiedliche Schwerpunktsetzungen möglich sind, d. h. gezielt einzelne Aspekte der Multiliteralität 12 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann gefördert werden können, und dass die Entwicklung multiliteraler Kompetenzen meist in komplexe, umfassende und vernetzte Lehr-Lernarrangements eingebettet ist. 2.1.4. Multiliteralität im Kontext des Fremdsprachenlernens und -lehrens Die Beherrschung der eigenen, aber auch fremder Sprachen bildet die wichtigste Grundlage für die Kommunikation mit anderen Menschen und ermöglicht die Ausbildung der individuellen und kollektiven Identität. Sprache modelliert somit die kulturellen Praktiken und lebensweltlichen Erfahrungen jedes Einzelnen und ist gleichzeitig in die soziale und mediale Umgebung eingebettet. In ihr spiegelt sich daher auch der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte wider. Einen der einschneidendsten Umbrüche, der direkte Auswirkungen auf Sprache und Kommunikation hat, sieht Hallet im „shift vom Wort zum Bild“ (Hallet 2008: 169), d. h. in der wachsenden Bedeutung visueller Darstellungsformen, die sich teilweise mit anderen Medien und Modi überschneiden oder durch diese ergänzt werden. Dies hat zur Folge, dass Sprache nur noch ein Medium der Bedeutungsaushandlung ist, das durch weitere Symbolsysteme ergänzt werden muss. Darüber hinaus verschwimmen die Grenzen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die Schriftsprache verliert an Bedeutung und wird durch multimodale und multimediale Kommunikationsformen ersetzt, die wiederum durch neue, sich schnell wandelnde Konventionen geprägt sind. Ferner hat die Menge an Texten in allen lebensweltlichen Situationen zugenommen und Diskurse werden zunehmend mehrsprachig geführt (vgl. Elsner/Küster/Viebrock 2007b: 11; Hallet 2008: 169-174; Hallet 2010a: 68; Küster 2007: 42; Küster 2009: 60; Küster 2011: 139 u. 144). Als Folge dieser Entwicklungen werden die Anforderungen an die Literalitätskompetenzen im Allgemeinen bzw. an das Erlernen einer Fremdsprache im Besonderen umfangreicher und komplexer: „Die Fähigkeit der aktiven Teilhabe an fremdsprachigen Diskursen beruht heute nicht mehr nur auf der Nutzung verbalsprachlicher Kommunikationsmittel. Vielmehr muss auch der Fremdsprachenunterricht die Lernenden auf das Verstehen und auf das aktive Erzeugen eines Zusammenspiels verschiedener Medien und Modi sowohl in einzelnen Kommunikationsakten als auch in größeren Diskurszusammenhängen vorbereiten, wie sie bei der Verhandlung wichtiger gesellschaftlicher Fragen entstehen.“ (Hallet 2010b: 29) 13 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Um diesen neuen Anforderungen hinreichend gerecht zu werden, muss im Fremdsprachenunterricht der Textbegriff weiter gefasst, der flexible und vernetzende Umgang mit Sprache gefördert, aber auch die Produktion unterschiedlicher modaler und medialer Darstellungsformen bzw. Texte geschult werden. An die Stelle eines überwiegend schriftsprachlich ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts tritt somit der Umgang mit multimodalen Formen der Kommunikation, bei dem die vielfältigen Bedeutungsformen, Konventionen und Codes von den Lernenden nicht nur erkannt, sondern auch miteinander in Beziehung gesetzt bzw. vernetzt werden müssen. Hinzu kommt die Ausbildung weiterer Kompetenzen, insbesondere der Mehrsprachigkeit, der Medienkompetenz und der visuellen Kompetenz.8 All diese Aspekte werden im Konzept der Multiliteralität zu einer umfassenden, flexiblen und vernetzenden Handlungsfähigkeit zusammengefasst (vgl. Anstey/Bull 2006: 20-33 u. 54-55; Bach 2007: 24; Cope/Kalantzis 2000b: 5-6; Hallet 2008: 170-174; Hallet 2010a: 67-69; Hallet 2010c: 130-131; Küster 2007: 42-45; Küster 2009: 56; Küster 2011: 139-140). Darüber hinaus stellen die Ziele und Prinzipien der Multiliteralität die Outputorientierung des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland in Frage, welche die Gültigkeit von Lern- und Bildungszielen auf das Kriterium der Überprüfbarkeit verengt und die Ebene der Persönlichkeits- und Identitätsbildung vernachlässigt (vgl. Küster 2007: 45; Küster 2009: 59-60; Küster 2011: 144). Das Konzept der Multiliteralität bietet hier eine wesentliche Erweiterung und Ergänzung, „insofern es sprachlich-funktionale und persönlichkeitsbezogene, kognitive und affektiv-attitudinale Kompetenzaspekte in ihrer wechselseitigen Verzahnung modelliert“ (Küster 2009: 60). Insgesamt leistet Multiliteralität also einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung des Fremdsprachenlernens und -lehrens. Um die Ziele und Prinzipien dieses pädagogischen Konzepts im schulischen Fremdsprachenunterricht umsetzen zu können, sind allerdings Lerngegenstände notwendig, die die Schüler motivieren und Ansatzpunkte für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten der Multiliteralität bieten. Dieses Potenzial findet sich u. a. in Graphic Novels, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. 8 Die visuelle Kompetenz wird im Kapitel 2.2.3. näher erläutert. 14 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann 2.2. Graphic Novels 2.2.1. Merkmale und Entstehungsgeschichte Graphic Novels 9 „sind eine relativ junge Gattung, die sich aus der populären Kunstform der amerikanischen Comics entwickelt hat“10 (Hallet 2012a: 4). Die ersten modernen Comics, die mithilfe einer Folge von mindestens zwei Bildern und meist in Kombination mit formal integrierter Sprache eine Geschichte erzählen, entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurden zunächst in Zeitungen als comic strips veröffentlicht und leisteten häufig einen wichtigen Beitrag zur Leserbindung. Aufgrund der wachsenden Beliebtheit erschienen sie bald als Nachdrucke in Form von Comicheften (engl. comic books). Diese erlangten schließlich mit der Veröffentlichung von Joe Shusters Superman im Jahr 1938 einen eigenständigen Status. Gleichzeitig wurden Geschichten von Superhelden zum beliebtesten Comic-Genre, das in seiner Popularität nur in den 50er Jahren durch Verbrechens- und Horrorcomics übertroffen wurde. Comics sprachen in erster Linie Kinder und Jugendliche sowie männliche Leser an und genossen lange Zeit sowohl in den USA als auch in weiten Teilen Europas ein sehr geringes Ansehen.11 So wurden ihnen u. a. ein negativer Einfluss auf die Entwicklung von Kindern nachgesagt sowie eine Mitschuld an der Entstehung von Jugendkriminalität gegeben (vgl. Fingeroth 2008: 4, 12-15 u. 24; Hallet 2012a: 2-4; Hertrampf 2012: 1; Lünstedt o. J.; Schüwer 2005: 3-6; Schüwer 2008: 2-10; Wolk 2007: 3-4 u. 14). Ab den 50er Jahren wurden erste, wenn auch wenig erfolgreiche Comics veröffentlicht, die auf ein erwachsenes Publikum ausgerichtet waren und im Laufe der 60er Jahre entstand die Bewegung der underground comix, welche die Grenzen des Mediums zu erweitern versuchte sowie sich neuen, oftmals tabuisierten Themen widmete. Diesen Trend setzten die Vertreter der ground-level comics anschließend in abgemilderter Form fort. All dies waren wichtige Schritte auf dem Weg zur Entstehung der Graphic Novel, ein Begriff, der vermutlich 1964 erstmals von Richard Kyle verwendet wurde. Bekanntheit erlangte er allerdings erst durch die 9 Obwohl der Begriff „Graphic Novel“ noch nicht im deutschen Sprachgebrauch etabliert ist, wird er in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an die Bezeichnung „Comic“ in eingedeutschter Schreibweise verwendet. 10 Hier und im Folgenden werden die Begriffe „Gattung“ bzw. „Medium“ gebraucht, um die formelle Beschaffenheit von Graphic Novels und Comics zu unterstreichen, während mithilfe des Terminus „Genre“ deren mögliche thematisch-inhaltliche Ausrichtung beschrieben wird. 11 Eine Ausnahme bildet Frankreich, wo Comics schon länger als literarisch-künstlerische Ausdrucksform geschätzt werden und als Neunte Kunst gelten. Auch Spanien kann auf eine lange Comic-Tradition zurückblicken und „das Image des Comics [ist] weitaus besser als etwa in Deutschland“ (Hertrampf 2012: 1). 15 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Publikation von Will Eisners Werk A Contract with God im Jahr 1978. Eisner, der zu diesem Zeitpunkt bereits ein bekannter Comic-Autor war, gebrauchte die Bezeichnung „Graphic Novel“ bewusst im Untertitel zu seinem Buch, um potenzielle Verleger von der Ernsthaftigkeit seines Werkes zu überzeugen und sich von den traditionellen Comics mit eher trivialen Inhalten zu distanzieren bzw. abzuheben. Seitdem wird der Begriff im Allgemeinen zur Charakterisierung von „anspruchsvollen“ Comics verwendet. Graphic Novels erfreuen sich in den letzten Jahren auch in Deutschland zunehmender Popularität und konnten sich spätestens seit Art Spiegelmans Auszeichnung für sein Werk Maus mit dem renommierten Pulitzerpreis als Kunstform etablieren. Gleichzeitig hat auch das wissenschaftliche Interesse an grafischer Literatur sowohl in der Kultur- und Literaturwissenschaft als auch in der Fremdsprachendidaktik zugenommen (vgl. Fingeroth 2008: 3 u. 16-28; Hallet 2012a: 2-4; Lünstedt o. J.; Monnin 2010: xvii; Schüwer 2005: 2-4; Schüwer 2008: Vorwort u. 4; Wolk 2007: 7-11). Ebenso wie Comics bestehen Graphic Novels aus narrativen Bildsequenzen, in denen meist visuelle und sprachliche Elemente miteinander verbunden werden. Zudem greifen sie die Darstellungsstrategien des Films auf, ermöglichen im Gegensatz zu diesem Medium jedoch ein Verweilen bei einzelnen Bildern sowie das Vor- und Zurückspringen zwischen diesen. Darüber hinaus knüpfen Graphic Novels „an die Tradition der großen Erzählform des Romans an“ (Hallet 2012a: 3). Eine maßgebliche Weiterentwicklung gegenüber der Kunstform der Comics ist die Vermarktung von Graphic Novels: Sie werden vornehmlich in Buchform veröffentlicht und über den Buchhandel verkauft. Damit stehen sie im klaren Gegensatz zu Comics, die traditionell als Heft gebunden und meist ausschließlich über den Zeitschriftenhandel vertrieben werden. Als Beispiel für die Vermarktungsstrategie von Graphic Novels sei auf die SZ Bibliothek Graphic Novels 12 hingewiesen. Diese wurde Anfang 2011 als Kollektion von zehn Werken ausgezeichneter Autoren „in hochwertiger HardcoverAusstattung mit Lesebändchen“ (Süddeutsche Zeitung o. J.) auf den Markt gebracht und im Frühjahr dieses Jahres durch weitere zehn Graphic Novels ergänzt (vgl. Fingeroth 2008: 3 u. 23; Hallet 2012a: 2-4; Süddeutsche Zeitung o. J.). 12 Diese umfasst u. a. Will Eisners Werk A Contract with God (dt. Ein Vertrag mit Gott) und Shaun Tans The Arrival (dt. Ein neues Land). 16 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Neben neuen Printformaten und Vertriebswegen unterscheiden sich Graphic Novels auch inhaltlich von Comics und deren traditionellen „Superhelden-Image“, indem sie sich, unter Rückgriff auf die gesamte Bandbreite an literarischen Genres, einer Vielzahl ernsthafter, bildungsrelevanter und komplexer Themen widmen, die häufig von gesellschaftlicher Bedeutung sind. Oftmals sind Graphic Novels auch autobiografisch inspiriert. Des Weiteren zeichnen sie sich durch ein „komplexes Handlungsgefüge“ (Hallet 2012a: 4) aus, bedienen sich „metaphorische[r] und symbolische[r] Darstellungsweisen“ (Hallet 2012a: 4), stellen intertextuelle Verbindungen her und bieten dem Leser Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der handelnden Personen sowie detailreiche Landschaftsbeschreibungen. Schließlich haben Graphic Novels oftmals einen hohen künstlerischen Anspruch und experimentieren „mit den ästhetischen Möglichkeiten des Mediums“ (Süddeutsche o. J.). Insgesamt erreichen sie somit ein wesentlich breiteres, erwachseneres und anspruchsvolleres Lesepublikum als Comics (vgl. Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 137-138; Fingeroth 2008: 3-6, 20 u. 23; Hallet 2012a: 2-4; Lünstedt o. J.; Süddeutsche Zeitung o. J.; Wolk 2007: 27-28). Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von Graphic Novels ist der Verzicht auf Serialität. Während Comics fast immer als Fortsetzungsgeschichten konzipiert sind, werden Graphic Novels, selbst wenn sie zunächst in mehreren Teilen veröffentlicht wurden, als ein zusammenhängendes Gesamtwerk wahrgenommen. Damit wird ihre Einzigartigkeit und Originalität unterstrichen. Gleichzeitig kann der Leser keine Lese- und Sehgewohnheiten entwickeln oder sich auf Wiedererkennungseffekte, z. B. im Hinblick auf bestimmte Figuren oder den Erzähl- und Zeichenstil, stützen, was u. a. zu einer „Entschleunigung“ des Sehens führen kann (vgl. Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 137-138; Fingeroth 2008: 6-7; Wolk 2007: 27-28). Trotz ihrer gestiegenen Popularität existiert bisher keine einheitliche Definition von Graphic Novels und „die Bandbreite dessen, was unter diesem Gattungsbegriff geführt wird,“ (Hallet 2012a: 4) ist groß. Darüber hinaus finden sich in der Fachliteratur diverse alternative Bezeichnungen, wie z. B. „Comic-Roman“, „Graphic narrative“ oder „sequential art“, und es wird immer wieder in Frage gestellt, ob Graphic Novels und Comics jeweils als eigenständige Gattung gelten können. Häufig werden daher die Begriffe „Comic“ und „Graphic Novel“ synonym gebraucht. Douglas Wolk weist zudem darauf hin, dass der Begriff „novel“ insofern 17 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann irreführend ist, als dass er andere Erzählformen als den Roman, wie z. B. Kurzgeschichten 13 oder nichtfiktionale Erzählungen, als Graphic Novels ausschließt. Außerdem kritisiert er, dass die begriffliche Unterscheidung von Comics und Graphic Novels oftmals mit deren unberechtigten Zuordnung zur Populärkultur bzw. zur gehobenen Kultur einhergeht (vgl. Fingeroth 2008: 3-5; Hallet 2012a: 4; Hertrampf 2012: 3; Lünstedt k. A; Wolk 2007: 60-64). Auch wenn anhand der Ausführungen deutlich wird, dass in der Fachliteratur hinsichtlich der Verwendung des Begriffs „Graphic Novel“ und seiner Abgrenzung gegenüber Comics Uneinigkeit besteht, werden Graphic Novels in der vorliegenden Arbeit als eigenständige literarische Gattung gesehen, u. a., weil sich diese Ansicht zunehmend in der Fremdsprachendidaktik durchzusetzen scheint. Als Arbeitsgrundlage für die spätere Analyse dient, neben den oben genannten Merkmalen, Hallets Definition, der unter einer Graphic Novel „eine fiktionale, romanartige Langerzählung [versteht], die sich der Darstellungsweise der Comics bedient“ (Hallet 2012a: 4). Dabei wird seine Betrachtungsweise von Graphic Novels als „romanartige Langerzählung“ in der vorliegenden Arbeit im Sinne ihrer inhaltlichen und thematischen Komplexität aufgefasst und nicht davon ausgegangen, dass ein Werk dieser Gattung notwendigerweise wie ein Roman gestaltet sein muss. 2.2.2. Lese-Sehverstehen 14 Die Lektüre von Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht stellt hohe Anforderungen an das Lese-Sehverstehen. Schwierigkeiten kann dabei u. a. die fremde Sprache, insbesondere jedoch die Kombination unterschiedlicher Symbolsysteme bereiten (vgl. Hallet 2012a: 3-4). Um den Formenreichtum und die Komplexität von Graphic Novels sowie die damit einhergehenden hohen Anforderungen an die Rezeptionsleistung beim Lesen zu verdeutlichen, sollen im Folgenden einige spezifische Erzählkonventionen und gestalterische Mittel dieser literarischen Gattung skizziert werden. 13 Selbst bei Will Eisners Werk A Contract with God, das gemeinhin als erste Graphic Novel gilt, handelt es sich streng genommen nicht um einen Roman, „sondern um eine lose durch die Örtlichkeit (ein Mietshaus in New York) zusammenhängende Sammlung von vier Kurzgeschichten“ (Lünstedt k. A). 14 Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen Graphic Novels und Comics wird in der Fachliteratur häufig auf die theoretischen Überlegungen zur Analyse und Interpretation von Comics zurückgegriffen und die entsprechende Terminologie übernommen. Ebenso wird in diesem und den folgenden Kapiteln der Arbeit verfahren. 18 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Zentraler Bestandteil von Graphic Novels sind die sogenannten panels, d. h. „die in sich geschlossenen visuellen Einheiten [...], die Bild und/oder Texte enthalten und mithilfe dieser Mittel die Geschichte erzählen“ (Kimes-Link/Steininger 2012: 14). Sie werden jeweils von einem frame umrahmt. Im Allgemeinen wird zwischen content panels und story panels unterschieden. Content panels können die Geschichte nur mit Hilfe von Worten (word panel), ausschließlich über Bilder (image panel) oder im Zusammenspiel von Bild und Text (word and image panel) erzählen. Story panels entwickeln die Erzählung u. a. hinsichtlich der Handlung, der Figuren und des Settings sowie durch den Einsatz von Symbolen. Der Raum zwischen zwei panels wird als gutter bezeichnet. Gutters sind für das Verstehen einer Graphic Novel von fundamentaler Bedeutung, da sie als Übergänge (transitions) zwischen mehreren panels die Handlung vorantreiben und eine Leerstelle darstellen, die vom Leser interpretativ gefüllt werden muss, um die panels in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Das Ausfüllen der Leerstellen (engl. closure) ist kaum problematisch, wenn beispielsweise eine einzelne, in verschiedene Teilschritte zerlegte Handlung durch eine Reihe von panels dargestellt wird (moment-to-moment gutter) oder eine einzelne Person über mehrere panels hinweg verschiedene Handlungen ausführt (action-to-action gutter). Hier sind „die dargestellten Handlungen in ihrem Verlauf vorhersehbar“ (Kimes-Link/Steininger 2012: 14). Wird dagegen durch mehrere panels eine einzelne Szene abgebildet, in der unterschiedliche Personen oder Objekte aus verschiedenen Perspektiven fokussiert werden (subject-to-subject gutter), der Blick des Lesers auf unterschiedliche Aspekte einer Szene gelenkt (aspect-toaspect gutters) oder die Handlung durch größere zeitliche und räumliche Sprünge abrupt beschleunigt (scene-to-scene gutter), sind die Anforderungen an die Interpretationsleistung seitens des Lesers wesentlich höher. Gleiches gilt für die non-sequitur gutters, die keinen logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen panels erkennen lassen und diverse Funktionen erfüllen können. Der Abstand zwischen den panels und die Wahl des gutters bestimmen zudem die Lesegeschwindigkeit. So vermittelt z. B. eine Reihe von panels, die dicht aufeinander folgen und im engen inhaltlichen Zusammenhang stehen, Bewegung und Geschwindigkeit, während ein einzelnes Bild den Leser zum Verweilen, Betrachten der Details und/oder zum Nachdenken über die bisherige Handlung einlädt (vgl. Frey/Fisher 2010: 12-13; Jacobs 2007: 21; Kimes-Link/Steininger 2012: 14-15; Monnin 2010: 2-8; Schüwer 2008: 10, 273-275 u. 483; Wolk 2007: 131). 19 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Die Abfolge von panels und gutters bildet zusammengenommen das Gesamtlayout einer Seite, das auch als tableau bezeichnet wird und „dem Leser das, was sonst als lineares zeitliches Nacheinander rezipiert wird, in simultaner Blockhaftigkeit“ (Schüwer 2008: 483) aufzeigt. In der klassischen Anordnung (9-panel-grid) bestehen die Seiten einer Graphic Novel aus drei Zeilen mit jeweils drei panels, die, entsprechend der normalen Leserichtung, von links nach rechts und von oben nach unten gelesen werden. Es gibt aber auch eine Reihe weiterer Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des Seitenaufbaus. Beispielsweise können um ein zentrales panel in der Mitte der Seite weitere panels gruppiert werden, die im Uhrzeigersinn gelesen werden müssen. Zudem gibt es sogenannte splash pages, das sind Bilder, die eine ganze Seite füllen oder deutlich größer sind als die anderen panels der Seite zusammen. Sie können zu Beginn einer Geschichte als Titelseite oder zur Veranschaulichung eines zentralen Ereignisses der Erzählung eingesetzt werden (vgl. Frey/Fisher 2010: 10-12; Jacobs 2007: 21; Kimes-Link/Steininger 2012: 14-15; Monnin 2010: 2-8; Panknin/Wieland 2012: 17; Schüwer 2008: 10, 273-275 u. 483; Wolk 2007: 131). Wird eine Graphic Novel im Fremdsprachenunterricht behandelt, muss zunächst der fremdsprachliche Worttext 15 innerhalb jedes panels gelesen, verstanden und mit denen der anderen panels in Verbindung gebracht werden. Gleiches gilt für die Ebene der visuellen Darstellungen, auf der einzelne Objekte, nonverbale Informationen, Formen und Farben, der Schrift- und Zeichenstil, verschiedene Arten von Sprechblasen (word balloon, thought ballon, dialogue ballon etc.), Soundeffekt-Zeichen, Bewegungslinien, diverse Symbole und weitere Elemente, die für die grafische Literatur typisch sind und deren Atmosphäre prägen, erfasst und entschlüsselt werden müssen. Anschließend wird die panel-Sequenz durch die interpretative Füllung der gutters und die Anordnung der panels auf der Seite erkannt (vgl. Hallet 2012a: 4-5; Jacobs 2007: 21; Monnin 2010: 9-12; Panknin/Wieland 2012: 17; Schäfers 2012: 24). Nach der Dekodierung der Text- und Bildebene müssen die sprachlichen und visuellen Informationen schließlich zusammengeführt werden, um den Gesamttext zu rekonstruieren und somit die Handlung zu erschließen. Die Interaktion der beiden Ebenen kann dabei sehr unterschiedlich gestaltet sein. So können Wort und Bild beispielsweise kaum eine Verbindung aufweisen (parallel combination), eng miteinander verzahnt und voneinander abhängig sein 15 Dieser befindet sich in den captions (Textkästen) und/oder in den Sprechblasen. 20 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann (interdependent combination) oder sich gegenseitig ergänzen (additive combination). Möglich ist auch, dass die Erzählung im Wesentlichen über die Worte bzw. Bilder entwickelt wird und die andere Ebene eine untergeordnete Rolle spielt (picture-specific combination bzw. wordspecific combination), dass der Inhalt durch beide Ebenen vermittelt wird, obwohl eine für sich genommen ausreichen würde (duo-specific combination), oder dass sich Text und Bild widersprechen. Einen Sonderfall stellen Graphic Novels ohne Text dar16 (vgl. Hallet 2012a: 5; Schäfers 2012: 24; Schüwer 2008: 451-454). Als Ergänzung zur Lektüre einer Graphic Novel im Fremdsprachenunterricht muss schließlich deren zentrales Thema mithilfe weiterer Texte und Informationen vertieft und in den historischen und kulturellen Kontext eingeordnet werden (vgl. Hallet 2012a: 5). 2.2.3. Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht Wie bereits erwähnt, hat parallel zur gestiegenen Beliebtheit bei den Lesern auch das Interesse der Fremdsprachendidaktik an Graphic Novels in den letzten Jahren zugenommen. Dies kann u. a. auf eine insgesamt „mildere“ Einstellung gegenüber populärkulturellen Erzeugnissen zurückgeführt werden, die lange Zeit als minderwertig galten, mittlerweile jedoch als ein Teil der Zielkultur gesehen werden, „der Denken, Handeln und Kommunizieren der Menschen [...] stark beeinflusst und formt“ (Volkmann 2010: 241). Zunehmend befasst sich die Fremdsprachendidaktik daher mit neuen Gattungen, Textsorten und Medien, u. a. auch mit Comics und Graphic Novels (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010: 256; Schüwer 2005: 2; Volkmann 2010: 241-242). Einen Vorteil bei der Arbeit mit Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht erhofft man sich durch das hohe Motivationspotenzial dieser Gattung, die besonders auch männliche Jugendliche und „Lesemuffel“ anspricht und zum Lesen animiert. Des Weiteren sprechen Graphic Novels mehrere Sinne und damit unterschiedliche Lerntypen an. Durch den reduzierten Anteil an verbalsprachlichen Texten, die Möglichkeit, das Lesetempo selber zu bestimmen, und den Rückgriff auf visuelle Kontextinformationen, können zudem Verstehensprobleme verringert und die Rezeptionsfähigkeit erhöht werden. Damit erleichtern Graphic Novels Lernenden aller Alters- und Niveaustufen den Zugang zu inhaltlich 16 Der Effekt, den der Verzicht auf Schriftsprache in einer Graphic Novel erzielt, wird im Rahmen der Analyse von The Arrival (Kapitel 3.3.2.) näher erläutert. 21 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann anspruchsvollen und komplexen Texten und ermöglichen ihnen „schon früh die Begegnung mit einer originären fremdsprachigen Kunst- und kulturellen Ausdrucksform“ (Hallet 2012a: 3). Graphic Novels können aber auch gezielt genutzt werden, um bereits erworbene Kompetenzen aufzugreifen, anzuwenden und/oder zu erweitern. So bieten sie den Schülern beispielsweise Einblicke in die fremdsprachige Kultur und können gezielt zur Förderung von (inter)kulturellem Lernen eingesetzt werden. Auch das Wissen über die Beschaffenheit von Erzählungen und deren Erschließung mithilfe von Verstehensstrategien (narrative Kompetenz) können entwickelt und damit die Lektüre von Romanen oder anderen Langerzählungen vorbereitet werden. Graphic Novels leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Leseerziehung bzw. zum Aufbau von Leseinteresse. Da sie häufig auf gestalterische Mittel von Filmen zurückgreifen, liegt ein weiteres Potenzial in der gezielten Anwendung, Anbahnung und Weiterentwicklung von Filmverstehenskompetenzen. Ferner kann durch Graphic Novels die Entwicklung von Medienkompetenz gefördert werden, z. B. indem die unterschiedlichen emotionalen Wirkungsweisen der visuellen und sprachlichen Ebene thematisiert werden (vgl. Grünewald/Küster 2009: 160; Hallet 2012a: 3-7; Hecke 2010a: 21; Lütge 2011: 8; Schüwer 2005: 4-5; Schwarz 2002: 262-263; Schwarz 2006: 58-59; Volkmann 2010: 241-243). Ein besonderes didaktisches Potenzial von Graphic Novels liegt schließlich in der Förderung der Sehverstehenskompetenz bzw. der visuellen Kompetenz (engl. visual literacy). Visuelle Medien, insbesondere Bilder, übernehmen im Fremdsprachenunterricht traditionell eine instrumentale Funktion und dienen in erster Linie der Unterstützung des Sprachlernprozesses. Dabei werden die „durch visuelle Texte vermittelten Inhalte sowie die kommunikative und kulturelle Leistung von Bildern [...] so gut wie nicht thematisiert; sie sind kein expliziter Gegenstand des Unterrichts und Lernens“ (Hallet: 2010b: 39). Gleichzeitig wird in der Regel davon ausgegangen, dass Bilder von den Lernenden allein mithilfe ihrer im alltäglichen Leben entwickelten Sehgewohnheiten erfasst und intuitiv richtig verstanden werden. Seit Ende der 80er Jahre ist jedoch das Bewusstsein dafür gestiegen, dass Sehen gezielt erlernt werden muss, um ein umfassendes Bildverstehen sicherzustellen. Dies wird vor dem Hintergrund einer zunehmenden Visualisierung des alltäglichen Lebens umso wichtiger, als diese Entwicklung die Gefahr birgt, dass zwischen „jene[n], die bewusst die Neuen Medien in Beruf und Freizeit zur Erweiterung ihrer Kompetenzen nutzen können und jene[n] weniger Gebildeten, die vom Medienangebot überschwemmt und in immer größere Passivität gedrängt 22 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann werden“ (Küster 2003: 212), eine Kluft entsteht. Überdies sind die Möglichkeit der Fehlkommunikation und das Risiko des Missbrauchs von Bildern nicht zu unterschätzen. Um solche und ähnliche Probleme zu verhindern, kommt der Schule im Rahmen der Medienerziehung auch die Aufgabe zu, die Ausbildung der visuellen Kompetenz zu fördern. Diese umfasst die Entwicklung von Dekodierungs- und Verstehensstrategien, die ein tiefergehendes und kritisches Verständnis der formalen Gestaltung und Verwendung von visuellen Medien ermöglichen, aber auch den produktiven Umgang mit diesen schulen. Damit sollen die Schüler zugleich dafür sensibilisiert werden, dass Bilder ein hohes Manipulationsbzw. Täuschungspotenzial besitzen, u. a. weil sie häufig als Abbild der Wirklichkeit statt als individuelle Interpretationen der Realität verstanden werden. Des Weiteren schließt visual literacy die ästhetische Wertschätzung des Mediums sowie das Wissen um kulturelle Sehgewohnheiten, die Kulturspezifik von Bildern und deren bewussten Einsatz, u. a. in der Werbung, ein. Visual literacy ist damit Bestandteil einer umfassenden interkulturellen kommunikativen Kompetenz, die im fremdsprachlichen Unterricht entwickelt werden muss. Graphic Novels bieten in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, im Rahmen eines handlungsorientierten und kreativen Einsatzes im Fremdsprachenunterricht Lernende an die bewusste Bildwahrnehmung und -bewertung heranzuführen bzw. die dazu notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten gezielt auszubilden (vgl. Hallet 2010b: 31-41; Hallet 2012a: 7; Hecke 2010a: 19-20; Hecke 2010b: 325-326; Hecke/Surkamp 2010b: 13-19; Küster 2003: 212-219; Lütge 2011: 6-8; Reinfried 2010: 277-279). Insgesamt können Graphic Novels in allen Jahrgangsstufen und auf vielfältige Art und Weise eingesetzt werden, z. B. als eigenständige Lektüre, als Kommunikationsimpuls oder als Ergänzung zu anderen Texten. Im Hinblick auf mögliche Aufgabenformate bzw. -typen unterscheidet Hallet zwischen leseunterstützenden Aufgaben (z. B. in Form von Lesetagebücher), Plot-Rekonstruktionsaufgaben zum Erfassen der Handlungsverläufe und kausalen Zusammenhänge (z. B. mithilfe eines Bild-Puzzles) sowie story-orientierten Aufgaben, anhand derer die einzelnen Bestandteile der Erzählung, u. a. die Figuren, Schauplätze und Erzähleinheiten, identifiziert und rekonstruiert werden sollen. Hinzu kommen Aufgaben, mit deren Hilfe eine Graphic Novel inhaltlich und thematisch durchdrungen wird, narrative Discourse-Aufgaben, in denen die Erzählweise von Graphic Novels im Vordergrund steht, aufmerksamkeitslenkende Aufgaben, die auf eine vertiefende 23 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten zielen, und produktionsorientierte Aufgaben als Ergebnis der Auseinandersetzung mit einem Text, zu denen z. B. das Füllen von Leerstellen, das Umgestalten von Graphic Novels zu narrativen und deskriptiven Textsorten oder das Nachspielen einzelner Szenen gehört. Zudem bieten sich Graphic Novels zur gezielten Spracharbeit an, indem beispielsweise bestimmte grammatische Strukturen im situativen Kontext erarbeitet oder unterschiedliche sprachliche Register und umgangssprachliche Wendungen thematisiert werden. Bei all diesen Aktivitäten können immer wieder die Mehrdeutigkeiten und unterschiedlichen Lesarten dieser Textsorte reflektiert werden. Wichtig ist allerdings, sich bei der Lektüre von Graphic Novels nicht auf einen rein analytischen Zugang zu beschränken. Stattdessen sollte „dem natürlichen Leseinteresse Raum gegeben werden, das zunächst auf das Was gerichtet ist“ (Hallet 2012a: 5), um somit das ästhetische Lesevergnügen zu fördern sowie affektiv-emotionale Zugänge zu literarischen Texten zu ermöglichen (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010: 256; Grünewald/Küster 2009: 160-161; Hallet 2012a: 7-8; Schüwer 2005: 5-6; Volkmann 2010: 243). 2.2.4. Graphic Novels im Kontext der Multiliteralität Die Ausführungen zum Prozess des Lese- und Sehverstehens bei Graphic Novels haben gezeigt, dass die Erschließung dieser literarischen Gattung ein multiliteraler, ganzheitlicher Verstehensakt ist, bei dem unterschiedliche Kenntnisse und Fähigkeiten bzw. literacies gleichzeitig aktiviert und synthetisiert werden müssen, um über die Verknüpfung der verschiedenen Darstellungsmodi die Erzählung in ihrer Gesamtbedeutung erfassen zu können. Graphic Novels sind daher keineswegs als „minderwertige“ und vereinfachte literarische Texte zu sehen, die lediglich die Lektüre „hochwertiger“, auf Schriftsprache basierender Literatur vorbereiten (vgl. Hallet 2012a: 4 u. 7; Jacobs 2007: 19-21). Vielmehr können die „Lektüre und der Umgang mit graphic novels [...] als paradigmatisches Beispiel für den Erwerb einer multiliteralen Diskurskompetenz verstanden werden, die heute das Ziel jeden Fremdsprachenunterrichts sein muss“ (Hallet 2012a: 7). Mithilfe von Graphic Novels können alle traditionellen Aspekte von Literalität gefördert werden. Über diese hautsächlich sprachlich bzw. wortbasierte literacy hinaus, spielen bei der Lektüre von Graphic Novels allerdings weitere Literalitätskomponenten bzw. Design 24 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Elements eine Rolle, die im Konzept der Multiliteralität Teil des Prozesses der Strukturierung und Transformation von Wissen sind. An visuellen Informationen enthalten Graphic Novels, wie bereits erwähnt, u. a. Formen und Farben, den Schrift- und Zeichenstil, verschiedene Arten von Sprechblasen sowie diverse Zeichen und Symbole. Hinzu kommen die gewählte Perspektive sowie der Gebrauch von Linien, Licht und Schatten. Häufig geben die visuellen Elemente in Graphic Novels, allen voran die Schriftart, Satzzeichen und Hervorhebungen, dem Leser Auskunft über den Klang, den Tonfall sowie die emotionale Färbung der Stimme einer Figur und vermitteln somit auch auditive Eindrücke. Ergänzt werden diese Informationen durch mimisch-gestische Elemente, wie z. B. der Gesichtsausdrücke und die Körperhaltung einzelner Figuren, sowie durch räumliche Komponenten, zu denen die strukturelle Anordnung der panels und gutters untereinander und im tableau zählen. Zusammengenommen bilden all diese Elemente ein multimodales System der Bedeutungsaushandlung, das konstitutiv für grafische Literatur ist. Damit ist die Lektüre von Graphic Novels wesentlich komplexer und umfangreicher als die literarischer Werke, die ausschließlich aus schriftlichen Texten bestehen (vgl. Hallet 2012a: 5; Jacobs: 21-24; Schwarz 2002: 262-263; Schwarz 2006: 58-61). Des Weiteren greifen Graphic Novels aufgrund ihrer multimodalen Beschaffenheit nicht nur die medialen Erfahrungen und Gewohnheiten aus der Lebenswelt der Schüler auf, sondern „modellieren [auch] die kommunikativen und semiotischen Anforderungen lebensweltlicher [...] Kommunikation und Signifikation“ (Hallet 2011: 16), die sich u. a. durch die zunehmende Kombination verschiedener Symbolsysteme und wachsende Visualisierung auszeichnen. Die Vielzahl an Stimmen, die in den meisten Graphic Novels angelegt sind, sowie die häufig anzutreffende interpretatorische Offenheit und kulturelle Hybridität der Gattung fördern zudem das kritische, multiperspektivische Denken, ein Aspekt, der bei der Ausformung multiliteraler Kompetenzen eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Hallet 2011: 10-16; Hallet 2012a: 6; Schwarz 2002: 264; Schwarz 2006: 62; The New London Group 2000: 28-30). Schließlich ist die stetig wachsende Beliebtheit von Graphic Novels ein Ausdruck der soziokulturellen Entwicklungen, wie sie im Rahmen der Erläuterungen zum Konzept der Multiliteralität erörtert wurden. Hallet beispielsweise erklärt den Erfolg dieser literarischen Gattung mit der „allgemeine[n] Visualisierung und Mediatisierung aller Kommunikation 25 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann sowie des Erzählens“ (Hallet 2012a: 2). Monnin sieht sogar eine direkte Verbindung zwischen den Ereignissen vom 11. September 2001 und der Popularität von Graphic Novels, deren Verkaufszahlen nach diesem einschneidenden historischen Ereignis in den USA sprunghaft anstiegen. Insgesamt sind Graphic Novels im Kontext der Multiliteralität also insofern von Bedeutung, als dass sie ein geeignetes Ausdrucksmittel für „die schwer durchschaubaren gesellschaftlichen Prozesse [...], einschneidenden historischen Erfahrungen [...], kulturellen Entwicklungen [...] und vor allem auch technologischen Revolutionen [...]“ (Hallet 2012a: 3) der postmodernen Gesellschaft zu sein scheinen, indem sie lebensweltliche Erfahrungen in den schulischen Fremdsprachenunterricht einbringen und damit für die Lernenden erfahrbar machen (vgl. Hallet 2012a: 2-3; Monnin 2010: xviii; Schüwer 2008: 507-508). Wie Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden können, um ausgewählte Aspekte der Multiliteralität zu fördern, soll im folgenden Kapitel näher untersucht werden. 3. Analyse ausgewählter Graphic Novels 3.1. Auswahl des Textkorpus Bei der Auswahl der Graphic Novels, die im Folgenden analysiert werden, stand das Interesse an einer möglichst umfangreichen Erfassung der inhaltlichen und gestalterischen Bandbreite dieser literarischen Gattung im Vordergrund, um somit verschiedene Möglichkeiten für deren Einsatz im Fremdsprachenunterricht, insbesondere im Fach Spanisch, aufzeigen zu können. Daher wurden drei deutlich unterschiedliche Texte von einem englischsprachigen (Shaun Tan) und zwei spanischsprachigen Autoren (Paco Roca und Miguel Gallardo) ausgewählt, die bereits seit längerem als Schriftsteller und/oder Zeichner international erfolgreich sind. Paco Roca begann als Zeichner in der Werbebranche und hat seit Ende der 90er Jahre diverse Comics und Graphic Novels veröffentlicht. Eines seiner erfolgreichsten Werke ist Arrugas, in dem der Verlauf einer Alzheimerkrankheit dokumentiert wird. Für diese Graphic Novel sowie für deren erfolgreiche Verfilmung erhielt der Autor diverse Auszeichnungen und Preise (vgl. Hertrampf 2012: 4-5). Auch der australische Autor Shaun Tan hat bereits mehrere Bilderbücher und Graphic Novels herausgebracht, darunter The Red Tree und Tales from Outer Suburbia. Für die Verfilmung seiner Erzählung The Lost Thing wurde er 2011 mit einem Oscar ausgezeichnet und erhielt für sein Gesamtwerk im gleichen Jahr den 26 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann renommierten Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA). Miguel Gallardo hat sich u. a. als Illustrator für die spanische und internationale Presse einen Namen gemacht. Seine bekannteste Graphic Novel neben María y yo ist Un largo silencio, eine Geschichte, in der er die Erinnerungen seines Vaters an die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs verarbeitet (vgl. Hertrampf 2012: 3-4). In der folgenden Analyse werden die Werke The Arrival (2006) von Shaun Tan17 sowie El Faro (2004) von Paco Roca und María y yo (2007) von Miguel Gallardo untersucht. 18 Während El Faro eine eher klassische Graphic Novel ist, überschreiten The Arrival und María y yo die Gattungsgrenzen in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Maße. Gemeinsam ist allen drei Texten, dass sie sich jeweils mit „anspruchsvollen“ Themen, d. h. mit Migration, Autismus und dem Spanischen Bürgerkrieg, auseinandersetzen. Neben dem Kriterium, ein möglichst breites Spektrum der Gattung in die Analyse einzubeziehen, spielten Überlegungen hinsichtlich der Eignung der Graphic Novels für den Fremdsprachenunterricht eine zentrale Rolle bei der Auswahl des Textkorpus. So wurde versucht Werke zu finden, die Überschneidungen mit den inhaltlichen bzw. thematischen Vorgaben des Berliner Rahmenlehrplans für das Fach Spanisch aufweisen oder Themen von allgemeiner Relevanz ansprechen, deren Behandlung auch im Rahmen dieses Faches oder anderer fremdsprachlicher Fächer möglich ist. Gleichzeitig wurde auf eine inhaltliche und gestalterische Offenheit der Graphic Novels geachtet, um die Ausbildung möglichst vieler multiliteraler Kompetenzen zu ermöglichen. Darüber hinaus sollten die Werke nicht zu lang oder so beschaffen sein, dass sie bei Bedarf auch in Ausschnitten behandelt werden können. Ferner wurde versucht Graphic Novels zu wählen, die nicht zu viel und zu anspruchsvollen fremdsprachlichen Text enthalten, um eine Überforderung der Schüler zu vermeiden. 3.2. Vorgehensweise Anhand der gewählten Graphic Novels wird exemplarisch untersucht, wie ausgewählte Aspekte der Multiliteralität im Fremdsprachenunterricht, insbesondere im Spanischunterricht, gefördert werden können. Zu Beginn findet eine Analyse des Inhalts, Aufbaus und Stils der 17 Da es sich um eine wortlose Graphic Novel handelt, kann sie nicht nur im Englischunterricht, sondern auch in anderen fremdsprachlichen Fächern eingesetzt werden. 18 In Klammern ist jeweils das Jahr der Erstausgabe angegeben. 27 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann jeweiligen Graphic Novel statt, gefolgt von einer kurze Einordnung in die Gattung und Erläuterungen zu den Anforderungen an das Lese-Sehverstehen. Im Anschluss werden die didaktischen Potenziale für den Einsatz der Graphic Novels im Unterricht anhand möglicher Unterrichtsideen bzw. Lehr-Lernarrangements skizziert, wenn möglich für unterschiedliche Niveau- und Altersstufen. Dabei sollen in jeder Graphic Novel andere Schwerpunkte gesetzt bzw. verschiedene Aspekte der Multiliteralität fokussiert werden. Als Grundlage für die Entwicklung der Unterrichtsideen dienen die methodischen Leitlinien der New London Group, d. h. die vier interdependenten Faktoren bzw. Dimensionen Situated Practice, Overt Instruction, Critical Framing und Transformed Practice. Des Weiteren wird auf Anregungen aus der Fachliteratur zum Einsatz von grafischer Literatur im Fremdsprachenunterricht zurückgegriffen.19 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Vorschläge nicht als in sich geschlossene Unterrichtseinheiten gedacht sind und in der jeweiligen konkreten Lehr-Lernsituation angepasst, präzisiert und/oder erweitert werden müssen. Die Analyse erhebt zudem keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie ist vielmehr exemplarisch gedacht und soll erste Schlussfolgerungen hinsichtlich der Frage ermöglichen, wie ausgewählte Aspekte der Multiliteralität mithilfe von Graphic Novels gefördert werden können. 3.3. Analyse 3.3.1. Paco Roca: El Faro El Faro spielt zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und erzählt die Geschichte von Francisco, einem achtzehnjährigem Jungen, der auf Seiten der Republikaner kämpft. Auf seiner Flucht vor den Falangisten und der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort, versucht er die Grenze nach Frankreich zu überqueren, gerät dabei jedoch in eine Schießerei. Verwundet und vollkommen erschöpft rettet ihn der Leuchtturmwärter Telmo. Dieser versucht mithilfe von Erzählungen über Abenteurer und bessere Welten die Fantasie des jungen Mannes, der von den Leiden des Krieges gezeichnet und vollständig desillusioniert ist, neu zu wecken. Nach anfänglicher Skepsis und trotzdem Francisco die Geschichten des alten Mannes im Verlauf der Geschichte als Lügen entlarvt, schafft es Telmo sein Vertrauen zu gewinnen und ihm 19 Diese stammen aus der Englisch-, Spanisch-, DaF-, Geschichts- und Französischdidaktik. 28 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann neuen Lebenswillen einzuflößen. Die beiden Männer bauen gemeinsam ein Boot und schmieden Pläne für ein zukünftiges Leben auf der sagenumwobenen Isla Laputa. Kurz bevor sie die Reise dorthin antreten können, wird der Leuchtturm allerdings von Soldaten aus dem falangistischen Lager überfallen. Telmo überlebt den Angriff nicht, Francisco schafft es jedoch mit dem Boot zu fliehen und ein unbekanntes Land zu erreichen, wobei offen bleibt, ob es sich um einen Traum oder die Realität handelt. Die Geschichte beginnt in medias res mit Franciscos Flucht und wird anschließend in chronologischer Reihenfolge fortgesetzt. Trotz der relativ schlichten Handlung und der Konzentration auf wenige Personen, gewinnt die Erzählung in ihrem Verlauf durch diverse Einschübe an Komplexität und Tiefe. Sie wird beispielsweise an zwei Stellen durch Rückblenden unterbrochen, die dem Leser Einblicke in ausgewählte Ereignisse während des Spanischen Bürgerkrieges, d. h. in den Ausbruch des Krieges und in die begangenen Kriegsverbrechen, gewähren und ihm einen Eindruck vom persönlichen Schicksal des jungen Soldaten vermitteln. Darüber hinaus findet sich in El Faro, teilweise verknüpft mit Telmos Kindheitserinnerungen, eine Fülle an intertextuellen Bezügen in Form von Anspielungen auf Figuren und Orte aus bekannten Erzählungen der Welt- bzw. Kinder- und Jugendliteratur, u. a. aus Werken wie Kapitän Nemo, König Neptun, Gullivers Reisen, der Odyssee und Geschichten aus 1001 Nacht. Der Worttext, dessen Anteil an der Graphic Novel insgesamt verhältnismäßig gering ist, findet sich in El Faro überwiegend in Form von Dialogen, die in den Einschüben durch eine Erzählerstimme ergänzt werden. Die verwendete Sprache ist durch eine Mischung aus alltagssprachlichen und poetischen Wendungen sowie technischen Begriffen aus dem Bereich der Seefahrt geprägt und zeichnet sich durch kurze, klar strukturierte Sätze aus. Zudem gibt es längere Textstellen, in denen die Erzählung ausschließlich von Bildern getragen wird. Wenn Bild und Text in Kombination miteinander auftreten, vermitteln meist beide Ebenen gemeinsam den Inhalt, sind eng miteinander verzahnt und ergänzen sich gegenseitig. Hinsichtlich der grafischen Gestaltung werden in dieser Graphic Novel viele Gestaltungsmittel verwendet, die typisch für grafische Literatur sind. So finden sich auf jeder Seite panels unterschiedlicher Anzahl und Größe, die alle in natürlicher Leserichtung angeordnet sind. Hinzu kommen diverse gutter-Typen, verschiedene Soundeffekt-Zeichen, Bewegungslinien, Sprechblasen, captions und Symbole. Allerdings werden all diese Elemente verhältnismäßig „sparsam“ eingesetzt und sind minimalistisch 29 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann gestaltet, d. h. es gibt beispielsweise nur eine Art von Sprechblasen und kaum Variation im Schriftstil. Auffallend ist auch, dass die Bilder ausschließlich in Blau und Schwarz gehalten sind. Insgesamt kann El Faro als eine Graphic Novel im klassischen Sinne gelten, da sie überwiegend Bilder und Texte miteinander verbindet, sich durch eine vielschichtige und in sich geschlossene Handlung auszeichnet sowie dem Leser Einblicke in die Gefühle und Gedanken der handelnden Personen gewährt. Aufgrund der inhaltlichen Komplexität, die sich vor allem aus den intertextuellen Bezügen und dem historischen Kontext ergibt, in den die Erzählung eingebettet ist, stellt El Faro hohe Anforderungen an das Lese-Sehverstehen. Eine Herausforderung beim Lesen besteht darin, die Einschübe und intertextuellen Bezüge zu erkennen, zu dekodieren, zu kontextualisieren und mit der eigentlichen Handlung in Verbindung zu bringen. Ebenso verhält es sich mit den in der Erzählung enthaltenen Leerstellen, d. h. mit den häufig nur angedeuteten Informationen oder dem offenen Ende, in dem die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen. All diese potenziellen Schwierigkeiten bei der Rezeption der Graphic Novel betreffen auch die Ebene der Bilder, denn aufgrund des grafischen Minimalismus und der reduzierten visuellen Informationen innerhalb eines panels, stehen dem Leser nur wenige Anhaltspunkte für die Interpretation der Erzählung zur Verfügung. Umso bedeutender ist daher die Dekodierung der mimisch-gestischen Elemente, über die ein Großteil der Handlung sowie die Gefühlszustände der beiden Hauptfiguren vermittelt werden. Mit Blick auf die inhaltlich-thematische Ebene bietet sich El Faro für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg an, ein historisches Ereignis, das Spanien nachhaltig geprägt hat und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein deutlich spürbar sind. Dieses für die Erzählung zentrale Thema wird zwar nicht explizit im Berliner Rahmenlehrplan für das Fach Spanisch erwähnt, ist jedoch Bestandteil der meisten Lehrbücher für die gymnasiale Oberstufe. Ein wesentlicher Vorteil der Graphic Novel El Faro besteht darin, dass sie abstraktes geschichtliches Wissen perspektiviert, mit persönlichen Schicksalen verknüpft und den Schülern damit die Möglichkeit zur vorübergehenden Identifikation mit den fiktiven Personen bietet. Darüber hinaus gewährt die Erzählung Einblicke in eine historische Lebenswirklichkeit, zeigt die persönlichen Handlungsspielräume der beteiligten Menschen sowie die Konsequenzen für deren Leben auf und vermittelt die Bedeutung des historischen Ereignisses für die einzelnen Menschen, aber auch für die Nation 30 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann als Ganzes. Sie unterstützt somit die Ausbildung eines historischen Bewusstseins und ermöglicht den Lernenden die spanische „Kultur auch in ihrer synchronen Ausprägung besser [zu] verstehen“ (Genetsch 2012: 3-4). Aufgrund ihrer multimodalen und multiperspektivischen Beschaffenheit bietet diese Graphic Novel den Lesern zudem verschiedene Zugänge zum Text, macht sie mit unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven vertraut und kann dazu beitragen, verallgemeinernde und eindimensionale Interpretationen der Ereignisse während des Spanischen Bürgerkrieges zu verhindern (vgl. Genetsch 2012: 3-4 u. 6; Hochbruck/Hochbruck 2005: 27; Kopp 2010: 57-59; Olson 2011: 4). El Faro ordnet sich zudem in eine Reihe weiterer Graphic Novels ein, die sich mit der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit des Landes beschäftigen und in den letzten Jahren erschienen sind. Dazu gehören u. a. Un largo silencio (1997) von Miguel Gallardo und El arte de volar (2009) von Antonio Altarriba und dem Zeichner Kim. Diese oder ähnliche Erzählungen könnten eventuell als Ergänzung von oder als Alternative zur Lektüre von El Faro angeboten werden. Wurde der Spanische Bürgerkrieg bereits ansatzweise im Spanischunterricht behandelt, reicht vor Beginn des Leseprozesses eine kurze Rekapitulationsphase, in der das grundlegende Faktenwissen aktiviert wird. Verfügen die Schüler über keine oder sehr geringe Kenntnisse, sollten als Einführung die wichtigsten historischen Ereignisse und die beteiligten Akteure des Bürgerkrieges individuell oder in kleinen Gruppen erarbeitet und im Anschluss die Ergebnisse im Klassenverband mithilfe von kurzen Texten und Bildern zusammengetragen bzw. dokumentiert werden. Eventuell ergeben sich dabei Schnittstellen mit dem Geschichtsunterricht, z. B. hinsichtlich der Entwicklung von Strategien zur Suche, Auswahl und Bewertung von geschichtlichen Quellen (vgl. Vignaud 2009: 42-43). Nach der Lektüre der Graphic Novel könnte ein erster Schritt in der Erfassung der individuellen Reaktionen und Einschätzungen der Schüler erfolgen, um ein Stimmungsbild von der Lerngruppe zu erhalten und darauf aufbauend Schwerpunkte für die Arbeit mit dem literarischen Text zu entwickeln.20 Gleichzeitig müssen Verständnisschwierigkeiten, die während des Lesens entstanden sind, geklärt sowie die Ereignisse, auf die in der Erzählung Bezug genommen wird, in den historischen Kontext eingeordnet und tiefergehend analysiert werden (vgl. Kopp 2010: 60). In El Faro sind dies der Ausbruch des Krieges, die Rolle Frankreichs und das 20 Diese Unterrichtsideen können der Dimension Situated Practice zugeordnet werden. 31 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Arbeitslager Argelès sowie die Kriegsverbrechen, die von den Angehörigen des republikanischen Lagers begangen wurden. 21 Um weitere Perspektiven in die Auseinandersetzung mit der Thematik einfließen zu lassen und den Schülern die besondere Brisanz und Reichweite eines Bürgerkrieges zu verdeutlichen, bietet sich der Rückgriff auf sogenannte testimonios an. Anhand dieser Erfahrungsberichte von Betroffenen aus beiden Kriegslagern können u. a. deren Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede thematisiert und diverse Fragen diskutiert werden, z. B.: „¿Existieron buenos y malos en esta guerra? ¿Qué situaciones/condiciones/circunstancias hicieron a los españoles luchar por uno u otro bando?“ (Sánchez Serda 2009: 36). Dabei ist es wichtig, auf ein ausgewogenes Verhältnis von kognitiven und affektiven Fragestellungen zu achten sowie „politisch-ideologische Gesichtspunkte und de[n] Einfluss von Propaganda“ (Kopp 2010: 60) zu berücksichtigen. Höchstwahrscheinlich wird sich die kritische und ausgeglichene Abwägung der unterschiedlichen Standpunkte als schwierig erweisen, was jedoch die Problematik dieses „guerra de todos“ unterstreicht. 22 Die so gewonnenen Erkenntnisse sollten schließlich wieder auf El Faro übertragen werden, z. B. indem die Schüler Franciscos Rolle im Krieg mit der anderer Zeitzeugen vergleichen (vgl. Genetsch 2012: 5; Kopp 2010: 60-61; Sánchez Serda 2009: 36-41). Ein weiterer Aspekt, der diskutiert werden könnte, ist die Frage danach, ob Graphic Novels eine geeignete und angemessene literarische Gattung sind, um solch „ernsthafte“ Themen, in diesem Fall den Spanischen Bürgerkrieg, literarisch zu verarbeiten. An dieser Stelle bieten sich Verbindungen zu ähnlichen Diskussionen über andere Graphic Novels, insbesondere über Art Spiegelmans Maus, an (vgl. Ritzenhofen 2011: 36 und Copy 4 auf der CD-ROM). Um einen Bezug zur gesellschaftspolitischen Gegenwart in Spanien herzustellen und den Schülern die Auswirkungen des Spanischen Bürgerkriegs näherzubringen, kann im Rahmen der Lektüre von El Faro auch das Thema Vergangenheitsbewältigung behandelt werden. Dazu ist es zunächst notwendig, mit den Schülern die Bedeutung und den Einfluss der kulturellen Erinnerung zu klären. Eine Vielzahl an Unterthemen, z. B. die Gesetzgebung, der Umgang mit Denkmälern, die öffentliche Erinnerungskultur, die Umbenennung von Straßennamen und die Freilegung von Massengräbern, ermöglichen anschließend eine Vertiefung der Thematik. 21 22 Diese Vorschläge sind im Bereich der Overt Instruction anzusiedeln. Diese Anregungen entsprechen im Wesentlichen der Dimension Critical Framing. 32 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Dabei kann auf eine Fülle unterschiedlicher Materialien zurückgegriffen werden, beispielsweise auf Schulbücher aus dem Geschichtsunterricht in Spanien oder den Dokumentarfilm Mari Carmen España. Denkbar wäre auch darüber zu diskutieren, warum es manchen Betroffenen bis heute schwer fällt über das Erlebte zu berichten und warum viele spanische Autoren, darunter auch Paco Roca, in ihren literarischen Werken die Perspektive der Republikaner wählen. Über Spanien hinaus können zudem Vergleiche zu anderen Ländern und historischen Epochen angestellt werden. Mit Blick auf Deutschland wäre dies beispielsweise die Aufarbeitung des Holocaust, aber auch der DDR-Diktatur und des Kalten Krieges. Damit eröffnen sich fächerübergreifende Kooperationen, insbesondere mit dem Geschichtsunterricht, die Schüler können bereits erworbenes Wissen in anderen Fächern aus neuen Blickwinkeln beleucheten und eventuell Handlungsalternativen für ihre eigene Gegenwart entwickeln (vgl. Kopp 2010: 60-61). 23 Aufgrund der „klassischen“ Gestaltung von El Faro ist es auch vorstellbar, anhand dieser Graphic Novel die Darstellungsweisen der grafischen Literatur zu analysieren und somit die visuelle Kompetenz zu fördern. Zum Einstieg sollten die Lernenden Gestaltungsmittel von Comics und Graphic Novels nennen, die ihnen bereits bekannt sind. Zusätzlich könnten ihnen mehrere Beispieltexte zur Verfügung gestellt werden, anhand derer sie sich erste Merkmale dieser literarischen Gattung selbstständig erarbeiten und Vermutungen dahingehend anstellen, wie und wozu diese eingesetzt werden. 24 Es folgen eine Systematisierung der Erkenntnisse sowie die Einführung der entsprechenden Fachsprache (vgl. Hochbruck/Hochbruck 2005: 26). Damit dieses Metawissen dauerhaft gefestigt wird und für die weiterführenden Aufgaben zur Verfügung steht, schlägt Bakis vor, die Begriffe und Konzepte, z. B. gutter und frame, von den Schülern mit eigenen Worten und Bildern definieren zu lassen (vgl. Bakis 2012: 20-23). Um diese Phase zudem nicht zu „kopflastig“ zu gestalten, sollte sie mit Anwendungsaufgaben verbunden werden. Hierzu bieten sich verschiedene Aufgabenformate und Vorgehensweisen an: Eine Möglichkeit besteht darin, zunächst die Text- und Bildebene getrennt voneinander zu dekodieren. Monnin lässt die Schüler beispielsweise zu einer panel-Sequenz zwei separate Arbeitsblätter vervollständigen, auf denen die einzelnen panels entweder nur mithilfe von Worten beschrieben oder die wichtigsten visuellen Informationen zeichnerisch dargestellt werden sollen. Daran anschließend werden beide Ebenen zusammengebracht und erklärt, wie 23 24 Diese Aufgaben können der Dimension Transformed Practice zugeordnet werden. s. Fußnote 20. 33 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann sie gemeinsam die Handlung der Erzählung konstruieren (vgl. Monnin 2010: 15-26). Diese Aufgabe kann durch den Vergleich mit der Wirkungsweise einer Textpassage, in der ganz oder nahezu vollständig auf Sprache verzichtet wird, erweitert werden. Als Szenen für eine solche Analyse eignen sich in El Faro z. B. die erste Begegnung zwischen Francisco und Telmo (vgl. Paco Roca 2011: 16-18) und die Rettung des Bootes während eines Sturms (vgl. Paco Roca 2011: 38-40). Eine weitere Übung zur Entwicklung von visueller Kompetenz besteht in der Identifikation und Interpretation einzelner Elemente der Graphic Novel, insbesondere der unterschiedlichen panel- und gutter-Typen. Dazu sollen die Schüler Beispiele im Text finden und erklären, wie und warum sie verwendet werden bzw. welche Wirkung sie haben (vgl. Monnin 2010: 178-183). Über den Vergleich der Ergebnisse der genannten Aufgaben kann den Schülern anschließend aufgezeigt werden, wie unterschiedlich die visuellen Elemente einer Graphic Novel gedeutet werden können.25 Das erworbene Wissen bilden im Anschluss die Grundlage für diverse Schreibaufgaben bzw. die Versprachlichung von Textpassagen, die nur oder fast ausschließlich mit Bildern auskommen. Typische Verfahren sind in diesem Zusammenhang, Titel für einzelne panels oder panel-Sequenzen zu finden oder Sprech- oder Gedankenblasen auszufüllen. Dabei sollten den Lernenden je nach Sprachniveau Vokabelhilfen zur Verfügung gestellt werden. Wesentlich komplexer und anspruchsvoller ist das Verfassen eines Dialogs oder inneren Monologs (vgl. Lütge: 7-8). Dazu müssen die Schüler alle visuellen Informationen, die sich in den einzelnen panels finden, dekodieren und gleichzeitig ihr generisches Wissen über diese Textsorten aktivieren. Für die Ausgestaltung eines monologischen Textes scheint mir beispielsweise die Szene geeignet zu sein, in der Francisco nach seiner Verletzung zu Bewusstsein kommt und sich in der ihm fremden Umgebung orientieren muss (vgl. Paco Roca 2011: 14-16). Auch die Textpassage, in der er Telmos Lügen aufdeckt und sich anschließend von ihm abwendet bzw. gekränkt zurückzieht, bietet sich für eine solche Aufgabe an (vgl. Paco Roca 2011: 45-47).26 An dieser Stelle eröffnen sich darüber hinaus Ansatzpunkte für die Entwicklung oder Erweiterung der narrativen Kompetenzen. So könnten z. B. die unterschiedlichen Versionen des inneren Monologs verglichen werden, um anschließend darüber zu diskutieren, wie die 25 26 s. Fußnote 21 und 22. s. Fußnote 23. 34 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Unterschiede zustande kommen und welche Textsorte am besten geeignet ist, um die Gefühle des Protagonisten zu vermitteln. In eine ähnliche Richtung gehen Aufgaben, bei denen Auszüge aus der Geschichte als Tagebucheintrag umgeformt oder in Form einer Inhaltsangabe zusammengefasst werden. Dabei wird den Schülern vor Augen geführt, wie sie als Leser die Bedeutung eines Textes konstruieren und auf ihr individuelles Vorwissen zurückgreifen. Anhand der Ergebnisse können schließlich die Unterschiede bei der Rezeption, aber auch beim Verfassen der unterschiedlichen Textsorten thematisieren werden (vgl. Doff/Wanders 2005: 10; Hochbruck/Hochbruck 2005: 26).27 Im Rahmen der Ausbildung narrativer Kompetenzen besteht beim Einsatz von El Faro im Spanischunterricht zudem die Möglichkeit, den Umgang mit intertextuellen Bezügen zu schulen. Durch diese Art von Verweisen stellen Graphic Novels, ebenso wie geschriebene Literatur, Verbindungen zu anderen Texten und Diskursen her, siedeln die Erzählung „in einem größeren kulturellen Kontext“ (Schüwer 2008: 270) an und können als Ausdruck des kulturellen Gedächtnisses gesehen werden. Die Verknüpfungen können dabei explizit durch „Zitate“, d. h. durch sprachliche Äußerungen oder eine grafisch-stilistische Abgrenzung der entsprechenden Textstelle vom Rest des Textes erfolgen. Intertextuelle Bezüge sind aber auch in impliziter Form möglich, indem entsprechende visuelle Hinweise in das Bild bzw. panel integriert werden, sodass sie nur von Eingeweihten dekodiert werden können (vgl. Schüwer 2008: 259-261, 269-270 u. 484). In El Faro finden sich, wie bereits erwähnt, diverse intertextuelle Bezüge zu anderen literarischen Werken. Diese werden in erster Linie in expliziter Form hergestellt. Über die Bedeutung dieser Verweise sollten die Schüler zunächst spekulieren und dabei auf ihr individuelles Vorwissen zurückgreifen, um anschließend durch Recherchearbeiten genauere Informationen über die literarischen Werke zu erhalten, ihre Rolle in der Erzählung zu deuten und sich damit darüber bewusst werden, dass es sich um eine Neuinterpretation bzw. Rekontextualisierung der ursprünglichen Geschichte handelt. 28 Schließlich können die anhand der Graphic Novel El Faro erarbeiteten Kenntnisse zum Umgang mit Intertextualität auf die Lektüre anderer Textsorten übertragen werden.29 27 s. Fußnote 23. s. Fußnote 20 und 21. 29 s. Fußnote 22 und 23. 28 35 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann 3.3.2. Shaun Tan: The Arrival The Arrival erzählt die Geschichte eines Mannes, der seine Heimat und seine Familie, verlässt, um sich in einem fernen, unbekannten Land auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen. Dort angekommen ist ihm zunächst alles fremd, angefangen von der Sprache, der Architektur und den Verkehrsmitteln, über die Nahrungsmittel, die Kleidung und die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, bis hin zu den Bräuchen und Sitten. Diese Situation stellt den Immigranten täglich vor neue Herausforderungen, z. B. bei der Suche nach einer Unterkunft oder nach Arbeit, und erschwert ihm die Eingliederung in die Gesellschaft. Trotz diverser Rückschläge schafft er es schließlich mithilfe von fremden Menschen in seiner neuen Heimat Fuß zu fassen und seine Familie zu sich zu holen. In diesen Haupterzählstrang sind die Geschichten drei weiterer Einwanderer eingebettet, denen der Protagonist nach seiner Ankunft in dem fremden Land begegnet und die in Form von Rückblenden von ihren Migrationserfahrungen berichten. Dazu gehören eine junge Frau, die nur durch ihre Auswanderung der Zwangsarbeit entkommen konnte, eine Familie, die vor der Gewalt und Unterdrückung in ihrem Herkunftsland fliehen musste, und ein älterer Mann, der seine Heimat nach der Rückkehr aus dem Krieg nahezu vollständig zerstört wiederfand. Eine Besonderheit dieser Graphic Novel besteht darin, dass sie vollständig, d. h. abgesehen vom Titel, auf sprachliche Elemente verzichtet und die Geschichte allein über die Bilder erzählt. The Arrival ist in Form eines alten Fotoalbums gestaltet. Die panels sind entsprechend in Sepia, teilweise auch in Schwarz-weiß bzw. verschiedenen Grauabstufungen gehalten, wirklichkeitsnah gezeichnet und enthalten eine Fülle an Details. Die Erzählung greift zudem auf eine große Bandbreite an panel-Typen und -Sequenzen zurück. So finden sich in The Arrival neben losen Aneinanderreihungen von Einzelbildern und ein- oder zweiseitigen splash pages auch tableaus mit zwanzig oder mehr kleinen, eng aufeinanderfolgenden panels, die an die Bildfolgen eines Films erinnern. Auffällig sind zudem der Gebrauch fantastischer Elemente und der Einsatz von Hell-Dunkel-Kontrasten. Andere Gestaltungsmittel der grafischen Literatur, z. B. Bewegungslinien oder Soundeffekt-Zeichen, werden dagegen nicht verwendet. Im Gegensatz zu El Faro stellt The Arrival insofern einen Sonderfall dar, als dass die Erzählung keinen Text enthält und damit von einer Graphic Novel im klassischen Sinne 36 Masterarbeit abweicht.30 Eva-Vera Wirthmann Dennoch vermag sie auch ohne Sprache eine komplexe Erzählung mit romanartigem Charakter zu schaffen, in deren Verlauf eine Fülle von Figuren und Schauplätzen eingeführt und dem Leser neben Einblicken in die Gefühls- und Gedankenwelt der handelnden Personen auch beeindruckende Darstellungen fantastischer Städte und Landschaften geboten werden. Trotz oder gerade wegen des Verzichts auf Sprache sind die Anforderungen an die Interpretationsleistung seitens des Lesers bei der Lektüre von The Arrival recht hoch. Die Wirkung, die mit dem Verzicht auf Sprache erzielt wird, beschreibt Schüwer wie folgt: „Weil jeglicher Kommentar und alle Erklärungen, wie sie nicht nur in Erzähleräußerungen, sondern auch in Dialogen unweigerlich enthalten wären, hier fehlen, ist der Leser gezwungen, die dargestellte Handlung wie eine Dokumentation fremden Lebens [...] zu betrachten“ (Schüwer 2008: 320). Er muss die Gesetzmäßigkeiten einer ihm unbekannten Welt ergründen, wodurch seine Aufmerksamkeit geschärft und die Identifikation mit den handelnden Personen verstärkt wird (vgl. Schüwer 2008: 319-322). Von diesem Verfremdungseffekt macht auch Shaun Tan in The Arrival Gebrauch31 und verbindet ihn geschickt mit der Thematik des Buches. Die Anforderungen an das Lese-Sehverstehen bestehen insbesondere darin, das Lesetempo an die ständig wechselnde Erzählgeschwindigkeit anzupassen, die brüchigen Zeitebenen zu identifizieren sowie die panels in all ihren Details zu erfassen, zu dekodieren und aufeinander zu beziehen. Die in der Erzählung verwendeten Symbole sind zudem so gestaltet, dass sie für diverse Interpretationen offen sind. Beispielsweise werden Gefahren in Form einer Schlange oder monsterartiger Wesen dargestellt. Ob diese nun „wörtlich“ zu verstehen sind oder als politische, wirtschaftliche oder andere Bedrohungen interpretiert werden, hängt von der Perspektive des Lesers, aber auch von seinem Vorwissen über und Erfahrungen mit Ein- und Auswanderung ab. Shaun Tan zeichnet in seiner Erzählung ein authentisches Bild von Migrationserfahrungen, verzichtet dabei allerdings auf die Darstellung einer real existierenden Kultur und schafft stattdessen eine fiktive Welt, die Lesern aller kultureller Prägungen fremd ist. Daher bietet 30 Grafische Literatur ohne Sprache findet sich relativ selten, vor allem wenn es sich um längere Erzählungen handelt. In manchen Graphic Novels oder Comics werden allerdings einzelne Abschnitte einer Geschichte nur über Bilder erzählt, während im restlichen Teil sowohl Text als auch Bilder verwendet werden (vgl. Schüwer 2008: 319). 31 Dass der Autor aus den genannten Gründen bewusst auf Sprache verzichtet hat, wird in einem Kommentar zu The Arrival deutlich, der im Viewpoint Magazine erschienen ist (s. http://www.shauntan.net/books.html). 37 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann sich The Arrival sowohl zur Behandlung des Themas Migration auf einer allgemeinen Ebene als auch mit Blick auf ausgewählte Länder an.32 Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Erzählung aufgrund der nicht vorhandenen sprachlichen Barrieren in allen Alters- und Niveaustufen eingesetzt werden kann. Ferner eignen sich fiktionale Texte im Allgemeinen für die Vertiefung dieses oder ähnlicher Themen, da sie den Lernenden in einem geschützten Rahmen Einblicke in ihnen unbekannte Welten eröffnen oder, wie im Fall von The Arrival, Fremdheitserfahrung nachvollziehen lassen (vgl. Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 135-136). Indem Schüler mithilfe literarischer Texte zur Auseinandersetzung mit kulturellen Inhalten anregt werden, verspricht man sich zudem „Rückwirkungen auf ihre Einstellungen gegenüber anderen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und Perspektivenkoordination und den Abbau von Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit“ (Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 135). Der Einstieg in das Thema Migration könnte über eine Analyse des Einbandes, der Innenseiten des Umschlags und der Einstiegsseiten von The Arrival erfolgen. Dort sind u. a. die Gesichter von Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und ethnischer Herkunft, Teile von offiziellen Dokumenten und Stempeln sowie die Kinderzeichnung eines Hauses abgebildet. Dabei sollten die Schüler ihre Assoziationen zu den Bildern, aber auch zum Titel nennen, Vermutungen zum Thema der Graphic Novel äußern und begründen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen gekommen sind. Alternativ bietet sich eine Untersuchung der Szene zu Beginn von Kapitel 2 an,33 welche die Ankunft des Immigranten im Hafen des unbekannten Landes darstellt. Diese doppelseitige splash page zeigt die ankommenden Einwanderer, die Skyline einer Großstadt und zwei riesige Figuren, die sich begrüßen und in ihrer Symbolik an die Freiheitsstatue in New York erinnern, deren Bedeutung den Schülern eventuell aus dem Englischunterricht bekannt ist. Anhand dieses Bildes können die Lernenden ebenfalls erste Vermutungen bezüglich des Inhalts und der Handlung der Erzählung anstellen. Ist das Thema eingeführt worden, sollten die Schüler dazu angeregt werden, ihr Verständnis von Migration zu erläutern und mit dem ihrer Mitschüler zu vergleichen. Zudem können an dieser Stelle bereits erste Gründe, aus denen Menschen ihre Heimat verlassen, gesammelt werden (vgl. Boatright 2010: 474; Burwitz-Melzer/Quetz 2011: 140-142).34 32 Das Thema wird im Berliner Rahmenlehrplan der Sekundarstufe I und II für das Fach Spanisch explizit erwähnt. 33 Da sich in The Arrival keine Seitenzahlen finden, werden die Kapitelangaben zur groben Orientierung herangezogen. 34 s. Fußnote 20. 38 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Diese und weitere Ursachen für Migration müssen anschließend mithilfe der Graphic Novel und unter Rückgriff auf geeignete Texte und Materialien zusammengetragen und systematisiert werden, um in einem weiteren Schritt Informationen sowohl über die Auswanderung aus spanischsprachigen Ländern als auch die Immigration in solche zu sammeln. Dabei sollten die historischen Entwicklungen berücksichtigt und ein Vergleich zwischen den verschiedenen Ländern angestellt werden. Im Rahmen dieser Vertiefung wird den Schülern zum einen bewusst, dass Migration ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens sowie ein historisches und weltweites Phänomen ist, das die Kultur einzelner Länder grundlegend und nachhaltig beeinflusst bzw. verändert. Zum anderen kann ihnen, insbesondere anhand des Beispiels von Spanien, gezeigt werden, dass sich Migrationsbewegungen im Verlauf der Geschichte mehrfach verändert haben und ein Land keineswegs durchgängig ein Einwanderungs- oder Auswanderungsland ist. 35 Trotzdem The Arrival dem Leser Einsichten in verschiedene menschliche Schicksale gibt und Gründe für ihr Auswandern nachvollziehbar darstellt, wird teilweise kritisiert, dass im Zentrum der Erzählung ein weißer, männlicher Einwanderer steht, der nicht repräsentativ für heutige Immigranten ist. Boatright weist zudem darauf hin, dass The Arrival die Geschichte eines erfolgreichen Einwanderers erzählt, der sich trotz aller Widrigkeiten in die neue Gesellschaft integrieren kann und stets dabei im Rahmen der Legalität bewegt (vgl. Boatright 2010: 470-471). Die Integration dieser Kritik an The Arrival in den Unterricht kann zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen führen. Dazu sollte das Thema Migration um zusätzliche Perspektiven erweitert werden. Einzelne sind in der Graphic Novel selbst angelegt, z. B. in Form der eingeschobenen Geschichten oder der Bilder von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Herkunft auf der Innenseite des Buches, und können gezielt aufgegriffen werden. Auch die Lektüre weiterer literarischer Texte mit derselben oder ähnlicher Thematik, vor allem solcher, in denen das Misslingen der Integration behandelt wird, wäre denkbar. Darüber hinaus können gezielt die Migrationserfahrungen der Lerner und ihrer Familien aufgegriffen und in den Unterricht eingebracht werden. Je nach Erfahrungshintergrund der Lerner sollten die entsprechenden Aufgaben unterschiedliche gestaltet sein: Schüler mit Migrationshintergrund können über ihre eigenen Erfahrungen berichten oder Recherchen über ihre Familie anstellen und herausfinden, welche 35 s. Fußnote 21. 39 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Schwierigkeiten die Generation ihrer Eltern und Großeltern nach ihrer Ankunft in Deutschland zu bewältigen hatten und inwiefern ihnen die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft gelungen ist. Die Ergebnisse könnten z. B. in Form einer Graphic Journey (s. Kapitel 2.1.3.) oder Oral history festgehalten werden. Oral histories sind personalisierte Geschichten, die Einblicke in die Biografie einer Person, bezogen auf den gesamten Lebensverlauf oder einzelne Lebensabschnitte, gewähren. Das Erstellen einer solchen Erzählung umfasst die Klärung wichtiger Hintergrundinformationen, die Erarbeitung einer Liste mit Fragen und das Durchführen eines Interviews. Schüler, die über keine eigenen oder familiären Migrationserfahrungen verfügen, könnten Interviews mit Immigranten in Deutschland durchführen oder, basierend auf den Erfahrungen dieser Menschen, Oral histories erstellen. Als Abschluss sollten die von den Schülern zusammengetragenen unterschiedlichen Migrationserfahrungen mit denen des Protagonisten in The Arrival verglichen werden (vgl. Vogt 2011:8-9; Vogt /Holfter /Rasche, Hermann 2011: 3-4; Viebrock 2011: 36).36 Eine Vielzahl an Schreibanlässen und Aufgaben zur Versprachlichung ermöglichen im Anschluss daran, die erworbenen Erkenntnisse auf die Erzählung anzuwenden und diese damit aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Beispielsweise kann die Geschichte unter der Vorgabe, dass die Hauptfigur keine Arbeit findet oder sich mit anderen unlösbaren Problemen konfrontiert sieht, umgeschrieben werden. Denkbar wäre auch, die Schüler aufzufordern, Spekulationen über die Zukunft der Tochter des Protagonisten, also der zweiten Einwanderergeneration, anzustellen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ausgewählte Szenen oder panels der Graphic Novel durch Standbilder zum Sprechen zu bringen. Dazu stellen die Schüler zunächst die jeweilige Szene als Standbild dar und versuchen, sich in die Situation einer Figur hineinzuversetzen sowie deren Mimik und Gestik zu imitieren. Bei Bedarf können sie dabei Requisiten verwenden. Um die Standbilder zum Sprechen zu bringen, kommen drei verschiedene Verfahren in Frage: Zum einen können die Schüler die Gefühle und Gedanken einer Figur in Form eines inneren Monologs zum Ausdruck bringen. Beim Verfahren „Befragung des Protagonisten“ stellen die Schüler der jeweiligen zentralen Figur einer Szene Fragen, auf welche diese ihrer Rolle entsprechend Antworten muss. Als dritte Möglichkeit können die an einem Standbild beteiligten Figuren in einen Dialog 36 s. Fußnote 22. 40 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann miteinander treten. Bei jedem der drei Verfahren tragen die Lernenden selbst das Vokabular zusammen, das sie zur Erfüllung der Aufgabe benötigen. Die Aktivität endet mit einer Reflexionsphase, in der die Aufmerksamkeit insbesondere auf die visuellen Ausdrucksmöglichkeiten von Standbildern gelenkt werden kann (vgl. Rymarczyk 2011: 16-22; Leitzke-Ungerer 2010: 152-154).37 Die Lektüre von The Arrival lässt sich darüber hinaus durch eine medienkritische Analyse ergänzen, in deren Rahmen diskutiert wird, welchen Einfluss die Medien auf die Wahrnehmung von Migration in Spanien haben. Hier erscheint es angemessen, zunächst die Vorannahmen der Schüler über die in Spanien lebenden Immigranten zu ermitteln, um zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückgreifen zu können. Es folgt eine Untersuchung verschiedener Medien, wenn möglich unterschiedlicher politischer Färbung, in verschiedenen Sprachen und aus mehreren Ländern. Als Analysebasis bieten sich u. a. folgende Fragen an: Wer hat die Nachricht mit welcher Absicht verfasst?, Welche Techniken werden verwendet, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen?, Welche Grundannahmen, Werte und Sichtweisen vermittelt der Text?, Wie können diese interpretiert werden?, Was wird nicht gesagt? (vgl. Monnin 2010: 104).38 Als nächstes müssen die Ergebnisse der Analyse verglichen und kritisch hinterfragt werden. Hierzu ist es notwendig, die gesammelten Informationen durch zusätzliche Fakten zu relativieren. Im Fall von Spanien muss beispielsweise die Aufmerksamkeit der Schüler darauf gelenkt werden, dass, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung und der Darstellung in den Medien, nicht Immigranten aus Afrika, sondern aus lateinamerikanischen Ländern die größte Gruppe an Einwanderern in Spanien ausmachen und dass sich die illegale Einwanderung nach Spanien, vor allem die Einreise aus Nordafrika mithilfe von sogenannten pateras, insgesamt in Grenzen hält. Mit den so gewonnen Erkenntnissen können die Schüler schließlich z. B. ihre zu Beginn ermittelten Vorannahmen über Einwanderer in Spanien oder einen Medienbericht über das Thema kritisch überarbeiten.39 Aufgrund der anspruchsvollen künstlerischen Gestaltung und des Einsatzes einer Vielzahl von Visualisierungstechniken, ist The Arrival auch für die Schulung der visuellen Kompetenz geeignet. Der Einstieg dazu kann ähnlich wie bei El Faro gestaltet werden. Zur Aneignung 37 s. Fußnote 23. s. Fußnote 20 und 21. 39 s. Fußnote 22 und 23. 38 41 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann von Wissen über die Gestaltungsmittel grafischer Literatur bieten sich in The Arrival insbesondere die Analyse und der Vergleich der unterschiedlichen gutter-Typen an. Damit wird den Schülern nicht nur die Bedeutung der Übergänge zwischen den panels, sondern auch „ihr eigener Anteil als Leserinnen und Leser bei der Konstruktion einer Handlung aus Einzelbildern“ (Hochbruck/Hochbruck 2005: 26) bewusst gemacht. In eine ähnliche Richtung gehen Aufgaben, bei denen panels in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden müssen. Dabei kann wie folgt vorgegangen werden: Jeder Schüler erhält zwei panels einer Sequenz, für die er sich überlegt, was zuvor passiert sein muss und wie die Handlung sich entwickeln wird. Die entsprechenden Textstellen sollten die Lernenden selbstverständlich noch nicht gelesen haben. Anschließend müssen sich jeweils zwei Schüler finden, deren panels aneinander anschließen, um abschließend gemeinsam zu erklären, welche Art der Übergänge verwendet wurden (vgl. Hochbruck/Hochbruck 2005: 27; Lütge 2011: 7). Darüber hinaus bietet sich in The Arrival ein Vergleich der drei Einschübe an, da diese unterschiedlich gestaltet sind: Der erste und der dritte Einschub (Beginn Kapitel 3 bzw. Mitte Kapitel 4) setzten sich von der eigentlichen Erzählung durch eine deutlich geänderte Struktur und Farbgebung des Hintergrunds sowie eine andere Rahmung der panels ab. Die zweite Binnenerzählung (Mitte Kapitel 3) ist dagegen zunächst nicht durch Veränderungen der panels oder des Hintergrunds zu erkennen, sondern wird durch drei Bilder eingeleitet, die einen anderen Einwanderer zeigen. Während dieser beginnt seine Geschichte zu erzählen, wird eine Nahaufnahme seines Auges gezeigt, in dem sich Flammen spiegeln. Auf der nächsten Seite findet sich der Leser plötzlich in den Erinnerungen des Immigranten wieder, was anhand der veränderten Farbgebungen erkennbar ist.40 Die erworbenen Kompetenzen können u. a. für einen Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gestaltungsmitteln, die Filme und Graphic Novels verwenden, herangezogen werden, um darauf aufbauend die Stärken und Schwächen der beiden unterschiedlichen Medien zu thematisieren. Als abschließende Aufgabe könnten die Schüler aufgefordert werden, Überlegungen anzustellen, wie eine Verfilmung einzelner Szenen von The Arrival aussehen müsste, um anschließend ein passendes Storyboard zu erstellen.41 40 41 s. Fußnote 20 und 21. s. Fußnote 22 und 23. 42 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Ein weiterer Schwerpunkt der Lektüre von The Arrival kann schließlich auf der Ausbildung von metakognitivem Reflexionsvermögen liegen.42 Dazu schlägt Bakis vor, die Schüler zunächst das erste Kapitel der Graphic Novel eigenständig lesen und Fragen zum Inhalt und zum Lese-Sehprozess beantworten zu lassen (z. B.: Worum geht es in dem Kapitel?, Wie bist du zu dieser Interpretation gekommen?). Im Anschluss sollen die Schüler den ersten Teil der Graphic Novel (eventuell auch nur einzelne panel-Sequenzen) ein zweites Mal lesen und die panels durch Text in Form von Sprech- oder Gedankenblasen, captions etc. ergänzen. Als Unterstützung kann der dazu notwendige fremdsprachliche Wortschatz vorentlastet werden, was die Schüler allerdings ein Stück weit in ihrer Kreativität einschränkt. Einige der so entstandenen Geschichten werden anschließend im Plenum vorgestellt, allerdings ohne sie zu bewerten. Stattdessen wird eine Diskussion über die Unterschiede zwischen den Interpretationen angeregt. Um diesen Aspekt zu vertiefen, werden einzelne Schüler aufgefordert zu erklären, wie sie einzelne panels gedeutet haben. Dadurch sollen die Schüler erkennen, wie sehr ihre Interpretationen vom jeweiligen Vorwissen abhängen und wie Informationen, die sie außer Acht gelassen haben, Auswirkungen auf das Verständnis des Textes haben können. 43 In einer Diskussion sollte den Lernenden zudem das gesamte Spektrum von vollkommen freien zu komplett textgebundenen Interpretationen verdeutlicht werden. Gleichzeitig bedarf es der Klarstellung, dass Interpretationen stets belegt werden müssen, um nicht willkürlich zu erscheinen. Mit den neu gewonnenen Erkenntnissen kann die Geschichte schließlich erneut gelesen und dabei die Veränderungen in der Wahrnehmung dokumentiert werden. Insgesamt wird durch die Entwicklung von metakognitivem Reflexionsvermögen unter Rückgriff auf die Graphic Novel The Arrival das Bewusstsein der Schüler für den Informationsgehalt und die Wirkung von visuellen Darstellungen geschärft und ihnen somit die Konstruiertheit von Bildern vor Augen geführt. Darüber hinaus wird ihnen verdeutlicht, welche interpretatorische Leistung sie beim Lesen vollziehen und welche Bedeutung sie ihrem Vorwissen beimessen müssen (vgl. Bakis 2012: 33-39).44 42 Aufgrund der hohen Komplexität und sprachlichen Anforderungen sind die folgenden Aufgaben überwiegend für den Spanischunterricht in der Sekundarstufe II geeignet. 43 s. Fußnote 20 und 21. 44 s. Fußnote 22. 43 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann 3.3.3. Miguel Gallardo: María y yo In seiner autobiografisch geprägten Graphic Novel María y yo gewährt Miguel Gallardo dem Leser Einblicke in das Leben seiner autistischen Tochter María und berichtet von einem gemeinsamen Sommerurlaub auf Gran Canaria. Diese relativ knapp und schlicht gehaltene Handlungsebene wird immer wieder durch Erläuterungen zu Marías Tagesabläufen und ihrem Verhalten in bestimmten Situationen ergänzt. Die Einschübe überschneiden sich zunehmend mit der eigentlichen Handlung und verschmelzen mit ihr zu einer vielschichtigen und multiperspektivischen Erzählung. Trotzdem María y yo als Autobiografie gestaltet und aus Sicht des Vaters geschrieben ist, stehen seine Tochter und ihre Lebenswelt im Mittelpunkt der Geschichte. Gleichzeitig lenkt der Ich-Erzähler den Blick des Lesers auf die Reaktionen der Menschen gegenüber dem behinderten Kind, sodass María y yo auch als ein Zeugnis vom Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen verstanden werden kann. Ergänzend finden sich im Anhang zum Buch Zeichnungen von Marías Familie, Freunden und Bekannten, sowie Piktogramme, die ihr als Orientierung im alltäglichen Leben dienen, und Erläuterungen zum Autismus in Form eines Schaubildes. Darüber hinaus wird die Graphic Novel von einer Kinder- und Jugendlichenpsychologin kommentiert, was den didaktisch-aufklärerischen Charakter der Erzählung unterstreicht. Die Verflechtungen und Überschneidungen auf der inhaltlichen Ebene spiegeln sich auch in der Gestaltung der Graphic Novel wider: Nur einige wenige Passagen der Geschichte, u. a. die Schilderung der Anreise zu Beginn, werden im „klassischen“ Format einer Graphic Novel, d. h. unter Rückgriff auf panel-Sequenzen, erzählt. Diese enthalten Bilder und Texte, die sich gegenseitig ergänzen, sowie die gesamte Bandbreite an comicspezifischen Gestaltungsmitteln, z. B. Sprechblasen, Soundeffekt-Zeichen, Symbole und Bewegungslinien. Der größte Teil der Graphic Novel besteht allerdings aus Seiten, auf denen ein einziges Bild bzw. panel abgebildet ist, und aus Passagen, in denen sich sowohl Texte als auch Abbildungen in ständig wechselnder Anordnung begegnen. Die Texte können unterschiedlicher Länge sein, einen zusammenhängenden Absatz formen oder aus nur einem unvollständigen Satz bestehen. Auch die Bilder, die die Aussage der Texte unterstreichen, haben kein einheitliches Format, sondern variieren in ihrer Art und Größe, sind eher skizzenhaft gezeichnet und in Schwarz und Rot gehalten. Die in der Erzählung verwendete Sprache weist überwiegend Merkmale alltagssprachlicher und mündlicher Ausdrucksformen auf. Zudem wechselt der Autor immer 44 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann wieder zwischen einer eher erzählenden Art und Weise auf der einen und einem kommentierenden Stil auf der anderen Seite. Zusammengenommen ergeben die inhaltliche und die gestalterische Ebene der Erzählung eine einzigartige Mischung aus „Bilder- und Tagebuch, Skizzenblock, Erlebnisbericht und Erklärungsversuch“ (Schlüter 2011). María y yo überschreitet, spielt und experimentiert gleich an mehreren Stellen mit den Grenzen des Mediums und weicht damit noch stärker als The Arrival von einer „klassischen“ Graphic Novel ab. Allerdings handelt es sich um eine einzigartige und kunstvoll inszenierte Geschichte, die stets unter Rückgriff auf Bilder und Texte erzählt wird und trotz der Brüchigkeit der Erzählebenen ihren narrativen Charakter bewahrt. Damit kann María y yo durchaus als Graphic Novel klassifiziert werden. Bei der Lektüre von María y yo sieht sich der Leser mit diversen Herausforderungen konfrontiert. So muss er sich aufgrund der nicht einheitlichen Seitengestaltung permanent neu orientieren und die sich teilweise überlappenden sprachlichen und visuellen Elemente dekodieren. Darüber hinaus ist die Erzählung als Ganzes nicht sofort ersichtlich, sondern muss nach und nach aus dem ständig unterbrochenen Handlungsstrang zusammengesetzt werden. Im schulischen Fremdsprachenunterricht wird es daher, vor allem in der Unterstufe schwer sein, die Graphic Novel als Ganzschrift zu lesen. Stattdessen sollten mit jüngeren Schülern nur einzelne Unterkapitel oder Abschnitte der Erzählung genauer untersucht werden. Eine besondere Stärke von María y yo liegt darin, dass sie dem Leser auf spielerische, unverkrampfte Art und Weise Einblicke in das Leben einer autistischen Person gewährt, denn anstelle von Selbstmitleid begegnet der Vater der Behinderung seines Kindes und den oftmals schwierigen Situationen im Alltag mit Humor und Selbstironie. Zudem spielt er bewusst mit der erhöhten Aufmerksamkeit, die er und María erregen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen und kauft seiner Tochter z. B. ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift „I‘m unique just like everyone else“. Auch wenn das Thema Autismus normalerweise nicht im Spanischunterricht aufgegriffen wird, eignet sich María y yo auf einer allgemeineren Ebene zur Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Andersartigkeit und Fremdsein. Als Einstieg in diese Thematik können die Schüler gebeten werden, Situationen, in denen sie sich selbst oder andere Personen als „anders“ oder „fremd“ empfunden haben, zu schildern und zu erklären, wodurch sich diese auszeichnen. Anhand des Einbandes, auf dem María ihr rotes T-Shirt trägt, und der Umschlaginnenseiten am Anfang und Ende des Buches, auf denen das Mädchen am 45 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Strand sitzt und Sandkörner zählt, können die Lernenden anschließend Vermutungen anstellen, inwiefern und warum María „anders“ sein könnte. Nach der Sammlung der Ideen folgt die Lektüre des ersten Abschnitts der Erzählung, in der María vorgestellt sowie der Flug und die Ankunft im Hotel geschildert werden. Nachdem alle inhaltlichen Fragen geklärt und das Hintergrundwissen zum Thema Autismus eingeführt wurde, sollte der Blick der Schüler darauf gelenkt werden, wie andere Menschen auf María bzw. ihr Verhalten reagieren. Dazu bietet es sich an, einzelne Ausschnitte der Graphic Novel zu analysieren, beispielsweise eine Gruppe von sieben Bildern, auf denen die Reaktionen der Menschen, die dem Mädchen begegnen, mithilfe unterschiedlicher Gesichtsausdrücke abgebildet sind (vgl. Gallardo 2012: 21)45 oder ein ganzseitiges Bild, auf dem Vater und Tochter von einer Vielzahl bedrohlich wirkender Augen umgeben sind (vgl. Gallardo 2012: 31).46 Um den Schülern bewusst zu machen, was diese oder ähnliche Formen der Ausgrenzung bewirken können, sollten im Anschluss die Gefühle des Vaters thematisiert werden (vgl. u. a. Gallardo 2012: 22). Die so gewonnenen Erkenntnisse können beispielsweise dazu dienen, die Schüler mögliche Handlungsalternativen für solche oder ähnliche Situationen entwickeln zu lassen, die schließlich auch beim Umgang mit fremden Kulturen bzw. kulturell bedingten Unterschieden hilfreich sein können.47 Bilder spielen in Marías Leben eine zentrale Rolle: Sie helfen ihr bei der Kommunikation mit anderen Menschen, strukturieren ihren Tagesablauf und ermöglichen ihr somit bis zu einem gewissen Grad am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Erzählung kann daher u. a. genutzt werden, um den Schülern die Bedeutung von Bildern in ihrer eigenen Lebenswelt zu verdeutlichen. In diesem Falle ist die Schulung der visuellen Kompetenz weniger auf konkrete Gestaltungsmittel von Graphic Novels als viel mehr auf den bewussten Einsatz und die Bedeutung von Bildern im alltäglichen Leben fokussiert. Um an die lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler anzuknüpfen, sollten diese zunächst überlegen, wo sie in ihrem Alltag Bilder finden, welche Rolle diese spielen, wozu sie gebraucht werden und was sie bewirken. Die unterschiedlichen Erfahrungen können die Schüler sowohl untereinander als auch mit Marías Leben vergleichen.48 Zur Systematisierung der Ergebnisse werden 45 Da die Erzählung selbst keine Seitenzahlen enthält, wurde von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit eine eigene Seitennummerierung durchgeführt. Seite 1 beginnt demnach mit der ersten Seite nach dem Einband. 46 s. Fußnote 20 und 21. 47 s. Fußnote 22 und 23. 48 s. Fußnote 20. 46 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann anschließend die verschiedenen Arten von Bildern (u. a. künstlerische, unterhaltende und informierende Bilder) eingeführt sowie deren jeweilige Wirkung thematisiert. Gleichzeitig kann das Problem der Glaubwürdigkeit und Vieldeutigkeit visueller Darstellungen angesprochen werden, um anschließend an ausgewählten Szenen in María y yo (Beispiel: Tagesablauf in Form von Piktogrammen im Anhang) zu untersuchen, wie Bilder dort eingesetzt werden.49 Schließlich kann mit den Schülern diskutiert werden, wie sich Personen über Bilder inszenieren bzw. ein bestimmtes Image von sich schaffen. In diesem Zusammenhang bietet sich u. a. eine Analyse von Facebook-Profilen oder anderer sozialer Netzwerke an, in denen Bilder, insbesondere auf den Einstiegsseiten, eine herausragende Stellung einnehmen und meist einen bleibenden Eindruck von der jeweiligen Person vermitteln. Um verschiedene Möglichkeiten der Inszenierung mithilfe von Bildern kennenzulernen, könnten beispielsweise die Internetauftritte oder Facebook-Profile berühmter Persönlichkeiten analysiert werden.50 Um abschließend den produktiven Umgang mit Bildern zu schulen, könnten die Schüler für sich selber oder eine andere Person unter Rückgriff auf Bilder unterschiedliche Images schaffen, die anschließend im Klassenverband präsentiert und mit Blick auf ihre Wirkung kritisch reflektiert werden. 51 Im Jahr 2010, drei Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, wurde María y yo verfilmt. Im Gegensatz zur Graphic Novel hat der gleichnamige Film allerdings einen eher dokumentarischen Charakter und die Aufklärung der Zuschauer über Autismus steht im Vordergrund. Dennoch bietet er sich an, um, ähnlich wie bei The Arrival, Schülern die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen filmischen und grafischen Darstellungsweisen zu verdeutlichen. Dazu sollten Szenen verglichen werden, die sich sowohl im Buch als auch im Film finden, so z. B. die Beschreibung eines Urlaubstages (vgl. Gallardo 2012: 29). Das so erlangte Wissen ist auch auf weitere Erzählungen und Filme übertragbar.52 María y yo eröffnet schließlich die Möglichkeit, Schülern im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts mit Formen des autobiografischen Schreibens vertraut zu machen. Gleichzeitig werden ihnen generische Modelle zur Verfügung gestellt, mithilfe derer sie ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse beschreiben können, denn „die visuelle Selbstdarstellung 49 s. Fußnote 21. s. Fußnote 22. 51 s. Fußnote 23. 52 s. Fußnote 22 und 23. 50 47 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann in Fotos und Videos, aber auch in Zeichnungen aller Art ist für junge Menschen eine wichtige Ausdrucksmöglichkeit und einer der Wege ihrer Identitätsfindung“ (Hallet 2012b: 36). Zunächst sollten anhand verschiedener Autobiografien die Merkmale und Besonderheiten der Textsorte erarbeitet werden. Die Ergebnisse können anschließend auf María y yo übertragen werden und zu einer Diskussion darüber anregen, inwiefern die Erzählung von einer „typischen“ Autobiografie abweicht.53 Um den produktiven Umgang mit autobiografischen Texten zu schulen, sollen die Schüler im Anschluss ihre eigene kurze Autobiografie in Form einer Graphic Novel verfassen, die sich allerdings auf eine Situation bzw. einen Konflikt in ihrem Leben beschränken sollte. María y yo ist für eine solche Aufgabe insofern prädestiniert, als dass sie mit wenig elaborierten und häufig skizzenhaften Zeichnungen arbeitet und den Schüler damit zeigt, dass es keiner aufwendig gestalteten Bilder bedarf, um die eigene Geschichte zu erzählen. Weniger zeichnerisch begabte Schüler können zudem Vorlagen aus dem Internet, sogenannte templates, bei der Erstellung ihrer Erzählung verwenden. Den Schülern sollte außerdem freigestellt werden, ob sie ihre Autobiografien als fiktionale oder nicht-fiktionale Geschichte gestalten, denn der Wahrheitsgehalt steht beim autobiografischen Erzählen nicht im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, dass der Leser einen Einblick in das Leben einer anderen Person erhält und dessen Erfahrungen, Gefühle und Gedanken nachvollziehen kann (vgl. Hallet 2012b: 36-38).54 4. Fazit Wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, bieten Graphic Novels ein großes Potenzial zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität. Dabei ergeben sich aufgrund der unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung und Gestaltung der drei im Rahmen dieser Arbeit analysierten Werke jeweils verschiedene Schwerpunkte: El Faro ermöglicht über die Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg die Ausbildung eines historischen Bewusstseins und bietet gleichzeitig Anknüpfungspunkte für die Beschäftigung mit der Ve rg a n g e n h e i t s b e w ä l t i g u n g i n S p a n i e n , e i n e m w i c h t i g e n u n d a k t u e l l e n gesellschaftspolitischen Thema. Über den Vergleich der Graphic Novel mit anderen Textsorten und die Schulung im Umgang mit intertextuellen Bezügen, können darüber hinaus narrative Kompetenzen ausgebildet werden. Im Zentrum der Lektüre von The Arrival steht 53 54 s. Fußnote 21. s. Fußnote 23. 48 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann das Thema Migration, anhand dessen sowohl verschiedene Migrationserfahrungen vermittelt als auch ein kritisches Bewusstsein für die Darstellung des Themas in den Medien entwickelt werden kann. Darüber hinaus eignet sich diese Graphic Novel besonders, um Bilder zu versprachlichen und dabei die Perspektive fremder Personen einzunehmen. Auch die Ausbildung von metakognitivem Reflexionsvermögen kann geschult werden. María y yo bietet schließlich Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit Andersartigkeit und Fremdheit. Ferner können mithilfe dieser Erzählung Formen des autobiografischen Schreibens thematisiert werden. Unabhängig von der jeweiligen grafischen Gestaltung bieten alle drei Graphic Novels Ansatzpunkte für die Entwicklung der visuellen Kompetenz, wobei auch hier unterschiedliche Akzente gesetzt werden: In El Faro geht es vor allem darum, spezifisches Wissen über die Erzählkonventionen grafischer Literatur zu erwerben und anschließend auf die Erzählung anzuwenden. Dies ist auch mithilfe von The Arrival möglich. Sowohl diese Graphic Novel als auch María y yo bieten sich zusätzlich für einen Vergleich zwischen filmischen und grafischen Gestaltungsmitteln an. In María y yo steht darüber hinaus das Schaffen eines Bewusstseins für die Bedeutung von und den Umgang mit Bildern im Alltag im Vordergrund. Die Graphic Novel The Arrival bietet insgesamt die meisten Einsatzmöglichkeiten im Fremdsprachenunterricht. Dies ist insbesondere auf das Fehlen sprachlicher Elemente zurückzuführen, wodurch die Erzählung Schülern aller Altersstufen und Sprachniveaus zugänglich wird. The Arrival kann zudem komplett oder in Auszügen gelesen werden. Gleiches gilt für El Faro. Allerdings beschränkt sich die Arbeit mit dieser Graphic Novel aufgrund ihrer Thematik auf die gymnasiale Oberstufe. María y yo ist grundsätzlich für alle Altersstufen offen, allerdings hängt dies von der jeweiligen Aufgabenstellung ab. Für eine Lektüre als Ganzschrift ist die Erzählung dagegen weniger geeignet. Wie bereits erwähnt, müssen die im Rahmen dieser Arbeit skizzierten Unterrichtsideen und Lehr-Lernarrangements zur Förderung ausgewählter Aspekte der Multiliteralität an die jeweilige konkrete Unterrichtssituation angepasst und gegebenenfalls präzisiert und/oder erweitert werden. Zudem erscheint einen Kombination bzw. Verknüpfung der unterschiedlichen Aufgaben sinnvoll. Dabei ist stets auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen kognitiven und affektiv-emotionalen Zugängen zu achten, um die Verengung auf einige wenige Kompetenzaspekte bzw. Literalitätskomponenten zu vermeiden. Gleichzeitig 49 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann sollten wenn möglich Verknüpfungen zu weiteren (Fremd)sprachen oder Unterrichtsfächern hergestellt werden, um somit im Sinne des Konzepts der Multiliteralität das vernetzende Lernen in einer Vielzahl von Kontexten zu fördern. Zusammenfassend kann festgestellt werden, das Schüler mithilfe von Graphic Novels zu einem kritischen und reflektierten Umgang mit multimodalen Texten angeregt werden und eine Vielzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, die mit weiteren Kompetenzen vernetzt sowie auf andere Kontexte übertragen werden können. Damit sind Graphic Novels insgesamt geeignet, um den Leitgedanken der Multiliteralität im Fremdsprachenunterricht umzusetzen. 50 Masterarbeit Eva-Vera Wirthmann Bibliografie analysierte Graphic Novels Gallardo, Miguel (2012): María y yo. Bilbao: Astiberri. Roca, Paco (2011): El Faro. Bilbao: Astiberri. Tan, Shaun (2007): The Arrival. New York: Arthur A. Levine Books. 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