„Wir sind langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu

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„Wir sind langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu
Alice–Salomon–Platz 5
12627 Berlin
Tel. 030 / 99245 505
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Regina Rätz-Heinisch
Dr. Thomas Pudelko
Dipl. Soz.arb. / Soz.päd. Timo Ackermann
„Wir sind langsam attraktiv für Leute, mit denen wir
früher nichts zu tun haben wollten ...“
Sozialraumorientierung der Berliner Kinder- und Jugendhilfe Untersuchung einer exemplarischen Praxis gemeinwesenorientierter, zielgruppenund ressortübergreifender Arbeit
Evaluationsforschungsbericht im Auftrag der Senatsverwaltung für Bildung,
Jugend und Sport Berlin, Projekt Sozialraumorientierung
Berlin im April 2006
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Vorbemerkung
Der vorliegende Bericht ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung im
Kontext der Sozialraumorientierung der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Sie wurde
im Auftrag und aus Mitteln der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport gefördert und zwischen Februar und April 2006 an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin durchgeführt. Es handelt sich um eine Teilevaluation bzw., bescheidener formuliert,
um eine erste Wahrnehmung so genannter "best practice" Projekte der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, die gemeinwesenorientiert, zielgruppen- und ressortübergreifend im sozialen Raum arbeiten.
Die Untersuchung und der Forschungsbericht wurden von den AutorInnen gemeinsam
geplant, durchgeführt und diskutiert. Vor allem sind die Interpretationen und die Darstellungsform das Ergebnis eines diskursiven Auswertungsprozesses im Team der
MitarbeiterInnen. Dennoch haben wir die AutorInnen der einzelnen Kapitel gekennzeichnet, um die Verantwortlichkeit für die Verschriftlichung der einzelnen Teile des
Berichtes zu verdeutlichen.
Die Untersuchung und Publikation wäre ohne die Unterstützung von verschiedenen
Seiten nicht möglich gewesen. Unser besonders herzlicher Dank gilt den MitarbeiterInnen der untersuchten Projekte, die uns so offen und freundlich gegenübertraten
und uns bereitwillig ihre Projekte zeigten, uns dort beobachten ließen und uns im Interview von ihren Erfahrungen erzählten und Auskunft gaben.
Frau Hofsäss-Kusche, die kurzfristig das Manuskript korrigierte, sei ebenfalls herzlich
gedankt.
Darüber hinaus möchten wir der Alice-Salomon-Fachhochschule danken, die uns die
wissenschaftliche Infrastruktur für die Forschung zur Verfügung stellte.
Vor allem fühlen wir uns dem Projekt Sozialraumorientierung der Senatsverwaltung
für Bildung, Jugend und Sport verpflichtet, ohne deren Förderung unser Projekt nicht
möglich gewesen wäre. Insbesondere die regelmäßigen Fachdiskussionen unter Leitung von Herrn Axel Stähr und Herrn Volker Brünjes gaben die notwendigen Impulse
für unser Forschungsvorhaben.
Berlin im April 2006
Regina Rätz-Heinisch
Thomas Pudelko
Timo Ackermann
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Inhaltsverzeichnis
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2.1.1
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Sozialräumliches Handeln stellt Passungen zwischen den Beteiligten her und
füllt funktionslos gewordene Räume mit neuen Inhalten .................................... 18
2.1.2
Sozialräumliches Handeln bedarf einer Übersetzung von der Lebenswelt in
Flexible Hilfen und sozial-administrative Kontexte ............................................. 21
2.1.3
Sozialräumliches Handeln bedarf der Initiierung, Steuerung und
Unterstützung des Öffentlichen Trägers............................................................. 22
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2.2.1
Ausrichtung des fachlichen Handelns am sozialen Raum .................................. 25
2.2.2
Professionelles Selbstverständnis ..................................................................... 25
2.2.3
Beziehungshandeln und Netzwerkhandeln als zentrale Handlungsmuster ........ 26
2.2.4
Ausrichtung an der Lebenswelt, Gestaltung der Räume und die Entwicklung
von zielgruppenübergreifenden Angeboten ....................................................... 27
2.2.5
Organisation und Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern........... 28
2.2.6
Finanzierung...................................................................................................... 30
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
1 Einleitung: Verstehender Zugang und die Frage nach dem
„Wie“ des Handelns im Sozialen Raum
Regina Rätz-Heinisch
1.1
Problemaufriss: Neue soziale Probleme, sozialstaatliche Herausforderungen und sozialräumliche Orientierung der Kinder- und Jugendhilfe
Der rasante Wandel in den Bedingungen, Anforderungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe geht einher mit dem ebenso zügigen Wandel der modernen
Gesellschaft. Die westeuropäischen Staaten stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer Vielzahl an neuen sozialen Problemen, die vor allem mit der aktuellen Transformation der industriellen Arbeitsgesellschaft entstehen. Dieser Prozess ist mit einem Funktionsverlust gesellschaftlicher Tätigkeiten und spezieller
Räume verbunden. Der Wandel gesellschaftlicher Tätigkeiten zeigt sich vor allem
in der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit. Die Folge sind Prozesse von „Entgrenzung“.1 „Entgrenzung“ meint das Herauslösen der Menschen aus bisherigen gesellschaftlichen Strukturierungsmustern, wie eben bspw. den Wegfall der Strukturierung des Tages durch Erwerbsarbeit und den damit verbundenen Wegfall gesellschaftlich garantierter Sicherheiten. Die Menschen sind immer stärker gefordert, die komplexen Anforderungen des alltäglichen Lebens ausschließlich individuell bewältigen zu müssen.
Der Funktionsverlust von Räumen betrifft Bauten der Moderne wie Fabrikgebäude,
Gewerbeflächen, Wohngebäude, aber auch soziale Einrichtungen wie bspw. Kinderbetreuungseinrichtungen im Osten Deutschlands. Einige dieser Gebäude erlangen in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft eine neue Funktionalität,
bspw. wenn in ihnen Klubs, Tanz- und Partyräume, neue Büro- und Businessräume oder Freizeitflächen entstehen. Andere stehen schlichtweg leer und werden
zu leblosen Organen in einer pulsierenden Stadt. Gerade größere Städte verlieren
1
Vgl. Lenz, Karl; Schefold, Werner; Schröer, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim und München.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
partiell ihre ursprüngliche Funktionalität,2 die im modernen industriellen Zeitalter in
der räumlichen Trennung von Arbeit, Wohnen und Freizeit und der Mobilität der
Menschen zwischen diesen ausdifferenzierten Funktionsorten bestand. Die Prozesse der fortschreitenden Globalisierung als weltweite Vernetzung ökonomischer
Aktivitäten verweisen die Menschen, die an ihr nicht partizipieren (können), auf die
Bedingungen des sie umgebenden lokalen sozialen Raums. Der soziale Raum,
das Gemeinwesen, wird (wieder) zunehmend zum zentralen Ort der Lebensbewältigung.3
Dabei lassen sich in Deutschland die neuen sozialen Probleme auch als sozialräumliche Themen verstehen. Es seien die brisantesten genannt:
-
Erfahrungen von Armut betreffen in Deutschland einen großen Teil der Kinder und Jugendlichen, 15 % der Kinder unter 15 Jahren und 19,1 % der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren sind von Armut betroffen. Die Zahl
der Kinder in Deutschland, die von Sozialhilfe leben, stieg im Jahr 2003 um
64.000 auf 1,08 Millionen und hat 2004/2005 1,45 Millionen erreicht.4
-
Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind, verfügen über geringere Bildungschancen.
-
Migrationserfahrungen von Kindern, Jugendlichen und Familien können
verstärkt zu sozialen Ausgrenzungsprozessen führen.
-
Der demographische Wandel der Bevölkerung, d. h. der steigende Anteil an
Menschen über 50 Jahre und der geringere an Kindern und Jugendlichen
muss gesamtgesellschaftlich bewältigt werden.
-
Die lang anhaltende hohe Arbeitslosigkeit (Ende April 2006 betraf diese
nach offiziellen Angaben der Bundesagentur für Arbeit trotz der jahreszeitlich bedingten Konjunktur 4,79 Mio. Menschen) manifestiert Entgrenzungsprozesse und führt zu Armutslagen.
2
3
4
Vgl. Oswalt, Philipp (2004): Schrumpfende Städte. Städtischer Wandel im Zeichen von Postfordismus und Globalisierung. Ostfildern.
Bei dieser Betrachtung dürfen soziale Räume nicht auf geographische Areale begrenzt werden.
Soziale Räume stellen hingegen komplexe Zusammenhänge kultureller, historischer und territorialer Dimensionen dar. (Vgl. Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian; Maurer, Susanne; Frey,
Oliver (Hrsg.) (2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden.)
Vgl. BMAS (Hrsg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht
der Bundesregierung. Berlin.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
-
Der Staat hat zunehmend Probleme, sozialstaatlich garantierte Leistungen
wie Sozialhilfe, Leistungen für Arbeitslose, Gesundheitsausgaben, Renten
etc. zu finanzieren.
Der soziale Raum beinhaltet für die Menschen Chancen und Grenzen zugleich Chancen, da hier neue Formen des Zusammenlebens, der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität, der Verantwortungsübernahme für das Gemeinwesen,
des freiwilligen und ehrenamtlichen Engagements entstehen können. Der amerikanische Soziologe Robert Putnam 5 bezeichnet diese Unterstützungsformen als
soziales Kapital, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass eben jener „Kitt“ der Gesellschaft derzeit akut gefährdet ist, schwindet und einer gesellschaftlichen Förderung bedarf.
Der soziale Raum kann ebenso ein begrenzter Ort sein, an dem sich gesellschaftliche Probleme reproduzieren und soziale Ausgrenzungsprozesse manifestieren.
Dies geschieht besonders in den sozialen Räumen mit mangelnder Ressourcenausstattung, hohem Armuts- und Konfliktpotenzial und fehlender Mobilität der BewohnerInnen. Der französische Soziologie Pierre Bourdieu6 benutzt zur Beschreibung der sozialen Ungleichheit im sozialen Raum ebenso wie Robert Putnam den
Begriff Kapital, differenziert jedoch die individuelle Ausstattung eines Menschen in
„soziales“, „ökonomisches“ und „kulturelles“ Kapital. Eine mangelhafte Ausstattung
mit den jeweiligen Kapitalsorten ist Indiz für die soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Desintegration der Menschen.
Zur Lösung der neuen sozialen Probleme wird die Gesellschaft herausgefordert.
Der Sozialstaat in Deutschland ist, bedingt durch die anhaltende prekäre finanzielle Situation, dabei zunehmend auf das Mithandeln bzw. das selbstständige
Handeln und das freiwillige Engagement der BürgerInnen angewiesen. Dabei gibt
der Staat nicht die Gewährleistungsverantwortung sozialstaatlich garantierter Leistungen an die BürgerInnen ab, sondern lediglich die Durchführungsverantwor-
5
6
Vgl. Putnam, Robert (2000): Bowling Alone. The collapse and revival of American community.
New York.
Vgl. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
Frankfurt a. M.; ders. et al. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen
Leidens an der Gesellschaft. Konstanu.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
tung.7 Das heißt: Das Erbringen der konkreten Leistungen erfolgt im besten Falle
durch die BürgerInnen selbst. Bevor also beispielsweise in einer Familie eine professionelle Familienhilfe eingesetzt wird, ist das Umfeld der Familie daraufhin zu
überprüfen, ob eine geeignete freiwillige Hilfe nicht im lebensweltlichen Umfeld der
Familie zu finden ist. Dieser Wandel in der sozialstaatlichen Gewährleistung wird
mit dem Begriff „aktivierender Staat“8 auf den Punkt gebracht.
Selbstständige und ehrenamtliche Tätigkeiten werden vor allem in den Bereichen Beschaffung von Arbeit und Beschäftigung, Partizipation in politischen Bereichen sowie der Erbringung sozialer Dienstleistungen vom Staat gefördert.9 Nicht
nur den Ressourcen durch professionelle Aktivitäten wird Bedeutung beigemessen,
sondern verstärkt auch den ehrenamtlich erbrachten Leistungen.10 Um diese nutzen zu können bedarf es vor allem des sozialen Kapitals.
Die Kinder- und Jugendhilfe ist vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund in
doppelter Weise gefordert. Einerseits geht es ihr seit jeher um die Erschließung
von lebensweltlichen Stärken und Ressourcen ihrer AdressatInnen, die Initiierung
solidarischer sozialer Unterstützungsnetzwerke und Selbsthilfe in sozialen Räumen und Gemeinwesen mit dem Ziel, die Emanzipation potenziell ausgegrenzter
Menschen zu ermöglichen. Andererseits ist sie für die Schaffung einer sozialen
Infrastruktur mit verantwortlich, die den Menschen autonomes Handeln überhaupt
möglich macht. Es geht darum, die ungleiche Ausstattung sozialer Räume mit überwinden zu helfen. Hierbei geht es ebenso um die Herstellung sozialer Gerechtigkeit wie um die Gestaltung einer lebensfördernden Umwelt für Kinder, Jugendliche und deren Familien.11
Dieses doppelte Anliegen einer lebensweltorientierten Jugendhilfe ist im § 1
Abs. 3 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) formuliert, in dem es heißt:
7
8
9
10
11
Vgl. Olk, Thomas (2000): Der "aktivierende Staat". Perspektiven einer lebenslagenbezogenen
Sozialpolitik für Kinder, Jugendliche, Frauen und ältere Menschen. Aus: Müller, Siegfried; Sünker, Heinz; Olk, Thomas u. a. (Hrsg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied, Kriftel. S. 99-118.
ebenda
Vgl. Aner, Kirsten (2004): Altersforschung im Dienst der Förderung freiwilligen Engagements?
In: Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 35. Jg., H. 1, S. 50-64.
Vgl. BMFSFJ (Hrsg.) (2004a): Perspektiven für Freiwilligendienste und Zivildienst in Deutschland. Berlin. und
BMFSFJ (Hrsg) (2004b): 2. Freiwilligensurvey. Kurzzusammenfassung. Berlin.
Vgl. Bronfenbrenner Uri (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und
dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen.
…..
4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre
Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder
zu schaffen.
Dabei handeln die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe derzeit unter hohem Druck:
Sie sind häufig selbst von den finanziellen Einsparungen betroffen, ihre Arbeitsplätze und Stellen werden vakant, ihre Arbeitsaufgaben komplexer, die Bewältigungsanforderungen an die AdressatInnen steigen.
Komplexe Probleme erfordern komplexe Lösungen, mit denen es in der Kinderund Jugendhilfe durchaus Erfahrungen gibt. Eine sozialräumliche Orientierung in
der Kinder- und Jugendhilfe setzt an Erfahrungen aus der Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit an, soziale Probleme im Kontext des sozialen Raumes zu begreifen und zu lösen. 12 Als erfolgreiches Beispiel, von dem heute noch gelernt
werden kann, gilt Jane Addams, die Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit
Ellen Gate Star in einem hoch problematischen Stadtteil von Chicago ein Nachbarschaftshaus, das „Hull House“, gründete. Die Erfahrung der beiden Frauen
zeigte, dass die Chance, Verbesserungen durch Selbsthilfe und Solidarität, also
vor allem durch das eigene Handeln der BewohnerInnen zu ermöglichen, im Zusammenspiel verschiedener Aktivitäten lag. Es waren Tätigkeiten der sozialen Hilfe, der Bildung und des Lernens, der Arbeit und Beschäftigung, der materiellen
Unterstützung, eigener ökonomischer Aktivitäten und des politischen Engagements.13 Vor allem handelten sie gemeinsam mit den BürgerInnen und nicht ohne
sie. Sie ließen sich dabei auf Phasen der Ungewissheit ein und lernten, indem sie
beständig neue Erfahrungen sammelten. Lernen durch Handeln, Erfahrung und
Denken sagte John Dewey dazu, der die beiden Frauen in „Hull House“ regelmä-
12
13
Vgl. Lüttringhaus, Maria (2001): Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang; Lüttringhaus, Maria; Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster. S. 263-267.
Vgl. Addams, Jane (1913): Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago. Berechtigte Übersetzung von Else Münsterberg. Nebst dem Bildnis der Verfasserin und einem Geleitwort von
Alice Salomon. München.
-9-
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
ßig besuchte.14 Dieser Ausspruch wurde in Deutschland bekannt als „learning by
doing“.
Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe wird theoretisch aus
dem Konzept der Lebensweltorientierung15 begründet, welches als Programmatik
der Kinder- und Jugendhilfe in den 8. Jugendbericht und in das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) eingegangen ist. Hier heißt es u. a. für das Handeln
von Organisationen, dass Angebote und Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe in der
Lebenswelt der AdressatInnen vorhanden, entsäult, entspezifiziert und regionalisiert werden sollen. Es geht darum, dass sich die Institutionen und Organisationen
der Lebenswelt der AdressatInnen anpassen (und nicht umgekehrt), für diese
niedrigschwellig zugänglich werden und veränderten Bedarfslagen flexibel nachkommen. Für sozialräumliches Arbeiten bedarf es demnach nicht hoch spezialisierter ExpertInnen, sondern Fachkräfte mit eher generalistischen Kompetenzen.
Handlungsmethodisch wird das Konzept der Sozialraumorientierung in Berlin mit
Verfahren aus der Stadtteilarbeit, wie sie von Wolfgang Hinte und seinen MitarbeiterInnen entwickelt wurden gespeist. 16 Diese werden auch auf die Hilfen zur
Erziehung (HzE), also die Arbeit mit einzelnen Menschen bzw. Familien übertragen und setzen beim aktiven Menschen an, dessen Wille und Zielvorstellung Ausgangspunkt einer Hilfe ist.
Das professionelle Handeln der Fachkräfte besteht bei diesem Ansatz in der Veränderung der Perspektive: weg vom Einzelfall hin zu den Bedingungen des
sozialen Raumes, der mit all seinen Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten für den Fall nutzbar gemacht werden soll. Dabei sind die Fachkräfte aufgefordert, in der Fallarbeit drei Dimensionen zu beachten.17
1. Fallspezifische Arbeit: Tätigkeiten, die sich konkret und direkt auf den Einzelfall beziehen.
14
15
16
17
Vgl. Dewey, John (2000): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische
Pädagogik. Weinheim, Basel.
Vgl. Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim und München.
Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.) (2003): Sozialraumorientierung in
der Berliner Jugendhilfe.
Vgl. Hinte, Wolfgang; Litges, Gerd; Springer, Werner (1999): Soziale Dienste. Vom Fall zum
Feld: soziale Räume statt Verwaltungsbezirke. Berlin.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
2. Fallübergreifende Arbeit: Tätigkeiten, die mit Blick auf den Einzelfall die Ressourcen
des sozialen Raumes nutzen, indem soziale Netzwerke organisiert, koordiniert und verknüpft werden.
3. Fallunspezifische Arbeit: Tätigkeiten, die keinem konkreten Einzelfall zugeordnet werden können. Es handelt sich um Wissen über den Sozialraum, welches ggf. für die fallspezifische oder fallübergreifende Arbeit genutzt werden kann. Dies erfordert von den
Fachkräften eine Vor-Arbeit an Ressourcenerschließung im sozialen Raum.
Der Ansatz ermöglicht prinzipiell das gleichzeitige Erschließen und Schaffen von
Ressourcen, sozialen Netzwerken und Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen
Raum, so wie sie in den gesetzlichen Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe gemäß § 1 SGB VIII formuliert sind. Eine Gefahr besteht allerdings darin, die
Perspektiven sozialer Ungleichheit in sozialen Räumen auszublenden sowie in der
Überbetonung der Ressourcenerschließung des einzelnen Menschen im sozialen
Raum die Schaffung von Ressourcen durch die Kinder- und Jugendhilfe zu vernachlässigen.18
Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe als konzeptionelles Handeln ist also darauf angewiesen, dass lebensweltliche Ressourcen im Sozialraum der Kinder, Jugendlichen und Familien zur Verfügung stehen. Hier kann die
Jugendhilfe nicht nur auf Ressourcen anderer Akteure (soziale Träger, Bewohner,
gewerbliche Anbieter etc.) zurückgreifen, sondern ist selbst in einer sozialräumlichen Gestaltungsrolle. Sozialraumorientierung fordert die Träger der Jugendhilfe
heraus, ihre Angebote im Sozialraum so zu gestalten, dass sie den Anforderungen
einer sozialen Infrastruktur im Kontext des gesellschaftlichen Wandels (vgl. oben)
gerecht werden.
Dies erfordert von den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe eine hohe Veränderungsbereitschaft, Flexibilität und vor allem den Mut, das eigene Handeln am sozialen Raum auszurichten und die Angebote für weitere Zielgruppen und den Sozialraum zu öffnen.
In der vorliegenden Studie wird am Beispiel dreier exemplarischer Projekte der
Kinder- und Jugendhilfe gezeigt, wie solch ein Prozess in unterschiedlicher Weise
18
Vgl. Rätz-Heinisch, Regina (2005): Jugendhilfe und Sozialraumorientierung – eine missverständliche Koalition. In: unsere jugend H 5/05, S. 206-216.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
unter verschiedenen Rahmenbedingungen gelingen kann. Dabei sollen die Projekte nicht bewertet werden, um standardisierte Kriterien für sozialräumliches Arbeiten herauszuarbeiten. Wir wählen hingegen einen verstehenden Zugang zum
Alltag sozialräumlicher Praxis. Uns interessiert das Handeln der Akteure, aus dem
sich herauslesen lässt, wie erfolgreiches sozialräumliches Handeln - trotz vieler
alltäglicher Schwierigkeiten – überhaupt möglich wird.
1.2
Aufgabenstellung unserer Studie
Sozialräumliche Arbeit stellt vor allem Anforderungen an das professionelle Handeln der Fachkräfte, die gefordert sind, ihre Angebote und Hilfen am sozialen
Raum auszurichten und mit dem sozialen Raum zu kommunizieren. Dies erfordert
die Überwindung einer sozial-administrativen Logik, die häufig versäult, gesetzesanalog, einzelfallorientiert, spezialisiert, defizitorientiert, standardisiert und an
Institutionen orientiert agiert. Es geht um eine Veränderung hin zu einer sozialräumlichen Logik, die transversal, gesetzesübergreifend, feldorientiert, ressourcenorientiert, flexibel, vernetzt und kooperativ ausgerichtet ist.19
Während der Besprechungen mit der Arbeitsgruppe des Projektes Sozialraumorientierung der Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Sport von Berlin verständigten wir uns darüber, dass es in der Berliner Praxis der Kinder- und Jugendhilfe
bereits eine Reihe von Trägern und Projekten gibt, die sozialräumlich handeln.
Dies äußert sich u. a. in der Vernetzung von einzelfallbezogenen und strukturbildenden Hilfen, bspw. HzE, Jugendarbeit und Gemeinwesenarbeit, der Nutzung
sowohl staatlicher als auch alternativer Finanzierungsformen. Als weiteres Zeichen für eine Entwicklung in diese Richtung nahmen wir die Öffnung bestehender Projekte der Kinder- und Jugendhilfe hin zum sozialen Raum, bspw. als
Stadtteil- und Familienzentren, und auch das Eingehen partnerschaftlicher und
dialogischer Bündnisse mit den AdressatInnen und weiteren (professionellen) Akteuren wahr. Diese Projekte arbeiten bereits gemeinwesen-, zielgruppen- und ressortübergreifend. Hier finden tatsächlich Prozesse von Entspezialisierung und De-
19
Vgl. Langhanky, Michael; Frieß, Cornelia; Hußmann, Marcus; Kunstreich, Timm (2004): Erfolgreich sozial-räumlich handeln. Die Evaluation der Hamburger Kinder- und Familienhilfezentren.
Bielefeld. Hier wird diese professionelle Logik als „generatives Handeln“ bezeichnet.
- 12 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
zentralisierung statt, ebenso wie die Verbindung von sozialen, politischen und ökonomischen Themenstellungen.20
Uns interessierte, wie eine solche Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe unter den
aktuellen Rahmenbedingungen überhaupt gelingen kann und welche Unterstützung die Akteure in der Praxis selbst benötigen. Exemplarisch wurden drei Berliner Projekte untersucht. Da für die Forschung lediglich ein kurzer Zeitraum von
insgesamt drei Monaten zur Verfügung stand, war uns die Untersuchung weiterer
Projekte, obwohl sie uns sehr interessieren, nicht möglich.
Wir gingen bei der Untersuchung von folgender Annahme aus: Bei den Projekten
müsste sozialräumliches Handeln als zentrale Handlungsmaxime in den professionellen Alltag eingegangen sein. Das heißt, das fachliche Handeln – sowohl
der Akteure als auch der Organisation - muss mit Blick auf den sozialen Raum
strukturiert und konturiert sein. Dies zeigt sich nicht nur in der sozialräumlichen
Angebotsstruktur der Projekte, sondern auch im sozialen Handeln der Beteiligten.21
Wir stellten folgende Untersuchungsfragen nach dem ‚Wie’ des Handelns:
-
Wie gelingt es den Projekten, die je regionalen und sozialstrukturellen Eigensinnigkeiten der Lebenswelt der AdressatInnen zu ihrer wichtigsten
praktischen Orientierung zu machen? Welche Vorgehensweisen haben sich
dabei als besonders hilfreich erwiesen?
-
Wie gelingt es, die Praxis quer zu den Gesetzeskontexten und üblichen
Zielgruppendefinitionen zu gestalten?
-
Wie und wodurch gelingen Kooperationen zwischen Trägern und AdressatInnen über die Begrenzungen der Hilfesysteme und des sozial-administrativen Sozialraums hinaus?
-
Was ist für diesen Praxisansatz an professionellem Können hilfreich und
förderlich, was muss entwickelt werden?
Im Ergebnis der Untersuchung sollen Antworten auf die Fragen formuliert werden, welche diese komplexe Praxis verständlicher machen. Es sollen ebenso
Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Unterstützungsnotwendigkeiten be20
Vgl. Lange, Chris; Rätz-Heinisch, Regina (2004): Der Beitrag Sozialer Arbeit bei der Gestaltung
demokratischer Lernprozesse im Gemeinwesen – Theoretische Überlegungen und praktische
Beispiele. In: Nachrichtendienst (NDV) Jg. 84, H 1/2004, S. 13 – 18.
- 13 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
nannt werden, unten denen sozialräumliches Handeln möglich ist. Auch soll der
Bezug zu den neuen sozialen Problemen wieder hergestellt werden.
Für den Auftraggeber soll einerseits die Rolle des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe zur Initiierung, Steuerung und Unterstützung sozialräumlicher Projekte
spezifiziert werden und es sollen andererseits Möglichkeiten der Kooperation öffentlicher und freier Träger aufgezeigt werden.
Die Lektüre der Studie soll nicht zuletzt anregen und Lust darauf machen, sich auf
sozialräumliches Handeln einzulassen.
1.3
Forschungsverlauf und methodisches Vorgehen
Mit der Frage nach dem ‚Wie’ sozialräumlichen Handelns wenden wir uns dem
Alltagshandeln der Beteiligten selbst zu und wählen grundsätzlich einen verstehenden Zugang zum Untersuchungsfeld. Wir gehen davon aus, dass das Wissen
um sozialräumliches Arbeiten in der Praxis bereits vorhanden ist, auch wenn es
den Akteuren zum Teil nicht bewusst sein mag. Dieses unbewusste Wissen kann
mit einem ethnographischen Zugang, der teilnehmenden Beobachtung des Alltagshandelns sowie durch bewusste Reflexionen in Form von Experteninterviews
zugänglich gemacht werden.
Es handelt sich hier um eine explorative qualitative sozialwissenschaftliche Studie.
In einem ersten Schritt erarbeiteten wir ein Kategorienraster für die Auswahl der
drei exemplarischen Untersuchungsprojekte. Wir nutzten hierzu die Leitstandards der Gemeinwesenarbeit, wie sie auf der Grundlage der Arbeiten von Wolfgang Hinte und Dieter Oelschlägel von Maria Lüttringhaus zusammengefasst wurden:22
21
22
-
Zielgruppenübergreifendes Handeln
-
Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen
-
Förderung der Selbstorganisation und der Selbsthilfekräfte
-
Nutzung der vorhandenen Ressourcen
An dieser Stelle sei Timm Kunstreich für die forschungsmethodische Beratung Dank gesagt.
Vgl. Lüttringhaus, Maria (2001): Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang; Lüttringhaus, Maria; Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster. S. 263-267.
- 14 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
-
Verbesserung der materiellen Situation und der infrastrukturellen Bedingungen
-
Verbesserung der immateriellen Faktoren
-
Ressortübergreifendes Handeln
-
Vernetzung und Kooperation
Anhand dieser prüften wir mehrere Projekte und wählten schließlich drei exemplarische Projekte für die Untersuchung aus. Es soll an dieser Stelle auf den Beleg
der Leitstandards durch die Praxis der Projekte verzichtet werden, da dieser in der
ausführlichen Darstellung der Projekte deutlich wird (vgl. Kap. 3). Wichtig war uns,
dass es sich um Projekte/Träger handelt, die aus der Kinder- und Jugendhilfe entstanden und sich dem Gemeinwesen bzw. dem sozialen Raum bereits öffneten.
Die Auswahl der Projekte sagt nichts darüber aus, dass sich diese in besonderer
Weise von anderen sozialräumlichen Projekten unterscheiden. Im Gegenteil: Wir
waren überrascht über die Vielzahl der vorhandenen Projekte in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, die sozialräumlich arbeiten und gleichermaßen als Projekte
einer „best practice“ erforscht werden könnten. Die Untersuchung eines umfangreicheren Samples war im Rahmen des begrenzten Forschungsauftrages nicht
vorgesehen.
Bei den ausgewählten Projekten, die wir als Fallstudien untersuchten, handelt es
sich um:
-
Nachbarschafts- und Familienzentrum der AHB-Berlin Süd gGmbH, im Folgenden auch in der Abkürzung NBF zitiert
-
Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V. – im Folgenden SDL genannt
-
Fabrik Osloer Straße - im Folgenden FOS abgekürzt
Mit der Abkürzung in drei Großbuchstaben möchten wir den Blick weg von den
einzelnen Projekten und hin zu deren zentralen Handlungsstrukturen und Rahmenbedingungen lenken.
Entscheidend für die Auswahl dieser Projekte war für uns des Weiteren, dass sich
diese in ihrer Entstehungsgeschichte unterscheiden und so als exemplarische Fälle ein breites Spektrum der vorhandenen Realität abdecken. Alle drei Träger entwickelten sich im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche. Die FOS entstand bereits
in den 70er Jahren im damaligen Westberlin aus den neuen sozialen Bewegungen
- 15 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
dieser Zeit. Die SDL wurde mit Beginn der 90er Jahre im ehemaligen Ost-Berlin
mit Akteuren aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR gegründet. Der Träger des
NBF, die AHB-Berlin Süd gGmbH, entstand Ende der 90er Jahre mit Beginn des
sozialstaatlichen Umbaus in Gesamtberlin bzw. Deutschland.
Bei der Erhebung der Daten wählten wir trotz der knapp bemessenen Zeit einen
multiperspektivischen Zugang, d. h., wir sammelten zu den jeweiligen Projekten
unterschiedliche Daten in Form von:
-
Teilnehmende Beobachtungen in den jeweiligen Projekten als ethnographischer Zugang (vgl. Leitfaden in der Anlage)
-
Schriftliche Selbstpräsentationen der Projekte (bspw. Konzeptionen, Publikationen)
-
Experteninterviews mit zentralen Schlüsselpersonen (vgl. Interviewleitfaden
in der Anlage)
-
Relevante statistische Daten des Sozialraums, in dem sich das Projekt befindet
Eine Befragung der NutzerInnen der Projekte und die Realisierung einer partizipativen Evaluation23 wäre ein nächster Schritt, der im Rahmen des begrenzten Forschungsauftrages nicht zu realisieren war. Allerdings sehen wir gerade in einer
partizipativen Evaluation in Anknüpfung an die Tradition der Aktionsforschung die
Chance einer praxisrelevanten Forschung, der wir uns verpflichtet fühlen.
Auch für die Auswertung der erhobenen Daten nutzten wir unterschiedliche methodische Verfahren, so dass wir die Ergebnisse aus den einzelnen Erhebungsschritten miteinander in Bezug setzen, d. h. triangulieren24, konnten. Die Triangulation der Daten sichert die Validität und Reliabilität der Studie.
Insbesondere konnten die Ergebnisse der Rekonstruktion des sozialen Handelns
aus den teilnehmenden Beobachtungen, in denen sich auch unbewusste Handlungsstrukturen der Akteure aufzeigen ließen 25 , und die Ergebnisse der Exper-
23
24
25
Vgl. Langhanky, Michael; Frieß, Cornelia; Hußmann, Marcus; Kunstreich, Timm (2004): Erfolgreich sozial-räumlich handeln. Die Evaluation der Hamburger Kinder- und Familienhilfezentren.
Bielefeld.
Vgl. Flick, Uwe (1995): Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie
und Sozialwissenschaften. Reinbek bei Hamburg.
Vgl. Rosenthal, Gabriele (2005): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim und
München.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
teninterviews, in denen die subjektiven Eigentheorien, also das bewusste Wissen
der Akteure erfragt wurden26, aufeinander bezogen werden.
Für die Darstellung wurden die Ergebnisse geordnet und in Bezug auf eine sozialräumliche Gebietsbeschreibung, auf die Entstehung und die Geschichte des Trägers und des untersuchten Projektes, das professionelle Selbstverständnis der
Akteure, die Ausrichtung an der Lebenswelt der AdressatInnen, die Entwicklung
der Angebote und Räume, die zentrale Handlungs- und Interaktionsstruktur der
Professionellen und mit den AdressatInnen, der Organisation, Vernetzung, Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern und Finanzierung zusammengefasst.
Es handelt sich um eine deskriptive Darstellung, die sich am Forschungsverlauf
orientiert. Interpretationen sind als aus dem vorliegenden Material belegte Hypothesen zu verstehen, deren Aufstellung jedoch beim Erstellen des Berichtes nicht
abgeschlossen war.
Die Berichte zu den einzelnen Projekten wurden von den InterviewpartnerInnen
gegengelesen. Ihre Anregungen haben wir dankbar aufgenommen.27
26
27
Vgl. Glaser, Barney G.; Strauss, Anselm L. (1998): Grounded Theory. Strategien qualitativer
Forschung. Bern, Göttingen, Toronto u. a.
Die Zitate aus den Interviews wurden in Absprache mit den InterviewpartnerInnen an einigen
Stellen sprachlich überarbeitet. Die inhaltlichen Aussagen blieben davon unberührt.
- 17 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
2 Sozialräumliches Handeln ist machbar und bedarf öffentlicher
Unterstützung! - Zusammenfassung der Ergebnisse
Regina Rätz-Heinisch
2.1
Handeln zwischen Lebenswelt und Jugendhilfe
Bei allen untersuchten Projekten ging sozialräumliches Handeln als zentrale
Handlungsmaxime in den professionellen Alltag ein. Das professionelle Handeln
der Fachkräfte und der Organisation strukturiert und konturiert sich an den jeweiligen Bedingungen des konkreten sozialen Raums, in dem die Projekte ansässig
sind. Beim erfolgreichen sozialräumlichen Handeln gelingt das Herstellen einer
Passung zwischen den konkreten Personen (Fachkräften und AdressatInnen),
der Organisation der Projekte und den Bedingungen des sozialen Raumes. Wir
konnten bei den drei Projekten durchaus ähnliche Handlungsmuster herausarbeiten, obwohl hier betont werden soll, dass sozialräumliches Arbeiten jeweils regional vor Ort entwickelt werden muss.
2.1.1
Sozialräumliches Handeln stellt Passungen zwischen den Beteiligten her und füllt funktionslos gewordene Räume mit neuen
Inhalten
Allen drei Projekte gelingt es, gesellschaftlich funktionslos gewordene leer stehende Räume Menschen, die aus gesellschaftlichen Strukturierungsmustern wie
Arbeit, Beschäftigung, sozialen Beziehungen „entgrenzt“28 wurden, für neue Nutzungen zur Verfügung zu stellen. Im NBF handelt es sich aufgrund des Rückgangs der KirchenmitgliederInnen um funktionslos gewordene kirchliche Gemeinderäume, in denen die Menschen durch die Aktivitäten der sozialräumlichen Arbeit
nun die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen und Arbeiten bzw. TätigSein realisieren. Durch die Aktivitäten der SDL wurden leer stehende und verfallene Wohnhäuser, ehemalige Tierställe sowie kleinere ehemalige Industriebetriebe,
28
Vgl. Lenz, Karl; Schefold, Werner; Schröer, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim und München.
- 18 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
die zum Ende des 20. Jh. niemand mehr in der Stadt benötigte, mit arbeitslosen
Jugendlichen saniert. Durch das sozialräumliche Arbeiten wurden vor allem Räume der Begegnung, Kommunikation und des Austausches für die BürgerInnen
geschaffen. In der FOS wurde ein größeres leer stehendes Fabrikgebäude mit
arbeitslosen Jugendlichen und Erwachsenen saniert und es siedelten sich verschiedene Projekte der Kinder- und Jugendhilfe, mittlere Gewerbetreibende sowie
Kunst- und Kulturschaffende an, die hier einen sicheren Ort des MiteinanderArbeitens und -Lebens schufen.
Die Gestaltung sozialer Räume durch die Jugendhilfe ermöglicht vor allem den
Kontakt der Menschen zueinander, das Eingehen sozialer Beziehungen, das solidarische Gruppenhandeln als Gegenpool zu sozialer Isolation. Dies kann durchaus als Basis für die Stärkung von sozialem Kapital29 verstanden werden. Es muss
allerdings bedacht werden, dass sozial ausgegrenzte Menschen häufig über wenig
individuelles soziales Kapital verfügen. Vor einer Überschätzung der Selbsthilfekräfte der sozial Ausgegrenzten muss gewarnt werden. Sie bedürfen hierfür der
Solidarität und Unterstützung anderer, die durchaus in sozialräumlichen Projekten
der Kinder- und Jugendhilfe initiiert werden kann. Die Projekte könnten dabei
„Brückenfunktionen“ übernehmen, indem sie Kontakte zwischen ganz unterschiedlichen Menschen herstellen. Allerdings gibt es über solche Prozesse bisher keinen
empirischen Beleg.
In dem Handlungsmuster der Passung von Personen, Organisation und sozialem
Raum zeigt sich die Stärke, aber auch die Begrenzung der sozialräumlichen Projekte. Die Stärke liegt darin, dass die Projekte ihr eigenes zentrales Handlungsmuster auch im Umgang mit den BürgerInnen beibehalten. Beispielsweise zeigen
sich freundliche, wertschätzende und verlässliche soziale Beziehungen als zentrale Handlungsform sowohl auf der Ebene der Fachkräfte als auch auf der Ebene
der Organisation, in der dann über persönliche Kontakte der KollegInnen untereinander kommuniziert wird. Schließlich zeigt sich dieses Muster auch im Umgang
der Fachkräfte mit den AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe, zu denen persönliche Beziehungen gleicher Qualität eingegangen werden.
29
Vgl. Putnam, Robert (2000): Bowling Alone. The collapse and revival of American community.
New York.
- 19 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Die Schwäche liegt nun darin, dass ausschließlich die AdressatInnen von den sozialräumlichen Projekten erreicht werden, die sich auf die Handlungsmuster der
Projekte auch einlassen können. In diesem Beispielfall erreicht das Projekt nur
BürgerInnen, die eben gern verlässliche persönliche Beziehungen eingehen. Diejenigen, die das nicht wollen oder können, bleiben außen vor.
Das bedeutet, dass ein sozialräumliches Projekt / Träger allein niemals alle Menschen im sozialen Raum erreichen kann, die potenziell über Ressourcen verfügen
und für eine Mitarbeit und für freiwilliges Engagement zu gewinnen wären. Es bedarf demnach mehrerer, unterschiedlich arbeitender, sozialräumlicher Projekte in
einem sozialen Raum, die jedoch miteinander fachlich vernetzt sind. Nur in einer
Vielfalt sozialräumlicher Projekte im sozialen Raum kann die Gefahr sozialer
Ausgrenzungsprozesse minimiert werden.
Die Nutzung der Räume durch die AdressatInnen kann als ein Prozess des
Suchens nach sinnvollen Möglichkeiten und Angeboten der Strukturierung des
Tages beschrieben werden, bei dem sich die BürgerInnen die vorhandenen Räume in den sozialräumlichen Projekten schließlich selbstständig und aktiv aneignen.
Finden sich beispielsweise Ehrenamtliche zusammen, die Bedürftige mit einer
Suppe beköstigen wollen, und sie finden eine entsprechende Küche und Ausstattung in einem sozialräumlichen Projekt werden sie ihr Vorhaben dort realisieren.
Zur Realisierung wirtschaften sie dann in der Küche, organisieren die Töpfe und
Teller, die sie benötigen, und gestalten möglicherweise die Wand mit eigenen Bildern. Diese räumliche Aneignung kann auch als ein Prozess verstanden werden,
sich die Räume passend zu machen. Hierfür benötigen die AdressatInnen den
entsprechenden Gestaltungsraum, sich selbst etwas aufzubauen und etwas zu
schaffen.
- 20 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
2.1.2
Sozialräumliches Handeln bedarf einer Übersetzung von der
Lebenswelt in Flexible Hilfen und sozial-administrative Kontexte
Die administrativ festgelegten Sozialräume sind geographische Räume und Planungsräume. Sie entsprechen häufig nicht den lebensweltlichen Räumen der
Menschen, deren Handlungs- und Bewegungsradius meist von sozialstrukturellen
Merkmalen abhängig ist. Große Autostraßen und Bahngleise und –dämme bilden
in den untersuchten Gebieten für die BürgerInnen Sozialraumgrenzen, die für
Fußgänger und wenig mobile Menschen nur schwer zu überwinden sind.
Diese Begrenzung und das Angewiesensein auf den sozialen Raum zeigen sich
auch in den Schwierigkeiten der BürgerInnen, einen Zugang zu Hilfen und Angeboten der Jugendhilfe zu finden. Daher sind die Fachkräfte in den sozialräumlichen Projekten gefordert „Übersetzungsarbeit“ zu leisten und zwischen den Lebenswelten der Menschen und den sozial-administrativen Erfordernissen zu vermitteln. Sie nehmen die Lebenswelt der Menschen wahr, entwickeln eine gemeinsame Beschreibung des Bedarfs, erfinden passgenaue Flexible Hilfen und realisieren sie im sozial-administrativen Kontext. Diese Übersetzungsprozesse finden
sowohl bei den einzelfallbezogenen Hilfen zur Erziehung als auch bei den strukturbildenden Projekten statt. Sozialräumliches Arbeiten liegt demnach tatsächlich
quer zu Gesetzestexten, Zuständigkeiten etc. Die Fachkräfte sind hier wiederum in
der Rolle, die entsprechenden Passungen erst herzustellen und Flexible Hilfen im
Sozialraum zu ermöglichen. Bspw. schildert eine Interviewpartnerin das Beispiel
der Vermeidung einer Heimunterbringung von vier minderjährigen Kindern, indem
der alleinerziehenden Mutter durch die ambulanten FamilienhelferInnen temporär
auch Unterstützung in der Nacht und am Wochenende zur Verfügung gestellt wird.
Der Gewinn für alle Seiten war offenbar. Kinder und Mutter erlebten keine Trennung, der öffentliche Träger sparte erhebliche Kosten in der Heimunterbringung
von vier Kindern, die Hilfe konnte in der Lebenswelt der Familie realisiert werden.
Allerdings ist solch eine Hilfeform in den Leistungsbeschreibungen der ambulanten Hilfen zur Erziehung nicht vorgesehen und bisher nicht durch administratives
Handeln untersetzt. Sie muss also erst erfunden werden.
Die sozialräumlichen Projekte lassen sich mit dem Arbeitsansatz der Flexiblen
Hilfen im Sozialraum auf ein hohes Maß an Ungewissheit und auf Risiken ein, wel- 21 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
che sowohl fachliche und als auch wirtschaftliche Aspekte umfassen (vgl. konkreter dazu Kap 2.2).
2.1.3
Sozialräumliches Handeln bedarf der Initiierung, Steuerung
und Unterstützung des Öffentlichen Trägers
Die fachlichen und strukturellen Instrumente und Handlungsmaximen der Kinderund Jugendhilfe sind prinzipiell ausreichend, um sozialräumlich zu arbeiten. Sozialräumliches Handeln stellt eine Querschnittsaufgabe im Selbstverständnis des
Trägers und der Fachkräfte dar. Sozialräumliches Handeln als Schwerpunkt eines
Projektes, auch mit dem Ziel der Verzahnung von offenen gemeinwesenorientierten Angeboten, Hilfen zur Erziehung und Jugendarbeit, entspricht jedoch einem
eigenständigen professionellen Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, welches personell und finanziell untersetzt werden muss. Eine sichere Grundausstattung der Projekte für sozialräumliches Handeln ist bisher nicht gegeben, die
nach unserer Einschätzung auf der Basis von Leistungsverträgen (§ 77 SGB VIII)
oder Zuwendungen (§ 74 SGB VIII), nicht jedoch aus laufenden HzE-Mitteln realisiert werden sollte. Die Ausstattung der Projekte ist regional sehr unterschiedlich
und auch die jeweiligen Kooperationsbeziehungen zwischen den freien und öffentlichen Trägern sind sehr verschieden. So entstand das sozialräumliche Projekt
NBF auf Anregung des öffentlichen Trägers und auf der Basis sehr guter Kooperationsbeziehungen zwischen öffentlichen und freien Trägern, die auch die tägliche
Zusammenarbeit befruchten. Von Seiten des öffentlichen Trägers wird hier ein
finanzieller Betrag zur Grundfinanzierung des Projektes zur Verfügung gestellt, der
jedoch nicht kostendeckend ist und auch nicht die personelle Grundausstattung
des Projektes gewährleistet. Das Projekt der SDL hingegen entstand auf Anregung des freien Trägers und es brauchte mehrere Jahre der Annäherung des öffentlichen Trägers an das Vorhaben, welches jedoch durch die politischen Gremien des Bezirkes unterstützt wurde. Inzwischen ist für das Projekt eine bis zum
Jahresende zeitlich befristete Personalstelle bewilligt, die vom öffentlichen Träger
finanziert wird.
- 22 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Die fachliche Herausforderung sozialräumlichen Handelns besteht vor allem in der
Integration von Erziehungshilfen30, also von Einzelfall- und strukturbildenden Hilfen:
-
der Hilfen zur Erziehung (HzE) und
-
der Jugend- sowie Gemeinwesenarbeit
sowie der Verknüpfung von:
-
professionellen sozialen Dienstleistungen und
-
freiwilligem und ehrenamtlichem Engagement der BürgerInnen
In der in den Projekten beobachteten Kombination von Integrierten Erziehungshilfen und der Verknüpfung mit freiwilligen Tätigkeiten sehen wir die Chance,
sozialen Problemen im Kontext des sozialen Raumes frühzeitig zu begegnen und
durch das solidarische Miteinander der BürgerInnen zu bewältigen. Nicht unerwähnt bleiben soll die Hoffnung, durch diese Prozesse ebenso präventiv tätig sein
zu können und selbstverständlich auch wirtschaftlich günstig zu arbeiten.
Es geht jedoch nicht um eine ausschließliche Entspezialisierung der Hilfen, sondern um das Nebeneinander von spezialisierten sozialen Diensten und entspezialisierten übergreifenden Hilfen. Die Herstellung einer tragfähigen Balance zwischen spezialisierten und entspezialisierten Angeboten bleibt eine große fachliche Herausforderung.
Den öffentlichen Träger der Jugendhilfe verstehen wir in der Rolle, Prozesse sozialräumlichen Handelns zu initiieren, zu steuern und zu unterstützen. Dies kann
verwirklicht werden, indem die infrastrukturellen und finanziellen Voraussetzungen
und Rahmenbedingungen für sozialräumliches Handeln geschaffen werden.31 Es
geht also um das Ermöglichen der aktiven Aneignungsprozesse der BürgerInnen
im sozialen Raum und die Ermöglichung von Selbsthilfe, Unterstützung, freiwilligen Engagements in der Verbindung mit sozialer Dienstleistung.
Wie genau die Menschen in den sozialen Räumen miteinander handeln, wie die
Passungen zwischen den Beteiligten hergestellt werden und wie genau die Aneignungsprozesse geschehen, kann jedoch nicht vorab geplant und gesteuert werden.
Das heißt, die Projekte bedürfen eines sicheren Hintergrundes, einer tragenden
30
Vgl. Wolff, Mechthild (2000): Integrierte Erziehungshilfen. Eine exemplarische Studie über neue
Konzepte in der Jugendhilfe. Weinheim und München.
- 23 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Basis, auf der die konkreten Angebote, Hilfen, Initiativen gemeinsam mit den BürgerInnen erst entstehen können. Es ist vorab nicht planbar, ob daraus zur Versorgung der Grundbedürfnisse beispielsweise ein preisgünstiger Mittagstisch oder
eine Elterngruppe entsteht. Diese Konkretisierung kann erst vor Ort geschehen.
Es können allerdings allgemeine Ziele formuliert werden, welche eine materielle,
kulturelle und soziale Grundausstattung des sozialen Raums für Kinder, Jugendliche und Familien sichern. Auch bedarf es des Austausches zwischen VertreterInnen des öffentlichen und der freien Träger sowie der BürgerInnen des jeweiligen Quartiers in regelmäßig stattfindenden regionalen Zusammenkünften, wie
bspw. den so genannten Kiezrunden.
2.2
Chancen und Probleme sozialräumlichen Handelns
Die nachfolgenden Aufzählungen vervollständigen die bisherigen Aussagen. Sie
konkretisieren die Aussage der Passung zwischen Personen, Organisationen
und sozialem Raum und thematisieren sowohl das Gelingen als auch Schwierigkeiten der bisherigen Praxis.
Bei allen untersuchten Projekten wurde deutlich, dass sich die Akteure vor Ort auf
Risiken und Phasen der Ungewissheit einlassen. Diese zeigen sich sowohl in ökonomischer, materieller als auch in fachlicher Hinsicht. Sozialräumliches Handeln
geschieht häufig zunächst experimentell mit einem offenen Ausgang. Dazu gehören Erfahrungen des Scheiterns ebenso wie Erfolg. Das Scheitern wird jedoch bei
den von uns untersuchten Projekten nicht als Niederlage oder Infragestellung der
bisherigen Arbeit verstanden, sondern als Anregung, etwas Neues zu beginnen.
Die nun folgende Darstellung in Stichpunkten soll einen detaillierten und vor allem
leicht zugänglichen Überblick zu den interessierenden Unterpunkten geben.
31
Die Berliner Jugendhilfe verfügt bisher über keine verbindlichen Strukturen und fachlichen
Standards für sozialräumliches Handeln im Gemeinwesen.
- 24 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
2.2.1 Ausrichtung des fachlichen Handelns am sozialen Raum
Gelingende Faktoren bei der Ausrichtung des professionellen Handelns am sozialen Raum zeigen sich in folgenden Handlungen:
-
Das Einlassen auf die Lebenswelt der BewohnerInnen und nicht auf die sozialadministrativen Planungsräume als professioneller Handlungsrahmen.
-
„Übersetzungsarbeit“ von der Lebenswelt in sozial-administrative Kontexte.
-
Sich selbst und das sozialräumliche Projekt als Teil eines lebendigen Organismus des
Stadtteils verstehen, dort etwas realisieren wollen und aktiv agieren.
-
Sensibel wahrnehmen, wie sich die Menschen im sozialen Raum bewegen, was sie dort
machen und wo ihnen Grenzen gesetzt sind (Lebensweltorientierung). Große Autostraßen
bilden bspw. Grenzen des sozialen Raums für die BewohnerInnen, fehlende Infrastruktur
fördert Ausgrenzung, Einschluss und Isolation.
-
Die Auswirkungen gesellschaftlicher Themen vor Ort wahrnehmen und diese in die eigene
Arbeit aufnehmen sowie u. a. diese in politischen Gremien thematisieren. Bspw. aktuell:
demographischer Wandel, Leerstand von Gebäuden, Rückbau einer sozialen Infrastruktur.
-
Die Entstehung neuer sozialer Probleme im sozialen Raum wahrnehmen. Bspw. aktuell:
Armutslagen, Isolation von Familien, Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund.
-
Funktionslos gewordene Räume im sozialen Raum mit gesellschaftlich „entgrenzten“ Menschen füllen. Die Räume erlangen so eine neue Funktionalität für die Menschen und den
sozialen Raum.
2.2.2 Professionelles Selbstverständnis
Das professionelle Selbstverständnis der untersuchten Projekte äußert sich in folgenden Punkten:
-
Einem Handeln der Akteure, das sich nicht nach formaler Zuständigkeit ausrichtet. Sie übernehmen Verantwortung für die sozialen Belange und die Gestaltung des sozialen Raumes. Bspw. wird jedem Bürger unkompliziert Auskunft gegeben, Menschen werden mit
Grundbedürfnissen, wie Essen, Kleidung, Bildung, Kommunikation, versorgt (Allzuständigkeit wird eingelöst).
-
Einer eigenen Arbeitskultur, die auch im Umgang mit den Kindern, Jugendlichen, Familien
und BürgerInnen aufrechterhalten wird. D. h., die eigene allgemein verständliche Alltagskommunikation der Organisation wird beibehalten und es wird keine elaborierte Umgangsweise mit den AdressatInnen entwickelt.
-
In den sozialräumlichen Projekten gibt es eine eigene Tradition des Helfens bzw. wird an
religiösen oder weltanschaulichen Traditionen des Helfens angeknüpft. Deren Intention
entspricht der zielgruppenübergreifenden sozialräumlichen Arbeit und bezieht professionelles und ehrenamtliches Engagement ein. D. h., die Projekte entstehen nicht aus dem
- 25 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Nichts und sie benötigen mehrere Jahre, um akzeptierter Bestandteil des sozialen Raums
zu werden.
-
Die Projekte wollen dies einer größeren Gruppe von Menschen zugänglich machen. Sie
wählen also bspw. wie religiöse Organisationen ihre Zielgruppen nicht nach Kirchenzugehörigkeit aus, sondern verstehen sich als prinzipiell offen für alle, ohne vordergründige Eigeninteressen wie bspw. Mission.
-
Eine grundsätzliche Offenheit kann als das zentrale Arbeitsprinzip formuliert werden.
-
Die BürgerInnen sollen nicht zu etwas gezwungen oder gedrängt werden, sondern es werden Räume geöffnet, in denen die BürgerInnen selbstständig handeln können, die sie auch
gestalten und verändern, sich also aneignen und „passend“ machen können.
-
Die Fachkräfte entwickeln Visionen, durch ihr eigenes Tun die Bedingungen des sozialen
Raums verbessern zu können.
-
Sie sind gemeinsam mit den Menschen tätig, bspw. indem gebaut und gearbeitet wird oder
in der Verbindung zwischen Arbeiten, Wohnen und sozial-kultureller Tätigkeit.
-
Sie entwickeln Freude an den Menschen, denen sie begegnen, nehmen sie ernst und verstehen diese als PartnerInnen mit all ihren Problemen und Krisen und nicht als KlientInnen
mit Defiziten.
2.2.3 Beziehungshandeln und Netzwerkhandeln als zentrale Handlungsmuster
In den untersuchten Projekten zeigen sich zwei zentrale Handlungsmuster der
Interaktion zwischen den Akteuren - Beziehungshandeln und Netzwerkhandeln:
-
Beziehungshandeln zeigt sich im Eingehen verlässlicher persönlicher Kontakte, über die
wiederum neue Kontakte erschlossen werden können. Die Menschen finden bei Eintritt in
das Projekt einen persönlichen Ansprechpartner (niedrige Schwelle durch Personen), der
auch den Übergang in ein anderes Projekt im Haus oder dem sozialen Raum begleitet. In
den Projekten gibt es einige zentrale Personen (Schlüsselpersonen), die „Motor“ der Projekte sind, die bspw. die BürgerInnen ansprechen, den Sozialraum begehen, bei denen
sich wichtige Informationen bündeln etc.. Die Stärke des Beziehungshandelns besteht in
der Verlässlichkeit und Kontinuität des Kontaktes, die Schwäche in einer sehr starken Binnenorientierung (bonding Beziehungen nach Robert Putnam), die den Eintritt neuer Personen behindern kann.
-
Netzwerkhandeln als zentrales Handlungsmuster ermöglicht das Zusammentreffen vieler
ganz unterschiedlicher Projekte und Träger und die Vernetzung dieser im sozialen Raum,
was eine hohe Organisations- und Koordinierungsleistung erfordert. Die Beziehungen werden hier wenig persönlich gestaltet und haben eine starke Außenorientierung (bridging Beziehungen nach Robert Putnam). Die Stärke der Netzwerkorientierung zeigt sich in der
kurzfristigen Organisation, Koordination und Aktivierung vieler unterschiedlicher Partner
- 26 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
auf ein gemeinsames Vorhaben hin, die Schwäche im vornehmlichen Managen von Kontakten zwischen Menschen, in denen nur schwer eine Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und
Unterstützung darüber hinaus entsteht.
-
Die einzelnen Projekte bleiben in ihrem jeweiligen Handlungsmuster (Beziehungs- oder
Netzwerkhandeln). Wir plädieren dafür, beide Handlungsmuster im sozialen Raum zu etablieren, um eine Vielfalt und den BürgerInnen eine Auswahl zu ermöglichen.
2.2.4 Ausrichtung an der Lebenswelt, Gestaltung der Räume und die
Entwicklung von zielgruppenübergreifenden Angeboten
Eine Ausrichtung an der Lebenswelt, die Gestaltung der Räume und die Entwicklung von zielgruppenübergreifenden Angeboten werden realisiert:
-
Die Akteure sozialräumlicher Projekte beobachten aufmerksam im Stadtteil, lassen sich
von den BürgerInnen erzählen, hören von Ihren Freuden, Sorgen und Nöten, bleiben im
Kontakt und gestalten aktiv Kommunikation.
-
Sie nehmen die zentralen Themen und Problemlagen der AdressatInnen auf und entwickeln Ideen für Projekte und Lösungen, die sie mit den BügerInnen gemeinsam konkretisieren und sich zur Realisierung weitere Partner suchen, u. a. auch um die Finanzierung
zu sichern (induktives Vorgehen).
-
Sie sind prinzipiell offen dafür, neue BewohnerInnen und neue Zielgruppen kennen zu lernen und einzubeziehen. Aktuell sind in allen untersuchten Projekten neben Kindern und
Jugendlichen, Eltern, ältere Menschen / Senioren sowie Menschen mit Behinderungen im
Blick (sozialökologische Perspektive des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche).
-
Sie bemühen sich darum, sozial Ausgegrenzte zu erreichen.
-
Sie sind bestrebt, die Angebote passend zu den BürgerInnen zu entwickeln und nicht umgekehrt die Anpassung der Menschen an die Angebote zu erwarten (Flexible Angebote
und Hilfen entwickeln).
-
Sie geben Menschen Räume, um ihre eigenen Angebote und Interessen zu realisieren,
bspw. Vereine, Kunstprojekte, sportliche Aktivitäten.
-
Es besteht ein Nebeneinander zwischen spezialisierten Angeboten, die als soziale Dienstleistung erbracht werden (bspw. Hilfe zur Erziehung (HzE) Leistungen gem. § 27 SGB VIII),
und offenen strukturbildenden Angeboten im Sozialraum (bspw. Jugendarbeit, Förderung
der Familien), die auf die Verbindung von professionellem und freiwilligem Engagement
bauen. D. h., es findet weder Spezialisierung noch Entspezialisierung statt, sondern beides
existiert in einem „Haus“ (Integrierte Erziehungshilfen).
-
Es werden Übergänge und Brücken zwischen den spezialisierten und entspezialisierten
Angeboten aktiv gestaltet, so dass der Zugang für Familien, die im Bereich der HzE betreut
werden, zu offenen Angeboten wie Familiencafé, Elternbildung erst möglich wird bzw. umgekehrt über die offenen Angebote eine HzE niedrigschwellig angebahnt werden kann.
- 27 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
-
Es wird auf eigene separate abgegrenzte Räume für die einzelnen Zielgruppen (Kinder,
Jugendliche, ältere Menschen) geachtet und es werden Begegnungen ermöglicht sowie
zielgruppenübergreifende gemeinsame Veranstaltungen durchgeführt. Bei allen drei untersuchten Projekten gelang Letzteres besonders gut in der Initiierung und Durchführung von
großen Stadtteilfesten, bei denen sich ganz unterschiedliche Akteure, Jung und Alt, Gewerbliche und Soziale, einbrachten.
-
Das freiwillige ehrenamtliche Handeln bedarf der Unterstützung, Förderung, Koordination,
Organisation durch professionelle Akteure. Bisher leisten diese Arbeit die Professionellen
zwar gern, jedoch meist neben ihrer regulären Arbeit und unter erheblicher Belastung. Dieser Arbeitsbereich bedarf unbedingt einer Unterstützung und weiteren Professionalisierung.
32
2.2.5 Organisation und Kooperation zwischen öffentlichen und freien
Trägern
-
Alle Träger, in denen die sozialräumlichen Projekte realisiert werden, sind freie Träger der
Kinder- und Jugendhilfe mit insgesamt einer Vielfalt an unterschiedlichen Projekten und
Angeboten. Gerade diese Vielfalt ermöglicht die Ausrichtung am sozialen Raum sowohl in
personeller, organisatorischer als auch in finanzieller Hinsicht.
-
Es handelt sich hier um Träger, die mit einer konkreten Aufgabenteilung und mit Leitungsfunktionen arbeiten, jedoch eine flache Hierarchie praktizieren, d. h., die Leitungspersonen
sind für die MitarbeiterInnen unkompliziert erreichbar und stehen für Fragen und zur Beratung der täglichen Arbeitsabläufe zur Verfügung.
-
Eine Verknüpfung der unterschiedlichen Arbeitsbereiche, gerade zwischen HzE und offenen sozialräumlichen Angeboten, wird institutionell realisiert. Bspw. durch so genannte Leiterrunden, bei denen sich die Projektleiter regelmäßig treffen, sich beraten, austauschen
und von den jeweils anderen Ausrichtungen der Projekte erfahren, oder durch die räumliche Nähe der Leiter, bspw. ein Büro für den Koordinator der HzE und die Koordinatorin der
sozialräumlichen Arbeit; in einem Fall gab es sogar eine Leitungsperson für den Bereich
HzE und offene sozialräumliche Arbeit.
-
Alle Projekte reagieren in ihrer Organisationsstruktur sehr flexibel auf sich wandelnde
Rahmenbedingungen, Aufgaben, Anforderungen, Arbeitsinhalte etc. Sie können durchaus
als „Lernende Organisationen“
33
bezeichnet werden, da sich diese Flexibilität auch in der
Fortbildung der MitarbeiterInnen, der Selbstreflexion, der Neugestaltung der Arbeitsräume
u. a. Aktivitäten zeigt.
32
33
Die Erforschung der Beziehungen, Chancen und Grenzen zwischen professioneller und ehrenamtlicher Tätigkeit in diesem Arbeitskontext wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung.
Vgl. Senge, P.M. (1997): Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. 4.
Auflage Stuttgart.
- 28 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
-
Alle
untersuchten
Projekte
leiden
an
der
beständigen
Veränderung
der
Rah-
menbedingungen im Land Berlin, die sich bspw. in der prekären finanziellen Situation (kein
Projekt verfügt über eine langfristige tragende Finanzierung, die jedoch die Basis einer
kontinuierlichen sozialräumlichen Arbeit bilden müsste), sich ändernden Leistungsbeschreibungen für die ambulanten Hilfen sowie veränderten Abrechnungsmodalitäten äußert.
-
Hervorzuheben ist das überdurchschnittliche Engagement der Akteure in den Projekten
sozialräumlicher Arbeit, deren Arbeitswoche häufig 50 bis 60 Stunden umfasst. Auch dies
ist ein Ausdruck der schlechten finanziellen und personellen Ausstattung der Projekte in
Verbindung mit dem häufig nicht sicher planbaren Arbeitsaufwand in der sozialräumlichen
Arbeit gemeinsam mit den BürgerInnen im Stadtteil. Für die Akteure besteht in dieser
Konstellation die Gefahr der Überforderung.
-
Die Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern zeigte sich in den Projekten unterschiedlich. In einem Fall trat der öffentliche Träger bei der Projektgründung als Innovator
auf und hier gestaltete sich die Kooperation von Anfang an sehr partnerschaftlich. Tritt der
freie Träger als Innovator auf, scheint es schwer, den öffentlichen Träger davon zu überzeugen. Deutlich wird jedoch, dass die Kooperation zwischen freien und öffentlichen Trägern unablässig und notwendig ist. Die sozialräumliche Arbeit lässt sich nur in der partnerschaftlichen Zusammenarbeit gemeinsam realisieren.
-
In der Ausführung der Projekte bleibt der öffentliche Träger in der Rolle, die Rahmenbedingungen zu entwickeln und bereitzustellen, die sozialräumliches Handeln überhaupt ermöglichen. Hierin besteht seine Steuerungsrolle.
-
Die freien Träger haben in allen drei Projekten vor Ort eine beeindruckende Innovation und
Kreativität entwickelt, um sozialräumliches Arbeiten aktiv zu gestalten. Die Konkretisierung
geschieht in einem gemeinsamen Prozess mit den BürgerInnen und ist nicht sicher planbar
und steuerbar. Die konkrete Arbeit muss demnach fortlaufend rückgekoppelt werden.
-
Es bedarf demnach zur Steuerung und Anpassung an den Bedarf tragender Arbeitsbeziehungen zwischen BürgerInnen, freien und öffentlichen Trägern, die bspw. durch regelmäßigen Austausch in „Kiezrunden“ (an denen auch die BürgerInnen teilnehmen!) realisiert
werden können.
- 29 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
2.2.6 Finanzierung
-
In der Finanzierung folgen die Projekte ihrem fachlichen Selbstverständnis: Sie nehmen
den Bedarf wahr, formulieren ein inhaltlich begründetes Angebot, berechnen die zur Umsetzung notwendige Finanzierung und übersetzen diese dann, in einigen Fällen gemeinsam mit den KollegInnen des öffentlichen Trägers, in die finanzielle Logik der Administration (induktive Logik der Finanzierung).
-
Nach dieser Logik werden sowohl Hilfen für Einzelfälle im Rahmen der HzE als auch strukturbildende Vorhaben wie bspw. die Sanierung eines maroden Gebäudes mit arbeitslosen
Jugendlichen finanziert. Bei Letzteren werden Geldquellen außerhalb der Jugendhilfe, wie
bspw. Stiftungen, Spenden, Förderungen durch die Denkmalpflege, die Europäische Union,
BVV-Sondermittel etc., aquiriert. Dabei sind die Projekte sehr kreativ, da sie ein konkretes
Ziel vor Augen haben, welches sie umsetzen wollen - also erst ein fachlich begründetes
Vorhaben, dann Finanzierung suchen, auch außerhalb der Jugendhilfe.
-
Dennoch gehen die Träger hohe wirtschaftliche Risiken ein, da sie sich bspw. durch Verträge für Räume oder Kredite bei Banken langfristig binden. Auch hier besteht die Gefahr
der Überforderung in wirtschaftlicher Hinsicht.
-
Bisher wurde u. a. aus den laufenden Mitteln für HzE-Maßnahmen offensichtlich unter anderem auch in den Aufbau und Erhalt der sozialen Infrastruktur investiert. Paradoxerweise
trifft die Umsteuerung im HzE-Bereich aus diesem Grund die sozialräumliche Arbeit dieser
Projekte, da diesen damit die Grundlage entzogen wird. (Dies bekräftigt auch die neue
Leistungsbeschreibung für ambulante Hilfen, die diese Praxis explizit ausschließt.)34
-
Bisher fehlt eine tragende Struktur für die Finanzierung sozialräumlicher Projekte in der
Kinder- und Jugendhilfe. Hier ist eine Umsteuerung dringend notwendig. Zu empfehlen ist,
diesen Bereich auf der Basis von Zuwendungen (§ 74 SGB VIII) oder Leistungsverträgen
(§ 77 SGB VIII) zu finanzieren, da es sich bei sozialräumlicher Arbeit um eine öffentliche
Gewährleistungsaufgabe und um den Aufbau einer sozialen Infrastruktur handelt.
34
35
35
Auch wenn dies in einigen Fällen als pragmatische Lösung eines Anfangs vor Ort betrachtet
werden kann, erscheint eine längerfristig tragende Finanzierung der sozialräumlichen Arbeit aus
HzE-Mitteln nicht sinnvoll.
Es wird sehr bewusst diese Form der Finanzierung empfohlen, da auch die viel diskutierten
Sozialraumbudgets das Problem nicht lösen werden. Sozialraumbudgets werden für den HzEBereich diskutiert, HzE-Mittel können jedoch den Aufbau der sozialen Infrastruktur nicht tragen.
Der diesbezügliche Gestaltungsraum ist äußerst begrenzt.
- 30 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Auf den Punkt gebracht kann gesagt werden:
1. Sozialräumliches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe als zielgruppen- und
ressortübergreifende Arbeit ist machbar.
2. Eine Verbindung zwischen professionellem und ehrenamtlichem Engagement
sowie eine Verbesserung der Ressourcenausstattung in sozialen Räumen
lässt sich durch Projekte der Kinder- und Jugendhilfe initiieren und realisieren.
3. Sozialräumliches Arbeiten wird im gemeinsamen Handeln zwischen den unterschiedlichen Fachkräften und den AdressatInnen realisiert.
4. Sozialräumliches Handeln entwickelt sich regional unterschiedlich und bedarf
einer Vielfalt an sozialräumlichen Projekten mit unterschiedlicher Weltanschauung und unterschiedlichen Akteuren, die in regionalen Zusammenkünften
miteinander vernetzt sind und zusammenarbeiten.
5. Sozialräumliches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe ist ein eigener professioneller Arbeitsbereich, der einer tragenden personellen und finanziellen
Grundausstattung bedarf.
- 31 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
3 Drei Fallbeispiele: Projekte sozialräumlichen Handelns
3.1
Nachbarschafts- und Familienzentrum der AHB-Berlin Süd gGmbH
(NBF)
Regina Rätz-Heinisch, Thomas Pudelko, Timo Ackermann
Das NBF befindet sich im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg im Ortsteil Lichtenrade. 36 Es handelt sich um den südlichen Teil von Lichtenrade, der sich in
städtischer Randlage befindet.
Die städtebauliche Struktur entspricht einer Mischbebauung. Hierbei ist es für den
Ortsteil charakteristisch, dass neben einer ausgesprochen dörflichen Bebauung
(erstmalige Erwähnung des Dorfes Lichtenrade 1375) einstöckige Wohnhäuser
(Entstehung um 1840/50), größere Mietshäuser sowie einige Villen und Sommerhäuser (seit der Jahrhundertwende um 1900) zu finden sind. Schließlich prägt ein
Wohngebiet mit Hochhäusern, die so genannte John-Locke-Siedlung (erbaut in
den 70er Jahren), das Stadtbild. Die Gegend hat kaum einen industriellen Aufschwung erlebt. Sie ist traditionell durch Landwirtschaft und Handwerksbetriebe
geprägt, war in der Vergangenheit durch die Bahnanbindung als Handels- und
Transportweg wichtig und entwickelte sich später zu einem beliebten Ausflugsziel
der Berliner.
Die Stadtrandlage und die sehr gegensätzliche Bebauung führen den fremden
Besucher zu überraschenden Erlebnissen, wie in unserem ersten Beobachtungsprotokoll zu lesen ist:
Ich fahre ab Kreuzberg mit dem Auto den Tempelhofer Damm in Richtung
Tempelhof/Lichtenrade, der dann zum Mariendorfer Damm und später zum
Lichtenrader Damm wird. Der Weg zieht sich, ich schaue immer unruhiger auf
die Uhr, denn der Zeiger zeigt bereits fast 10.00 Uhr und um 10.00 Uhr bin ich
bereits im NBF verabredet. Ich habe die Entfernung also unterschätzt, der Weg
ist länger als von mir geplant. Ich fahre immer mehr in den Süden, denke, dass
ich jetzt gleich die Stadt verlasse (ist hier nicht Schönefeld bereits in der Nähe?). Auf dem Damm läuft einiges an Verkehr entlang, der jedoch fließt. Die
Häuser am Damm werden niedriger, z. T. stehen hier kleine schmale Reihen36
Die Angaben und statistischen Daten sind der Broschüre Ortsteilbeschreibung Lichtenrade,
herausgegeben im Februar 2005 vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg, entnommen. Die
Sozialdaten zum Ortsteil Lichtenrade-Süd stammen aus den Angaben des Statistischen Landesamtes (Verkehrszelle 0742; Sozialdaten gem. Sozialstrukuratlas und Monitoring Soziale
Stadtentwicklung 2003).
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
häuser, z. T. gibt es Leerflächen. Das alles wirkt auf mich fast dörflich und ich
erwarte jetzt eher Einfamilienhäuser. Ich sehe Gärten und 20er oder 50er Jahre
Mietshäuser (also 3-etagige Häuser mit Rauhputz und kleinen Fenstern und Türen, die wohl für mittlere Beamte, aber z. T. auch für Arbeiter gebaut wurden),
es ist also Mischbebauung. Ich vermute die eigentlichen Wohngebiete hinter
dem Damm, von der Autostraße aus nicht sichtbar.
Ich biege vom Lichtenrader Damm rechts in die Barnet Straße – es ist ca. 10.05
Uhr – und dann gleich die erste Straße links in die Finchleystraße. Mein Erstaunen ist groß, denn beim ersten Abbiegen zeigt sich mir ein 70er Jahre Plattenwohngebiet mit Hochhäusern aus grauem Beton. Die Finchleystraße ist eine
Sackgasse mit Wendeschleife, eine recht kurze Straße eher am Rand des
Wohngebietes gelegen. In ihr befindet sich in Fahrtrichtung rechts ein Kindergarten mit recht großer Freifläche, links eine Schule auch mit viel Freifläche
und darauf Sportanlagen … Alle Bauten sind Betonbauten, scheinen also zeitgleich mit dem Hochhausgebiet erbaut zu sein.37
Nicht nur städtebaulich ist der Ortsteil Lichtenrade als heterogen zu bezeichnen.
Auch
die
BewohnerInnen
des
Viertels
stammen
–
wie
unsere
Inter-
viewpartnerinnen wiederholt ausführten - aus den unterschiedlichsten sozialen
Milieus. Die Hauptverkehrsadern bilden dabei Grenzen, die von den AnwohnerInnen kaum überschritten werden, und unterteilen das Quartier in weitgehend abgeschlossene soziale Bereiche. Es existieren hier kleinräumige Gebiete mit Einfamilienhäusern, deren BewohnerInnen zu den höheren Einkommensschichten gehören. In anderen Gebieten fallen Armutslagen auf, die große Teile der Bevölkerung betreffen. Diese Struktur bildet einen tatsächlichen Gegensatz zwischen Arm
und Reich. Der Anteil der so genannten Spätaussiedler an der Gesamtbevölkerung wird als sehr hoch eingeschätzt. Allerdings werden Spätaussiedler statistisch nicht erfasst, so dass auch hierzu keine genauen Angaben möglich sind.
Diese Gruppe zeigt sich jedoch nach den Aussagen unserer Interviewpartnerinnen
als überdurchschnittlich im NBF repräsentiert.
Die Bevölkerung im gesamten Planungsraum Lichtenrade beträgt 51.326 EinwohnerInnen (Stand 31. Dezember 2003). Der Anteil der 0- bis unter 14-Jährigen
beträgt 12,8 %, der Anteil der 14- bis unter 18-Jährigen 4,5 %, der Anteil der 18bis unter 21-Jährigen 3,2 % sowie der Anteil der 21- bis unter 27-Jährigen 5,2 %.
37
NB1, S. 1f.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Den insgesamt 25,7 % jungen Menschen stehen 43,2 % der über 50-jährigen BewohnerInnen gegenüber und so zeigt sich auch in dieser Gegend der demographische Wandel der Gesellschaft deutlich. Seit 2001 wird eine Abnahme der Bevölkerung im Ortsteil Lichtenrade um knapp 10 % verzeichnet, die besonders stark die
Altersgruppe der 0- bis 27-Jährigen betrifft. Auch war die Anzahl der Geburten im
Jahr 2003 verglichen mit 2002 um 9 % rückläufig.
Hingegen sind die jungen Menschen besonders von Armutslagen betroffen. Im
Dezember 2003 bezogen laufende Hilfe zum Lebensunterhalt: 12,1 % der unter 7Jährigen, 10,4 % der 7- bis unter 15-Jährigen, 7,7 % der 15- bis unter 18-Jährigen
und 5,8 % der 18- bis unter 25-Jährigen. Das sind insgesamt 36 % der 0- bis unter
25-Jährigen, wobei der Anteil der Kinder, die von Sozialhilfe leben, umso höher ist,
je jünger sie sind. Der Anteil der BezieherInnen laufender Hilfe zum Lebensunterhalt der über 50-Jährigen beträgt hingegen 2,4 %.38
Der Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung ist mit 5,9 % eher gering (Vergleich:
Schönberg-Nord 30,2 %; Gesamtbezirk 15,4 %). Allerdings ist, wie oben bereits
erwähnt, der sehr hohe Anteil der Gruppe der so genannten Spätaussiedler statistisch nicht erfasst.
Im Durchschnitt sind 52,6 % der Bevölkerung weiblich, wobei der Anteil der über
70-jährigen Frauen noch höher ist.
In der Verkehrszelle Lichtenrade-Süd, also der John-Locke-Siedlung, leben insgesamt 30.338 Menschen. Im Vergleich zum gesamten Ortsteil Lichtenrade fällt hier
der Bezug von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt von 18,3 % der ausländischen
EinwohnerInnen auf, der über dem Berliner Durchschnitt (16,2 %) liegt. Arbeitslos
sind hier 11,3 % der deutschen sowie 15,8 % der ausländischen EinwohnerInnen
(18- bis 60-Jährige).
Die AHB–Berlin Süd gGmbH39 ist ein Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Berlin
mit einer recht jungen Geschichte. Er wurde 1999 als Organisationsform zur
Durchführung der ambulanten Einzelfall- und Familienhilfen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe gegründet. Schwerpunkt der Arbeit sind seitdem Maßnahmen nach SGB VIII § 27 ff., insbesondere § 27 Abs.3 SGB VIII Aufsuchende Familientherapie, § 30 SGB VIII Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer, § 31 SGB
38
39
Die Angaben in % beziehen sich jeweils auf den Anteil an der Bevölkerung der jeweiligen Altersgruppe.
AHB steht für Ambulante Hilfen Berlin.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
VIII Sozialpädagogische Familienhilfe, § 35 SGB VIII Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, aber auch ambulante Hilfen gem. SGB XII. Seit Beginn der
Arbeit besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Träger. So
wurde die AHB Schwerpunktträger des Jugendamtes für ambulante Hilfen gemäß
SGB VIII in der Region Lichtenrade-Süd. Gemeinsam mit den MitarbeiterInnen
des öffentlichen Trägers wurde die von der Senatsverwaltung für Jugend initiierte
Fortbildung „Sozialraumorientierung“ wahrgenommen. Dort entstand u. a. die Idee
der Gründung eines Nachbarschafts- und Familienzentrums im Rahmen der Jugendhilfe als geeignetes Angebot für den Sozialraum. Die AHB wurde vom Bezirksamt mit der Bitte angesprochen, ein entsprechendes Zentrum aufzubauen. Ausschlaggebend dafür war u. a., dass der Träger bereits seit mehreren Jahren in
diesem Stadtteil tätig ist und um die sozialen Probleme des Stadtteils weiß. Im
Interview mit Frau Barz, der Koordinatorin des NBF, wurde auch deutlich, dass die
AHB-Berlin Süd gGmbH einer der wenigen Träger war, der sich zutraute, diese
Verantwortung in der stätdtebaulichen Randlage zu übernehmen.
Dadurch, dass wir aber die Einzigen hier im Ortsteil sind, und es auch geplant
ist, aufgrund des Stadtteilvertrages, dass sozialräumlich überall solche Nachbarschaftszentren/ Selbsthilfezentren installiert werden sollen und es hier am
äußersten Stadtrand keins gab, weil viele auch ungern hier, so tief in den Süden
kommen wollen. … Sind wir dann auch angesprochen worden vom Bezirksamt,
ob wir uns das vorstellen könnten. Und so im gleichen Zuge wurde dann irgendwie bekannt, dass dieses Haus sehr wahrscheinlich vakant ist, also dass
die Kirche da eins veräußern muss. Die Verhandlungen dauerten über 1 ½ Jahre, weil die Kirche sich da auch nicht immer einig war, bis wir dann endlich
den Pachtvertrag mit der Kirche abschließen konnten. Und sind dann mehr oder weniger, sag ich mal so, ins kalte Wasser geworfen worden (lachen), wat
macht man jetzt hierdraus.40
Der Träger reagierte sowohl mit seiner Gründung als auch in der Entstehungsgeschichte des NBF auf einen Bedarf, der durch den öffentlichen Träger festgestellt
und geäußert wurde. In seinem Selbstverständnis ist er Dienstleister für den öffentlichen Träger, der auch im Wesentlichen auf die Finanzierung durch den öffentlichen Träger angewiesen ist.
Das NBF wurde im Mai 1995 eröffnet. Es befindet sich in einem einzeln stehenden
Haus am Rande der John-Locke-Siedlung, welches die evangelische Kirche dem
40
NI1, 1f.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Träger verpachtet hat. Das Haus wurde ehemals als Gemeindezentrum genutzt.
Die Kirche gab es aufgrund der nunmehr geringen MitgliederInnen in diesem Sozialraum auf. Aufgrund seiner Größe (800 m²), der umgebenden Freifläche und
der räumlichen Ausstattung mit u. a. mehreren Seminarräumen, einem Saal, einem Jugendkeller, einer Küche und einem Restaurant erscheint es – obwohl im
„Charme“ der 70er Jahre - nahezu Ideal für den Zweck eines Nachbarschafts- und
Familienzentrums.
Das Haus hat 3 Etagen, alle Räume sind vom Foyer aus begehbar, in der Mitte
ist das große Treppenhaus: Keller: Kinder- und Jugendkeller (…); EG: Kiezküche (Küchenbereich und Restaurant), (…), großer Saal für ca. 150 Menschen (wird auch gern für Familienfeiern genutzt), Laden „Fair Handeln“, Büroräume der AHB, Büroräume JAkus e.V., Raum für Körpertherapie (ganz neu
von der Therapeutin hergerichtet), Textilraum, Atelier einer Künstlerin, die hier
auch Malkurse mit Bürgern durchführt, Kapelle (hier sonntags Gottesdienst) ...
1. OG: Zwei Gruppenräume (z. B. für Hausaufgabenhilfe), Kleiderkammer,
Büroraum der Geschäftsführerin, Büro des Kinder- und Jugendkellers, Büro
des Projektes „Kick“, Wohnung des Hausmeisters, zwei Krisenwohnungen von
Jakus e.V.41
Bemerkenswert ist, dass das neu gegründete NBF an einem Ort entstand, an dem
bereits eine Tradition in der Nachbarschafts- und Selbsthilfe vorhanden war. Die
neue Intention des NBF besteht allerdings darin, diesen Ort ohne konfessionelle
oder weltanschauliche Bindungen allen NachbarInnen zu öffnen. Dennoch konnte
das NBF auf bereits vorhandene Strukturen des Freiwilligen Engagements und der
Nachbarschaftshilfe an diesem Ort anknüpfen.
Zur Zeit unserer Untersuchung - knapp ein Jahr nach der Eröffnung des NBF - ist
es dem Projekt bereits gelungen, eine große Bandbreite an Angeboten und Kooperationen mit Initiativen, Selbsthilfegruppen und anderen Trägern zu entwickeln. Die Vernetzung nach innen und außen stellt dabei das zentrale Anliegen
und Handlungsmuster dar. Es geht dem Projekt darum, viele Menschen zusammenzubringen und die Unterstützung vieler zu ermöglichen.42 Im Folgenden werden einige ausgewählte Angebote und Projekte benannt, die im Haus stattfinden.43
41
NB1, S. 13
NB1, S. 17
43
Es handelt sich hier um keine vollständige Aufzählung der Aktivitäten und Projekte im Haus. Es
soll lediglich ein Eindruck der Vielfalt und Vernetzung vermittelt werden.
42
- 36 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Vernetzung nach innen – Projekte, die durch die AHB entwickelt und vernetzt werden:
-
Besuche und Veranstaltungen mit den Familien und Jugendlichen, die im
HzE-Bereich (ambulante Hilfen der AHB-Berlin Süd gGmbH) betreut werden, um sie an das Haus heranzuführen und Kontakte außerhalb des Hilfesystems zu befördern
-
Das Projekt „Elternbox“ entstand auf Anregung und in Zusammenarbeit mit
dem öffentlichen Träger (Jugendamt) im Rahmen der Familienbildung. Eltern haben hier die Möglichkeit, sich kennen zu lernen, sich über aktuelle
Fragen und Probleme auszutauschen und ihr soziales Netzwerk zu erweitern. Unterstützt durch einen Familientherapeuten wird sich über Fragen
der Erziehung (z. B. über den Umgang mit Drogengebrauch der eigenen
Kinder oder etwa die Frage „Muss Strafe sein?!“) ausgetauscht. Während
der Bildungsveranstaltung werden die Kinder von ErzieherInnen und/oder
PraktikantInnen betreut. Abgeschlossen wird der Besuch der Elternbox mit
einem gemeinsamen Essen in der Kantine des Begegnungszentrums, das
den Familien kostenlos angeboten wird und dem informellen Kennenlernen
dient.
-
Kiezkantine im NBF mit einem täglich schmackhaften, gesunden und
preiswerten Mittagessen im Kiezrestaurant des NBF.
Vernetzung nach außen - Projekte, die durch andere Träger realisiert werden:
-
Im Jugendkeller, der nach wie vor von der evangelischen Kirchengemeinde
Lichtenrade unterhalten wird, werden neben offener und niedrigschwelliger
Jugendarbeit bspw. auch Tanzkurse angeboten. Die Jugendlichen sind hier
sehr aktiv: Sie geben wöchentliche Kurse in Capoeira, Streat- und Breakdance. Auch der „Eine-Welt-Laden“, der im Erdgeschoss fair gehandelte
Produkte anbietet, wird von BesucherInnen des Jugendkellers betrieben.
-
Das Projekt „Kick“ vom Verein für Sport und Jugendsozialarbeit (VSJ) bietet
in Zusammenarbeit mit „der Berliner Polizei sportbezogene Präventionsarbeit mit delinquenten Jugendlichen“ (Selbstdarstellung des NBF) an.
-
„Jakus e.V.“ ist ein stationärer Träger der Jugendhilfe (Schwerpunktträger
im Sozialraum). Der Träger bietet vor allem Betreutes Einzelwohnen gemäß
- 37 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
§ 34 SGB VIII. Im NBF befinden sich die Büroräume des Trägers sowie
zwei Krisenwohnungen für junge Menschen.
-
Wöchentliche Gymnastikgruppen (5 Gruppen wöchentlich) für ältere Menschen in Eigeninitiative angeleitet von Gymnastiklehrerinnen
-
Der Verein „Senioren Hort 04", der es sich zum Ziel gemacht hat, auf der
Basis von Nachbarschaftshilfe und ehrenamtlichem Engagement der Vereinsamung im Alter entgegenzuwirken. Pflegebedürftige Menschen werden
über ihn unterstützt und gemeinsam werden Aktivitäten in Form von „Spaziergängen, Ausfahrten, (…), Einkaufshilfen“ sowie Begleitdienste etwa für
Termine bei Ämtern oder Ärzten angeboten. Im NBF angeboten werden
Disco-Abende für Senioren, Preisskat, Spielabende etc.
-
Selbsthilfegruppen / Gruppen: Anonyme Alkoholiker, Bürgerinitiative Marienfelder Feldmark (Natur- und Umweltschutz), Skatgemeinschaft, Tanzund Singekreise, Näh- und Tanzkurse
-
Körperpsychotherapie-Praxis mit Angeboten für Mütter und Kleinkinder wie
bspw. Entspannungstrainings, spezielle Angebote für Schreibabys
Vernetzung und Kooperationsprojekte mit Ehrenamtlichen:
-
Gemeinsam mit dem Verein Suppenküche e.V. wird jeden Sonntag eine
kostenlose Suppe an bedürftige Menschen aus der Umgebung ausgeteilt
-
Lebensmittel-Ausgabe „Laib & Seele“ in Kooperation mit der Berliner Tafel,
der evangelischen Kirchengemeinde Lichtenrade und ca. 65 ehrenamtlichen Helfern aus dem Stadtteil.
-
Kleiderkammer für Kinder und Erwachsene.
Im NBF treffen die Aktivitäten von Kindern, Jugendlichen, Eltern, Arbeitslosen,
Senioren und vieler weiterer engagierter BürgerInnen aufeinander. Die Vielfalt an
unterschiedlichen Aktivitäten, Einrichtungen und Vernetzungen „unter einem
Dach“ ist ein zentrales Merkmal der Arbeit der NBF. Hier werden nicht nur Menschen, sondern auch vielfältige Projekte, Einrichtungen und Träger an einem zentralen Ort zusammengebracht und miteinander vernetzt.
- 38 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Dass diese Vernetzung unterschiedlichster Aktivitäten, Projekte und Initiativen an
einem Ort eine Stärke des NBF ist, wird auch von Seiten des Projektes betont,
welches selbst auf die dadurch entstandene Unterstützung und auf vorhandene
Ressourcen zugreifen kann.
Genauso, wenn wir irgendwelche Sachen brauchen, weil wir ja nicht viele finanzielle Möglichkeiten haben. Also, wenn wir da mal einen Kühlschrank
brauchen, oder sonst irgendetwas, dann machen wir hier ein Plakat hin und es
dauert keine zwei Wochen, dann kriegen wir das irgendwo her.44
Die räumliche Nähe vereinfacht gleichermaßen die Kommunikation zwischen den
Projekten. „Dadurch dass wir so viele Gruppen im Haus haben, sind die Wege ja
nicht lang“45. So sei es unkompliziert möglich, die anderen Projekte anzusprechen
und es z.B. zu ermöglichen, dass bei Anfragen von BürgerInnen schnell ein kompetenter Ansprechpartner vermittelt werden kann.46
Im Zugang des NBF zu den Lebenswelten der BürgerInnen spielt die große Vielfalt der Angebote ebenfalls eine entscheidende Rolle. Mit den vorhandenen Räumen und der prinzipiellen Offenheit des Hauses und der MitarbeiterInnen kann ein
breites Spektrum an interessierten BürgerInnen erreicht werden. Die sehr verschiedenen Aktivitäten erlauben es, Passungen zu ganz unterschiedlichen Menschen mit ihren jeweiligen Interessen herzustellen. Sie ermöglichen so eine breite
Öffnung zum sozialen Raum. Ein weiterer wichtiger Zugang zu den Lebenswelten
der Menschen zeigt sich in der Aufnahme grundlegender Bedürfnisse in die
Angebote des NBF. Die BesucherInnen werden mit Unentbehrlichkeiten wie Essen, Bekleidung, sozialen Kontakten, Beschäftigung und sinnvollen Tätigkeiten
versorgt. Dabei nutzen einige BewohnerInnen lediglich die Versorgung, während
andere Bedürftige selbst und aktiv dabei ehrenamtlich mitarbeiten. Beispiele hierfür sind die Kiezkantine, das Projekt „Laib & Seele“ sowie die Kleiderkammer.
Am Projekt „Laib & Seele“ kann die Arbeitsweise gut veranschaulicht werden:
Einmal wöchentlich werden in Zusammenarbeit mit der Berliner Tafel und der evangelischen Kirchengemeinde im NBF kostenlos Lebensmittel an Bedürftige
44
45
46
NI1, S. 13f.
NI 1, S. 13
Vgl. ebenda.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
ausgegeben, die über die Berliner Tafel oder auch über regionale Einzelhändler
gespendet werden. Das Projekt wendet sich mindestens auf zweifache Weise
zentralen Bedürfnissen zu: Einerseits ermöglicht es ökonomisch Bedürftigen, sich
mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Andererseits bietet es ein Beschäftigungs- und
Tätigkeitsfeld für BürgerInnen, deren Alltag nicht mehr über Arbeit strukturiert wird,
Menschen, die etwa arbeitslos oder verrentet sind, die „einfach froh sind“, „wenn
sie eine Aufgabe haben, wenn sie irgendwas machen können, wenn sie merken,
sie werden gebraucht“.47
Mit ihrem Anliegen, Ehrenamtliche in ihre Arbeit einzubeziehen, ist die NBF auf
große Resonanz gestoßen. Auf eine öffentliche Annonce des NBF in einem regionalen Anzeigenblatt meldeten sich spontan um die 80 BürgerInnen zur freiwilligen
Mitarbeit. Von ihnen sind nun ca. 65 Personen regelmäßig im Projekt „Laib & Seele“ aktiv. Darüber hinaus arbeiten VerstärkungsmitarbeiterInnen (so genannte
MAE-Kräfte) in verschiedenen Bereichen des NBF: Sie betreuen die Kleiderkammer, helfen in der Kiezkantine mit oder reparieren auch einmal einfach, „was irgendwie kaputtgegangen ist“ 48. Das NBF ermöglicht auf diese Weise das Ausüben einer Tätigkeit, die von den BürgerInnen selbst als sinnvoll empfunden
wird. Darüber hinaus bietet das gemeinsame Engagement den Ehrenamtlichen
die Möglichkeit, sich auch untereinander kennen zu lernen, soziale Kontakte zu
knüpfen und Netzwerke zu bilden.
Das NBF habe in seiner Arbeit - so die Geschäftsführerin Frau Stähle-Grünewald
im Interview – lernen müssen, dass sich die sozialarbeiterischen Vorstellungen
von den Bedürfnissen der BürgerInnen oft von denen der BürgerInnen selbst unterscheiden. Die Einrichtung einer Trennungs- und Scheidungsberatung etwa sei
nicht von Erfolg gekrönt gewesen, obwohl aus sozialarbeiterischer Sicht hier Bedarf bestünde und ein solches Angebot daher sinnvoll erschienen sei. 49 Wichtig
sei es daher, Offenheit für die Bedürfnisse der BürgerInnen zu zeigen und es
ihnen zu ermöglichen, ihre Vorstellungen einzubringen und auch selbst umzusetzen.
47
48
49
NI1, S. 3
NI2, S. 19
Vgl. ebenda, S. 29.
- 40 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Die kommen von alleine die Leute, und sie haben ganz andere Interessen. Sie
wollen vielleicht auch einfach nur wissen, wo können sie sich hinsetzen, um
einmal in der Woche gesittet und geordnet fünf Stunden Skat zu spielen. (…)
weil das [Erstere; d. Verf.] sind Bedarfe, vermeintliche, die wir aus sozialarbeiterischer Sicht irgendwie hinkonstruiert haben. Wir (planen) aber keine Bedarfe, die die Leute hier aus dem Kiez hatten. Und da mussten wir nun zurückrudern und sagen "Nein, wir müssen uns auf das einlassen, was die hier wirklich
brauchen"50.
Um die Bedürfnisse der BürgerInnen in Erfahrung zu bringen, führte das NBF zum
Beispiel eine Befragung durch. So entstand der Kontakt zu einer älteren Dame,
die nun in den Räumen des Begegnungszentrums regelmäßig ehrenamtlich Nähkurse anbietet.
Diese Schritte gehören zu einem langjährig andauernden Prozess, an dessen Ende ein - so wie von der Geschäftsführerin formuliert - „Zentrum etabliert ist, wo
jeder Bürger weiß ‚Ich hab hier nen Problem, ich kann da hingehen und mal fragen
und die können mir zu mindestens sagen, wo ich jetzt hingehen kann, wenn sie
mir nicht direkt Hilfe geben können“ 51.
Eine breite Öffentlichkeit wird über Feste erreicht. Dieses Element wird im Experteninterview diverse Male als Möglichkeit sowohl der Kontaktaufnahme zu den
verschiedensten Bevölkerungsgruppen als auch zur Anknüpfung von Kooperationen mit anderen Einrichtungen im Einzugsgebiet genutzt.52 Perspektivisch soll die
Öffentlichkeitsarbeit intensiviert werden. So wünscht sich Frau Barz, die Koordinatorin des NBF, eine noch höhere Bekanntheit. Vielen ist das NBF bisher nicht bekannt, im Stadtteil wird ein weitaus höheres ehrenamtliches Potenzial angenommen, als bisher erschlossen werden konnte.53
Die MitarbeiterInnen des
kennen sich sowohl im professionellen Hilfesystem
als auch in der Lage des Stadtteils aus. In dieser „Scharnierfunktion“ agieren sie
nicht abgehoben und theoretisch, sondern sind in ihrem professionellen Selbstverständnis in erster Linie an den immer wieder neu erkannten Bedarfen und Bedürfnissen vor Ort orientiert, die sie in ihr Handlungskonzept aufnehmen, um dar50
NI2, S. 29f.
ebenda, S. 2
52
ebenda, S. 10-13, S. 20
53
NB1, S. 9
51
- 41 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
an ausgerichtet passende Angebote zu schaffen. Erst in zweiter Linie wird dann
über die z. B. gesetzlichen Möglichkeiten der Realisierung – was in der Regel die
Finanzierung betrifft – in Verhandlung mit dem öffentlichen Träger getreten. Die
Professionellen verstehen ihren Auftrag und ihre Dienstleistungsfunktion also
durchaus darin, eine Übersetzungsfunktionen aus der Lebenswelt der BewohnerInnen in sozial-administrative Logiken wahrzunehmen. So sollen etwa auftretende
soziale Probleme sowie Hilfsmöglichkeiten benannt und dem öffentlichen Träger
Verantwortung für konkrete Lösungen zugesprochen werden.
B: Wir arbeiten hier sozialraumorientiert, d. h., wir entwickeln neue Modelle
und Flexible Hilfsangebote, „Maßanzüge“ nach dem Essener Modell. Wie diese Maßanzüge in die Finanzierungslogik der öffentlichen Verwaltung passen
könnten, muss uns von der fachlichen Seite her egal sein, das ist Aufgabe des
Bezirksjugendamtes.
A: Und das übernimmt das Bezirksamt dann auch?
B: Es gibt eine Aussage des Bezirksjugendamtes an die Kiezteams gerichtet, in
denen MitarbeiterInnen freier und öffentlicher Träger zusammen arbeiten:
„Entwickelt passgenaue kreative flexible Hilfen, wir kümmern uns mit der
Wirtschaftlichen Jugendhilfe um die Finanzierung. Wir haben genau das getan
und es funktioniert.54
In diesem Sinne richtet sich das NBF an den Erwartungen aus, die vom öffentlichen Träger formuliert werden. Diese beinhalten z. B. das immer neue „Erfinden“ von sehr passgenauen Unterstützungsleistungen in der Lebenswelt und im
sozialen Raum. Die Umsetzung ist durch den Träger nur mit enormen Kraftanstrengungen, vor allem nach innen, zu leisten. Zentrales Kennzeichen dafür ist,
dass die MitarbeiterInnen für diese Angebotsstruktur nicht nur ein enormes Maß
an Flexibilität aufbringen und teilweise ungewöhnliche Arbeitsbedingungen akzeptieren, sondern auch die Spannung zwischen flexibler Hilfegewährung und Arbeitsplatzunsicherheit aushalten müssen.
Dass wir so etwas machen wie Verhinderung von Fremdunterbringungen, das
Heim quasi ins Haus zu bringen und dass unsere Mitarbeiter plötzlich Nachtwachen und Nachtbereitschaften machen. Im Moment ist da der eine Fall einer
psychisch kranken Mutter mit vier minderjährigen Kindern. Und die musste in
der Anfangszeit rund um die Uhr betreut werden. Je weiter die Mutter stabilisiert wurde, umso weniger Hilfeeinsatz ist nötig. Der Einsatz der Helfer ist hier
54
NI2, S. 5
- 42 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
hoch flexibilisiert, aber wir konnten eine Fremdunterbringung bis zur teilweisen Gesundung der Mutter verhindern.55
Die MitarbeiterInnen des NBF sind gefordert, gewohnte Arbeitsweisen, spezialisierte Hilfeleistungen und auch das eigene berufliche Selbstverständnis zu modifizieren und sich nun parallel ganz anderen Tätigkeiten wie den offenen nachbarschaftlichen Angeboten zu widmen.
Die Bereitschaft seitens der MitarbeiterInnen, sich solchen flexiblen und entgrenzten Arbeitsbedingungen zu stellen, wird durch eine hohe Verlässlichkeit des Trägers gegenüber den MitarbeiterInnen in Bezug auf die Arbeitsaufträge erreicht.
Die Zusammenarbeit zwischen Professionellen und Ehrenamtlichen gelingt
nach der Selbsteinschätzung der von uns interviewten ExpertInnen durchaus: Professionelle und ehrenamtliche Aufgabenfelder sind inhaltlich voneinander abgegrenzt und ergänzen sich. Die professionellen MitarbeiterInnen sind vor allem im
HzE-Bereich tätig und begleiten Gruppenaktivitäten. Sie koordinieren, moderieren,
strukturieren und managen die Aktivitäten im Haus.
Durch die Einbeziehung ehrenamtlicher HelferInnen in erheblicher Größenordnung
ist es möglich, verdeckte und vor allem offene soziale Probleme wie Nahrungsund Kleidungsmangel durch Armenversorgung im besten klassischen Sinne zu
minimieren. Dies wäre durch hauptamtliche Tätigkeit allein nicht leistbar, die jedoch erst die äußere Struktur schafft, um in diesem Sinne ehrenamtlich tätig zu
werden.
Auf diese Weise gelingt es, die verschiedensten Menschen im Familienzentrum
zusammenzubringen und die Entwicklung einer Art wechselseitiger Unterstützungsgemeinschaft zu fördern.
Als wichtiges Standbein für die sozialräumliche Arbeit zeigt sich die von Seiten
des Trägers als „sehr gut“ beschriebene Zusammenarbeit mit dem öffentlichen
Träger. Ein wichtiger Faktor, um eine gute Kooperation der freien Träger untereinander sowie zwischen den freien und dem öffentlichen Träger zu ermöglichen,
sind dabei die so genannten regionalen Kiez- und Fallteams.
55
ebenda
- 43 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Positiv für die partnerschaftliche Zusammenarbeit habe sich überdies die gemeinsame Weiterbildung zur Sozialraumorientierung in der Fortbildungsstätte Alt Glienicke ausgewirkt. Hier gelang es, sich „auf einer anderen Ebene (…) als gleichberechtigte Teilnehmer einer Weiterbildung“ zu begegnen. Gemeinsam wurden neue
Begriffe und Ideen erarbeitet und ihre Funktionalität in der Praxis diskutiert. Es war
der Beginn einer langfristig angelegten Auseinandersetzung, die schließlich dazu
geführt hat, „dass da wirklich eine kollegiale Zusammenarbeit [zwischen freien und
dem öffentlichen Träger, d. Verf.] entstanden ist“. 56
Die gute Kooperation zwischen der AHB und dem öffentlichen Träger spiegelt sich
auch in der Finanzierung von Flexiblen Erziehungshilfen, welche die Vernetzung
und Übergänge zwischen ambulanten und stationären Hilfen zur Erziehung (HzE)
ermöglichen. So ist es machbar, Finanzierungsformen für HzE gemäß § 27 SGB
VIII zu finden, die sich keiner Rechtsfolge nach dem SGB VIII eindeutig zuordnen
lassen. Diese Hilfen werden also quer zu den Gesetzestexten realisiert. Neben
dem öffentlichen wird hier mit dem Schwerpunktträger der stationären Erziehungshilfe, Jakus e.V., zusammengearbeitet.
Den Anfang haben wir hier gemacht, indem wir Hilfen zusammen mit dem stationären Träger gemacht haben, um einen stationären und einen ambulanten
Anteil miteinander zu verknüpfen und dann beide Träger gemittelt in der Arbeit, die an diesem Fall gearbeitet haben. Damit haben wir das Bezirksamt ein
Stückchen herausgefordert, das auch zu finanzieren. Aber die kriegen das dann
hin. 57
Die sozialräumliche Arbeit des NBF wird hauptsächlich als Projektförderung über
einen Leistungsvertrag (§ 16 und § 77 SGB VIII) mit dem Bezirksamt finanziert.
Zum Teil werden trägerbezogene Anteile aus den HzE-Entgelten zur Finanzierung
der sozialräumlichen Arbeit genutzt. Diese Mittel decken im Wesentlichen die Personalkosten, die fallunspezifische und fallübergreifende Arbeit sowie die laufenden
Sachkosten. Die bezirkliche Förderung sowie die Einnahmen zuzüglich eingesetzter Eigenmittel des Trägers ermöglichen die Finanzierung einer festen 30Stunden-Koordinationsstelle für das NBF. Des Weiteren sind der Hausmeister sowie eine Küchenkraft je zur Hälfte fest eingestellt. Zusätzliche hauswirtschaftliche
56
57
NI2, S. 9
NI2, S. 7
- 44 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
und handwerkliche Tätigkeiten werden durch VerstärkungsmitarbeiterInnen (MAE)
wahrgenommen.
Das Projekt erhält Spenden, Sponsoring sowie Naturalspenden vornehmlich aus
der Nachbarschaft, über die kleinere Fehlbedarfe finanziert werden können. Auch
fallen geringe Mieteinnahmen durch die Vermietung der Räume an sowie Einnahmen aus der Kiezkantine.
Als großes Problem zeigt sich die notwendige bauliche Instandsetzung des sanierungsbedürftigen Hauses, für die Drittmittel eingeworben werden müssen. Dies ist
äußerst aufwändig und Erfolge stellten sich erstmals nach mehreren Antragstellungen ein.
Der HzE-Bereich muss kostendeckend arbeiten, vor allem zur Finanzierung der
Mitarbeiterstellen. Er wird über das Entgelt der Fachleistungsstunde finanziert. So
bleiben die Einnahmen von den Aufträgen abhängig und die Finanzierung der
Personalstellen unterliegt einer hohen Planungsunsicherheit, da die Auftragslage
perspektivisch nicht eingeschätzt werden kann. Nur aus diesem Grunde und um
den MitarbeiterInnen sichere Arbeitsplätze schaffen zu können, wird vom Träger
ein sozialräumliches Budgetierungsmodell favorisiert. Wie oben dargestellt ist diese Garantie die Voraussetzung für das flexible Arbeiten der MitarbeiterInnen auch
über den eigenen begrenzten Bereich hinaus.
Die finanzielle Situation des NBF bleibt defizitär. Das NBF ist also darauf angewiesen, dass „die anderen für uns mitarbeiten“, um bspw. Vertretung, Kontinuität und
Unterstützung zu gewährleisten. Gemeint ist, dass die Aktivitäten des Nachbarschaftszentrums zum Teil über Eigenmittel des Trägers mitfinanziert werden müssen, die wiederum nur aus dem HzE-Bereich erwirtschaftet werden können, obwohl hier gar kein Spielraum mehr vorhanden ist.
Bezüglich der äußeren Rahmenbedingungen wurde der Wunsch nach mehr Sicherheit geäußert. Die beständigen Änderungen, etwa im Bereich der Entgeltvereinbarungen, verunsichern und gefährden die laufende Arbeit.
Beides zusammen - also erstens eine sicherere Finanzierung und zweitens eine
höhere Verlässlichkeit in den administrativen Rahmenbedingungen – würde bezüglich der Planung von Projekten als auch gegenüber den MitarbeiterInnen des
NBF (und deren Arbeitsverhältnissen) für größere Verlässlichkeit sorgen.
- 45 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Von Seiten der interviewten Expertinnen wird eingeschätzt, dass für den Aufbau
sozialräumlicher Strukturen zunächst der Einsatz zusätzlicher Geldmittel benötigt
wird, die dann zukünftig zu möglichen Einsparungen führen können.
Zusammengefasst können folgende Faktoren des Gelingens sozialräumlichen
Handelns beim NBF formuliert werden:
-
Als herausragendes Element ist die überaus gute Zusammenarbeit mit dem
öffentlichen Träger zu nennen. Ausgehend von einem Selbstverständnis als
Dienstleister des öffentlichen Trägers und den gemeinsamen Fortbildungen
mit MitarbeiterInnen des öffentlichen Trägers wird auf einer persönlichen
Ebene „Teampflege“ betrieben, die durch die Strukturen der Jugendhilfe im
Bezirk unterstützt wird. Als Schwerpunktträger ist der AHB bevorzugter Ansprechpartner des öffentlichen Trägers
-
Der öffentliche Träger ist interessiert an gelingender Hilfe und regt zu innovativen Ideen an. Daran orientiert entwickelt das AHB passgenaue Angebote und setzt sie entsprechend um. Der (elementare) Arbeitsauftrag besteht genau darin, flexible Hilfen zu entwickeln, „Maßanzüge“ zu schneidern
und nicht mehr Paragraphen des SGB VIII „von der Stange“ anzuwenden.
-
Mit diesem Arbeitsauftrag wird der Träger aufgefordert, sich zu verändern
und weiterzuentwickeln.58 Er wendet seinen Blick dem Gemeinwesen und
den Lebenswelten der BewohnerInnen zu.
-
Im Gegensatz zu anderen freien Trägern der Jugendhilfe, die sich ausschließlich der Fallarbeit widmen, öffnete sich der AHB mit dem NBF in den
Stadtteil und entwickelte ein Arbeitsprinzip der grundsätzlichen Offenheit.
-
Die Ausrichtung an den Bedingungen „vor Ort“ und die dann passend gemachten Hilfen aus HzE, offener Jugendarbeit und Gemeinwesenarbeit
machen die Zusammenarbeit mit der AHB für den öffentlichen Träger auch
so attraktiv.
-
Demzufolge steht nicht die Suche nach der passenden gesetzlichen Grundlage bei einer anvisierten Lösung im Vordergrund des Gelingens, sondern
die Sinnhaftigkeit einer Hilfe und deren Wirksamkeit. Erst in einem weiteren
58
NB3, S. 6
- 46 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Schritt ist es dann Aufgabe des öffentlichen Trägers, die administrative Logik der Finanzierung passend zu machen Das Besondere ist hier, dass der
öffentliche Träger hier diese Aufgabe auch wahrnimmt.
-
Das NBF geht offen vielfältige Beziehungen zu anderen freien Trägern sowie Initiativen, Selbsthilfegruppen und Ehrenamtlichen ein. Ihr zentrales
Handlungsmuster besteht im Netzwerkhandeln, also in der Verknüpfung unterschiedlicher Akteure und Aktivitäten „unter einem Dach“.
-
Über dieses vielfältige Angebot stellt der Träger Passungen zu den Akteuren des sozialen Raums her. Die Vielfältigkeit der Aktivitäten und Projekte
ermöglicht es, unterschiedlichste Akteure anzusprechen. So wird das NBF
zu einem Ort, an dem sich Menschen aus den verschiedensten sozialen Milieus begegnen können.
-
Ein wesentliches Moment ist dabei die Befriedigung von Grundbedürfnissen
wie Nahrung, Kleidung, soziale Kontakte und sinnvolle Beschäftigung. Sie
greift zentrale Bedürfnisse und Bedarfe der BürgerInnen auf und wird so zur
Kontaktstelle zwischen dem NBF und den Menschen des sozialen Raums
-
Als weiteres Element für das Gelingen der Arbeit des NBF ist das verlässliche Einbinden von professionellen MitarbeiterInnen und Ehrenamtlichen in
die Strukturen des NBF zu nennen. Übertragene Aufgaben werden verbindlich übernommen und eine gegenseitige Inanspruchnahme der jeweiligen
Kompetenzen ist jederzeit und unproblematisch möglich; man kann sich
aufeinander verlassen. Hervorzuheben ist auch das überdurchschnittliche
Engagement der verantwortlichen MitarbeiterInnen.
-
Das NBF knüpft am Standort Finchleystraße an Traditionen der kirchlichen
Gemeindearbeit an, die diese nicht (mehr) erfüllen kann. Sie übernimmt deren Aufgaben ohne klerikale Inhalte und Überbau. Durch die weltliche Ausrichtung gelingt es auch, Menschen zu erreichen, für die eine Trägerschaft
der Kirchen eine zu große Zugangshürde bedeuten würde. Mit der Nutzung
des ehemaligen Gemeindezentrums verfügt das Projekt über geeignete
Räume für die Nachbarschaftsarbeit.
-
Dem NBF gelingt es hinsichtlich der Vermittlung zwischen verschiedenen
Lebenswelten, die Grenzen der eigenen Arbeit zu erkennen. Vorsichtig ver-
- 47 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
suchen die MitarbeiterInnen Menschen aus unterschiedlichen Milieus in
Kontakt zu bringen.
-
Es wird auf jugend- und zielgruppenspezifische Räume geachtet und es
werden Begegnungen mit anderen Menschen ermöglicht. Die Räume des
NBF geben den nötigen Platz für selbst gestaltete Entwicklungen der Menschen, die diese nutzen.
- 48 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
3.2
Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V. (SDL)
Timo Ackermann
Im Folgenden wird die Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V., abgekürzt SDL, vorgestellt werden. Untersucht wurde die sozialräumliche Arbeit des
Trägers in der „Victoriastadt“, einem kleinen Stadtteil im Bezirk Lichtenberg. Die
Victoriastadt ist durch eine mehr oder weniger durchgängige Altbaubebauung geprägt. Errichtet wurde ein Großteil der vier- bis fünfstöckigen Gebäude zur Gründerzeit, also gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In den 20er und 30er Jahren des
letzten Jahrhunderts wurden weitere drei- bis vierstöckige Gebäude erbaut. Auffällig ist die Insellage des Stadtteils. Das Gebiet ist räumlich von allen Seiten durch
S-Bahn-Trassen begrenzt, so dass beim Betreten des Stadtteils das Gefühl einer
Abgeschlossenheit, aber auch einer Vertrautheit aufkommen kann. Zu betreten ist
die Victoriastadt nur mit Hilfe der S-Bahnunterquerungen. Gleich zu Beginn einer
Stadtplanungsstudie über das Quartier heißt es, der Stadtteil sei „fast vollständig
durch Eisenbahntrassen eingefasst“, städtebaulich isoliert und habe eine Art „Inselstatus“ 59 . Als wir die Einrichtungen der SDL besuchten und uns durch das
Quartier bewegten, erzeugte dies bei uns ebenfalls das Gefühl, sich in einem eher
abgeschlossenen und von außen schwer zugänglichen Areal zu befinden. In dem
folgenden Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll wurde dieser Eindruck
festgehalten:
Mit meinem Rennrad habe ich bei Schnee und Eis, den vielen Löchern und der
schiefen Fahrbahn einige Probleme. Ringsherum sehe ich zumeist graue, wohl
größtenteils unsanierte Hallen und ein- bis zweistöckige Gebäude. Ich biege
rechts ab, unter einer S-Bahnbrücke hindurch und bin jetzt in der Pfarrstraße.
Hier ändert sich das Straßenbild. Vierstöckige Altbauten, meist bunte oder
weiße Fassaden, die Häuser scheinen größtenteils saniert zu sein.60
Wurden die Gebäude der Victoriastadt nach dem 2. Weltkrieg kaum und dann in
den 80er Jahren nur teilweise in Stand gesetzt, ist heute tatsächlich ein großer
59
60
Gude, Sigmar; Deutz, Lutz (2003): Sozialstruktur und Mietentwicklung in den Lichtenberger
Sanierungsgebieten Kaskelstraße und Weitlingstraße 2002. Im Auftrag des Bezirksamts Lichtenberg, Abteilung für Stadtentwicklung, Amt für Planen und Vermessen, Fachbereich Stadtplanung – Stadterneuerung - . Berlin. S. 2.
SB1, S. 2
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Teil saniert. Im Jahr 2002 lebten hier rund 8200 Menschen.61 Nachdem nach der
gesellschaftlichen „Wende“ viele BewohnerInnen abwanderten, kam es um das
Jahr 2000 herum - wie in anderen östlichen Innenstadtbezirken auch - zu einem
Wiederanstieg der Bevölkerung. In den Jahren 1999 bis 2002 wuchs die Bevölkerung um deutliche 16,8 %. Der Ausländeranteil liegt mit rund 10 % leicht unter
dem Berliner Durchschnitt von 13,5 %.62
Die Victoriastadt weist wie auch die Ostberliner Bezirke Friedrichshain und Prenzlauer Berg eine besonders junge Bevölkerungsstruktur auf. Während im gesamten Bezirk Lichtenberg 45 % der Einwohner 45 Jahre oder älter waren, sind es in
der Victoriastadt nur 15 %. Besonders bemerkenswert ist, dass der Anteil der Kinder unter sechs Jahren in der Victoriastadt - entgegen der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung - im Zeitraum von 1996 bis 2002 kontinuierlich angestiegen ist. Als weiterer Beleg für einen großen Anteil an Familien mit jüngeren Kindern kann die starke Frequentierung der Kindertagesstätte „Buntstift“ im Stadtteil
angeführt werden, die sich in Trägerschaft der SDL befindet.
Wird die Erwerbssituation der BewohnerInnen des Stadtteiles betrachtet, so fällt
im Zusammenhang mit der Altersstruktur auf, dass der Anteil der RentnerInnen mit
4 % sehr gering ist.63 Hingegen liegt der Anteil der Studierenden relativ hoch, jedoch etwas niedriger als in den „Studentenvierteln“ Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Auffällig ist weiterhin, dass sich die Einkommenssituation der BewohnerInnen deutlich verbessert hat. So stieg bei der Betrachtung der Sanierungsgebiete Lichtenbergs, zu der auch die Victoriastadt gehört, das durchschnittliche Einkommen der Haushalte in den Jahren 1999 bis 2000 um 250
auf 1730
(+17 %).
Gleichermaßen lebte ein großer Teil der Bevölkerung weiterhin in relativer Armut so waren z. B. im Jahr 2002 40 % der Haushalte berechtigt, einen Antrag auf
Wohnungsförderung zu stellen.
Die Geschichte des untersuchten Trägers ist eng verknüpft mit der Geschichte
des Stadtteils Victoriastadt. Die Wurzeln des Trägers liegen in der evangelischen
61
62
63
Diese und die im folgenden Abschnitt genutzten Daten sind der o. g., von Gude und Deutz verfassten Studie entnommen; vgl. S. 7 ff.
Eigene Berechnung anhand von Auszügen aus dem Berliner Melderegister. Stichtag
30.06.2005, mit freundlicher Unterstützung der List-GmbH.
Die in diesem Abschnitt verwendeten Daten sind ebenfalls der o.g. Untersuchung entnommen,
s. Gude/Deutz 2003.
- 50 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Jugendarbeit der DDR. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden in der Erlösergemeinde Lichtenberg alternative Angebote für Jugendliche, die
aus der staatlichen Jugendarbeit der DDR ausgegrenzt wurden, geschaffen. Besonders Jugendliche aus subkulturellen Szenen (z. B. so genannte Rocker, Punks,
Grufties und Skins) oder Jugendliche in psychosozialen Problemlagen (z. B. Obdachlose, Alkoholiker und psychisch Kranke) nutzten die Angebote der sozialdiakonischen Jugendarbeit in der Erlösergemeinde. 64
Die Vereinigung der alten Bundesrepublik mit der DDR erweiterte 1990 die Handlungsmöglichkeiten der SDL. Der heutige Geschäftsführer der SDL war damals als
Sozialdiakon in der Jugendarbeit der Erlösergemeinde tätig. Gemeinsam mit engagierten MitstreiterInnen aus dem Kontext der Kirche und der Bürgerrechtsbewegung der DDR gründete er den Verein „Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V.“. Mit der neuen Rechtsform wurde die Grundlage für die weitere Entwicklung des Vereins gelegt. Die damaligen Akteure der SDL verließen die an der
Peripherie des Stadtteils gelegenen kirchlichen Räume und taten damit - indem
sie ihre Arbeit in eigenen Räumlichkeiten und unabhängig von der konfessionellen
Ausrichtung fortsetzten - einen ersten Schritt in den sozialen Raum. Christof Buck
- Projektleiter der Flexiblen Erziehungshilfen der SDL und mitverantwortlich für die
sozialraumorientierte Arbeit - schildert diese Entwicklung wie folgt:
„(…) der Verein ist gegründet am ersten Tag nach der Wende, also am 4. Oktober 1990, ist Micha Heinisch gleich zum Amtsgericht gegangen und hat den
Verein eintragen lassen. Und das hat den Kiez glaube ich sehr verändert.“65
In den frühen 1990er Jahren besetzten Jugendliche aus der linken subkulturellen
Szene einen leer stehenden Straßenzug in der Pfarrstraße. Jugendliche aus der
Victoriastadt und dem angrenzenden Plattenneubaugebiet in der Frankfurter Allee
Süd fühlten sich hingegen der rechten subkulturellen Szene zugehörig. Das hohe
Konfliktpotenzial und die angespannte Situation führten häufig zu Eskalationen.
Mitunter kam es zu gewalttätigen Straßenschlachten zwischen Gruppierungen der
linken und rechten Szene. 66 Die SDL begann in dieser Zeit ihr erstes Beschäftigungsprojekt, in dem arbeitslose Jugendliche aus beiden Szenen miteinander
handwerklich tätig waren und dabei ein marodes Haus im Stadtteil sanierten. Die64
65
66
vgl. SI1, S. 10
SI1, S. 23
Vgl. SI1, S. 3.
- 51 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
ses durchaus mutige Projekt und das dadurch erste sanierte Haus leitete die Veränderung des Stadtteils ein.67 In einer Konzeption des Vereins heißt es dazu, die
Arbeit mit den Jugendlichen und die Sanierung der Häuser habe „entscheidend
zur Befriedung“ des Stadtteiles beigetragen, in dem „tätliche Auseinandersetzungen“ an der Tagesordnung gestanden hätten68. Auf diese Weise habe „sich
der Verein mit seiner Arbeit fest im Quartier verankert“69. Die SDL stand am Anfang einer Entwicklung, in deren weiterem Verlauf zahlreiche Gebäude des Stadtteiles saniert wurden.
Im Laufe der 1990er Jahre kam es zu einer Vergrößerung des Trägers. Im Mai
1993 begann das „Jugendwohnhaus“ als stationäre Einrichtung der Jugendhilfe
in dem ersten sanierten Haus seine Arbeit. Das Angebot wurde von der SDL
gemeinsam mit dem Jugendamt Lichtenberg entwickelt. Die Rechtsgrundlage:
§§ 42, 34 SGB VIII i.V.m § 27 SGB VIII bzw. § 41 SGB VIII. Hier werden Jugendliche, die nicht mehr zu Hause leben können, stationär aufgenommen und sozialpädagogisch betreut. Es folgten weitere Projekte der beruflichen Beschäftigung
und Ausbildung. 1995 wurden, auch in Kooperation mit dem Jugendamt Lichtenberg, die Flexiblen Erziehungshilfen, die alle Hilfeformen gemäß §§ 28 bis 35
SGB VIII i.V.m § 27 SGB VIII bzw. § 41 SGB VIII nach Bedarf des Einzelfalls
realisieren, gegründet (s. dazu auch weiter unten).
Die Projekte des Trägers sind untereinander gut vernetzt und bieten sich gegenseitige Unterstützung: So spielen die Einrichtungen der Jugendberufshilfe gemäß § 13 SGB VIII, die der Träger ebenfalls betreibt, eine tragende Rolle bei der
Sanierung von Gebäuden im Stadtteil, die der Verein inzwischen erworben hat.
In ihnen können zu einem späteren Zeitpunkt weitere Angebote des Trägers angesiedelt werden. Bei einem unserer Besuche in der gerade neu entstehenden
Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“ trafen wir z. B. den Projektleiter des Ausbildungsprojektes „Hochbau“, der gemeinsam mit seinen Kollegen
und den Auszubildenden an der Sanierung des Gebäudes arbeitet.70 Die Arbeit
des Projektes liefert dabei einen zentralen Beitrag für eine kostengünstige Sanie67
68
69
Vgl. ebenda.
Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg (2001): Sozialräumliche Jugend- und Begegnungsstätte in der Alten Schmiede. S. 8.
ebenda
- 52 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
rung des Gebäudes. Diese Form der internen Vernetzung und Unterstützung
bietet der SDL die nötigen Ressourcen zur Realisierung eines sozialraumorientierten Zentrums, wie eben z. B. der im Aufbau befindlichen „alten
schmiede“.
In der Konzeption der „alten schmiede“ heißt es, die Eröffnung des Stadteilzentrums sei „der nächste Schritt“ in der Entwicklung der Stadtteilarbeit des Trägers.71 Eine Voraussetzung für die Entwicklung des Projektes war, dass die SDL
bis zum Jahr 2001 schrittweise Eigentümerin des Grundstückes werden konnte.
Seit dem Jahr 2003 wird das Gebäude nun „unter der Beteiligung von Anwohnern, Projekten der Jugendberufshilfe“72 sowie weiterer Akteure auch aus dem
sozialen Raum saniert. Um die BürgerInnen in die Planung mit einzubeziehen
und ihre Bedürfnisse überhaupt in Erfahrung zu bringen, ließ die SDL zunächst
eine „aktivierende“ Befragung der BewohnerInnen des Stadtteiles durchführen.
Im Auftrag des Trägers wurden an alle Haushalte der Victoriastadt umfangreiche
Fragebögen verteilt: Ermittelt wurden bspw. die Vorstellungen der Menschen
über mögliche Angebote, Nutzungsmöglichkeiten und eigenen Aktivitäten der
„alten schmiede“, aber auch allgemeine Einschätzungen etwa über die Vorzüge
und die Probleme des Lebens in der Victoriastadt. Schließlich schrieb die SDL
einen Architekturwettbewerb aus. Es gelang dem Träger die Akteure des sozialen Raums in die konkrete Entscheidungsfindung über den Architektenentwurf
mit einzubeziehen: Der Entscheidungsprozess wurde gemeinsam mit den BürgerInnen und VertreterInnnen der beteiligten Verwaltungen gestaltet.73
Daraufhin begann bereits die Stadtteilarbeit mit den BürgerInnen, wobei für sozialkulturelle Veranstaltungen bisher auf andere Räumlichkeiten des Trägers zugegriffen wurde. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung waren bereits große Teile
der „alten schmiede“ bezugsfähig und die ersten Projekte hatten unlängst ihre
Arbeit dort aufgenommen. Nach vollständiger Fertigstellung soll das Gebäude
den bereits ansässigen offenen Jugendklub und weitere soziale Projektes des
Vereins wie z. B. die Flexiblen Erziehungshilfen beheimaten. Überdies soll das
70
71
72
73
S. a. SB4, S. 5f.
Sozialdiakonische Arbeit Victoriastadt (2005): Sozialräumliche Jugend- und Begegnungsstätte
„alte schmiede“. Gemeinwesenorientierte Stadtteilarbeit mit dem Schwerpunkt im Stadtteil NeuLichtenberg. S. 3.
ebenda
Vgl. SI1, S. 19
- 53 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Zentrum Platz für gemeinwesenorientierte Stadtteilarbeit, etwa für ein Bürgercafè,
für soziale Beratungen und Gruppenaktivitäten, bieten, aber auch als Veranstaltungsort sowie für Feste und Feierlichkeiten genutzt werden.74 Die MitarbeiterInnen sprechen in Bezug auf die „alte schmiede“ von einer möglichen „Begegnungsstätte zwischen Jung und Alt“.75 Ein anderer Mitarbeiter äußerte uns gegenüber die Hoffnung, die „alte schmiede“ könne zu einer weiteren Öffnung des
Trägers führen, man wolle mit dem Zentrum „die Leute, die hier wohnen“76, stärker mit einbeziehen. So solle ein selbst organisiertes Café eröffnet werden, um
den Eltern die Möglichkeit zu bieten, sich z. B. nach dem Abholen ihrer Kinder
aus der benachbarten Kindertagesstätte auf einen Kaffee zu treffen, ein Gespräch zu führen und so in Kontakt miteinander zu kommen.
Ein zentrales Projekt der sozialdiakonischen Jugendarbeit sind seit 1995 die
Flexiblen Erziehungshilfen (s. a. oben), abgekürzt „Flex“. Bei der Gestaltung
der flexiblen Hilfen bieten die MitarbeiterInnen „Hilfen aus einer Hand“. D. h., ein
Wechsel der Hilfeart, auch von ambulanten in stationäre Formen, ist bei gleichzeitiger Betreuungs- und Beziehungskontinuität möglich. Üblich ist etwa, dass
ein Mitarbeiter, der zunächst mit einem Jugendlichen in einer ambulanten
Einzelfallhilfe arbeitet, zu einem späteren Zeitpunkt die ganze Familie des
Jugendlichen in einer ambulanten Familienhilfe weiter betreut. Genauso ist es
möglich, dass z. B. ein Jugendlicher - unter Beibehaltung der Bezugsperson - in
das ebenfalls angebotene betreute stationäre Einzelwohnen wechselt. Die
MitarbeiterInnen versuchen hier maßgeschneiderte Hilfen anzubieten, die sich
nicht in erster Linie an dem Wortlaut der Gesetzestexte orientieren, sondern
direkt an den Bedürfnissen und dem Bedarf der Menschen ausgerichtet sind.
Professor Wiesner77 hat mal gesagt, ich krieg das wörtlich nicht mehr hin, aber
so ungefähr, dass alles, was im KJHG steht, eine lockere Aufzählung von Möglichkeiten ist, aber kein geschlossenes System. (…) Diese Versäulung der Paragraphen steht eigentlich eher jeder Kreativität im Wege. Und das ist ein Spagat weil - wenn wir formal eine Hilfe installieren, dann gucken wir nach den
Inhalten und das nachher in einen Kostensatz oder einen Paragraphen zu kriegen, das mache ich dann schon. Aber es wäre ja unsinnig, wenn wir ne Leis-
74
75
76
77
Vgl. Sozialdiakonische Arbeit Victoriastadt 2005, S. 3.
SB2, S. 15
SI1, S. 30
Gemeint ist Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner, Ministerialrat und Leiter des Referates Kinderund Jugendhilferecht im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
tung nicht bringen können, die jemand ganz dringend braucht (…). Also mischen wir das Ganze.78
Als erfolgreiches Mittel, um in Kontakt mit den BewohnerInnen des Stadtteiles zu
kommen, wird von Seiten des Trägers das Veranstalten von Festen beschrieben.
So organisiert die SDL beispielsweise bereits seit 1998 ein jährlich stattfindendes
Sommerfest, das „Viva Victoria“. Gemeinsam mit engagierten BürgerInnen - besonders aus der Betroffenenvertretung79 - und Gewerbetreibenden des Stadtteils
gelang die Etablierung dieser Veranstaltung, die jährlich von mehreren hundert
Menschen besucht wird.
Zur Übersicht sollen hier noch einige aktuelle sozialräumliche Aktivitäten80 der
SDL in der Victoriastadt stichwortartig genannt werden:
-
Etablierung offener Jugendarbeit gem. § 11 SGB VIII und Flexible Erziehungshilfen (HzE) in einem Haus
-
Öffnung der Kindertagesstätte „Buntstift“ als Kommunikations- und Veranstaltungsort für die Familien (z. B. Elterncafé, Kindergeburtstagsfeiern)
-
Unterstützung der von den BewohnerInnen organisierten sozialkulturellen
Veranstaltungen in den Räumen des Ausbildungsrestaurants „Am Kuhgraben“
-
Angebote der Elternbildung und von Elternkompetenztraining im Stadtteil
(in Kooperation mit dem Jugendamt Lichtenberg)
-
Koordination des jährlich stattfindenden Stadtteilfestes „Viva Victoria“ mit
Beteiligung sozialer, bürgerschaftlicher und gewerblicher Akteure im Stadtteil
-
Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, Beschäftigung und Berufsausbildung
für erwerbslose Jugendliche und Erwachsene (gemäß SGB VIII und SGB II)
81
78
79
80
SI1, S. 31
Die Betroffenenvertretung ist ein von der öffentlichen Hand gefördertes Gremium zur Beteiligung von BürgerInnen in den so genannten Sanierungsgebieten. Insbesondere setzen sich die
hier engagierten BürgerInnen für die Rechte der Mieter und Mieterinnen im Laufe eines
Sanierungsverfahrens ein.
Die für die Öffnung zum Sozialen Raum wichtigen Faktoren bestehen allerdings nicht nur in den
hier benannten konkreten Projekten. So trägt unserer Ansicht nach etwa auch das Selbstverständnis der SDL zu einer gelingenden sozialräumlichen Arbeit bei. Siehe dazu auch am Ende
dieses Abschnittes unter Faktoren des Gelingens.
- 55 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Die Erweiterung der Stadtteilarbeit in der Victoriastadt im Zusammenhang mit
der Eröffnung der Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“ wird im Jahr
2006 vom Bezirksamt Lichtenberg mit einer Personalstelle gefördert. Geplant
sind vor allem die Initiierung von Beratungsangeboten wie Sozialberatung,
Mieterberatung, Jugend- und Familienberatung, Unterstützung von Selbsthilfegruppen und ehrenamtlichen Aktivitäten der BewohnerInnen, sozialkulturelle
Veranstaltungen.
Betrachtet man das professionelle Selbstverständnis der SDL, so ist möglicherweise ein weiterer Blick auf die Geschichte des Trägers sinnvoll. Wir gewannen während unserer Untersuchung den Eindruck, dass der kirchliche Hintergrund des Vereins möglicherweise ein wichtiger Faktor für das Selbstbild der
SDL ist, dass sozusagen eine Übertragung des kirchlichen Selbstverständnisses
in die säkulare Arbeit der SDL stattgefunden hat.82 So beobachteten wir, dass
sich die MitarbeiterInnen des Trägers bei Anliegen von Hilfesuchenden immer
wieder zuständig fühlten, egal ob sie nun formal beauftragt waren zu helfen oder
nicht. Es gelang ihnen, den Menschen, die Kontakt suchten, mit offenen Augen
und Ohren zu begegnen. Wir hatten bisweilen den Eindruck, dass diese Offenheit etwas von der Zugewandtheit eines Diakons oder einer Diakonin hat, der/die
sich um ihre (Kirchen-)gemeinde sorgt und kümmert. Möglicherweise ist hier also
die Orientierung hin zum sozialen Raum bereits auf dem Hintergrund eines kirchlichen
bzw.
sozialdiakonischen
und
an
der
Gemeinde
ausgerichteten
Selbstverständnisses verwirklicht worden.
Zu diesem Bild der Zugewandtheit passt, dass uns Herr Buck berichtete, sehr
häufig kämen Eltern in die Räume der „Flex“, fragten „einfach“ nach ihm und bäten um Rat. Themen seien z. B. alltägliche familiäre Fragen, wie das Aufräumen
des Kinderzimmers, aber auch in drängenden familiären Konflikten. Oft kämen
die Eltern – wohlgemerkt, ohne dass die Familien zuvor bekannt seien oder sie
81
82
Neben den hier erwähnten Einrichtungen betreibt der Träger zahlreiche weitere interessante
Projekte. Eine detaillierte Beschreibung wäre sicher sinnvoll, würde jedoch über den Rahmen
des Berichtes hinausgehen.
Eine formale Kirchenzugehörigkeit sowie religiöse Handlungen sind bei der SDL nicht Bestandteil der Arbeitsverhältnisse und des Alltages.
- 56 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
eine Hilfe des Trägers in Anspruch nehmen würden – „mit heiklen Geschichten“83; es gehe dann nicht nur um „’Mein Kind räumt nicht auf`’“ 84.
All das weist darauf hin, dass ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses der SDL darin besteht – auch neben den eigentlichen sozialen Dienstleistungen - ,ein offenes Ohr zu haben und sich für die Belange und Bedürfnisse der
BewohnerInnen des Stadtteiles zuständig zu fühlen. Auf die Frage, wie sich der
Träger in seiner Arbeit habe auf die Bedürfnisse der BürgerInnen einstellen können, sagte uns ein Mitarbeiter bezeichnenderweise, der Träger habe sich nicht
den Bedürfnissen des Stadtteiles geöffnet, er sei vielmehr aus diesem entstanden.
So ist eigentlich der Großteil des Kernvereins entstanden, aus dem Bedarf heraus, dass wir gesehen haben, da sind die Menschen, die brauchen irgendwas
und lass uns doch mal überlegen, ob uns was dazu einfällt. Also [die SDL, d.
Verf.] ist aus dem Kiez entstanden und nicht in den Kiez reingekommen (…).85
Dabei nahm die SDL entstehende Probleme der BewohnerInnen sensibel wahr
und richtete ihre Angebote an neuen Bedarfen aus, nicht ohne sich dabei selbst
auf Neues und Ungewohntes einzulassen. Als Beispiel kann der Bau und die
Eröffnung der Kindertagesstätte „Buntstift“ angeführt werden: Die in der Victoriastadt bestehenden zwei Kindertagesstätten sollten aufgrund der bezirklichen Bedarfsplanung und ihres maroden baulichen Zustandes geschlossen werden.
Daraufhin protestierten betroffene Eltern und baten die SDL gleichzeitig um Unterstützung. Die SDL unterstütze das Anliegen der Eltern und brachte sich selbst
in politische Gremien des Bezirkes ein. Im Ergebnis sanierte die SDL mit „ihren“ Jugendlichen ein Gebäude, in dem schließlich eine moderne Kindertagesstätte entstand. So konnten die maroden Kitas geschlossen werden, während
dem Quartier ein entsprechendes Angebot zur Kinderbetreuung erhalten blieb.
Wichtig ist der SDL darüber hinaus, sich „bekannt zu machen“86 und öffentlich
zu agieren. Dies lässt sich u. a. daran ablesen, dass der Träger in der lokalen
83
84
85
86
SI1, S. 20
ebenda
SI1, S. 4
SI1, S. 20
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Presse regelmäßig präsent ist.87 Die SDL nutzt allerdings weitere Medien, um in
Kontakt mit den Menschen zu treten. So dienen etwa Fahrradständer, Aufsteller
und Schilder im Stadtteil dazu, die SDL selbst und ihre Angebote bekannt zu
machen. Überdies erstellt die SDL eine monatliche „Kiezzeitung“, das
„Kiez:G:Sicht“. In ihr wird über die Arbeit und die Aktivitäten des Trägers berichtet und es werden die nächsten Veranstaltungstermine bekannt gegeben. Hier
schreiben Jugendliche und Bürger ebenso wie MitarbeiterInnen kleinere Beiträge.
So werden etwa genauso „Das neueste Rezept“ aus dem Ausbildungsrestaurant
veröffentlicht wie die letzte Jugendfahrt besprochen. Auch MitarbeiterInnen werden hier verabschiedet oder bei Beginn ihrer Arbeit kurz vorgestellt und herzlich
willkommen geheißen.88
Ein weiteres Merkmal ist die Bedeutung des persönlichen Kontaktes in der
Arbeit des Trägers. So fiel uns zu Beginn unserer Forschung auf, dass wir,
wenn wir die Einrichtungen der SDL besuchten, von bestimmten zentralen Personen in Empfang genommen wurden.89 Auch der Übergang von einer Einrichtung zur nächsten wurde immer wieder durch zentrale Personen gestaltet. Wir
selbst wurden stets freundlich, auf zugewandte, persönliche Art begrüßt und
aufgenommen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden wir oft an eine weitere uns
als kompetent angekündigte Person weitervermittelt oder sogar persönlich zu
dieser Person begleitet.90 Dieses An- und Aufnehmen sowie der starke persönliche Kontakt ermöglichen es der SDL, Menschen zügig persönlich einzubeziehen,
zum Mithandeln anzuregen und sie für eine Sache zu begeistern. Der distanzierte Besucher kann dies jedoch möglicherweise auch als zu sehr vereinnahmend
87
88
89
90
Um einen Eindruck über die Präsens der SDL in der Presse zu verschaffen sei nur eine Auswahl der Artikel genannt: s. z. B.: o. Verf. (2005): Eine alte Schmiede für den Kiez. Anwohner
feiern Richtfest an der Spittastr. In: Berliner Woche, Nr. 27, 6. Juli 2005. S. auch: Engels, Volker
(2004): Erzählen ohne Zeitdruck. In einem Berliner Plattenbau mit Kindertagesstätte entsteht
ein Seniorenwohnheim. In: die Kirche, Nr. 48, 28. November 2004. Weiterhin: O. Verf. (2004a):
Soziale Verelendung durch Armut. Wenn der Staat bei der Kinder- und Jugendhilfe die Mittel
kürzt. Ein Interview mit Michael Heinisch. In: Diakonie, Nr. 1, Januar 2004. Ebenso: o. Verf.
(2004b): Lesestunden und leichte Kost. Alt und Jung unter einem Dach: In einem Plattenbau an
der Hedwigstraße soll Berlins erste Senioren-Kindertagesstätte entstehen. In: Berliner Zeitung,
Nr. 227, 28. September 2004.
Vgl. Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V. (2006): KIEZ: G: SICHT. Zeitung der sozialdiakonischen Arbeit in Lichtenberg und Köpenick. Ausgabe 1/2006.
Vgl. SB1; SB2; SB4, z. B. S. 1 und S. 7.
Vgl. SB3, S. 7f; SB4, S. 7f.
- 58 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
empfinden. Wie erging es unserem Forscher? Gleich nach dem ersten Gespräch
in der SDL bot er bei der Verabschiedung spontan seine Mithilfe an und nahm
einige Exemplare der Stadtteilzeitung „Kiez:G:Sicht“ mit über die Straße, um den
leeren Zeitungsständer wieder zu befüllen.
Bei der Kontaktaufnahme ohne persönlichen Kontakt bspw. per Telefon zeigte
sich dieses Muster teilweise als hinderlich: Ein bestimmter Kontaktpartner oder
eine bestimmte Kontaktpartnerin waren nicht erreichbar und so wurden mehrere
Versuche nötig, um die zentrale Person zu erreichen.91
Von der Seite des Trägers wird ebenfalls betont, dass in der Arbeit mit den BürgerInnen der persönliche Kontakt von herausragender Bedeutung ist. Wichtiger
Bestandteil der Arbeit sei es, Veränderungsprozesse „anzuschieben und Kontakte zu knüpfen“92. Grundsätzlich sagte uns Herr Buck dazu in dem von uns
geführten Interview:
Wenn man im Kiez aktiv wird und einfach bewusst durch den Kiez geht, dann
bringt man Menschen miteinander in Kontakt, man grüßt sich, das fängt ja oft
erst mit so einem vorsichtigem „Hallo“ an und irgendwann steht man an der
Ecke und quatscht mal eine Runde. Daraus entwickelt sich ganz, ganz viel.93
Wichtig sei es, den BürgerInnen zugewandt zu begegnen, um so in Kontakt zu
kommen. Auffällig war, dass Herr Buck tatsächlich mit großer Freude und Zugewandtheit über die Menschen sprach, mit denen er arbeitet. So erklärte er in
unserem Interview mehrfach, dass er die Menschen des sozialen Raums sehr
schätze – wörtlich betonte er: „Ich mag die Menschen einfach!“
Auch innerhalb des Trägers sieht Herr Buck einen Teil der Professionalität darin,
die Vernetzung weiter voran- und die Mitarbeiter „untereinander in Kontakt zu
bringen“94. Die Vernetzung zielt dabei darauf, es den MitarbeiterInnen zu ermöglichen, „auf die Kompetenzen und die Ressourcen der anderen zuzugreifen“95.
Wichtiges Instrument in der trägerinternen Vernetzung der SDL ist dabei die so
genannte „Leiterrunde“. Hier treffen sich die LeiterInnen der insgesamt 16 Pro-
91
92
93
94
95
Vgl. z. B. B1, S. 1; S. 6. ; B2, S. 1.
SI1, S. 2
SI1, S. 34
SI1, S. 8
ebenda
- 59 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
jekte des Träger, um sich „gegenseitig zu beraten und zu unterstützen“96. Es
werden aktuelle Probleme und gemeinsame Vorgehensweisen erörtert. Neben
dem Treffen in der Leiterrunde sei es aber genauso entscheidend, einfach in den
Projekten vorbeizugehen, anzurufen, „weiter zu vernetzen und im Kontakt zu
bleiben mit den Kollegen“97. Die so entstehende Vernetzung eröffne - neben dem
gegenseitigen Zugriff auf die Kompetenzen der Anderen - die Möglichkeit, Jugendliche und Familien zwischen den Einrichtungen zu vermitteln, also auch untereinander konkurrenzfrei zu kooperieren und sich wechselseitig mehr finanzielle Sicherheit zu schaffen.98
Eine nach außen gerichtete Kooperation ist die SDL in jüngster Zeit mit „unerHÖRt e.V.“ eingegangen, einem Träger, der mit gehörlosen und schwerhörigen
Jugendlichen und deren Familien arbeitet.99 Gemeinsam bieten die beiden Projekte Flexible Hilfen für gehörlose und schwerhörige Jungendliche an. Die SDL
stellt immaterielle (Know-how) und materielle Ressourcen (Räume) für das betreute Wohnen zur Verfügung. Die speziell ausgebildeten MitarbeiterInnen von
unerHÖRt e.V. ermöglichen ihrerseits einen spezifischen Zugang; sie verfügen
über Kenntnisse in Gebärdensprache, unterstützen bei der Suche nach sozialen
Kontakten u.v.m.
Insgesamt betrachtet scheint der Fokus der SDL jedoch auf einer Vernetzung
nach innen, einer „internen Vernetzung“ zu liegen. Diese enge Verbindung ermöglicht sicher, wie oben beschrieben, einen wechselseitigen Zugriff auf Ressourcen innerhalb des Trägers. Andererseits mag sie dazu führen, dass die SDL
mitunter, so wurde uns geschildert, nach außen wie ein „geschlossenes System“,
ein „closed shop“ wirkt.100
Viele der von der SDL realisierten Projekte waren nur in Kooperation mit dem
öffentlichen Träger, dem Bezirksamt Lichtenberg, insbesondere dem Jugendamt, möglich. Die Kooperation war jedoch aus Perspektive des Trägers häufig
nicht einfach und verlief nicht ohne Reibungen. So ist etwa aus Zeitungsartikeln
aus dem Jahr 2004 zu entnehmen, dass die Übertragung einer Kindertagesstätte
96
97
98
99
100
SI1, S. 9
SI1, S. 8
Vgl. SI1, S. 8f, 23f
Vgl. SI1, S. 9
Vgl. SI1, S. 23f.
- 60 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Unstimmigkeiten zwischen Eltern, der SDL und dem Bezirksamt auslöste. Aus
Sicht des Vereins wird ein Zusammenhang zwischen der Geschlossenheit des
eigenen Trägers und den Kommunikationsschwierigkeiten hergestellt. So wurde
im Experteninterview bemerkt, dass die eigene Arbeit nach außen „wirklich besser transparent“101 gemacht werden müsse.
Die eher zurückhaltende Einstellung der SDL gegenüber dem öffentlichen Träger
begründet sich möglicherweise auch aus der Geschichte des Trägers. Als soziale Arbeit innerhalb der Kirche war die Sozialdiakonische Jugendarbeit außerhalb
der staatlichen DDR–Jugendhilfe tätig. Häufig wurden Jugendliche zu dieser Zeit
auch vor staatlichem Zugriff, welcher in einigen Fällen sogar zu Inhaftierungen
geführt hätte, geschützt. Ein Teil des Misstrauens gegenüber staatlichen Institutionen mag bis in die heutige Zeit erhalten geblieben sein. Ebenso nimmt die
SDL auch heute noch eine Fürsprecherrolle und anwaltschaftliche Funktion für
die BürgerInnen gegenüber dem Staat ein. Beispielsweise informiert sie die
Menschen über ihre Rechte, legt selbst Wert auf sozialpolitisches Engagement in
der Jugend- und Sozialpolitik und tritt etwa als „aktive Mahnerin“ in lokalen Gremien auf.
Dennoch gelingt es der SDL und dem öffentlichen Träger, seit den Anfängen der
Arbeit des Trägers auf produktive Weise zusammenzuarbeiten. So wurden in der
Vergangenheit immer wieder innovative Ideen von der SDL an den öffentlichen
Träger herangetragen oder gemeinsam mit diesem entwickelt, diskutiert und
schließlich umgesetzt.
Aufgrund der Größe und Vielfalt des Trägers ist eine vollständige Darstellung der
Finanzierung der Projekte an dieser Stelle nicht möglich. Es handelt sich um
eine so genannte Mischfinanzierung, wobei neben Jugendhilfemitteln weitere
Finanzierungsquellen wie aus den Ressorts Soziales, Denkmalschutz, Stadtentwicklung, EU-Fördergelder, Spenden, Stiftungen, Kirche akquiriert werden. Die
Letzteren dienen jedoch vor allem der Finanzierung der baulichen Kosten. Personalstellen können aus diesen Mitteln nicht finanziert werden.
Die Basis für die Finanzierung der sozialräumlichen Arbeit bilden die Jugendhilfemittel. Das Jugendwohnhaus, die Flexiblen Erziehungshilfen sowie die Projekte
101
SI1, S. 24
- 61 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
der Jugendberufshilfe werden gem. SGB VIII über Entgelte finanziert. Diese ermöglichen zum einen die Finanzierung der Personalstellen, die Sanierung und
Instandhaltung der Häuser durch die Projekte der Jugendberufshilfe sowie die
offenen Beratungsangebote für die BürgerInnen im Stadtteil (also außerhalb der
HzE-Arbeit) sowie die Koordination von Veranstaltungen und Straßenfesten. Die
Entwicklungen in den letzten Jahren bringen diese Finanzierungsform für sozialräumliche Arbeit an ihre Grenzen: Die Jugendberufshilfe hat erhebliche finanzielle und personelle Einbußen hinnehmen müssen und auch die anderen entgeltfinanzierten Projekte sind unter erheblichem finanziellem Druck. So „stopft“ die für
2006 vom Bezirk bewilligte Stelle für die Stadtteilarbeit derzeit ein „Loch“, welches eine längere Entstehungszeit hinter sich hat. Wie die sozialräumliche Arbeit
zukünftig finanziell abgesichert werden kann, ist derzeit offen. Allerdings werden
mit der Sanierung der Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“ räumliche
und materielle Werte im Stadtteil geschaffen, welche die soziale Infrastruktur des
Quartiers nachhaltig aufwerten.
Die finanzielle Situation wird von Seiten des Trägers als zentrales Problem der
betroffenen Menschen gesehen. MitarbeiterInnen äußerten die Befürchtungen,
benötigte Hilfe nicht länger anbieten zu können:
Die Sparmaßnahmen, hier in Berlin, die über die Bedürfnisse der Menschen
hinweggehen, das macht mir richtig Sorgen. Wo es darum geht, möglichst viel
Geld zu sparen und nicht die Menschen, die Hilfe brauchen, zu unterstützen.102
Einen möglichen Ausweg aus der Finanzmisere sehen die MitarbeiterInnen der
SDL durchaus in der sozialraumorientierten Arbeit. Diese sei in der Lage, langfristig Einsparungen zu ermöglichen. So wird als ein Ziel der eigenen Arbeit beschrieben, dass Menschen - die aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen
und mit unterschiedlichen Ressourcen ausgerüstet sind – sich im sozialen Raum
begegnen und unterstützen können. Dafür benötigten die Menschen allerdings
zunächst Strukturen, die ihnen diesen Kontakt überhaupt ermöglichen: „Da muss
erst mal was passieren, damit die [Menschen, d. Verf.] überhaupt in Kontakt miteinander treten können.“103 Erst dann sei es machbar „Brücken zu bauen“104 und
im sozialen Raum vorhandene Ressourcen zu erschließen. Kurzfristig sei für die
102
103
104
SI1, S. 42
SB2, S. 11
SB2, S. 12
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Arbeit allerdings eher der Einsatz zusätzlicher Geldmittel für den Aufbau von
Strukturen nötig, die dann zu einem späteren Zeitpunkt mögliche Einsparungen
bewirken könnten.
Zusammengefasst können folgende Faktoren des Gelingens sozialräumlichen
Handelns der SDL formuliert werden:
-
Die MitarbeiterInnen der SDL bewegen sich mit offenen Augen und Ohren
durch den Stadtteil. Sie sind sensibel für die Bedürfnisse der BürgerInnen
und fühlen sich auch außerhalb der professionellen sozialen Dienstleistungen des Trägers für die Belange der BürgerInnen zuständig und verantwortlich.
-
Die SDL ist untereinander gut vernetzt (starke bonding-Beziehungen nach
Robert Putnam). Die MitarbeiterInnen stehen in engem Austausch miteinander. Eine regelmäßig tagende „Leiterrunde“ ermöglicht den Austausch
wichtiger Information. Darüber hinaus bietet die trägerinterne Vernetzung
einen Austausch materieller und immaterieller Ressourcen.
-
Die Arbeit des Trägers ist öffentlich und transparent für die BürgerInnen.
Die BürgerInnen haben so die Möglichkeit, die Unternehmungen des Trägers wahrzunehmen, sich ein Bild zu machen, an ihnen teilzuhaben und
sich zu beteiligen.
-
Die SDL schafft eine Öffnung zum sozialen Raum durch die Herstellung
persönlicher Kontakte. Der Fremde wird in die SDL offen aufgenommen.
Man begegnet Fremden zugewandt, sie werden integriert und in die Arbeit
des Trägers mit einbezogen.
-
Der Verein orientiert seine Tätigkeiten an den Bedürfnissen und dem Bedarf der BürgerInnen. Es gelingt der SDL, die Organisation so flexibel zu
gestalten, dass es ihr möglich ist, auf Bedürfnisse der BürgerInnen mit der
Schaffung und/oder Neuausrichtung von Angeboten zu reagieren. Der Träger ist beständig innovativ.
-
Die SDL nutzt vielfältige Finanzierungsformen. Auf diese Weise lassen sich
auch Projekte realisieren, die nicht alleine aus öffentlicher Hand finanziert
- 63 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
werden. Die wechselseitige Unterstützung der Einrichtungen des Trägers
sorgt dabei für eine größere wirtschaftliche Flexibilität.
-
Dem Träger ist es gelungen, sozialräumliches Handeln in jeden seiner Arbeitsbereiche zu integrieren. In den Einrichtungen des Trägers wird nicht
nur die Frage nach der Öffnung zum sozialen Raum gestellt, sondern es
werden vielfältige Kontaktpunkte und sozialraumorientierte Angebote (für
die BürgerInnen des sozialen Raums) aktiv geschaffen.
- 64 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
3.3
Fabrik Osloer Straße (FOS)
Thomas Pudelko
Die Fabrik Osloer Straße (FOS) liegt am südlichen Rand des so genannten „Soldiner Kiez“ im Wedding. Die beiden wichtigsten Hauptverkehrsstraßen sind die
Prinzenallee, die später Wollankstraße heißt, und die Soldiner Straße selbst, die
das Gebiet in Ost-West-Richtung durchzieht.
In diesem Quartier wohnen ca. 15.000 Menschen. Fast 42 % dieser Personen besitzen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Dies ist im Vergleich zu der Quote
im gesamten Stadtgebiet ein erheblicher Unterschied, die lediglich 13,6 % beträgt.
Von den nichtdeutschen BewohnerInnen sind wiederum etwa die Hälfte Staatsangehörige der Türkei. Die Bewohnerstruktur weicht in weiteren Faktoren auf signifikante Weise vom Berliner Durchschnitt ab. Dies bezieht sich auf die Bewohner
im Alter von 0 bis 18 Jahren, denen im Untersuchungsgebiet 22,9 % dieser Altersgruppe angehören. In der Berliner Gesamtbetrachtung sind dies jedoch lediglich
15,3 %. Und auch am anderen Ende der Lebensspanne ist der Unterschied reziprok zu beobachten. In der Gesamtberliner Statistik wurden 2005 im Alter von 55
und älter 29,7 % erfasst. Im Soldiner Kiez hingegen wohnen nur 20,6 % Menschen
in diesem Lebensalter. Das Jugendalter (18-25 Jahre) und die Lebensmitte (25-55
Jahre) sind dagegen unbedeutend anders verteilt. So sind 46,2 % der Berliner zwischen 25 und 55 Jahre und im Soldiner Kiez 45,6 %. Insgesamt in Berlin sind 8,8
% im Alter zwischen 18 und 25 Jahren; im Untersuchungskiez beträgt der Anteil
dieser Altersgruppe 10,8 %. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass die
Bevölkerungsstruktur insgesamt im Quartier Soldiner Straße etwas jünger als im
Berliner Durchschnitt und der Anteil nichtdeutscher Bevölkerung erheblich höher
ist.105
Geprägt ist das Gebiet einerseits durch die es durchziehenden und auch durchschneidenden Hauptverkehrsstraßen mit Ladengeschäften und andererseits durch
verkehrsberuhigte Wohnquartiere dazwischen, die bis auf wenige Ausnahmen
(Kneipen, Rotlichtbars, Bäcker) ohne Ladengeschäfte sind. Dort heimisches Gewerbe ist deshalb nur in seltenen Fällen außerhalb der großen Verkehrsadern op-
- 65 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
tisch ohne Ortskenntnisse auszumachen. Dies wird auch durch die Informationsbroschüre des Quartiermanagements (QM) bestätigt. Nur 6 % aller erfassten Gewerbebetriebe befinden sich demzufolge in den kleinen Wohnstraßen des Kiezes.106
Die Einwohnerstruktur spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Einzelhandelsgeschäfte wider, was beim Besuch im Quartier augenscheinlich war.107 Nach
dem Sozialstrukturatlas befindet sich das Gebiet auf Rang 162 von 170108, was
auf eine hohe soziale Belastung der Gegend verweist.
Sowohl Gemüse/Obsthändler haben ihre Ware auf der Straße aufgebaut und
preisen diese mit lauter Stimme meist in nichtdeutscher Sprache, was auch
Sinn zu machen scheint, da vom Augenschein hier keine Deutschen zu sehen
sind. Von den Ausschilderungen sind es vordringlich aus der Türkei oder dem
arabischsprachigen Raum stammende Menschen, die hier ihre Geschäfte betreiben.
Das Gelände der „Fabrik Osloer Straße“ ist identisch mit der ehemaligen Zündholzmaschinenfabrik „Albert Roller“ an diesem Standort. Diese wurde 1855 als
eine der ersten Industrieansiedlungen im Wedding gegründet. Im Jahre 1890 zog
die Firma in die Prinzenallee 24. Die Hof- und Quergebäude wurden in den folgenden Jahren gebaut. Die Firmenleitung entschied sich 1977 wegen ökonomischer Schwierigkeiten, das Werk in der Osloer Straße zu schließen. Der Gebäudekomplex wurde anschließend von der Sanierungsgesellschaft DeGeWo erworben. Um eine Besetzung des Geländes abzuwehren, schloss die DeGeWo 1979
mit dem Bund Deutscher PfadfinderInnen (BDP) einen ersten Nutzungsvertrag
über vier Jahre. Es zogen verschiedene Projekte der Jugendarbeit ein bzw. wurden diese von der FOS initiiert. Neben einer Jugend- und Erwachsenen-WG begannen Musikgruppen die Keller als Übungsräume zu nutzen, es entstand ein
Jugendladen in Trägerschaft der „Putte“, Ausbildungsprojekte nahmen 1981
(Wohnwerkstatt) und 1982 (Durchbruch) ihre Arbeit auf.
Im Jahre 1982 wurde dann der Verein „Fabrik Osloer Straße“ gegründet, um Jugend- und Gemeinwesenarbeit mit Kunst und Kultur in eigener Trägerschaft ver-
105
alle Zahlen auf dieser Seite: (Melderechtlich registrierte Einwohner am 30.06.2005) mit freundlicher Unterstützung der LIST-gmbh
106
Soldiner Kiez e.V. Informationen rund um den Soldiner Kiez (o. J.) S. 32-47 (eig. Berechnungen)
107
FB 4, S. 1
108
Sozialstrukturatlas, Statistische Gebiete (2004), S. 44
- 66 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
knüpfen zu können. Mit dem Labyrinth Kindermuseum und der NachbarschaftsEtage betreibt die FOS inzwischen zwei inhaltlich arbeitende Projekte, die originäre
Nachbarschaftsarbeit betreiben und in dem Kiez vernetzend arbeiten.
Obwohl aus der Jugendhilfe kommend (Unterbringung, Betreuung, Ausbildung)
wurde 1986 mit der NachbarschaftsEtage ein Treffpunkt für den Stadtteil ins Leben gerufen und damit eine Konzepterweiterung realisiert, um Gemeinwesenarbeit im Stadtteil zu ermöglichen. Die ersten Gründe dafür waren u. a. „eine Anlaufstelle für die Menschen der Umgebung zu bieten und die Ziele des Vereins
Osloer Straße in die Öffentlichkeit zu tragen“109. Wurden anfangs eher kulturelle
Angebote konzipiert, so gab es 1997 eine Neuorientierung Richtung Familienarbeit
als sozialintegratives Konzept. Mit der Gründung des „Stadtteil Verbund für Nachbarschaftsarbeit und Selbsthilfe im Wedding“ wurde ein Impulsgeber für stadtteilbezogene Arbeit im Bezirk ins Leben gerufen, ergänzt durch Kulturveranstaltungen z. B. im Kindertheaterbereich.
Inzwischen ist auch die Vernetzung mit anderen Einrichtungen im Ortsteil Gesundbrunnen und im Bezirk Mitte Bestandteil der Arbeit. Es gibt Angebote, wie
Deutschkurse für Frauen (mit Kinderbetreuung), Integrationskurse für Frauen, Babymassage sowie
-
Geburtsvorbereitung für Paare, bei der das Erlernen von verschiedenen
Atmungs- und Entspannungstechniken, die Vorbereitung auf die Zeit nach
der Geburt und das Stillen sowie Kenntnisvermittlung über mögliche Geburtsverläufe und Gebärpositionen auf dem Programm steht.
-
Die Rückbildungsgymnastik dient den körperlichen Rückbildungsvorgängen
und der Stärkung nach Schwangerschaft und Geburt.
-
Im Musikgarten werden kleine Kinder (1,5 – 3 Jahre) zusammen mit ihren
Eltern spielerisch und mit viel Spaß an Musik herangeführt.
-
In der Schuldenberatung werden Hilfen bei der Lösung von Schuldenproblemen angeboten.
-
Das Angebot der homöopathischen Hausapotheke beinhaltet eine sanfte
Hilfe für die ganze Familie für zu Hause und auf Reisen.
109
20 Jahre Fabrik Osloer Straße, (2002) S. 17
- 67 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
-
In den Eltern–Kind-Gruppen treffen sich je nach Alter der Kinder einmal
wöchentlich diese Gruppen um Kontakte zu knüpfen, zum Reden und zum
Spielen.
-
Im Prager Eltern-Kinder-Programm erhalten Eltern individuelle, altersgemäße Spiel-, Kontakt- und Bewegungsanregungen für ihre Babys.
-
Die Schreibabyambulanz unterstützt anhand sanfter, körperorientierter Methoden Eltern und ihre Kinder dabei, die psychischen und körperlichen
Spannungszustände zu begreifen, eigene Kräfte und Ressourcen zu entdecken und so Spannungssituationen zu lösen.
-
Das Ziel der Rückenschule ist das Erlernen einer physiologischen Körperhaltung, von rückengerechten Bewegungen, sinnvollen Rückenübungen
und der Förderung von wirbelsäulen- und gelenkfreundlichem Bewegungsverhalten.
Neben Spiele-Nachmittagen für SeniorInnen, Frühstückstreff für Frauen aller
Nationalitäten, Yoga und Qi Gong gibt es einen (eindeutigen) Schwerpunkt mit der
Zielgruppe Eltern/Kinder. Andere Angebote werden eng abgestimmt mit dem in
der unmittelbaren Nähe gelegenen Nachbarschaftshaus Prinzenallee 58, das sich
auf Immigranten- und Behindertenarbeit spezialisiert hat, so dass es keine unnötigen Dopplungen gibt.
Soziale Beratung wird integriert in verschiedene andere Angebote, wie z. B. in die
Schreibabyambulanz und das Frauenfrühstückstreff. Daneben gibt es eine psychologische Beratung Familienangehöriger von Alkohol- und Medikamentenabhängigen.
Das Gelände und die Projekte der FOS bilden ein eigenes abgeschlossenes
Viertel im Gebiet, welches gleichermaßen als beschützender und sicherer Ort
und als ein sozial-kulturelles Zentrum mit vielfältigen Angeboten wirkt. Vor allem
für Kinder und deren Eltern, aber auch die dort beruflich tätigen Menschen stellt es
eine Art „Oase“ in der eher unwirtlichen äußeren Umgebung des Stadtteils dar.
Hier finden Kinder, Jugendliche und Familien eine anregende Umgebung und viele
Möglichkeiten der Beschäftigung, der Bildung und des Lernens.
Merkmale sind das Nebeneinander und die Verbindung zwischen Wohnen, Arbeiten, sozialen und kulturellen Projekten auf dem Gelände der ehemaligen
- 68 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Fabrik, die das Zusammenleben und Zusammensein vieler ganz unterschiedlicher
Menschen ermöglichen.
Der Gebäudekomplex besteht aus einem dreiflügeligen Riegel, von dem zwei
Quergebäude abgehen, deren ehemalige Produktions- und Fertigungsräume den
heutigen Bedarfen mit einem hohen Anteil baulicher Selbsthilfe angepasst wurden.
Hinzu kommt das ehemalige Büro- und Wohngebäude an der Prinzenallee, welches heute die Putte und Wohngemeinschaften enthält. An der Osloer Straße liegt
die ehemalige Montagehalle, in der heute das derzeit erfolgreichste Eigenprojekt,
das Labyrinth-Kindermuseum, untergebracht ist, welches mit kindgerechten Ausstellungen, Fortbildungen und anderen Angeboten ein höchst anspruchsvolles
Programm anbietet, z.B.:
-
Die kinderfreundliche Stadt. Kinder bauen eine Stadt.
-
Wir Kinder aus Takakunterbü. Kinderprogramm im Rahmen der Langen
Nacht der Museen
-
Ganz weit weg — und doch so nah. Die Welt zum Anfassen
-
Fachtagung zum Thema „Weltreligionen“. Für Lehrer, Erzieher, Eltern und
Interessierte
Jedes der Projekte in der FOS hat eigene Räume, in denen die von ihnen vorgehaltenen Angebote realisiert werden können. So haben zum Beispiel die Ausbildungsprojekte Werkstätten und Unterrichtsräume, die Kultur- und Begegnungsprojekte Veranstaltungsräume und das Übernachtungsprojekt Gruppen- und
Schlafräume. Neben diesen Räumen, die den einzelnen Projekten zur Verfügung
stehen und auch bei Bedarf gemeinsam genutzt werden, steht das Hofareal zur
Verfügung. Diese Ressource soll verstärkt für kulturelle Vorhaben nutzbar gemacht werden. Gedacht ist dabei an eine ganze Palette von Veranstaltungen wie
Kindertheater, Modenschau, Puppentheater, Konzerte oder After-Work-Partys sowie Kindertrödel und Schülerfeten.
Das Selbstverständnis der FOS war zu Beginn der Arbeit in den 70er Jahren
stark auf das Quartier bezogen, vor allem als es darum ging, sich im Stadtteil zu
verankern und als Einrichtung zu etablieren. Als dies nicht gelang, weil die politischen Kräfte im Wedding mit einem Projekt, das starke Anlehnungen an die
Hausbesetzerszene besaß, nicht zusammenarbeiten wollten, orientierte sich die
FOS stadtweit. Die Rückorientierung auf den engeren Sozialraum erfolgt seit den
- 69 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
letzten fünf Jahren. Damit endete auch die Ausrichtung als links-alternative Insel
„im bösen Heer der Sozial- und Christdemokraten“ und inzwischen „sind wir langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu tun haben wollten“, wie im
Experteninterview betont wird.110 Dies steht im direkten Zusammenhang mit der
Person des Geschäftsführers (GF), der sich stark engagiert und am Quartiermanagement (QM) im Soldiner Kiez, welches alle im Gebiet aktiven Gruppierungen
anspricht und deren Möglichkeiten offen legt und bündelt.
Die Ressourcen der „Insel“ werden nun verstärkt wieder dem Stadtteil und seinen
BewohnerInnen zugänglich gemacht. Die Kindertagesstätte (Kita) ist ein in der
nächsten Umgebung angesiedeltes Angebot der FOS. Hierher kommen Kinder,
aber auch deren Eltern, aus der direkten Nachbarschaft. Über sie wirkt die FOS
über das abgeschlossene Gelände in den unmittelbaren Sozialraum hinein und
öffnet gleichzeitig ihre Angebote.
Dagegen hat das Labyrinth-Kindermuseum das Problem, die Kinder bzw. deren
Eltern, in der direkten Nachbarschaft anzusprechen, da es betriebswirtschaftlich
arbeitet und Eintritt nehmen muss, um weiter zu existieren. Für ein spezielles Angebot am Sonntag, was sich vor allem an die Kiezkinder richtet, wurden deshalb
Drittmittel akquiriert. Die Orientierung der Jugendberufshilfeträger in das Quartier
geschieht dagegen vor allem aus Gründen des ökonomischen Drucks, sich auf
den Standort zu konzentrieren. Das Gleiche kann über die Jugendwohngemeinschaft gesagt werden. Diese letztgenannten Projekte sahen sich in ihrem
Selbstverständnis bisher nicht nur auf das engere Wohnquartier bezogen, da sie
eine Begegnung aus verschiedenen Stadtteilen in ihren Gruppen für wünschenswert halten. Diese neue Orientierung ist nicht konfliktfrei und stark personengebunden.
Als ich angefangen habe, war ich erschrocken, wie wenig wir im Sozialraum
überhaupt verankert sind. Da war eigentlich nur die Nachbarschaftsarbeit einigermaßen im Sozialraum verankert, aber auch nicht wirklich mit vielen Dingen.
Das hat sich jetzt sehr verändert. Also, es geht jetzt immer mehr in den Sozialraum hinein, einerseits aus Überzeugung von mir und auch von noch einigen
anderen Kollegen und Kolleginnen, andererseits auch durch den Druck von außen. Viele merken, dass der politische Weg in den Sozialraum zurückgeht und
110
FI 1, S.20 und 23
- 70 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
akzeptieren langsam, dass sie, wenn sie existieren und ihren Job sichern wollen,
sich dem auch anpassen müssen.111
Die persönlichen Kontakte in dem Stadtteil tragen das Konzept der Sozialraumorientierung vorrangig. Hilfsmittel bei der Bedarfsfeststellung ist auch der Sozialstrukturatlas. Durch die Vernetzung im sozialen Nahraum gibt es viele Kontakte
zu anderen Einrichtungen in der Umgebung. Vor allem das Labyrinth und die
NachbarschaftsEtage kooperieren sehr eng mit den Schulen im Einzugsbereich.
Bedarfe werden durch Anfragen z. B. an die NachbarschaftsEtage erkannt, wenn
AnwohnerInnen für Veranstaltungen z. B. nach Räumen fragen. Teilweise werden
aus Anwohneranfragen dann auch Programmpunkte entwickelt. In nächster Zeit
sollen zwei neue Schwerpunkte bearbeitet werden. Zum einen soll versucht werden, die Gruppe der Senioren – auch unter dem Aspekt der Alterung der eigenen
MitarbeiterInnen – mit entsprechenden Angeboten zu erreichen. Zum anderen sollen die Kontakte zu den Immigrantenvereinen ausgebaut und intensiviert werden.
Die Frage dabei ist, wie es gelingen kann, die dort vor allem aktiven Männer und
die bisher vor allem von Frauen genutzten Angebote der FOS in Einklang zu bringen. Hier ist kulturelle Sensibilität besonders notwendig.
Andere Aspekte sind in Bezug auf Anfragen – zum Beispiel nach Räumen für Veranstaltungen – und die inzwischen begrenzten Ressourcen in mehreren Richtungen zu sehen. Wohnungsleerstand in der direkten Nachbarschaft soll für Jugendarbeit genutzt und Erdgeschossflächen sollen für die erweiterte Nutzung durch
behinderte Menschen gestaltet werden. Mit diesen Aktivitäten werden einige Akteure der FOS das eigene Gelände verlassen und sich in den Stadtteil hinausbegeben.
Unter dem „Dach“ des Vereins „Fabrik Osloer Straße“ arbeiten insgesamt elf Projekte. Dies sind zum einen die „Eigenprojekte“ der FOS
-
NachbarschaftsEtage
und
-
LabyrinthKindermuseum
Darüber hinaus gibt es noch die Jugendhilfeträger
111
FI 1, S. 24
- 71 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
-
Wohnwerkstatt
-
Durchbruch und
-
Putte
sowie die
-
Gästeetage des BDP.
Als kleine eigenständige Wirtschaftsbetriebe existieren eine
-
Druckwerkstatt
-
Tischlerei
-
KFZ-Werkstatt
-
Schlagzeugschule
sowie neuerdings eine
-
Firma für Gebäudetechnik.
Zwischen den Projekten in der FOS entwickelt sich die Zusammenarbeit auch inhaltlich immer stärker. Beispielsweise zu den Themen Gesundheit und Mobbing
unter Kindern gab es konkrete Veranstaltungen, die zusammen durchgeführt wurden. Die Projekte nehmen aber auch gegenseitig die Angebote wahr oder entwickeln sie zusammen. Und natürlich engagieren sich die Handwerksprojekte seit
Beginn der FOS-Arbeit auf dem gesamten Gelände – helfen beim Ausbau und der
Reparatur. Darüber hinaus gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem
Nachbarschaftshaus Prinzenallee 58, die auch in einem Kooperationsvertrag besiegelt wurde. Dieser firmiert unter dem Namen „Stadtteilverbund Wedding“. Die
inhaltliche Arbeit wird bereits sehr eng aufeinander abgestimmt. Hier gibt es seitens des Landes Berlin massive Bestrebungen, aus dem Kooperationsvertrag hinaus zu einem gemeinsamen Trägerschaftsmodell zu kommen, d. h. dass beide
Einrichtungen nicht nur eng zusammenarbeiten, sondern auch strukturell und organisatorisch ihre Eigenständigkeit aufgeben.
Wir haben die Inhalte mit der Prinzenallee 58 eng abgestimmt. Wir haben jetzt
den Schwerpunkt auf Nachbarschaftsarbeit/ Familienarbeit und Kinderarbeit,
die P58 hat Immigration und Behindertenarbeit als Schwerpunkte gehabt. Es
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
vermischt sich aber immer mehr. Wir haben verschiedene Projekte, die gemeinsam entwickelt wurden, z. B. die „Freiwilligen- Agentur“.112
Insbesondere beim Projekt Labyrinth gibt es eine Mischfinanzierung aus Landesfinanzen, Eigenmitteln der FOS und Einnahmen aus Eintrittsgeldern. Hinzu kommen Drittmittel, die für bestimmte Vorhaben akquiriert werden. Die NachbarschaftsEtage bekommt einen Finanzierungsanteil wiederum über die Beteiligung
am Stadtteilzentrumsvertrag und über Eigenmittel der FOS. So müssen sich inzwischen alle Projekte in der FOS um weitere Fördermöglichkeiten bemühen oder
ihre Angebote neu strukturieren, um weiter existieren zu können. Dies reicht von
Leistungsverträgen über Landeszuwendungen bis hin zu Eigenmitteln aus gemeinnützigen Wirtschaftstätigkeiten. Dagegen ist die Möglichkeit, über Spenden
etwas zu finanzieren, im Einzugsgebiet nur minimal möglich. So gelingt es bspw.
dem Labyrinth, als dem Projekt mit der weitreichendsten Bekanntheit, nur 0,05 %
der Finanzierung über Spenden abzudecken.
Da gibt es einige Leute, die Mitglied im Förderverein sind, ich zum Beispiel
(lacht).. Also wir haben nicht so richtig finanzkräftige Leute. Wir haben im
Moment jemanden mit viel Geld, bei dem wir hoffen, dass er vielleicht mehr
einsteigt Aber. Hm, wer weiß...???.113
Deshalb sind auch die Versuche verstärkt worden, über das Programm „Soziale
Stadt“ an Gelder zu kommen. Allerdings ist jetzt schon absehbar, dass mit dem
Auslaufen der QM-Gelder im Jahre 2007 wieder neue Wege gesucht werden müssen. Problematisch ist die finanzielle Lage deshalb geworden, weil die Jugendhilfeprojekte nur noch wenig von den bezirklichen Jugendämtern in Anspruch genommen werden und bei einem wirtschaftlichen Zusammenbruch eines dieser
Projekte auch die Mieteinnahmen für die Fabrik wegfallen würden, was in der Folge eine Gefahr für die Finanzierung der NachbarschaftsEtage und des Labyrinth
Kindermuseum, aber grundsätzlich für das Gesamtprojekt darstellt. Hieraus ist ein
Aspekt entstanden, der auf Gefahren bei bestimmten Entwicklungen hinweist,
dass eine Verbindung, die aus einer Vernetzung unter spezifischen Bedingungen
entsteht, ein erhebliches Risiko bei zu enger Verbindung bedeuten kann. Verbünde, die auch wirtschaftlich aneinander gekoppelt sind, können für größere Einheiten existenzbedrohend werden.
112
FI 1, S. 10
- 73 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Während es in der Vergangenheit nur wenig Absprachen und Kooperationen mit
dem Bezirksamt gab, hat sich die Zusammenarbeit mit den bezirklichen Amtsstrukturen inzwischen positiv entwickelt. Doch was inhaltlich leichter geworden ist
und aufgrund von persönlichem Engagement Einzelner die Arbeit vereinfacht hat,
ist auf der Ebene der Abrechnungsverfahren komplizierter und aufwendiger geworden.
In der Verwaltung hat sich auch was bewegt. Mit Hilfe des Generationsumbruchs scheiden einige aus, die gehen jetzt in Rente. Die Kooperation mit verantwortlichen Stellen und der politischen Führung ist ganz glücklich für uns
gelaufen im Bezirk und wird immer besser, aber leider auch immer bürokratischer in den Abrechnungsverfahren. Also, unseren Standort zu fördern, soziale
Projekte zu fördern, ja, Gespräche zu führen, ja, aber wenn es dann um Abrechnungen geht, um Leistungsverträge, ist es enorm bürokratisch, und dies
nimmt zu. Und wir mussten schon zusätzliche Mittel investieren, weil wir das
selbst nicht mehr leisten konnten, irgendwelche Abrechnungen dermaßen pedantisch auszuführen, wie es von der Verwaltung erwartet wird.114
Strukturell sind die einzelnen Teilprojekte inzwischen sehr professionell aufgestellt
und arbeiten vor allem auf administrativer Ebene reibungslos zusammen. Dagegen werden neue Entwicklungen durch zwei Schlüsselpersonen initiiert, gewährleistet und vorangetrieben, die für das Gesamtprojekt FOS in den Sozialraum hineinwirken.
Von zwei Personen, denk ich, hängt die gesamte Außenarbeit ab, das Initiieren
von neuen Projekten, das Einreichen von Förderanträgen usw., wenn´s jetzt auf
den Sozialraum bezogen sein soll, ansonsten arbeiten die einzelnen Projektteile
selbstständig professionell. Und da haben sie jeweils Leute, die diese Sachen
organisieren. Aber, ich denke, für das Gesamtkonstrukt sind´s im Moment zwei
Personen, die entscheidend sind.115
Darüber hinaus tun dies die einzelnen Projekte für sich, teilweise, wenn es sich
thematisch anbietet, auch zusammen.
In der teilnehmenden Beobachtung der Projektbesuche ist die Kompetenz der
MitarbeiterInnen in ihrem konkreten Handlungsfeld deutlich geworden. Diese
wirkt nicht nur gegenüber den von außen kommenden NutzerInnen bzw. Nachfra-
113
FI 1, S. 7
FI 1, S. 20/21
115
FI 1, S. 20
114
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
gern, sondern auch in vielfältiger Weise nach innen in die Struktur der FOS. Es
konnte beobachtet werden, dass eine große Identifizierung mit der FOS besteht.
Während des Vorgesprächs zum Interview mit dem GF der FOS kam der Haushandwerker in das Büro und berichtete von einer Sachbeschädigung an der
Wohnungstür einer der Wohngemeinschaften im Vorderhaus der Prinzenallee.
Aus den Worten und der Weise, wie er sein Anliegen vortrug, war eine große
Verantwortlichkeit zu erkennen, die über eine normale Arbeitsplatzidentifikation hinausreichte.116
Im Selbstverständnis des Trägers sind im Laufe der Zeit (immerhin seit 1978)
verschiedene Veränderungen in der Selbstvergewisserung sowohl des Gesamtkomplexes als auch der verschiedenen Teilprojekte zu verzeichnen. Bei einigen
dauern diese Veränderungen aktuell an.
Ausgehend von der Neunutzung Ende 1978 durch Jugendhilfeideen in den „Neuen Sozialen Bewegungen“ mit weitgehenden Vorstellungen der Selbstverwaltung
und Abkopplung von den damaligen gesetzlichen Möglichkeiten durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) und in der Folge einer Entgrenzung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, steht heute die FOS als ein Träger dar, der sich
explizit auf die rechtlichen Rahmungen beruft (z. B. auf das SGB VIII und Möglichkeiten, die aus der Sozialraumorientierung erwachsen).
Dieser Prozess ist nicht ohne Wandlungen des Selbstverständnisses des Trägers und seiner MitarbeiterInnen vor sich gegangen. Wurden anfangs alle Entscheidungen im Konsens auf dem Fabrikrat getroffen, so gibt es heute ein professionelles Management für die Gesamtanlage und in den einzelnen Projekten entsprechend ihrer Bedarfe, teilweise mit ausgelagerten Zuständigkeiten (z. B. Buchhaltung). Obwohl der Teamgedanke in den meisten Projekten der FOS weitgehend beibehalten wurde, was zum Beispiel heißt, dass gleichberechtigt Entscheidungen vorbereitet werden, so stellen sich diese Strukturen bei einigen Projekten
als hinderlich dar, wenn es darum geht, Änderungen auf den Weg zu bringen, Einstimmigkeit bei Entscheidungen aber noch notwendig ist. Auf diese Weise werden
zum Weiterbestehen notwendige Entscheidungen nicht oder nur sehr zögerlich
getroffen.
116
FB 5, S. 1
- 75 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Möglicherweise hat die Ausdifferenzierung der Zuständigkeiten dazu geführt,
dass die MitarbeiterInnen der Teilprojekte in ihrem Zuständigkeitsgefühl nicht
mehr über alle im Komplex angebotenen Hilfen und Möglichkeiten informiert sind,
und so nicht immer zielgerichtet verweisen können. Es wird dann auf zentrale Personen verwiesen, denen zugetraut wird, sowohl den Gesamtüberblick zu haben,
als auch Detailwissen, z. B. über die Angebotsstruktur oder die Möglichkeit von
Neuinstallation von Projekten unter dem Dach der FOS, zu liefern.
Nach kurzer Zeit fing die Frau an, etwas zu suchen und gab uns dann einen
Flyer, welcher Informationen zur Fabrik Osloer Straße enthielt. Sie sagt uns,
dass sie selbst uns nicht weiterhelfen kann, und fragt eine Kollegin, welche in
diesem Augenblick vorbeiging, wer wohl der geeignete Ansprechpartner für
uns wäre. Ihre Kollegin antwortete nur kurz mit einem Namen. Durch ihre sehr
reservierte Art zu reden hatten wir das Gefühl, dass die Frauen nicht wirklich
Interesse an uns hatten. Die Angestellte, mit der wir vorher am Tresen sprachen,
bat sich nun an, den Weg zu diesem Herrn zu zeigen. Sie führte uns einige
Schritte ins Labyrinth und wies uns dann den Weg zum Büro des Herrn, dann
wendete sie sich wieder ihrer Arbeit zu und ließ uns im Raum zurück.117
Einher mit der Tendenz zur Professionalisierung ging auch die Änderung der
Orientierung vor allem der Jugendhilfeteilprojekte. Waren diese bis vor ca. fünf
Jahren auf das gesamte Stadtgebiet ausgerichtet, so richten sie sich zunehmend
am Sozialraum aus und informieren verstärkt dort über ihre Angebote.
Eine Änderung ist auch bezüglich der Ansprache bestimmter Bevölkerungsgruppen eingetreten. Verstand sich die Mehrheit der FOS-Aktiven als in der Kinderund Jugendarbeit (incl. Elternarbeit) beheimatet, so wird nun auch der Blick in die
andere Richtung gewendet und es gibt eine Veränderung des Selbstverständnisses Richtung Seniorenansprache.
Aus der Entstehungsgeschichte des Projektes, die eine starke jugendpolitische
Komponente hat, sind die aktuellen politischen Positionierungen zu verstehen,
wenn der GF der FOS sagt:
. . . und jetzt gibt‘s viele MAE–Kräfte, also die sogenannten 1-EURO-Jobs, bei
denen wir uns gezielt nicht dafür ausgesprochen haben, Regiestelle zu werden,
weil wir nicht daran verdienen wollen, weil wir sagen, das ist politisch der völlig falsche Weg. Auf einem Gelände Menschen für gleiche Arbeit unterschiedlich zu bezahlen soll bei uns nur auf freiwilliger Basis geschehen und beinhal-
117
FB 1, S. 3
- 76 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
tet ein großes Konfliktpotenzial. Das widerspricht unseren Vorstellungen von
Menschenwürde.118
Die FOS nimmt nach wie vor eine soziale Verantwortung wahr, die sich auch in
politischer Einmischung in regionalen Gremien äußert, dies auch auf die Gefahr
hin, dadurch wirtschaftliche Nachteile hinnehmen zu müssen, wie im obigen Zitat
deutlich wird.
Die FOS kommt aus der Selbsthilfebewegung und trägt die Idee des bürgerschaftlichen Engagements seit ihrer Gründung in sich.
Der Um- und Ausbau weiterer Teile des Gebäudes und der Außenanlagen sind in
baulicher Selbsthilfe geschehen. Die dabei gesammelten Erfahrungen sind über
die materielle Wertsteigerung für den Gebäudekomplex hinaus ein wertvoller Teil
zur Herausbildung eines Selbstverständnisses gemeinschaftlich erbrachter Leistungen und sozialen Engagements. Die vom Jugendverband BDP 1979 maßgeblich betriebene Initiierung von Ausbildungsmöglichkeiten für benachteiligte Jugendliche in der FOS war hauptsächlich durch ehrenamtliche Mitglieder getragen,
die seinerzeit so für diese Jugendhilfemaßnahme Umsetzungsmöglichkeiten erfanden und ohne diese Aktivitäten nicht denkbar waren. Gleiches gilt für die
Wohnwerkstatt und die betreuten Wohngemeinschaften des BDP, die zeitweise
ehrenamtlich von im Hause wohnenden Sozialpädagogen betreut wurden. Die
Möglichkeit, Ideen aus dem Erleben von eigenen oder im Umfeld erfahrenen Bedarfen umzusetzen und dafür in der FOS räumliche und personelle Startressourcen vorzufinden, trägt wesentlich zum Gelingen der Arbeit im Quartier bei. So
konnten spezielle Bedarfe vor allem von Müttern und anderen Frauen nachfrageorientiert ermittelt und aufgenommen werden. Diese so umgesetzten Entwürfe
können im Schutz der FOS realisiert werden. Allerdings ist es für weitere interessierte Bürger nicht immer einfach, diese Angebote auch für sich zu nutzen, da
nach einer gewissen Etablierung eine Art Closed-Shop entsteht, zu dem ein Zugang schwierig zu erreichen scheint.
Das Bestreben, Netzwerke nach außen zu schaffen und „Brücken“ zwischen den
vielfältigen Aktivitäten auf dem Gelände der FOS und dem Inneren des Stadtteils
118
FI 1, S. 10
- 77 -
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
zu bauen, wurde im Experteninterview deutlich benannt. Dies ist jedoch ein längerer Prozess, der Zeit benötigt.
Es besteht eine prinzipielle Offenheit, sich der sozialen Probleme des Stadtteils
anzunehmen und Angebote und Hilfen entsprechend zu modifizieren oder neu zu
entwickeln.
Die Veränderungsbereitschaft von Projekten und deren Flexibilität, bei Bedarf
auch einen örtlichen Wechsel vorzunehmen und so anderen Ideen Platz zu machen, scheinen wesentliche Aspekte des Gelingens für die Öffnung in den Sozialraum zu sein. Insbesondere die Vorhaben im Kulturbereich scheinen dafür zu stehen. Beispielhaft werden in der Broschüre der FOS das WERKTHEATER
WEDDING und das Programmkino EINSENSTEIN sowie das Hinterhofcafé genannt. Alle Vorhaben waren auf den Sozialraum ausgerichtet, konnten sich aber
nicht verankern, wurden zu wenig nachgefragt oder waren in der Dimension zu
waghalsig. Damit wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Bewohnerstruktur im Kiez enorm geändert hat und diese Änderung auch noch nicht
abgeschlossen zu sein scheint. So orientieren sich die Angebote immer stärker an
Nachfragen von Immigranten, z. B. nach Integrations- oder Sprachkursen. Bisher
konnte auch eine ausgewogene Nutzerstruktur bei den meisten Angeboten und
Projekten erhalten werden, wo Menschen nichtdeutscher Herkunftssprache nicht
unter sich bleiben.
Wichtig scheint auch die äußere Rahmung zu sein, die es den verschiedensten
NutzerInnen ermöglicht, sich in der FOS heimisch zu fühlen und gleichzeitig Ängste vor der vermeintlichen Größe des Gesamtkomplexes nicht aufkommen zu lassen.
Bei uns bekommen sie ein kleines Frühstück, ein kleines Angebot, wir haben
einen schönen Raum. Wir bieten die notwendige Kommunikation, dass sie
auch ein bisschen das Gefühl kriegen, hier eine Heimat aufzubauen. Am Anfang einer Führung sagen manche: „Boah, was ihr hier alles habt!“ Diese Vielfältigkeit beeindruckt, macht auch Angst, hier einzusteigen. Und jetzt, diese
Hemmnisse zu überwinden und zu sagen, Leute, wir sind keine Reichen, wir
machen halt gemeinnützige Arbeit, wir haben keine Porsches vor den Türen,
(lacht), weil wir das große Gelände hier betreiben.119
119
FI 1, S. 26
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Auch zeigt sich das Bestreben der Einbeziehung von BürgerInnen in stadtteilbezogene Gremien als schwierig. Es ist zwar möglich, sie im ersten Verfahren für
eine Mitarbeit in den Quartiersräten zu gewinnen, doch dann gelingt es nicht, die
persönliche Problematik, die häufig in die Gremien getragen wird, konstruktiv für
die Quartiersentwicklung nutzbar zu machen. Diese Situation zu verbessern, wird
als ein Anliegen verstanden.
Zukünftig nicht nur die Vernetzung in den Sozialraum auszubauen und tragfähig
zu gestalten, sondern auch ehrenamtliche und professionelle Arbeit in der FOS
mehr zu verknüpfen, wird als die größte Herausforderung für die nächste Zukunft
angesehen.
Bei der FOS konnte eine Passung zwischen dem seit der Gründung bestehenden
Anliegen der Förderung bürgerschaftlichen Engagements, also dem eigenen fachlichen Selbstverständnis, und dem Konzept der Sozialraumorientierung der Berliner Kinder- und Jugendhilfe bei gleichzeitig bestehendem hohem wirtschaftlichem
Druck zum Erhalt bewährter, jedoch bedrohter Angebote, wie der Jugendberufshilfe, herausgearbeitet werden.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
4 Literatur
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
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o. Verf. Broschüre des Nachbarschafts- und Familienzentrum Finchleystr. (o. J.).
o. Verf. Flyer der AHB-Berlin Süd gGmbH, Nachbarschafts- und Familienzentrum
Finchleystr. (o. J.).
o. Verf. Organigramm der AHB-Berlin Süd gGmbh (o. J.).
o. Verf. Soldiner Kiez e.V. Informationen rund um den Soldiner Kiez (o. J.).
o. Verf.20 Jahre Fabrik Osloer Straße, (2002).
Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg (2001): Sozialräumliche Jugend- und
Begegnungsstätte in der Alten Schmiede.
Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, (2004) Sozialstrukturatlas Berlin 2003 (2004).
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
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dem Schwerpunkt im Stadtteil Neu-Lichtenberg.
Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg (2006): KIEZ: G: SICHT. Zeitung der
sozialdiakonischen Arbeit in Lichtenberg und Köpenick. Ausgabe 1/2006.
URL: www.ahb-berlin-sued.de (Zugriff: 12.02.2006).
URL: www.fabrik-osloer-strasse.de (Zugriff: 26.02.2006).
URL: www.kindermuseum-labyrinth.de (Zugriff: 15.03.2006).
URL: www.nachbarschaftsetage.de (Zugriff: 12.02.2006).
6 Datenmaterial über die untersuchten Projekte
Untersuch- Kürzel Datum
Ort der Datengetes Projekt
der Erhe- winnung
bung
NBF
SDL
NB 1
24.02.06
NB 2
16.03.06
NI 1
24.02.06
NI 2
16.03.06
Nachbarschafts- und
Familienzentrum
SB 1
02.02.06
Sozialraum Victoriastadt und Geschäftsstelle der SDL
Sozialraum John-LockeSiedlung und Nachbarschafts- und Familienzentrum
Nachbarschafts- und
Familienzentrum
Nachbarschafts- und
Familienzentrum
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Datenart
Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsprotokoll
Experteninterview mit der
Koordinatorin der NBF
Frau Barz
Experteninterview mit der
Geschäftsführerin der AHB
Süd gGmbH, Frau StähleGrünewald
Beobachtungsprotokoll
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Untersuch- Kürzel Datum
Ort der Datengetes Projekt
der Erhe- winnung
bung
10.02.06
Geschäftstelle, Räume
SB 2
der Flexiblen Erziehungshilfen, Jugendklub
„Zwergenhöhle“ und
„alte schmiede“
23.02.06
Büroräume Flexible
SB 3
Erziehungshilfen, Elterncafé in der „Kita
Buntstift“
23.02.06
s. o.
SB 4
FOS
SI 1
07. 03. 06
Jugend- und Begegnungszentrum „alte
schmiede“
FB 1
23.02.06
FB 2
27.02.06
FB 3
02.03.06
FB 4
03.03.06
FB 5
16.03.06
FI 1
16.03.06
Kindermuseum in der
Fabrik Osloer Straße
Nachbarschaftsetage der
Fabrik Osloer Straße
Nachbarschaftsetage der
Fabrik Osloer Straße
Sozialraum Soldiner
Kiez
Fabrik Osloer Straße,
Büro Geschäftsführer
Fabrik Osloer Straße,
Büro Geschäftsführer
- 84 -
Datenart
Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsprotokoll 1
(Beobachter 1)
Beobachtungsprotokoll 2
(Beobachter 2)
Experteninterview mit
Christof Buck, Stadtteilarbeit und Projektleiter Flexible Erziehungshilfen
Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsprotokoll
Experteninterview mit Martin Beck, Geschäftsführer
der Fabrik Osloer Straße
Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
7 Anhang
7.1
Leitfaden Teilnehmende Beobachtung
nach: Rosenthal, Gabriele (2005): Ethnographische Feldforschung – Teilnehmende Beobachtung. In: dies.: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung.
Weinheim und München.
1. Angabe der wesentlichen „objektiven Daten“ zum Ort, den anwesenden
Personen, dem Zeitablauf und ggf. zur Organisation, in der die Beobachtung durchgeführt wurde
2. Informationen über den Zugang zum Feld
3. Grobe Niederschrift des Gesamtablaufs in der Abfolge des Geschehens
.
(sequenziell!)
Dabei die Haltung des „Sich-Wunderns“ einnehmen, d. h. nichts für selbstverständlich nehmen, alles so sehen, als ob es das erste Mal ist (Prinzip
der Befremdung). (Da nicht alles erfasst und im Gedächtnis behalten werden kann, werden einzelne Situationen besonders detailliert beobachtet
und memoriert.)
4. Beschreibung von ca. zwei beobachteten Situationen in der zeitlichen detaillierten Abfolge des Geschehens mit Bezug zu der Gesamtbeobachtung.
Diese detaillierte Beschreibung stellt den zentralen Teil des Protokolls dar.
Dabei die Interaktionen zwischen den Menschen beobachten und aufschreiben, möglichst auch mit direkter Rede (Sprache des Feldes), die Perspektiven der unterschiedlichen TeilnehmerInnen herausarbeiten, auch herausarbeiten, was im Verlauf zwischen Beobachterin und Beobachteten passiert.
5. Soweit möglich sollte zwischen beobachteten Handlungsabläufen und Interpretationen unterschieden werden. Einschätzungen sollten nach Möglichkeit anhand von detailliert beschriebenen Beobachtungen belegt werden.
6. Niederschrift und Reflexion der eigenen Position im Feld: der Gefühle, der
Eindrücke und der Assoziationen während der Beobachtung (während des
Erlebens der Situation), danach sowie beim Schreiben des Protokolls.
(Trennung der Zeitebenen: Was ist mir bei der Beobachtung aufgefallen?,
Was ist mir später gekommen?, Was kommt mir jetzt beim Schreiben?)
7. Notieren von weiteren Überlegungen sowie Überlegungen für weitere mögliche Beobachtungen.
Die Beobachtungen werden so aufgezeichnet, als seien sie für eine fremde Leserschaft, die wohlwollend ist, jedoch die Praxis/das Feld nicht kennt. Die Feldprotokolle haben demnach eine veröffentlichbare Form.
Das Erlebte und Beobachtete wird so dargestellt, dass es später auch für die Analyse durch eine/n andere/n LeserIn zugänglich ist.
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
7.2
Leitfaden Experteninterviews
Wie kam es dazu, dass sich ein freier Träger der Jugendhilfe dem Sozialraum öffnet und Angebote und Ermöglichungsräume der Selbsthilfe, Kultur etc. für weitere
BürgerInnen ermöglicht?
Wie würdest du / würden Sie eure/Ihre Arbeit beschreiben? Worin besteht sie?
Was macht euch/Sie zu einem Träger, der sich dem Sozialen Raum öffnet?
Was führt zur Öffnung/zu Kontakt?
Räume
Personen
Veranstaltungen
Organisation
Öffentlichkeitsarbeit
Presse
Ausrichtung an der Lebenswelt
Bedürfnisse der BürgerInnen
Wie bringt man sie in Erfahrung?
Wie lassen sie sich aufgreifen/verwirklichen?
Erreichbarkeit
Quer zu Gesetzestexten und Zielgruppendefinitionen
Umgang
Finanzierung
Welche Mittel?
Jugendhilfemittel für Sozialraumprojekte?
Spenden
Eu-Mittel? Soziale Stadt? u. a.
Kooperation
Innerhalb des Trägers
Mit anderen Organisationen
Zwischen öffentlichen und freien Trägern
Mit BürgerInnen
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Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006
Vernetzung / Steuerung
Mit anderen Organisationen
Der BürgerInnen untereinander
Wie lässt sich das machen?
Steuerungsrolle des öffentlichen Trägers
Strukturen schaffen/Räume schaffen
Wie müssen die Räume aussehen?
Wie müssen Strukturen beschaffen sein?
Welches professionelle Können?
Im Umgang mit den BürgerInnen/KlientInnen
Gegenüber MitarbeiterInnen
Im Umgang mit anderen Organisationen (und deren Vertretern)
Beispiele gelingender Praxis
Engagement der MitarbeiterInnen (Erwartung und Realität)
Organisationsstruktur (Organigramm geben lassen)
Motivation und Ziel der Arbeit
Anspruch und Wirklichkeit, soziale Ausgrenzung zu überwinden (helfen)
Motivation des sozialräumlichen Handelns
Ziel des sozialräumlichen Handelns
Was läuft gut? Was siehst du / sehen Sie als erhaltungswürdig an, wenn du eure /
Sie Ihre Arbeit betrachten? (Claims)
Was sollte sich ändern? Was bereitet Sorgen? (Concerns)
Welche Streitpunkte und Konsequenzen ergeben sich aus den o.g. Punkten? Was
würdest du / würden Sie verändern wollen? (Issues)
(vgl. Langhanky u. a. 2004)
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