„Wir sind langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu
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„Wir sind langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu
Alice–Salomon–Platz 5 12627 Berlin Tel. 030 / 99245 505 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Regina Rätz-Heinisch Dr. Thomas Pudelko Dipl. Soz.arb. / Soz.päd. Timo Ackermann „Wir sind langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu tun haben wollten ...“ Sozialraumorientierung der Berliner Kinder- und Jugendhilfe Untersuchung einer exemplarischen Praxis gemeinwesenorientierter, zielgruppenund ressortübergreifender Arbeit Evaluationsforschungsbericht im Auftrag der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin, Projekt Sozialraumorientierung Berlin im April 2006 Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Vorbemerkung Der vorliegende Bericht ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung im Kontext der Sozialraumorientierung der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Sie wurde im Auftrag und aus Mitteln der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport gefördert und zwischen Februar und April 2006 an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin durchgeführt. Es handelt sich um eine Teilevaluation bzw., bescheidener formuliert, um eine erste Wahrnehmung so genannter "best practice" Projekte der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, die gemeinwesenorientiert, zielgruppen- und ressortübergreifend im sozialen Raum arbeiten. Die Untersuchung und der Forschungsbericht wurden von den AutorInnen gemeinsam geplant, durchgeführt und diskutiert. Vor allem sind die Interpretationen und die Darstellungsform das Ergebnis eines diskursiven Auswertungsprozesses im Team der MitarbeiterInnen. Dennoch haben wir die AutorInnen der einzelnen Kapitel gekennzeichnet, um die Verantwortlichkeit für die Verschriftlichung der einzelnen Teile des Berichtes zu verdeutlichen. Die Untersuchung und Publikation wäre ohne die Unterstützung von verschiedenen Seiten nicht möglich gewesen. Unser besonders herzlicher Dank gilt den MitarbeiterInnen der untersuchten Projekte, die uns so offen und freundlich gegenübertraten und uns bereitwillig ihre Projekte zeigten, uns dort beobachten ließen und uns im Interview von ihren Erfahrungen erzählten und Auskunft gaben. Frau Hofsäss-Kusche, die kurzfristig das Manuskript korrigierte, sei ebenfalls herzlich gedankt. Darüber hinaus möchten wir der Alice-Salomon-Fachhochschule danken, die uns die wissenschaftliche Infrastruktur für die Forschung zur Verfügung stellte. Vor allem fühlen wir uns dem Projekt Sozialraumorientierung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport verpflichtet, ohne deren Förderung unser Projekt nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere die regelmäßigen Fachdiskussionen unter Leitung von Herrn Axel Stähr und Herrn Volker Brünjes gaben die notwendigen Impulse für unser Forschungsvorhaben. Berlin im April 2006 Regina Rätz-Heinisch Thomas Pudelko Timo Ackermann -2- Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Inhaltsverzeichnis ! " $ % # ! & ' ! ( " $# # % & '( " # # " ! ) ) 2.1.1 * ) + Sozialräumliches Handeln stellt Passungen zwischen den Beteiligten her und füllt funktionslos gewordene Räume mit neuen Inhalten .................................... 18 2.1.2 Sozialräumliches Handeln bedarf einer Übersetzung von der Lebenswelt in Flexible Hilfen und sozial-administrative Kontexte ............................................. 21 2.1.3 Sozialräumliches Handeln bedarf der Initiierung, Steuerung und Unterstützung des Öffentlichen Trägers............................................................. 22 !! , !( 2.2.1 Ausrichtung des fachlichen Handelns am sozialen Raum .................................. 25 2.2.2 Professionelles Selbstverständnis ..................................................................... 25 2.2.3 Beziehungshandeln und Netzwerkhandeln als zentrale Handlungsmuster ........ 26 2.2.4 Ausrichtung an der Lebenswelt, Gestaltung der Räume und die Entwicklung von zielgruppenübergreifenden Angeboten ....................................................... 27 2.2.5 Organisation und Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern........... 28 2.2.6 Finanzierung...................................................................................................... 30 * + " , $ - ./ ! % / $! # $$ % * " -- #. 0 -%1 $! 2 2 * # 5 0 % #1 -3- '0 #3*1 (4 6 Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 0 1 )2 3 4 + 5 6 7 * 8 7! * 9:; ) &" - ./ )* ) - + & ) -4- +6 Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 1 Einleitung: Verstehender Zugang und die Frage nach dem „Wie“ des Handelns im Sozialen Raum Regina Rätz-Heinisch 1.1 Problemaufriss: Neue soziale Probleme, sozialstaatliche Herausforderungen und sozialräumliche Orientierung der Kinder- und Jugendhilfe Der rasante Wandel in den Bedingungen, Anforderungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe geht einher mit dem ebenso zügigen Wandel der modernen Gesellschaft. Die westeuropäischen Staaten stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer Vielzahl an neuen sozialen Problemen, die vor allem mit der aktuellen Transformation der industriellen Arbeitsgesellschaft entstehen. Dieser Prozess ist mit einem Funktionsverlust gesellschaftlicher Tätigkeiten und spezieller Räume verbunden. Der Wandel gesellschaftlicher Tätigkeiten zeigt sich vor allem in der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit. Die Folge sind Prozesse von „Entgrenzung“.1 „Entgrenzung“ meint das Herauslösen der Menschen aus bisherigen gesellschaftlichen Strukturierungsmustern, wie eben bspw. den Wegfall der Strukturierung des Tages durch Erwerbsarbeit und den damit verbundenen Wegfall gesellschaftlich garantierter Sicherheiten. Die Menschen sind immer stärker gefordert, die komplexen Anforderungen des alltäglichen Lebens ausschließlich individuell bewältigen zu müssen. Der Funktionsverlust von Räumen betrifft Bauten der Moderne wie Fabrikgebäude, Gewerbeflächen, Wohngebäude, aber auch soziale Einrichtungen wie bspw. Kinderbetreuungseinrichtungen im Osten Deutschlands. Einige dieser Gebäude erlangen in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft eine neue Funktionalität, bspw. wenn in ihnen Klubs, Tanz- und Partyräume, neue Büro- und Businessräume oder Freizeitflächen entstehen. Andere stehen schlichtweg leer und werden zu leblosen Organen in einer pulsierenden Stadt. Gerade größere Städte verlieren 1 Vgl. Lenz, Karl; Schefold, Werner; Schröer, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim und München. -5- Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 partiell ihre ursprüngliche Funktionalität,2 die im modernen industriellen Zeitalter in der räumlichen Trennung von Arbeit, Wohnen und Freizeit und der Mobilität der Menschen zwischen diesen ausdifferenzierten Funktionsorten bestand. Die Prozesse der fortschreitenden Globalisierung als weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten verweisen die Menschen, die an ihr nicht partizipieren (können), auf die Bedingungen des sie umgebenden lokalen sozialen Raums. Der soziale Raum, das Gemeinwesen, wird (wieder) zunehmend zum zentralen Ort der Lebensbewältigung.3 Dabei lassen sich in Deutschland die neuen sozialen Probleme auch als sozialräumliche Themen verstehen. Es seien die brisantesten genannt: - Erfahrungen von Armut betreffen in Deutschland einen großen Teil der Kinder und Jugendlichen, 15 % der Kinder unter 15 Jahren und 19,1 % der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren sind von Armut betroffen. Die Zahl der Kinder in Deutschland, die von Sozialhilfe leben, stieg im Jahr 2003 um 64.000 auf 1,08 Millionen und hat 2004/2005 1,45 Millionen erreicht.4 - Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind, verfügen über geringere Bildungschancen. - Migrationserfahrungen von Kindern, Jugendlichen und Familien können verstärkt zu sozialen Ausgrenzungsprozessen führen. - Der demographische Wandel der Bevölkerung, d. h. der steigende Anteil an Menschen über 50 Jahre und der geringere an Kindern und Jugendlichen muss gesamtgesellschaftlich bewältigt werden. - Die lang anhaltende hohe Arbeitslosigkeit (Ende April 2006 betraf diese nach offiziellen Angaben der Bundesagentur für Arbeit trotz der jahreszeitlich bedingten Konjunktur 4,79 Mio. Menschen) manifestiert Entgrenzungsprozesse und führt zu Armutslagen. 2 3 4 Vgl. Oswalt, Philipp (2004): Schrumpfende Städte. Städtischer Wandel im Zeichen von Postfordismus und Globalisierung. Ostfildern. Bei dieser Betrachtung dürfen soziale Räume nicht auf geographische Areale begrenzt werden. Soziale Räume stellen hingegen komplexe Zusammenhänge kultureller, historischer und territorialer Dimensionen dar. (Vgl. Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian; Maurer, Susanne; Frey, Oliver (Hrsg.) (2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden.) Vgl. BMAS (Hrsg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin. -6- Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 - Der Staat hat zunehmend Probleme, sozialstaatlich garantierte Leistungen wie Sozialhilfe, Leistungen für Arbeitslose, Gesundheitsausgaben, Renten etc. zu finanzieren. Der soziale Raum beinhaltet für die Menschen Chancen und Grenzen zugleich Chancen, da hier neue Formen des Zusammenlebens, der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität, der Verantwortungsübernahme für das Gemeinwesen, des freiwilligen und ehrenamtlichen Engagements entstehen können. Der amerikanische Soziologe Robert Putnam 5 bezeichnet diese Unterstützungsformen als soziales Kapital, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass eben jener „Kitt“ der Gesellschaft derzeit akut gefährdet ist, schwindet und einer gesellschaftlichen Förderung bedarf. Der soziale Raum kann ebenso ein begrenzter Ort sein, an dem sich gesellschaftliche Probleme reproduzieren und soziale Ausgrenzungsprozesse manifestieren. Dies geschieht besonders in den sozialen Räumen mit mangelnder Ressourcenausstattung, hohem Armuts- und Konfliktpotenzial und fehlender Mobilität der BewohnerInnen. Der französische Soziologie Pierre Bourdieu6 benutzt zur Beschreibung der sozialen Ungleichheit im sozialen Raum ebenso wie Robert Putnam den Begriff Kapital, differenziert jedoch die individuelle Ausstattung eines Menschen in „soziales“, „ökonomisches“ und „kulturelles“ Kapital. Eine mangelhafte Ausstattung mit den jeweiligen Kapitalsorten ist Indiz für die soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Desintegration der Menschen. Zur Lösung der neuen sozialen Probleme wird die Gesellschaft herausgefordert. Der Sozialstaat in Deutschland ist, bedingt durch die anhaltende prekäre finanzielle Situation, dabei zunehmend auf das Mithandeln bzw. das selbstständige Handeln und das freiwillige Engagement der BürgerInnen angewiesen. Dabei gibt der Staat nicht die Gewährleistungsverantwortung sozialstaatlich garantierter Leistungen an die BürgerInnen ab, sondern lediglich die Durchführungsverantwor- 5 6 Vgl. Putnam, Robert (2000): Bowling Alone. The collapse and revival of American community. New York. Vgl. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.; ders. et al. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanu. -7- Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 tung.7 Das heißt: Das Erbringen der konkreten Leistungen erfolgt im besten Falle durch die BürgerInnen selbst. Bevor also beispielsweise in einer Familie eine professionelle Familienhilfe eingesetzt wird, ist das Umfeld der Familie daraufhin zu überprüfen, ob eine geeignete freiwillige Hilfe nicht im lebensweltlichen Umfeld der Familie zu finden ist. Dieser Wandel in der sozialstaatlichen Gewährleistung wird mit dem Begriff „aktivierender Staat“8 auf den Punkt gebracht. Selbstständige und ehrenamtliche Tätigkeiten werden vor allem in den Bereichen Beschaffung von Arbeit und Beschäftigung, Partizipation in politischen Bereichen sowie der Erbringung sozialer Dienstleistungen vom Staat gefördert.9 Nicht nur den Ressourcen durch professionelle Aktivitäten wird Bedeutung beigemessen, sondern verstärkt auch den ehrenamtlich erbrachten Leistungen.10 Um diese nutzen zu können bedarf es vor allem des sozialen Kapitals. Die Kinder- und Jugendhilfe ist vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund in doppelter Weise gefordert. Einerseits geht es ihr seit jeher um die Erschließung von lebensweltlichen Stärken und Ressourcen ihrer AdressatInnen, die Initiierung solidarischer sozialer Unterstützungsnetzwerke und Selbsthilfe in sozialen Räumen und Gemeinwesen mit dem Ziel, die Emanzipation potenziell ausgegrenzter Menschen zu ermöglichen. Andererseits ist sie für die Schaffung einer sozialen Infrastruktur mit verantwortlich, die den Menschen autonomes Handeln überhaupt möglich macht. Es geht darum, die ungleiche Ausstattung sozialer Räume mit überwinden zu helfen. Hierbei geht es ebenso um die Herstellung sozialer Gerechtigkeit wie um die Gestaltung einer lebensfördernden Umwelt für Kinder, Jugendliche und deren Familien.11 Dieses doppelte Anliegen einer lebensweltorientierten Jugendhilfe ist im § 1 Abs. 3 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) formuliert, in dem es heißt: 7 8 9 10 11 Vgl. Olk, Thomas (2000): Der "aktivierende Staat". Perspektiven einer lebenslagenbezogenen Sozialpolitik für Kinder, Jugendliche, Frauen und ältere Menschen. Aus: Müller, Siegfried; Sünker, Heinz; Olk, Thomas u. a. (Hrsg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied, Kriftel. S. 99-118. ebenda Vgl. Aner, Kirsten (2004): Altersforschung im Dienst der Förderung freiwilligen Engagements? In: Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 35. Jg., H. 1, S. 50-64. Vgl. BMFSFJ (Hrsg.) (2004a): Perspektiven für Freiwilligendienste und Zivildienst in Deutschland. Berlin. und BMFSFJ (Hrsg) (2004b): 2. Freiwilligensurvey. Kurzzusammenfassung. Berlin. Vgl. Bronfenbrenner Uri (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart. -8- Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. ….. 4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. Dabei handeln die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe derzeit unter hohem Druck: Sie sind häufig selbst von den finanziellen Einsparungen betroffen, ihre Arbeitsplätze und Stellen werden vakant, ihre Arbeitsaufgaben komplexer, die Bewältigungsanforderungen an die AdressatInnen steigen. Komplexe Probleme erfordern komplexe Lösungen, mit denen es in der Kinderund Jugendhilfe durchaus Erfahrungen gibt. Eine sozialräumliche Orientierung in der Kinder- und Jugendhilfe setzt an Erfahrungen aus der Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit an, soziale Probleme im Kontext des sozialen Raumes zu begreifen und zu lösen. 12 Als erfolgreiches Beispiel, von dem heute noch gelernt werden kann, gilt Jane Addams, die Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit Ellen Gate Star in einem hoch problematischen Stadtteil von Chicago ein Nachbarschaftshaus, das „Hull House“, gründete. Die Erfahrung der beiden Frauen zeigte, dass die Chance, Verbesserungen durch Selbsthilfe und Solidarität, also vor allem durch das eigene Handeln der BewohnerInnen zu ermöglichen, im Zusammenspiel verschiedener Aktivitäten lag. Es waren Tätigkeiten der sozialen Hilfe, der Bildung und des Lernens, der Arbeit und Beschäftigung, der materiellen Unterstützung, eigener ökonomischer Aktivitäten und des politischen Engagements.13 Vor allem handelten sie gemeinsam mit den BürgerInnen und nicht ohne sie. Sie ließen sich dabei auf Phasen der Ungewissheit ein und lernten, indem sie beständig neue Erfahrungen sammelten. Lernen durch Handeln, Erfahrung und Denken sagte John Dewey dazu, der die beiden Frauen in „Hull House“ regelmä- 12 13 Vgl. Lüttringhaus, Maria (2001): Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang; Lüttringhaus, Maria; Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster. S. 263-267. Vgl. Addams, Jane (1913): Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago. Berechtigte Übersetzung von Else Münsterberg. Nebst dem Bildnis der Verfasserin und einem Geleitwort von Alice Salomon. München. -9- Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 ßig besuchte.14 Dieser Ausspruch wurde in Deutschland bekannt als „learning by doing“. Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe wird theoretisch aus dem Konzept der Lebensweltorientierung15 begründet, welches als Programmatik der Kinder- und Jugendhilfe in den 8. Jugendbericht und in das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) eingegangen ist. Hier heißt es u. a. für das Handeln von Organisationen, dass Angebote und Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe in der Lebenswelt der AdressatInnen vorhanden, entsäult, entspezifiziert und regionalisiert werden sollen. Es geht darum, dass sich die Institutionen und Organisationen der Lebenswelt der AdressatInnen anpassen (und nicht umgekehrt), für diese niedrigschwellig zugänglich werden und veränderten Bedarfslagen flexibel nachkommen. Für sozialräumliches Arbeiten bedarf es demnach nicht hoch spezialisierter ExpertInnen, sondern Fachkräfte mit eher generalistischen Kompetenzen. Handlungsmethodisch wird das Konzept der Sozialraumorientierung in Berlin mit Verfahren aus der Stadtteilarbeit, wie sie von Wolfgang Hinte und seinen MitarbeiterInnen entwickelt wurden gespeist. 16 Diese werden auch auf die Hilfen zur Erziehung (HzE), also die Arbeit mit einzelnen Menschen bzw. Familien übertragen und setzen beim aktiven Menschen an, dessen Wille und Zielvorstellung Ausgangspunkt einer Hilfe ist. Das professionelle Handeln der Fachkräfte besteht bei diesem Ansatz in der Veränderung der Perspektive: weg vom Einzelfall hin zu den Bedingungen des sozialen Raumes, der mit all seinen Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten für den Fall nutzbar gemacht werden soll. Dabei sind die Fachkräfte aufgefordert, in der Fallarbeit drei Dimensionen zu beachten.17 1. Fallspezifische Arbeit: Tätigkeiten, die sich konkret und direkt auf den Einzelfall beziehen. 14 15 16 17 Vgl. Dewey, John (2000): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim, Basel. Vgl. Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim und München. Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.) (2003): Sozialraumorientierung in der Berliner Jugendhilfe. Vgl. Hinte, Wolfgang; Litges, Gerd; Springer, Werner (1999): Soziale Dienste. Vom Fall zum Feld: soziale Räume statt Verwaltungsbezirke. Berlin. - 10 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 2. Fallübergreifende Arbeit: Tätigkeiten, die mit Blick auf den Einzelfall die Ressourcen des sozialen Raumes nutzen, indem soziale Netzwerke organisiert, koordiniert und verknüpft werden. 3. Fallunspezifische Arbeit: Tätigkeiten, die keinem konkreten Einzelfall zugeordnet werden können. Es handelt sich um Wissen über den Sozialraum, welches ggf. für die fallspezifische oder fallübergreifende Arbeit genutzt werden kann. Dies erfordert von den Fachkräften eine Vor-Arbeit an Ressourcenerschließung im sozialen Raum. Der Ansatz ermöglicht prinzipiell das gleichzeitige Erschließen und Schaffen von Ressourcen, sozialen Netzwerken und Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen Raum, so wie sie in den gesetzlichen Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe gemäß § 1 SGB VIII formuliert sind. Eine Gefahr besteht allerdings darin, die Perspektiven sozialer Ungleichheit in sozialen Räumen auszublenden sowie in der Überbetonung der Ressourcenerschließung des einzelnen Menschen im sozialen Raum die Schaffung von Ressourcen durch die Kinder- und Jugendhilfe zu vernachlässigen.18 Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe als konzeptionelles Handeln ist also darauf angewiesen, dass lebensweltliche Ressourcen im Sozialraum der Kinder, Jugendlichen und Familien zur Verfügung stehen. Hier kann die Jugendhilfe nicht nur auf Ressourcen anderer Akteure (soziale Träger, Bewohner, gewerbliche Anbieter etc.) zurückgreifen, sondern ist selbst in einer sozialräumlichen Gestaltungsrolle. Sozialraumorientierung fordert die Träger der Jugendhilfe heraus, ihre Angebote im Sozialraum so zu gestalten, dass sie den Anforderungen einer sozialen Infrastruktur im Kontext des gesellschaftlichen Wandels (vgl. oben) gerecht werden. Dies erfordert von den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe eine hohe Veränderungsbereitschaft, Flexibilität und vor allem den Mut, das eigene Handeln am sozialen Raum auszurichten und die Angebote für weitere Zielgruppen und den Sozialraum zu öffnen. In der vorliegenden Studie wird am Beispiel dreier exemplarischer Projekte der Kinder- und Jugendhilfe gezeigt, wie solch ein Prozess in unterschiedlicher Weise 18 Vgl. Rätz-Heinisch, Regina (2005): Jugendhilfe und Sozialraumorientierung – eine missverständliche Koalition. In: unsere jugend H 5/05, S. 206-216. - 11 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 unter verschiedenen Rahmenbedingungen gelingen kann. Dabei sollen die Projekte nicht bewertet werden, um standardisierte Kriterien für sozialräumliches Arbeiten herauszuarbeiten. Wir wählen hingegen einen verstehenden Zugang zum Alltag sozialräumlicher Praxis. Uns interessiert das Handeln der Akteure, aus dem sich herauslesen lässt, wie erfolgreiches sozialräumliches Handeln - trotz vieler alltäglicher Schwierigkeiten – überhaupt möglich wird. 1.2 Aufgabenstellung unserer Studie Sozialräumliche Arbeit stellt vor allem Anforderungen an das professionelle Handeln der Fachkräfte, die gefordert sind, ihre Angebote und Hilfen am sozialen Raum auszurichten und mit dem sozialen Raum zu kommunizieren. Dies erfordert die Überwindung einer sozial-administrativen Logik, die häufig versäult, gesetzesanalog, einzelfallorientiert, spezialisiert, defizitorientiert, standardisiert und an Institutionen orientiert agiert. Es geht um eine Veränderung hin zu einer sozialräumlichen Logik, die transversal, gesetzesübergreifend, feldorientiert, ressourcenorientiert, flexibel, vernetzt und kooperativ ausgerichtet ist.19 Während der Besprechungen mit der Arbeitsgruppe des Projektes Sozialraumorientierung der Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Sport von Berlin verständigten wir uns darüber, dass es in der Berliner Praxis der Kinder- und Jugendhilfe bereits eine Reihe von Trägern und Projekten gibt, die sozialräumlich handeln. Dies äußert sich u. a. in der Vernetzung von einzelfallbezogenen und strukturbildenden Hilfen, bspw. HzE, Jugendarbeit und Gemeinwesenarbeit, der Nutzung sowohl staatlicher als auch alternativer Finanzierungsformen. Als weiteres Zeichen für eine Entwicklung in diese Richtung nahmen wir die Öffnung bestehender Projekte der Kinder- und Jugendhilfe hin zum sozialen Raum, bspw. als Stadtteil- und Familienzentren, und auch das Eingehen partnerschaftlicher und dialogischer Bündnisse mit den AdressatInnen und weiteren (professionellen) Akteuren wahr. Diese Projekte arbeiten bereits gemeinwesen-, zielgruppen- und ressortübergreifend. Hier finden tatsächlich Prozesse von Entspezialisierung und De- 19 Vgl. Langhanky, Michael; Frieß, Cornelia; Hußmann, Marcus; Kunstreich, Timm (2004): Erfolgreich sozial-räumlich handeln. Die Evaluation der Hamburger Kinder- und Familienhilfezentren. Bielefeld. Hier wird diese professionelle Logik als „generatives Handeln“ bezeichnet. - 12 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 zentralisierung statt, ebenso wie die Verbindung von sozialen, politischen und ökonomischen Themenstellungen.20 Uns interessierte, wie eine solche Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe unter den aktuellen Rahmenbedingungen überhaupt gelingen kann und welche Unterstützung die Akteure in der Praxis selbst benötigen. Exemplarisch wurden drei Berliner Projekte untersucht. Da für die Forschung lediglich ein kurzer Zeitraum von insgesamt drei Monaten zur Verfügung stand, war uns die Untersuchung weiterer Projekte, obwohl sie uns sehr interessieren, nicht möglich. Wir gingen bei der Untersuchung von folgender Annahme aus: Bei den Projekten müsste sozialräumliches Handeln als zentrale Handlungsmaxime in den professionellen Alltag eingegangen sein. Das heißt, das fachliche Handeln – sowohl der Akteure als auch der Organisation - muss mit Blick auf den sozialen Raum strukturiert und konturiert sein. Dies zeigt sich nicht nur in der sozialräumlichen Angebotsstruktur der Projekte, sondern auch im sozialen Handeln der Beteiligten.21 Wir stellten folgende Untersuchungsfragen nach dem ‚Wie’ des Handelns: - Wie gelingt es den Projekten, die je regionalen und sozialstrukturellen Eigensinnigkeiten der Lebenswelt der AdressatInnen zu ihrer wichtigsten praktischen Orientierung zu machen? Welche Vorgehensweisen haben sich dabei als besonders hilfreich erwiesen? - Wie gelingt es, die Praxis quer zu den Gesetzeskontexten und üblichen Zielgruppendefinitionen zu gestalten? - Wie und wodurch gelingen Kooperationen zwischen Trägern und AdressatInnen über die Begrenzungen der Hilfesysteme und des sozial-administrativen Sozialraums hinaus? - Was ist für diesen Praxisansatz an professionellem Können hilfreich und förderlich, was muss entwickelt werden? Im Ergebnis der Untersuchung sollen Antworten auf die Fragen formuliert werden, welche diese komplexe Praxis verständlicher machen. Es sollen ebenso Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Unterstützungsnotwendigkeiten be20 Vgl. Lange, Chris; Rätz-Heinisch, Regina (2004): Der Beitrag Sozialer Arbeit bei der Gestaltung demokratischer Lernprozesse im Gemeinwesen – Theoretische Überlegungen und praktische Beispiele. In: Nachrichtendienst (NDV) Jg. 84, H 1/2004, S. 13 – 18. - 13 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 nannt werden, unten denen sozialräumliches Handeln möglich ist. Auch soll der Bezug zu den neuen sozialen Problemen wieder hergestellt werden. Für den Auftraggeber soll einerseits die Rolle des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe zur Initiierung, Steuerung und Unterstützung sozialräumlicher Projekte spezifiziert werden und es sollen andererseits Möglichkeiten der Kooperation öffentlicher und freier Träger aufgezeigt werden. Die Lektüre der Studie soll nicht zuletzt anregen und Lust darauf machen, sich auf sozialräumliches Handeln einzulassen. 1.3 Forschungsverlauf und methodisches Vorgehen Mit der Frage nach dem ‚Wie’ sozialräumlichen Handelns wenden wir uns dem Alltagshandeln der Beteiligten selbst zu und wählen grundsätzlich einen verstehenden Zugang zum Untersuchungsfeld. Wir gehen davon aus, dass das Wissen um sozialräumliches Arbeiten in der Praxis bereits vorhanden ist, auch wenn es den Akteuren zum Teil nicht bewusst sein mag. Dieses unbewusste Wissen kann mit einem ethnographischen Zugang, der teilnehmenden Beobachtung des Alltagshandelns sowie durch bewusste Reflexionen in Form von Experteninterviews zugänglich gemacht werden. Es handelt sich hier um eine explorative qualitative sozialwissenschaftliche Studie. In einem ersten Schritt erarbeiteten wir ein Kategorienraster für die Auswahl der drei exemplarischen Untersuchungsprojekte. Wir nutzten hierzu die Leitstandards der Gemeinwesenarbeit, wie sie auf der Grundlage der Arbeiten von Wolfgang Hinte und Dieter Oelschlägel von Maria Lüttringhaus zusammengefasst wurden:22 21 22 - Zielgruppenübergreifendes Handeln - Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen - Förderung der Selbstorganisation und der Selbsthilfekräfte - Nutzung der vorhandenen Ressourcen An dieser Stelle sei Timm Kunstreich für die forschungsmethodische Beratung Dank gesagt. Vgl. Lüttringhaus, Maria (2001): Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang; Lüttringhaus, Maria; Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster. S. 263-267. - 14 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 - Verbesserung der materiellen Situation und der infrastrukturellen Bedingungen - Verbesserung der immateriellen Faktoren - Ressortübergreifendes Handeln - Vernetzung und Kooperation Anhand dieser prüften wir mehrere Projekte und wählten schließlich drei exemplarische Projekte für die Untersuchung aus. Es soll an dieser Stelle auf den Beleg der Leitstandards durch die Praxis der Projekte verzichtet werden, da dieser in der ausführlichen Darstellung der Projekte deutlich wird (vgl. Kap. 3). Wichtig war uns, dass es sich um Projekte/Träger handelt, die aus der Kinder- und Jugendhilfe entstanden und sich dem Gemeinwesen bzw. dem sozialen Raum bereits öffneten. Die Auswahl der Projekte sagt nichts darüber aus, dass sich diese in besonderer Weise von anderen sozialräumlichen Projekten unterscheiden. Im Gegenteil: Wir waren überrascht über die Vielzahl der vorhandenen Projekte in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, die sozialräumlich arbeiten und gleichermaßen als Projekte einer „best practice“ erforscht werden könnten. Die Untersuchung eines umfangreicheren Samples war im Rahmen des begrenzten Forschungsauftrages nicht vorgesehen. Bei den ausgewählten Projekten, die wir als Fallstudien untersuchten, handelt es sich um: - Nachbarschafts- und Familienzentrum der AHB-Berlin Süd gGmbH, im Folgenden auch in der Abkürzung NBF zitiert - Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V. – im Folgenden SDL genannt - Fabrik Osloer Straße - im Folgenden FOS abgekürzt Mit der Abkürzung in drei Großbuchstaben möchten wir den Blick weg von den einzelnen Projekten und hin zu deren zentralen Handlungsstrukturen und Rahmenbedingungen lenken. Entscheidend für die Auswahl dieser Projekte war für uns des Weiteren, dass sich diese in ihrer Entstehungsgeschichte unterscheiden und so als exemplarische Fälle ein breites Spektrum der vorhandenen Realität abdecken. Alle drei Träger entwickelten sich im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche. Die FOS entstand bereits in den 70er Jahren im damaligen Westberlin aus den neuen sozialen Bewegungen - 15 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 dieser Zeit. Die SDL wurde mit Beginn der 90er Jahre im ehemaligen Ost-Berlin mit Akteuren aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR gegründet. Der Träger des NBF, die AHB-Berlin Süd gGmbH, entstand Ende der 90er Jahre mit Beginn des sozialstaatlichen Umbaus in Gesamtberlin bzw. Deutschland. Bei der Erhebung der Daten wählten wir trotz der knapp bemessenen Zeit einen multiperspektivischen Zugang, d. h., wir sammelten zu den jeweiligen Projekten unterschiedliche Daten in Form von: - Teilnehmende Beobachtungen in den jeweiligen Projekten als ethnographischer Zugang (vgl. Leitfaden in der Anlage) - Schriftliche Selbstpräsentationen der Projekte (bspw. Konzeptionen, Publikationen) - Experteninterviews mit zentralen Schlüsselpersonen (vgl. Interviewleitfaden in der Anlage) - Relevante statistische Daten des Sozialraums, in dem sich das Projekt befindet Eine Befragung der NutzerInnen der Projekte und die Realisierung einer partizipativen Evaluation23 wäre ein nächster Schritt, der im Rahmen des begrenzten Forschungsauftrages nicht zu realisieren war. Allerdings sehen wir gerade in einer partizipativen Evaluation in Anknüpfung an die Tradition der Aktionsforschung die Chance einer praxisrelevanten Forschung, der wir uns verpflichtet fühlen. Auch für die Auswertung der erhobenen Daten nutzten wir unterschiedliche methodische Verfahren, so dass wir die Ergebnisse aus den einzelnen Erhebungsschritten miteinander in Bezug setzen, d. h. triangulieren24, konnten. Die Triangulation der Daten sichert die Validität und Reliabilität der Studie. Insbesondere konnten die Ergebnisse der Rekonstruktion des sozialen Handelns aus den teilnehmenden Beobachtungen, in denen sich auch unbewusste Handlungsstrukturen der Akteure aufzeigen ließen 25 , und die Ergebnisse der Exper- 23 24 25 Vgl. Langhanky, Michael; Frieß, Cornelia; Hußmann, Marcus; Kunstreich, Timm (2004): Erfolgreich sozial-räumlich handeln. Die Evaluation der Hamburger Kinder- und Familienhilfezentren. Bielefeld. Vgl. Flick, Uwe (1995): Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek bei Hamburg. Vgl. Rosenthal, Gabriele (2005): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim und München. - 16 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 teninterviews, in denen die subjektiven Eigentheorien, also das bewusste Wissen der Akteure erfragt wurden26, aufeinander bezogen werden. Für die Darstellung wurden die Ergebnisse geordnet und in Bezug auf eine sozialräumliche Gebietsbeschreibung, auf die Entstehung und die Geschichte des Trägers und des untersuchten Projektes, das professionelle Selbstverständnis der Akteure, die Ausrichtung an der Lebenswelt der AdressatInnen, die Entwicklung der Angebote und Räume, die zentrale Handlungs- und Interaktionsstruktur der Professionellen und mit den AdressatInnen, der Organisation, Vernetzung, Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern und Finanzierung zusammengefasst. Es handelt sich um eine deskriptive Darstellung, die sich am Forschungsverlauf orientiert. Interpretationen sind als aus dem vorliegenden Material belegte Hypothesen zu verstehen, deren Aufstellung jedoch beim Erstellen des Berichtes nicht abgeschlossen war. Die Berichte zu den einzelnen Projekten wurden von den InterviewpartnerInnen gegengelesen. Ihre Anregungen haben wir dankbar aufgenommen.27 26 27 Vgl. Glaser, Barney G.; Strauss, Anselm L. (1998): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern, Göttingen, Toronto u. a. Die Zitate aus den Interviews wurden in Absprache mit den InterviewpartnerInnen an einigen Stellen sprachlich überarbeitet. Die inhaltlichen Aussagen blieben davon unberührt. - 17 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 2 Sozialräumliches Handeln ist machbar und bedarf öffentlicher Unterstützung! - Zusammenfassung der Ergebnisse Regina Rätz-Heinisch 2.1 Handeln zwischen Lebenswelt und Jugendhilfe Bei allen untersuchten Projekten ging sozialräumliches Handeln als zentrale Handlungsmaxime in den professionellen Alltag ein. Das professionelle Handeln der Fachkräfte und der Organisation strukturiert und konturiert sich an den jeweiligen Bedingungen des konkreten sozialen Raums, in dem die Projekte ansässig sind. Beim erfolgreichen sozialräumlichen Handeln gelingt das Herstellen einer Passung zwischen den konkreten Personen (Fachkräften und AdressatInnen), der Organisation der Projekte und den Bedingungen des sozialen Raumes. Wir konnten bei den drei Projekten durchaus ähnliche Handlungsmuster herausarbeiten, obwohl hier betont werden soll, dass sozialräumliches Arbeiten jeweils regional vor Ort entwickelt werden muss. 2.1.1 Sozialräumliches Handeln stellt Passungen zwischen den Beteiligten her und füllt funktionslos gewordene Räume mit neuen Inhalten Allen drei Projekte gelingt es, gesellschaftlich funktionslos gewordene leer stehende Räume Menschen, die aus gesellschaftlichen Strukturierungsmustern wie Arbeit, Beschäftigung, sozialen Beziehungen „entgrenzt“28 wurden, für neue Nutzungen zur Verfügung zu stellen. Im NBF handelt es sich aufgrund des Rückgangs der KirchenmitgliederInnen um funktionslos gewordene kirchliche Gemeinderäume, in denen die Menschen durch die Aktivitäten der sozialräumlichen Arbeit nun die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen und Arbeiten bzw. TätigSein realisieren. Durch die Aktivitäten der SDL wurden leer stehende und verfallene Wohnhäuser, ehemalige Tierställe sowie kleinere ehemalige Industriebetriebe, 28 Vgl. Lenz, Karl; Schefold, Werner; Schröer, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim und München. - 18 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 die zum Ende des 20. Jh. niemand mehr in der Stadt benötigte, mit arbeitslosen Jugendlichen saniert. Durch das sozialräumliche Arbeiten wurden vor allem Räume der Begegnung, Kommunikation und des Austausches für die BürgerInnen geschaffen. In der FOS wurde ein größeres leer stehendes Fabrikgebäude mit arbeitslosen Jugendlichen und Erwachsenen saniert und es siedelten sich verschiedene Projekte der Kinder- und Jugendhilfe, mittlere Gewerbetreibende sowie Kunst- und Kulturschaffende an, die hier einen sicheren Ort des MiteinanderArbeitens und -Lebens schufen. Die Gestaltung sozialer Räume durch die Jugendhilfe ermöglicht vor allem den Kontakt der Menschen zueinander, das Eingehen sozialer Beziehungen, das solidarische Gruppenhandeln als Gegenpool zu sozialer Isolation. Dies kann durchaus als Basis für die Stärkung von sozialem Kapital29 verstanden werden. Es muss allerdings bedacht werden, dass sozial ausgegrenzte Menschen häufig über wenig individuelles soziales Kapital verfügen. Vor einer Überschätzung der Selbsthilfekräfte der sozial Ausgegrenzten muss gewarnt werden. Sie bedürfen hierfür der Solidarität und Unterstützung anderer, die durchaus in sozialräumlichen Projekten der Kinder- und Jugendhilfe initiiert werden kann. Die Projekte könnten dabei „Brückenfunktionen“ übernehmen, indem sie Kontakte zwischen ganz unterschiedlichen Menschen herstellen. Allerdings gibt es über solche Prozesse bisher keinen empirischen Beleg. In dem Handlungsmuster der Passung von Personen, Organisation und sozialem Raum zeigt sich die Stärke, aber auch die Begrenzung der sozialräumlichen Projekte. Die Stärke liegt darin, dass die Projekte ihr eigenes zentrales Handlungsmuster auch im Umgang mit den BürgerInnen beibehalten. Beispielsweise zeigen sich freundliche, wertschätzende und verlässliche soziale Beziehungen als zentrale Handlungsform sowohl auf der Ebene der Fachkräfte als auch auf der Ebene der Organisation, in der dann über persönliche Kontakte der KollegInnen untereinander kommuniziert wird. Schließlich zeigt sich dieses Muster auch im Umgang der Fachkräfte mit den AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe, zu denen persönliche Beziehungen gleicher Qualität eingegangen werden. 29 Vgl. Putnam, Robert (2000): Bowling Alone. The collapse and revival of American community. New York. - 19 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Die Schwäche liegt nun darin, dass ausschließlich die AdressatInnen von den sozialräumlichen Projekten erreicht werden, die sich auf die Handlungsmuster der Projekte auch einlassen können. In diesem Beispielfall erreicht das Projekt nur BürgerInnen, die eben gern verlässliche persönliche Beziehungen eingehen. Diejenigen, die das nicht wollen oder können, bleiben außen vor. Das bedeutet, dass ein sozialräumliches Projekt / Träger allein niemals alle Menschen im sozialen Raum erreichen kann, die potenziell über Ressourcen verfügen und für eine Mitarbeit und für freiwilliges Engagement zu gewinnen wären. Es bedarf demnach mehrerer, unterschiedlich arbeitender, sozialräumlicher Projekte in einem sozialen Raum, die jedoch miteinander fachlich vernetzt sind. Nur in einer Vielfalt sozialräumlicher Projekte im sozialen Raum kann die Gefahr sozialer Ausgrenzungsprozesse minimiert werden. Die Nutzung der Räume durch die AdressatInnen kann als ein Prozess des Suchens nach sinnvollen Möglichkeiten und Angeboten der Strukturierung des Tages beschrieben werden, bei dem sich die BürgerInnen die vorhandenen Räume in den sozialräumlichen Projekten schließlich selbstständig und aktiv aneignen. Finden sich beispielsweise Ehrenamtliche zusammen, die Bedürftige mit einer Suppe beköstigen wollen, und sie finden eine entsprechende Küche und Ausstattung in einem sozialräumlichen Projekt werden sie ihr Vorhaben dort realisieren. Zur Realisierung wirtschaften sie dann in der Küche, organisieren die Töpfe und Teller, die sie benötigen, und gestalten möglicherweise die Wand mit eigenen Bildern. Diese räumliche Aneignung kann auch als ein Prozess verstanden werden, sich die Räume passend zu machen. Hierfür benötigen die AdressatInnen den entsprechenden Gestaltungsraum, sich selbst etwas aufzubauen und etwas zu schaffen. - 20 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 2.1.2 Sozialräumliches Handeln bedarf einer Übersetzung von der Lebenswelt in Flexible Hilfen und sozial-administrative Kontexte Die administrativ festgelegten Sozialräume sind geographische Räume und Planungsräume. Sie entsprechen häufig nicht den lebensweltlichen Räumen der Menschen, deren Handlungs- und Bewegungsradius meist von sozialstrukturellen Merkmalen abhängig ist. Große Autostraßen und Bahngleise und –dämme bilden in den untersuchten Gebieten für die BürgerInnen Sozialraumgrenzen, die für Fußgänger und wenig mobile Menschen nur schwer zu überwinden sind. Diese Begrenzung und das Angewiesensein auf den sozialen Raum zeigen sich auch in den Schwierigkeiten der BürgerInnen, einen Zugang zu Hilfen und Angeboten der Jugendhilfe zu finden. Daher sind die Fachkräfte in den sozialräumlichen Projekten gefordert „Übersetzungsarbeit“ zu leisten und zwischen den Lebenswelten der Menschen und den sozial-administrativen Erfordernissen zu vermitteln. Sie nehmen die Lebenswelt der Menschen wahr, entwickeln eine gemeinsame Beschreibung des Bedarfs, erfinden passgenaue Flexible Hilfen und realisieren sie im sozial-administrativen Kontext. Diese Übersetzungsprozesse finden sowohl bei den einzelfallbezogenen Hilfen zur Erziehung als auch bei den strukturbildenden Projekten statt. Sozialräumliches Arbeiten liegt demnach tatsächlich quer zu Gesetzestexten, Zuständigkeiten etc. Die Fachkräfte sind hier wiederum in der Rolle, die entsprechenden Passungen erst herzustellen und Flexible Hilfen im Sozialraum zu ermöglichen. Bspw. schildert eine Interviewpartnerin das Beispiel der Vermeidung einer Heimunterbringung von vier minderjährigen Kindern, indem der alleinerziehenden Mutter durch die ambulanten FamilienhelferInnen temporär auch Unterstützung in der Nacht und am Wochenende zur Verfügung gestellt wird. Der Gewinn für alle Seiten war offenbar. Kinder und Mutter erlebten keine Trennung, der öffentliche Träger sparte erhebliche Kosten in der Heimunterbringung von vier Kindern, die Hilfe konnte in der Lebenswelt der Familie realisiert werden. Allerdings ist solch eine Hilfeform in den Leistungsbeschreibungen der ambulanten Hilfen zur Erziehung nicht vorgesehen und bisher nicht durch administratives Handeln untersetzt. Sie muss also erst erfunden werden. Die sozialräumlichen Projekte lassen sich mit dem Arbeitsansatz der Flexiblen Hilfen im Sozialraum auf ein hohes Maß an Ungewissheit und auf Risiken ein, wel- 21 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 che sowohl fachliche und als auch wirtschaftliche Aspekte umfassen (vgl. konkreter dazu Kap 2.2). 2.1.3 Sozialräumliches Handeln bedarf der Initiierung, Steuerung und Unterstützung des Öffentlichen Trägers Die fachlichen und strukturellen Instrumente und Handlungsmaximen der Kinderund Jugendhilfe sind prinzipiell ausreichend, um sozialräumlich zu arbeiten. Sozialräumliches Handeln stellt eine Querschnittsaufgabe im Selbstverständnis des Trägers und der Fachkräfte dar. Sozialräumliches Handeln als Schwerpunkt eines Projektes, auch mit dem Ziel der Verzahnung von offenen gemeinwesenorientierten Angeboten, Hilfen zur Erziehung und Jugendarbeit, entspricht jedoch einem eigenständigen professionellen Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, welches personell und finanziell untersetzt werden muss. Eine sichere Grundausstattung der Projekte für sozialräumliches Handeln ist bisher nicht gegeben, die nach unserer Einschätzung auf der Basis von Leistungsverträgen (§ 77 SGB VIII) oder Zuwendungen (§ 74 SGB VIII), nicht jedoch aus laufenden HzE-Mitteln realisiert werden sollte. Die Ausstattung der Projekte ist regional sehr unterschiedlich und auch die jeweiligen Kooperationsbeziehungen zwischen den freien und öffentlichen Trägern sind sehr verschieden. So entstand das sozialräumliche Projekt NBF auf Anregung des öffentlichen Trägers und auf der Basis sehr guter Kooperationsbeziehungen zwischen öffentlichen und freien Trägern, die auch die tägliche Zusammenarbeit befruchten. Von Seiten des öffentlichen Trägers wird hier ein finanzieller Betrag zur Grundfinanzierung des Projektes zur Verfügung gestellt, der jedoch nicht kostendeckend ist und auch nicht die personelle Grundausstattung des Projektes gewährleistet. Das Projekt der SDL hingegen entstand auf Anregung des freien Trägers und es brauchte mehrere Jahre der Annäherung des öffentlichen Trägers an das Vorhaben, welches jedoch durch die politischen Gremien des Bezirkes unterstützt wurde. Inzwischen ist für das Projekt eine bis zum Jahresende zeitlich befristete Personalstelle bewilligt, die vom öffentlichen Träger finanziert wird. - 22 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Die fachliche Herausforderung sozialräumlichen Handelns besteht vor allem in der Integration von Erziehungshilfen30, also von Einzelfall- und strukturbildenden Hilfen: - der Hilfen zur Erziehung (HzE) und - der Jugend- sowie Gemeinwesenarbeit sowie der Verknüpfung von: - professionellen sozialen Dienstleistungen und - freiwilligem und ehrenamtlichem Engagement der BürgerInnen In der in den Projekten beobachteten Kombination von Integrierten Erziehungshilfen und der Verknüpfung mit freiwilligen Tätigkeiten sehen wir die Chance, sozialen Problemen im Kontext des sozialen Raumes frühzeitig zu begegnen und durch das solidarische Miteinander der BürgerInnen zu bewältigen. Nicht unerwähnt bleiben soll die Hoffnung, durch diese Prozesse ebenso präventiv tätig sein zu können und selbstverständlich auch wirtschaftlich günstig zu arbeiten. Es geht jedoch nicht um eine ausschließliche Entspezialisierung der Hilfen, sondern um das Nebeneinander von spezialisierten sozialen Diensten und entspezialisierten übergreifenden Hilfen. Die Herstellung einer tragfähigen Balance zwischen spezialisierten und entspezialisierten Angeboten bleibt eine große fachliche Herausforderung. Den öffentlichen Träger der Jugendhilfe verstehen wir in der Rolle, Prozesse sozialräumlichen Handelns zu initiieren, zu steuern und zu unterstützen. Dies kann verwirklicht werden, indem die infrastrukturellen und finanziellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für sozialräumliches Handeln geschaffen werden.31 Es geht also um das Ermöglichen der aktiven Aneignungsprozesse der BürgerInnen im sozialen Raum und die Ermöglichung von Selbsthilfe, Unterstützung, freiwilligen Engagements in der Verbindung mit sozialer Dienstleistung. Wie genau die Menschen in den sozialen Räumen miteinander handeln, wie die Passungen zwischen den Beteiligten hergestellt werden und wie genau die Aneignungsprozesse geschehen, kann jedoch nicht vorab geplant und gesteuert werden. Das heißt, die Projekte bedürfen eines sicheren Hintergrundes, einer tragenden 30 Vgl. Wolff, Mechthild (2000): Integrierte Erziehungshilfen. Eine exemplarische Studie über neue Konzepte in der Jugendhilfe. Weinheim und München. - 23 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Basis, auf der die konkreten Angebote, Hilfen, Initiativen gemeinsam mit den BürgerInnen erst entstehen können. Es ist vorab nicht planbar, ob daraus zur Versorgung der Grundbedürfnisse beispielsweise ein preisgünstiger Mittagstisch oder eine Elterngruppe entsteht. Diese Konkretisierung kann erst vor Ort geschehen. Es können allerdings allgemeine Ziele formuliert werden, welche eine materielle, kulturelle und soziale Grundausstattung des sozialen Raums für Kinder, Jugendliche und Familien sichern. Auch bedarf es des Austausches zwischen VertreterInnen des öffentlichen und der freien Träger sowie der BürgerInnen des jeweiligen Quartiers in regelmäßig stattfindenden regionalen Zusammenkünften, wie bspw. den so genannten Kiezrunden. 2.2 Chancen und Probleme sozialräumlichen Handelns Die nachfolgenden Aufzählungen vervollständigen die bisherigen Aussagen. Sie konkretisieren die Aussage der Passung zwischen Personen, Organisationen und sozialem Raum und thematisieren sowohl das Gelingen als auch Schwierigkeiten der bisherigen Praxis. Bei allen untersuchten Projekten wurde deutlich, dass sich die Akteure vor Ort auf Risiken und Phasen der Ungewissheit einlassen. Diese zeigen sich sowohl in ökonomischer, materieller als auch in fachlicher Hinsicht. Sozialräumliches Handeln geschieht häufig zunächst experimentell mit einem offenen Ausgang. Dazu gehören Erfahrungen des Scheiterns ebenso wie Erfolg. Das Scheitern wird jedoch bei den von uns untersuchten Projekten nicht als Niederlage oder Infragestellung der bisherigen Arbeit verstanden, sondern als Anregung, etwas Neues zu beginnen. Die nun folgende Darstellung in Stichpunkten soll einen detaillierten und vor allem leicht zugänglichen Überblick zu den interessierenden Unterpunkten geben. 31 Die Berliner Jugendhilfe verfügt bisher über keine verbindlichen Strukturen und fachlichen Standards für sozialräumliches Handeln im Gemeinwesen. - 24 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 2.2.1 Ausrichtung des fachlichen Handelns am sozialen Raum Gelingende Faktoren bei der Ausrichtung des professionellen Handelns am sozialen Raum zeigen sich in folgenden Handlungen: - Das Einlassen auf die Lebenswelt der BewohnerInnen und nicht auf die sozialadministrativen Planungsräume als professioneller Handlungsrahmen. - „Übersetzungsarbeit“ von der Lebenswelt in sozial-administrative Kontexte. - Sich selbst und das sozialräumliche Projekt als Teil eines lebendigen Organismus des Stadtteils verstehen, dort etwas realisieren wollen und aktiv agieren. - Sensibel wahrnehmen, wie sich die Menschen im sozialen Raum bewegen, was sie dort machen und wo ihnen Grenzen gesetzt sind (Lebensweltorientierung). Große Autostraßen bilden bspw. Grenzen des sozialen Raums für die BewohnerInnen, fehlende Infrastruktur fördert Ausgrenzung, Einschluss und Isolation. - Die Auswirkungen gesellschaftlicher Themen vor Ort wahrnehmen und diese in die eigene Arbeit aufnehmen sowie u. a. diese in politischen Gremien thematisieren. Bspw. aktuell: demographischer Wandel, Leerstand von Gebäuden, Rückbau einer sozialen Infrastruktur. - Die Entstehung neuer sozialer Probleme im sozialen Raum wahrnehmen. Bspw. aktuell: Armutslagen, Isolation von Familien, Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund. - Funktionslos gewordene Räume im sozialen Raum mit gesellschaftlich „entgrenzten“ Menschen füllen. Die Räume erlangen so eine neue Funktionalität für die Menschen und den sozialen Raum. 2.2.2 Professionelles Selbstverständnis Das professionelle Selbstverständnis der untersuchten Projekte äußert sich in folgenden Punkten: - Einem Handeln der Akteure, das sich nicht nach formaler Zuständigkeit ausrichtet. Sie übernehmen Verantwortung für die sozialen Belange und die Gestaltung des sozialen Raumes. Bspw. wird jedem Bürger unkompliziert Auskunft gegeben, Menschen werden mit Grundbedürfnissen, wie Essen, Kleidung, Bildung, Kommunikation, versorgt (Allzuständigkeit wird eingelöst). - Einer eigenen Arbeitskultur, die auch im Umgang mit den Kindern, Jugendlichen, Familien und BürgerInnen aufrechterhalten wird. D. h., die eigene allgemein verständliche Alltagskommunikation der Organisation wird beibehalten und es wird keine elaborierte Umgangsweise mit den AdressatInnen entwickelt. - In den sozialräumlichen Projekten gibt es eine eigene Tradition des Helfens bzw. wird an religiösen oder weltanschaulichen Traditionen des Helfens angeknüpft. Deren Intention entspricht der zielgruppenübergreifenden sozialräumlichen Arbeit und bezieht professionelles und ehrenamtliches Engagement ein. D. h., die Projekte entstehen nicht aus dem - 25 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Nichts und sie benötigen mehrere Jahre, um akzeptierter Bestandteil des sozialen Raums zu werden. - Die Projekte wollen dies einer größeren Gruppe von Menschen zugänglich machen. Sie wählen also bspw. wie religiöse Organisationen ihre Zielgruppen nicht nach Kirchenzugehörigkeit aus, sondern verstehen sich als prinzipiell offen für alle, ohne vordergründige Eigeninteressen wie bspw. Mission. - Eine grundsätzliche Offenheit kann als das zentrale Arbeitsprinzip formuliert werden. - Die BürgerInnen sollen nicht zu etwas gezwungen oder gedrängt werden, sondern es werden Räume geöffnet, in denen die BürgerInnen selbstständig handeln können, die sie auch gestalten und verändern, sich also aneignen und „passend“ machen können. - Die Fachkräfte entwickeln Visionen, durch ihr eigenes Tun die Bedingungen des sozialen Raums verbessern zu können. - Sie sind gemeinsam mit den Menschen tätig, bspw. indem gebaut und gearbeitet wird oder in der Verbindung zwischen Arbeiten, Wohnen und sozial-kultureller Tätigkeit. - Sie entwickeln Freude an den Menschen, denen sie begegnen, nehmen sie ernst und verstehen diese als PartnerInnen mit all ihren Problemen und Krisen und nicht als KlientInnen mit Defiziten. 2.2.3 Beziehungshandeln und Netzwerkhandeln als zentrale Handlungsmuster In den untersuchten Projekten zeigen sich zwei zentrale Handlungsmuster der Interaktion zwischen den Akteuren - Beziehungshandeln und Netzwerkhandeln: - Beziehungshandeln zeigt sich im Eingehen verlässlicher persönlicher Kontakte, über die wiederum neue Kontakte erschlossen werden können. Die Menschen finden bei Eintritt in das Projekt einen persönlichen Ansprechpartner (niedrige Schwelle durch Personen), der auch den Übergang in ein anderes Projekt im Haus oder dem sozialen Raum begleitet. In den Projekten gibt es einige zentrale Personen (Schlüsselpersonen), die „Motor“ der Projekte sind, die bspw. die BürgerInnen ansprechen, den Sozialraum begehen, bei denen sich wichtige Informationen bündeln etc.. Die Stärke des Beziehungshandelns besteht in der Verlässlichkeit und Kontinuität des Kontaktes, die Schwäche in einer sehr starken Binnenorientierung (bonding Beziehungen nach Robert Putnam), die den Eintritt neuer Personen behindern kann. - Netzwerkhandeln als zentrales Handlungsmuster ermöglicht das Zusammentreffen vieler ganz unterschiedlicher Projekte und Träger und die Vernetzung dieser im sozialen Raum, was eine hohe Organisations- und Koordinierungsleistung erfordert. Die Beziehungen werden hier wenig persönlich gestaltet und haben eine starke Außenorientierung (bridging Beziehungen nach Robert Putnam). Die Stärke der Netzwerkorientierung zeigt sich in der kurzfristigen Organisation, Koordination und Aktivierung vieler unterschiedlicher Partner - 26 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 auf ein gemeinsames Vorhaben hin, die Schwäche im vornehmlichen Managen von Kontakten zwischen Menschen, in denen nur schwer eine Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Unterstützung darüber hinaus entsteht. - Die einzelnen Projekte bleiben in ihrem jeweiligen Handlungsmuster (Beziehungs- oder Netzwerkhandeln). Wir plädieren dafür, beide Handlungsmuster im sozialen Raum zu etablieren, um eine Vielfalt und den BürgerInnen eine Auswahl zu ermöglichen. 2.2.4 Ausrichtung an der Lebenswelt, Gestaltung der Räume und die Entwicklung von zielgruppenübergreifenden Angeboten Eine Ausrichtung an der Lebenswelt, die Gestaltung der Räume und die Entwicklung von zielgruppenübergreifenden Angeboten werden realisiert: - Die Akteure sozialräumlicher Projekte beobachten aufmerksam im Stadtteil, lassen sich von den BürgerInnen erzählen, hören von Ihren Freuden, Sorgen und Nöten, bleiben im Kontakt und gestalten aktiv Kommunikation. - Sie nehmen die zentralen Themen und Problemlagen der AdressatInnen auf und entwickeln Ideen für Projekte und Lösungen, die sie mit den BügerInnen gemeinsam konkretisieren und sich zur Realisierung weitere Partner suchen, u. a. auch um die Finanzierung zu sichern (induktives Vorgehen). - Sie sind prinzipiell offen dafür, neue BewohnerInnen und neue Zielgruppen kennen zu lernen und einzubeziehen. Aktuell sind in allen untersuchten Projekten neben Kindern und Jugendlichen, Eltern, ältere Menschen / Senioren sowie Menschen mit Behinderungen im Blick (sozialökologische Perspektive des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche). - Sie bemühen sich darum, sozial Ausgegrenzte zu erreichen. - Sie sind bestrebt, die Angebote passend zu den BürgerInnen zu entwickeln und nicht umgekehrt die Anpassung der Menschen an die Angebote zu erwarten (Flexible Angebote und Hilfen entwickeln). - Sie geben Menschen Räume, um ihre eigenen Angebote und Interessen zu realisieren, bspw. Vereine, Kunstprojekte, sportliche Aktivitäten. - Es besteht ein Nebeneinander zwischen spezialisierten Angeboten, die als soziale Dienstleistung erbracht werden (bspw. Hilfe zur Erziehung (HzE) Leistungen gem. § 27 SGB VIII), und offenen strukturbildenden Angeboten im Sozialraum (bspw. Jugendarbeit, Förderung der Familien), die auf die Verbindung von professionellem und freiwilligem Engagement bauen. D. h., es findet weder Spezialisierung noch Entspezialisierung statt, sondern beides existiert in einem „Haus“ (Integrierte Erziehungshilfen). - Es werden Übergänge und Brücken zwischen den spezialisierten und entspezialisierten Angeboten aktiv gestaltet, so dass der Zugang für Familien, die im Bereich der HzE betreut werden, zu offenen Angeboten wie Familiencafé, Elternbildung erst möglich wird bzw. umgekehrt über die offenen Angebote eine HzE niedrigschwellig angebahnt werden kann. - 27 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 - Es wird auf eigene separate abgegrenzte Räume für die einzelnen Zielgruppen (Kinder, Jugendliche, ältere Menschen) geachtet und es werden Begegnungen ermöglicht sowie zielgruppenübergreifende gemeinsame Veranstaltungen durchgeführt. Bei allen drei untersuchten Projekten gelang Letzteres besonders gut in der Initiierung und Durchführung von großen Stadtteilfesten, bei denen sich ganz unterschiedliche Akteure, Jung und Alt, Gewerbliche und Soziale, einbrachten. - Das freiwillige ehrenamtliche Handeln bedarf der Unterstützung, Förderung, Koordination, Organisation durch professionelle Akteure. Bisher leisten diese Arbeit die Professionellen zwar gern, jedoch meist neben ihrer regulären Arbeit und unter erheblicher Belastung. Dieser Arbeitsbereich bedarf unbedingt einer Unterstützung und weiteren Professionalisierung. 32 2.2.5 Organisation und Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern - Alle Träger, in denen die sozialräumlichen Projekte realisiert werden, sind freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit insgesamt einer Vielfalt an unterschiedlichen Projekten und Angeboten. Gerade diese Vielfalt ermöglicht die Ausrichtung am sozialen Raum sowohl in personeller, organisatorischer als auch in finanzieller Hinsicht. - Es handelt sich hier um Träger, die mit einer konkreten Aufgabenteilung und mit Leitungsfunktionen arbeiten, jedoch eine flache Hierarchie praktizieren, d. h., die Leitungspersonen sind für die MitarbeiterInnen unkompliziert erreichbar und stehen für Fragen und zur Beratung der täglichen Arbeitsabläufe zur Verfügung. - Eine Verknüpfung der unterschiedlichen Arbeitsbereiche, gerade zwischen HzE und offenen sozialräumlichen Angeboten, wird institutionell realisiert. Bspw. durch so genannte Leiterrunden, bei denen sich die Projektleiter regelmäßig treffen, sich beraten, austauschen und von den jeweils anderen Ausrichtungen der Projekte erfahren, oder durch die räumliche Nähe der Leiter, bspw. ein Büro für den Koordinator der HzE und die Koordinatorin der sozialräumlichen Arbeit; in einem Fall gab es sogar eine Leitungsperson für den Bereich HzE und offene sozialräumliche Arbeit. - Alle Projekte reagieren in ihrer Organisationsstruktur sehr flexibel auf sich wandelnde Rahmenbedingungen, Aufgaben, Anforderungen, Arbeitsinhalte etc. Sie können durchaus als „Lernende Organisationen“ 33 bezeichnet werden, da sich diese Flexibilität auch in der Fortbildung der MitarbeiterInnen, der Selbstreflexion, der Neugestaltung der Arbeitsräume u. a. Aktivitäten zeigt. 32 33 Die Erforschung der Beziehungen, Chancen und Grenzen zwischen professioneller und ehrenamtlicher Tätigkeit in diesem Arbeitskontext wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Vgl. Senge, P.M. (1997): Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. 4. Auflage Stuttgart. - 28 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 - Alle untersuchten Projekte leiden an der beständigen Veränderung der Rah- menbedingungen im Land Berlin, die sich bspw. in der prekären finanziellen Situation (kein Projekt verfügt über eine langfristige tragende Finanzierung, die jedoch die Basis einer kontinuierlichen sozialräumlichen Arbeit bilden müsste), sich ändernden Leistungsbeschreibungen für die ambulanten Hilfen sowie veränderten Abrechnungsmodalitäten äußert. - Hervorzuheben ist das überdurchschnittliche Engagement der Akteure in den Projekten sozialräumlicher Arbeit, deren Arbeitswoche häufig 50 bis 60 Stunden umfasst. Auch dies ist ein Ausdruck der schlechten finanziellen und personellen Ausstattung der Projekte in Verbindung mit dem häufig nicht sicher planbaren Arbeitsaufwand in der sozialräumlichen Arbeit gemeinsam mit den BürgerInnen im Stadtteil. Für die Akteure besteht in dieser Konstellation die Gefahr der Überforderung. - Die Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern zeigte sich in den Projekten unterschiedlich. In einem Fall trat der öffentliche Träger bei der Projektgründung als Innovator auf und hier gestaltete sich die Kooperation von Anfang an sehr partnerschaftlich. Tritt der freie Träger als Innovator auf, scheint es schwer, den öffentlichen Träger davon zu überzeugen. Deutlich wird jedoch, dass die Kooperation zwischen freien und öffentlichen Trägern unablässig und notwendig ist. Die sozialräumliche Arbeit lässt sich nur in der partnerschaftlichen Zusammenarbeit gemeinsam realisieren. - In der Ausführung der Projekte bleibt der öffentliche Träger in der Rolle, die Rahmenbedingungen zu entwickeln und bereitzustellen, die sozialräumliches Handeln überhaupt ermöglichen. Hierin besteht seine Steuerungsrolle. - Die freien Träger haben in allen drei Projekten vor Ort eine beeindruckende Innovation und Kreativität entwickelt, um sozialräumliches Arbeiten aktiv zu gestalten. Die Konkretisierung geschieht in einem gemeinsamen Prozess mit den BürgerInnen und ist nicht sicher planbar und steuerbar. Die konkrete Arbeit muss demnach fortlaufend rückgekoppelt werden. - Es bedarf demnach zur Steuerung und Anpassung an den Bedarf tragender Arbeitsbeziehungen zwischen BürgerInnen, freien und öffentlichen Trägern, die bspw. durch regelmäßigen Austausch in „Kiezrunden“ (an denen auch die BürgerInnen teilnehmen!) realisiert werden können. - 29 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 2.2.6 Finanzierung - In der Finanzierung folgen die Projekte ihrem fachlichen Selbstverständnis: Sie nehmen den Bedarf wahr, formulieren ein inhaltlich begründetes Angebot, berechnen die zur Umsetzung notwendige Finanzierung und übersetzen diese dann, in einigen Fällen gemeinsam mit den KollegInnen des öffentlichen Trägers, in die finanzielle Logik der Administration (induktive Logik der Finanzierung). - Nach dieser Logik werden sowohl Hilfen für Einzelfälle im Rahmen der HzE als auch strukturbildende Vorhaben wie bspw. die Sanierung eines maroden Gebäudes mit arbeitslosen Jugendlichen finanziert. Bei Letzteren werden Geldquellen außerhalb der Jugendhilfe, wie bspw. Stiftungen, Spenden, Förderungen durch die Denkmalpflege, die Europäische Union, BVV-Sondermittel etc., aquiriert. Dabei sind die Projekte sehr kreativ, da sie ein konkretes Ziel vor Augen haben, welches sie umsetzen wollen - also erst ein fachlich begründetes Vorhaben, dann Finanzierung suchen, auch außerhalb der Jugendhilfe. - Dennoch gehen die Träger hohe wirtschaftliche Risiken ein, da sie sich bspw. durch Verträge für Räume oder Kredite bei Banken langfristig binden. Auch hier besteht die Gefahr der Überforderung in wirtschaftlicher Hinsicht. - Bisher wurde u. a. aus den laufenden Mitteln für HzE-Maßnahmen offensichtlich unter anderem auch in den Aufbau und Erhalt der sozialen Infrastruktur investiert. Paradoxerweise trifft die Umsteuerung im HzE-Bereich aus diesem Grund die sozialräumliche Arbeit dieser Projekte, da diesen damit die Grundlage entzogen wird. (Dies bekräftigt auch die neue Leistungsbeschreibung für ambulante Hilfen, die diese Praxis explizit ausschließt.)34 - Bisher fehlt eine tragende Struktur für die Finanzierung sozialräumlicher Projekte in der Kinder- und Jugendhilfe. Hier ist eine Umsteuerung dringend notwendig. Zu empfehlen ist, diesen Bereich auf der Basis von Zuwendungen (§ 74 SGB VIII) oder Leistungsverträgen (§ 77 SGB VIII) zu finanzieren, da es sich bei sozialräumlicher Arbeit um eine öffentliche Gewährleistungsaufgabe und um den Aufbau einer sozialen Infrastruktur handelt. 34 35 35 Auch wenn dies in einigen Fällen als pragmatische Lösung eines Anfangs vor Ort betrachtet werden kann, erscheint eine längerfristig tragende Finanzierung der sozialräumlichen Arbeit aus HzE-Mitteln nicht sinnvoll. Es wird sehr bewusst diese Form der Finanzierung empfohlen, da auch die viel diskutierten Sozialraumbudgets das Problem nicht lösen werden. Sozialraumbudgets werden für den HzEBereich diskutiert, HzE-Mittel können jedoch den Aufbau der sozialen Infrastruktur nicht tragen. Der diesbezügliche Gestaltungsraum ist äußerst begrenzt. - 30 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Auf den Punkt gebracht kann gesagt werden: 1. Sozialräumliches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe als zielgruppen- und ressortübergreifende Arbeit ist machbar. 2. Eine Verbindung zwischen professionellem und ehrenamtlichem Engagement sowie eine Verbesserung der Ressourcenausstattung in sozialen Räumen lässt sich durch Projekte der Kinder- und Jugendhilfe initiieren und realisieren. 3. Sozialräumliches Arbeiten wird im gemeinsamen Handeln zwischen den unterschiedlichen Fachkräften und den AdressatInnen realisiert. 4. Sozialräumliches Handeln entwickelt sich regional unterschiedlich und bedarf einer Vielfalt an sozialräumlichen Projekten mit unterschiedlicher Weltanschauung und unterschiedlichen Akteuren, die in regionalen Zusammenkünften miteinander vernetzt sind und zusammenarbeiten. 5. Sozialräumliches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe ist ein eigener professioneller Arbeitsbereich, der einer tragenden personellen und finanziellen Grundausstattung bedarf. - 31 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 3 Drei Fallbeispiele: Projekte sozialräumlichen Handelns 3.1 Nachbarschafts- und Familienzentrum der AHB-Berlin Süd gGmbH (NBF) Regina Rätz-Heinisch, Thomas Pudelko, Timo Ackermann Das NBF befindet sich im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg im Ortsteil Lichtenrade. 36 Es handelt sich um den südlichen Teil von Lichtenrade, der sich in städtischer Randlage befindet. Die städtebauliche Struktur entspricht einer Mischbebauung. Hierbei ist es für den Ortsteil charakteristisch, dass neben einer ausgesprochen dörflichen Bebauung (erstmalige Erwähnung des Dorfes Lichtenrade 1375) einstöckige Wohnhäuser (Entstehung um 1840/50), größere Mietshäuser sowie einige Villen und Sommerhäuser (seit der Jahrhundertwende um 1900) zu finden sind. Schließlich prägt ein Wohngebiet mit Hochhäusern, die so genannte John-Locke-Siedlung (erbaut in den 70er Jahren), das Stadtbild. Die Gegend hat kaum einen industriellen Aufschwung erlebt. Sie ist traditionell durch Landwirtschaft und Handwerksbetriebe geprägt, war in der Vergangenheit durch die Bahnanbindung als Handels- und Transportweg wichtig und entwickelte sich später zu einem beliebten Ausflugsziel der Berliner. Die Stadtrandlage und die sehr gegensätzliche Bebauung führen den fremden Besucher zu überraschenden Erlebnissen, wie in unserem ersten Beobachtungsprotokoll zu lesen ist: Ich fahre ab Kreuzberg mit dem Auto den Tempelhofer Damm in Richtung Tempelhof/Lichtenrade, der dann zum Mariendorfer Damm und später zum Lichtenrader Damm wird. Der Weg zieht sich, ich schaue immer unruhiger auf die Uhr, denn der Zeiger zeigt bereits fast 10.00 Uhr und um 10.00 Uhr bin ich bereits im NBF verabredet. Ich habe die Entfernung also unterschätzt, der Weg ist länger als von mir geplant. Ich fahre immer mehr in den Süden, denke, dass ich jetzt gleich die Stadt verlasse (ist hier nicht Schönefeld bereits in der Nähe?). Auf dem Damm läuft einiges an Verkehr entlang, der jedoch fließt. Die Häuser am Damm werden niedriger, z. T. stehen hier kleine schmale Reihen36 Die Angaben und statistischen Daten sind der Broschüre Ortsteilbeschreibung Lichtenrade, herausgegeben im Februar 2005 vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg, entnommen. Die Sozialdaten zum Ortsteil Lichtenrade-Süd stammen aus den Angaben des Statistischen Landesamtes (Verkehrszelle 0742; Sozialdaten gem. Sozialstrukuratlas und Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2003). - 32 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 häuser, z. T. gibt es Leerflächen. Das alles wirkt auf mich fast dörflich und ich erwarte jetzt eher Einfamilienhäuser. Ich sehe Gärten und 20er oder 50er Jahre Mietshäuser (also 3-etagige Häuser mit Rauhputz und kleinen Fenstern und Türen, die wohl für mittlere Beamte, aber z. T. auch für Arbeiter gebaut wurden), es ist also Mischbebauung. Ich vermute die eigentlichen Wohngebiete hinter dem Damm, von der Autostraße aus nicht sichtbar. Ich biege vom Lichtenrader Damm rechts in die Barnet Straße – es ist ca. 10.05 Uhr – und dann gleich die erste Straße links in die Finchleystraße. Mein Erstaunen ist groß, denn beim ersten Abbiegen zeigt sich mir ein 70er Jahre Plattenwohngebiet mit Hochhäusern aus grauem Beton. Die Finchleystraße ist eine Sackgasse mit Wendeschleife, eine recht kurze Straße eher am Rand des Wohngebietes gelegen. In ihr befindet sich in Fahrtrichtung rechts ein Kindergarten mit recht großer Freifläche, links eine Schule auch mit viel Freifläche und darauf Sportanlagen … Alle Bauten sind Betonbauten, scheinen also zeitgleich mit dem Hochhausgebiet erbaut zu sein.37 Nicht nur städtebaulich ist der Ortsteil Lichtenrade als heterogen zu bezeichnen. Auch die BewohnerInnen des Viertels stammen – wie unsere Inter- viewpartnerinnen wiederholt ausführten - aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus. Die Hauptverkehrsadern bilden dabei Grenzen, die von den AnwohnerInnen kaum überschritten werden, und unterteilen das Quartier in weitgehend abgeschlossene soziale Bereiche. Es existieren hier kleinräumige Gebiete mit Einfamilienhäusern, deren BewohnerInnen zu den höheren Einkommensschichten gehören. In anderen Gebieten fallen Armutslagen auf, die große Teile der Bevölkerung betreffen. Diese Struktur bildet einen tatsächlichen Gegensatz zwischen Arm und Reich. Der Anteil der so genannten Spätaussiedler an der Gesamtbevölkerung wird als sehr hoch eingeschätzt. Allerdings werden Spätaussiedler statistisch nicht erfasst, so dass auch hierzu keine genauen Angaben möglich sind. Diese Gruppe zeigt sich jedoch nach den Aussagen unserer Interviewpartnerinnen als überdurchschnittlich im NBF repräsentiert. Die Bevölkerung im gesamten Planungsraum Lichtenrade beträgt 51.326 EinwohnerInnen (Stand 31. Dezember 2003). Der Anteil der 0- bis unter 14-Jährigen beträgt 12,8 %, der Anteil der 14- bis unter 18-Jährigen 4,5 %, der Anteil der 18bis unter 21-Jährigen 3,2 % sowie der Anteil der 21- bis unter 27-Jährigen 5,2 %. 37 NB1, S. 1f. - 33 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Den insgesamt 25,7 % jungen Menschen stehen 43,2 % der über 50-jährigen BewohnerInnen gegenüber und so zeigt sich auch in dieser Gegend der demographische Wandel der Gesellschaft deutlich. Seit 2001 wird eine Abnahme der Bevölkerung im Ortsteil Lichtenrade um knapp 10 % verzeichnet, die besonders stark die Altersgruppe der 0- bis 27-Jährigen betrifft. Auch war die Anzahl der Geburten im Jahr 2003 verglichen mit 2002 um 9 % rückläufig. Hingegen sind die jungen Menschen besonders von Armutslagen betroffen. Im Dezember 2003 bezogen laufende Hilfe zum Lebensunterhalt: 12,1 % der unter 7Jährigen, 10,4 % der 7- bis unter 15-Jährigen, 7,7 % der 15- bis unter 18-Jährigen und 5,8 % der 18- bis unter 25-Jährigen. Das sind insgesamt 36 % der 0- bis unter 25-Jährigen, wobei der Anteil der Kinder, die von Sozialhilfe leben, umso höher ist, je jünger sie sind. Der Anteil der BezieherInnen laufender Hilfe zum Lebensunterhalt der über 50-Jährigen beträgt hingegen 2,4 %.38 Der Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung ist mit 5,9 % eher gering (Vergleich: Schönberg-Nord 30,2 %; Gesamtbezirk 15,4 %). Allerdings ist, wie oben bereits erwähnt, der sehr hohe Anteil der Gruppe der so genannten Spätaussiedler statistisch nicht erfasst. Im Durchschnitt sind 52,6 % der Bevölkerung weiblich, wobei der Anteil der über 70-jährigen Frauen noch höher ist. In der Verkehrszelle Lichtenrade-Süd, also der John-Locke-Siedlung, leben insgesamt 30.338 Menschen. Im Vergleich zum gesamten Ortsteil Lichtenrade fällt hier der Bezug von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt von 18,3 % der ausländischen EinwohnerInnen auf, der über dem Berliner Durchschnitt (16,2 %) liegt. Arbeitslos sind hier 11,3 % der deutschen sowie 15,8 % der ausländischen EinwohnerInnen (18- bis 60-Jährige). Die AHB–Berlin Süd gGmbH39 ist ein Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Berlin mit einer recht jungen Geschichte. Er wurde 1999 als Organisationsform zur Durchführung der ambulanten Einzelfall- und Familienhilfen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe gegründet. Schwerpunkt der Arbeit sind seitdem Maßnahmen nach SGB VIII § 27 ff., insbesondere § 27 Abs.3 SGB VIII Aufsuchende Familientherapie, § 30 SGB VIII Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer, § 31 SGB 38 39 Die Angaben in % beziehen sich jeweils auf den Anteil an der Bevölkerung der jeweiligen Altersgruppe. AHB steht für Ambulante Hilfen Berlin. - 34 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 VIII Sozialpädagogische Familienhilfe, § 35 SGB VIII Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, aber auch ambulante Hilfen gem. SGB XII. Seit Beginn der Arbeit besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Träger. So wurde die AHB Schwerpunktträger des Jugendamtes für ambulante Hilfen gemäß SGB VIII in der Region Lichtenrade-Süd. Gemeinsam mit den MitarbeiterInnen des öffentlichen Trägers wurde die von der Senatsverwaltung für Jugend initiierte Fortbildung „Sozialraumorientierung“ wahrgenommen. Dort entstand u. a. die Idee der Gründung eines Nachbarschafts- und Familienzentrums im Rahmen der Jugendhilfe als geeignetes Angebot für den Sozialraum. Die AHB wurde vom Bezirksamt mit der Bitte angesprochen, ein entsprechendes Zentrum aufzubauen. Ausschlaggebend dafür war u. a., dass der Träger bereits seit mehreren Jahren in diesem Stadtteil tätig ist und um die sozialen Probleme des Stadtteils weiß. Im Interview mit Frau Barz, der Koordinatorin des NBF, wurde auch deutlich, dass die AHB-Berlin Süd gGmbH einer der wenigen Träger war, der sich zutraute, diese Verantwortung in der stätdtebaulichen Randlage zu übernehmen. Dadurch, dass wir aber die Einzigen hier im Ortsteil sind, und es auch geplant ist, aufgrund des Stadtteilvertrages, dass sozialräumlich überall solche Nachbarschaftszentren/ Selbsthilfezentren installiert werden sollen und es hier am äußersten Stadtrand keins gab, weil viele auch ungern hier, so tief in den Süden kommen wollen. … Sind wir dann auch angesprochen worden vom Bezirksamt, ob wir uns das vorstellen könnten. Und so im gleichen Zuge wurde dann irgendwie bekannt, dass dieses Haus sehr wahrscheinlich vakant ist, also dass die Kirche da eins veräußern muss. Die Verhandlungen dauerten über 1 ½ Jahre, weil die Kirche sich da auch nicht immer einig war, bis wir dann endlich den Pachtvertrag mit der Kirche abschließen konnten. Und sind dann mehr oder weniger, sag ich mal so, ins kalte Wasser geworfen worden (lachen), wat macht man jetzt hierdraus.40 Der Träger reagierte sowohl mit seiner Gründung als auch in der Entstehungsgeschichte des NBF auf einen Bedarf, der durch den öffentlichen Träger festgestellt und geäußert wurde. In seinem Selbstverständnis ist er Dienstleister für den öffentlichen Träger, der auch im Wesentlichen auf die Finanzierung durch den öffentlichen Träger angewiesen ist. Das NBF wurde im Mai 1995 eröffnet. Es befindet sich in einem einzeln stehenden Haus am Rande der John-Locke-Siedlung, welches die evangelische Kirche dem 40 NI1, 1f. - 35 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Träger verpachtet hat. Das Haus wurde ehemals als Gemeindezentrum genutzt. Die Kirche gab es aufgrund der nunmehr geringen MitgliederInnen in diesem Sozialraum auf. Aufgrund seiner Größe (800 m²), der umgebenden Freifläche und der räumlichen Ausstattung mit u. a. mehreren Seminarräumen, einem Saal, einem Jugendkeller, einer Küche und einem Restaurant erscheint es – obwohl im „Charme“ der 70er Jahre - nahezu Ideal für den Zweck eines Nachbarschafts- und Familienzentrums. Das Haus hat 3 Etagen, alle Räume sind vom Foyer aus begehbar, in der Mitte ist das große Treppenhaus: Keller: Kinder- und Jugendkeller (…); EG: Kiezküche (Küchenbereich und Restaurant), (…), großer Saal für ca. 150 Menschen (wird auch gern für Familienfeiern genutzt), Laden „Fair Handeln“, Büroräume der AHB, Büroräume JAkus e.V., Raum für Körpertherapie (ganz neu von der Therapeutin hergerichtet), Textilraum, Atelier einer Künstlerin, die hier auch Malkurse mit Bürgern durchführt, Kapelle (hier sonntags Gottesdienst) ... 1. OG: Zwei Gruppenräume (z. B. für Hausaufgabenhilfe), Kleiderkammer, Büroraum der Geschäftsführerin, Büro des Kinder- und Jugendkellers, Büro des Projektes „Kick“, Wohnung des Hausmeisters, zwei Krisenwohnungen von Jakus e.V.41 Bemerkenswert ist, dass das neu gegründete NBF an einem Ort entstand, an dem bereits eine Tradition in der Nachbarschafts- und Selbsthilfe vorhanden war. Die neue Intention des NBF besteht allerdings darin, diesen Ort ohne konfessionelle oder weltanschauliche Bindungen allen NachbarInnen zu öffnen. Dennoch konnte das NBF auf bereits vorhandene Strukturen des Freiwilligen Engagements und der Nachbarschaftshilfe an diesem Ort anknüpfen. Zur Zeit unserer Untersuchung - knapp ein Jahr nach der Eröffnung des NBF - ist es dem Projekt bereits gelungen, eine große Bandbreite an Angeboten und Kooperationen mit Initiativen, Selbsthilfegruppen und anderen Trägern zu entwickeln. Die Vernetzung nach innen und außen stellt dabei das zentrale Anliegen und Handlungsmuster dar. Es geht dem Projekt darum, viele Menschen zusammenzubringen und die Unterstützung vieler zu ermöglichen.42 Im Folgenden werden einige ausgewählte Angebote und Projekte benannt, die im Haus stattfinden.43 41 NB1, S. 13 NB1, S. 17 43 Es handelt sich hier um keine vollständige Aufzählung der Aktivitäten und Projekte im Haus. Es soll lediglich ein Eindruck der Vielfalt und Vernetzung vermittelt werden. 42 - 36 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Vernetzung nach innen – Projekte, die durch die AHB entwickelt und vernetzt werden: - Besuche und Veranstaltungen mit den Familien und Jugendlichen, die im HzE-Bereich (ambulante Hilfen der AHB-Berlin Süd gGmbH) betreut werden, um sie an das Haus heranzuführen und Kontakte außerhalb des Hilfesystems zu befördern - Das Projekt „Elternbox“ entstand auf Anregung und in Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Träger (Jugendamt) im Rahmen der Familienbildung. Eltern haben hier die Möglichkeit, sich kennen zu lernen, sich über aktuelle Fragen und Probleme auszutauschen und ihr soziales Netzwerk zu erweitern. Unterstützt durch einen Familientherapeuten wird sich über Fragen der Erziehung (z. B. über den Umgang mit Drogengebrauch der eigenen Kinder oder etwa die Frage „Muss Strafe sein?!“) ausgetauscht. Während der Bildungsveranstaltung werden die Kinder von ErzieherInnen und/oder PraktikantInnen betreut. Abgeschlossen wird der Besuch der Elternbox mit einem gemeinsamen Essen in der Kantine des Begegnungszentrums, das den Familien kostenlos angeboten wird und dem informellen Kennenlernen dient. - Kiezkantine im NBF mit einem täglich schmackhaften, gesunden und preiswerten Mittagessen im Kiezrestaurant des NBF. Vernetzung nach außen - Projekte, die durch andere Träger realisiert werden: - Im Jugendkeller, der nach wie vor von der evangelischen Kirchengemeinde Lichtenrade unterhalten wird, werden neben offener und niedrigschwelliger Jugendarbeit bspw. auch Tanzkurse angeboten. Die Jugendlichen sind hier sehr aktiv: Sie geben wöchentliche Kurse in Capoeira, Streat- und Breakdance. Auch der „Eine-Welt-Laden“, der im Erdgeschoss fair gehandelte Produkte anbietet, wird von BesucherInnen des Jugendkellers betrieben. - Das Projekt „Kick“ vom Verein für Sport und Jugendsozialarbeit (VSJ) bietet in Zusammenarbeit mit „der Berliner Polizei sportbezogene Präventionsarbeit mit delinquenten Jugendlichen“ (Selbstdarstellung des NBF) an. - „Jakus e.V.“ ist ein stationärer Träger der Jugendhilfe (Schwerpunktträger im Sozialraum). Der Träger bietet vor allem Betreutes Einzelwohnen gemäß - 37 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 § 34 SGB VIII. Im NBF befinden sich die Büroräume des Trägers sowie zwei Krisenwohnungen für junge Menschen. - Wöchentliche Gymnastikgruppen (5 Gruppen wöchentlich) für ältere Menschen in Eigeninitiative angeleitet von Gymnastiklehrerinnen - Der Verein „Senioren Hort 04", der es sich zum Ziel gemacht hat, auf der Basis von Nachbarschaftshilfe und ehrenamtlichem Engagement der Vereinsamung im Alter entgegenzuwirken. Pflegebedürftige Menschen werden über ihn unterstützt und gemeinsam werden Aktivitäten in Form von „Spaziergängen, Ausfahrten, (…), Einkaufshilfen“ sowie Begleitdienste etwa für Termine bei Ämtern oder Ärzten angeboten. Im NBF angeboten werden Disco-Abende für Senioren, Preisskat, Spielabende etc. - Selbsthilfegruppen / Gruppen: Anonyme Alkoholiker, Bürgerinitiative Marienfelder Feldmark (Natur- und Umweltschutz), Skatgemeinschaft, Tanzund Singekreise, Näh- und Tanzkurse - Körperpsychotherapie-Praxis mit Angeboten für Mütter und Kleinkinder wie bspw. Entspannungstrainings, spezielle Angebote für Schreibabys Vernetzung und Kooperationsprojekte mit Ehrenamtlichen: - Gemeinsam mit dem Verein Suppenküche e.V. wird jeden Sonntag eine kostenlose Suppe an bedürftige Menschen aus der Umgebung ausgeteilt - Lebensmittel-Ausgabe „Laib & Seele“ in Kooperation mit der Berliner Tafel, der evangelischen Kirchengemeinde Lichtenrade und ca. 65 ehrenamtlichen Helfern aus dem Stadtteil. - Kleiderkammer für Kinder und Erwachsene. Im NBF treffen die Aktivitäten von Kindern, Jugendlichen, Eltern, Arbeitslosen, Senioren und vieler weiterer engagierter BürgerInnen aufeinander. Die Vielfalt an unterschiedlichen Aktivitäten, Einrichtungen und Vernetzungen „unter einem Dach“ ist ein zentrales Merkmal der Arbeit der NBF. Hier werden nicht nur Menschen, sondern auch vielfältige Projekte, Einrichtungen und Träger an einem zentralen Ort zusammengebracht und miteinander vernetzt. - 38 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Dass diese Vernetzung unterschiedlichster Aktivitäten, Projekte und Initiativen an einem Ort eine Stärke des NBF ist, wird auch von Seiten des Projektes betont, welches selbst auf die dadurch entstandene Unterstützung und auf vorhandene Ressourcen zugreifen kann. Genauso, wenn wir irgendwelche Sachen brauchen, weil wir ja nicht viele finanzielle Möglichkeiten haben. Also, wenn wir da mal einen Kühlschrank brauchen, oder sonst irgendetwas, dann machen wir hier ein Plakat hin und es dauert keine zwei Wochen, dann kriegen wir das irgendwo her.44 Die räumliche Nähe vereinfacht gleichermaßen die Kommunikation zwischen den Projekten. „Dadurch dass wir so viele Gruppen im Haus haben, sind die Wege ja nicht lang“45. So sei es unkompliziert möglich, die anderen Projekte anzusprechen und es z.B. zu ermöglichen, dass bei Anfragen von BürgerInnen schnell ein kompetenter Ansprechpartner vermittelt werden kann.46 Im Zugang des NBF zu den Lebenswelten der BürgerInnen spielt die große Vielfalt der Angebote ebenfalls eine entscheidende Rolle. Mit den vorhandenen Räumen und der prinzipiellen Offenheit des Hauses und der MitarbeiterInnen kann ein breites Spektrum an interessierten BürgerInnen erreicht werden. Die sehr verschiedenen Aktivitäten erlauben es, Passungen zu ganz unterschiedlichen Menschen mit ihren jeweiligen Interessen herzustellen. Sie ermöglichen so eine breite Öffnung zum sozialen Raum. Ein weiterer wichtiger Zugang zu den Lebenswelten der Menschen zeigt sich in der Aufnahme grundlegender Bedürfnisse in die Angebote des NBF. Die BesucherInnen werden mit Unentbehrlichkeiten wie Essen, Bekleidung, sozialen Kontakten, Beschäftigung und sinnvollen Tätigkeiten versorgt. Dabei nutzen einige BewohnerInnen lediglich die Versorgung, während andere Bedürftige selbst und aktiv dabei ehrenamtlich mitarbeiten. Beispiele hierfür sind die Kiezkantine, das Projekt „Laib & Seele“ sowie die Kleiderkammer. Am Projekt „Laib & Seele“ kann die Arbeitsweise gut veranschaulicht werden: Einmal wöchentlich werden in Zusammenarbeit mit der Berliner Tafel und der evangelischen Kirchengemeinde im NBF kostenlos Lebensmittel an Bedürftige 44 45 46 NI1, S. 13f. NI 1, S. 13 Vgl. ebenda. - 39 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 ausgegeben, die über die Berliner Tafel oder auch über regionale Einzelhändler gespendet werden. Das Projekt wendet sich mindestens auf zweifache Weise zentralen Bedürfnissen zu: Einerseits ermöglicht es ökonomisch Bedürftigen, sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Andererseits bietet es ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsfeld für BürgerInnen, deren Alltag nicht mehr über Arbeit strukturiert wird, Menschen, die etwa arbeitslos oder verrentet sind, die „einfach froh sind“, „wenn sie eine Aufgabe haben, wenn sie irgendwas machen können, wenn sie merken, sie werden gebraucht“.47 Mit ihrem Anliegen, Ehrenamtliche in ihre Arbeit einzubeziehen, ist die NBF auf große Resonanz gestoßen. Auf eine öffentliche Annonce des NBF in einem regionalen Anzeigenblatt meldeten sich spontan um die 80 BürgerInnen zur freiwilligen Mitarbeit. Von ihnen sind nun ca. 65 Personen regelmäßig im Projekt „Laib & Seele“ aktiv. Darüber hinaus arbeiten VerstärkungsmitarbeiterInnen (so genannte MAE-Kräfte) in verschiedenen Bereichen des NBF: Sie betreuen die Kleiderkammer, helfen in der Kiezkantine mit oder reparieren auch einmal einfach, „was irgendwie kaputtgegangen ist“ 48. Das NBF ermöglicht auf diese Weise das Ausüben einer Tätigkeit, die von den BürgerInnen selbst als sinnvoll empfunden wird. Darüber hinaus bietet das gemeinsame Engagement den Ehrenamtlichen die Möglichkeit, sich auch untereinander kennen zu lernen, soziale Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu bilden. Das NBF habe in seiner Arbeit - so die Geschäftsführerin Frau Stähle-Grünewald im Interview – lernen müssen, dass sich die sozialarbeiterischen Vorstellungen von den Bedürfnissen der BürgerInnen oft von denen der BürgerInnen selbst unterscheiden. Die Einrichtung einer Trennungs- und Scheidungsberatung etwa sei nicht von Erfolg gekrönt gewesen, obwohl aus sozialarbeiterischer Sicht hier Bedarf bestünde und ein solches Angebot daher sinnvoll erschienen sei. 49 Wichtig sei es daher, Offenheit für die Bedürfnisse der BürgerInnen zu zeigen und es ihnen zu ermöglichen, ihre Vorstellungen einzubringen und auch selbst umzusetzen. 47 48 49 NI1, S. 3 NI2, S. 19 Vgl. ebenda, S. 29. - 40 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Die kommen von alleine die Leute, und sie haben ganz andere Interessen. Sie wollen vielleicht auch einfach nur wissen, wo können sie sich hinsetzen, um einmal in der Woche gesittet und geordnet fünf Stunden Skat zu spielen. (…) weil das [Erstere; d. Verf.] sind Bedarfe, vermeintliche, die wir aus sozialarbeiterischer Sicht irgendwie hinkonstruiert haben. Wir (planen) aber keine Bedarfe, die die Leute hier aus dem Kiez hatten. Und da mussten wir nun zurückrudern und sagen "Nein, wir müssen uns auf das einlassen, was die hier wirklich brauchen"50. Um die Bedürfnisse der BürgerInnen in Erfahrung zu bringen, führte das NBF zum Beispiel eine Befragung durch. So entstand der Kontakt zu einer älteren Dame, die nun in den Räumen des Begegnungszentrums regelmäßig ehrenamtlich Nähkurse anbietet. Diese Schritte gehören zu einem langjährig andauernden Prozess, an dessen Ende ein - so wie von der Geschäftsführerin formuliert - „Zentrum etabliert ist, wo jeder Bürger weiß ‚Ich hab hier nen Problem, ich kann da hingehen und mal fragen und die können mir zu mindestens sagen, wo ich jetzt hingehen kann, wenn sie mir nicht direkt Hilfe geben können“ 51. Eine breite Öffentlichkeit wird über Feste erreicht. Dieses Element wird im Experteninterview diverse Male als Möglichkeit sowohl der Kontaktaufnahme zu den verschiedensten Bevölkerungsgruppen als auch zur Anknüpfung von Kooperationen mit anderen Einrichtungen im Einzugsgebiet genutzt.52 Perspektivisch soll die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert werden. So wünscht sich Frau Barz, die Koordinatorin des NBF, eine noch höhere Bekanntheit. Vielen ist das NBF bisher nicht bekannt, im Stadtteil wird ein weitaus höheres ehrenamtliches Potenzial angenommen, als bisher erschlossen werden konnte.53 Die MitarbeiterInnen des kennen sich sowohl im professionellen Hilfesystem als auch in der Lage des Stadtteils aus. In dieser „Scharnierfunktion“ agieren sie nicht abgehoben und theoretisch, sondern sind in ihrem professionellen Selbstverständnis in erster Linie an den immer wieder neu erkannten Bedarfen und Bedürfnissen vor Ort orientiert, die sie in ihr Handlungskonzept aufnehmen, um dar50 NI2, S. 29f. ebenda, S. 2 52 ebenda, S. 10-13, S. 20 53 NB1, S. 9 51 - 41 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 an ausgerichtet passende Angebote zu schaffen. Erst in zweiter Linie wird dann über die z. B. gesetzlichen Möglichkeiten der Realisierung – was in der Regel die Finanzierung betrifft – in Verhandlung mit dem öffentlichen Träger getreten. Die Professionellen verstehen ihren Auftrag und ihre Dienstleistungsfunktion also durchaus darin, eine Übersetzungsfunktionen aus der Lebenswelt der BewohnerInnen in sozial-administrative Logiken wahrzunehmen. So sollen etwa auftretende soziale Probleme sowie Hilfsmöglichkeiten benannt und dem öffentlichen Träger Verantwortung für konkrete Lösungen zugesprochen werden. B: Wir arbeiten hier sozialraumorientiert, d. h., wir entwickeln neue Modelle und Flexible Hilfsangebote, „Maßanzüge“ nach dem Essener Modell. Wie diese Maßanzüge in die Finanzierungslogik der öffentlichen Verwaltung passen könnten, muss uns von der fachlichen Seite her egal sein, das ist Aufgabe des Bezirksjugendamtes. A: Und das übernimmt das Bezirksamt dann auch? B: Es gibt eine Aussage des Bezirksjugendamtes an die Kiezteams gerichtet, in denen MitarbeiterInnen freier und öffentlicher Träger zusammen arbeiten: „Entwickelt passgenaue kreative flexible Hilfen, wir kümmern uns mit der Wirtschaftlichen Jugendhilfe um die Finanzierung. Wir haben genau das getan und es funktioniert.54 In diesem Sinne richtet sich das NBF an den Erwartungen aus, die vom öffentlichen Träger formuliert werden. Diese beinhalten z. B. das immer neue „Erfinden“ von sehr passgenauen Unterstützungsleistungen in der Lebenswelt und im sozialen Raum. Die Umsetzung ist durch den Träger nur mit enormen Kraftanstrengungen, vor allem nach innen, zu leisten. Zentrales Kennzeichen dafür ist, dass die MitarbeiterInnen für diese Angebotsstruktur nicht nur ein enormes Maß an Flexibilität aufbringen und teilweise ungewöhnliche Arbeitsbedingungen akzeptieren, sondern auch die Spannung zwischen flexibler Hilfegewährung und Arbeitsplatzunsicherheit aushalten müssen. Dass wir so etwas machen wie Verhinderung von Fremdunterbringungen, das Heim quasi ins Haus zu bringen und dass unsere Mitarbeiter plötzlich Nachtwachen und Nachtbereitschaften machen. Im Moment ist da der eine Fall einer psychisch kranken Mutter mit vier minderjährigen Kindern. Und die musste in der Anfangszeit rund um die Uhr betreut werden. Je weiter die Mutter stabilisiert wurde, umso weniger Hilfeeinsatz ist nötig. Der Einsatz der Helfer ist hier 54 NI2, S. 5 - 42 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 hoch flexibilisiert, aber wir konnten eine Fremdunterbringung bis zur teilweisen Gesundung der Mutter verhindern.55 Die MitarbeiterInnen des NBF sind gefordert, gewohnte Arbeitsweisen, spezialisierte Hilfeleistungen und auch das eigene berufliche Selbstverständnis zu modifizieren und sich nun parallel ganz anderen Tätigkeiten wie den offenen nachbarschaftlichen Angeboten zu widmen. Die Bereitschaft seitens der MitarbeiterInnen, sich solchen flexiblen und entgrenzten Arbeitsbedingungen zu stellen, wird durch eine hohe Verlässlichkeit des Trägers gegenüber den MitarbeiterInnen in Bezug auf die Arbeitsaufträge erreicht. Die Zusammenarbeit zwischen Professionellen und Ehrenamtlichen gelingt nach der Selbsteinschätzung der von uns interviewten ExpertInnen durchaus: Professionelle und ehrenamtliche Aufgabenfelder sind inhaltlich voneinander abgegrenzt und ergänzen sich. Die professionellen MitarbeiterInnen sind vor allem im HzE-Bereich tätig und begleiten Gruppenaktivitäten. Sie koordinieren, moderieren, strukturieren und managen die Aktivitäten im Haus. Durch die Einbeziehung ehrenamtlicher HelferInnen in erheblicher Größenordnung ist es möglich, verdeckte und vor allem offene soziale Probleme wie Nahrungsund Kleidungsmangel durch Armenversorgung im besten klassischen Sinne zu minimieren. Dies wäre durch hauptamtliche Tätigkeit allein nicht leistbar, die jedoch erst die äußere Struktur schafft, um in diesem Sinne ehrenamtlich tätig zu werden. Auf diese Weise gelingt es, die verschiedensten Menschen im Familienzentrum zusammenzubringen und die Entwicklung einer Art wechselseitiger Unterstützungsgemeinschaft zu fördern. Als wichtiges Standbein für die sozialräumliche Arbeit zeigt sich die von Seiten des Trägers als „sehr gut“ beschriebene Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Träger. Ein wichtiger Faktor, um eine gute Kooperation der freien Träger untereinander sowie zwischen den freien und dem öffentlichen Träger zu ermöglichen, sind dabei die so genannten regionalen Kiez- und Fallteams. 55 ebenda - 43 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Positiv für die partnerschaftliche Zusammenarbeit habe sich überdies die gemeinsame Weiterbildung zur Sozialraumorientierung in der Fortbildungsstätte Alt Glienicke ausgewirkt. Hier gelang es, sich „auf einer anderen Ebene (…) als gleichberechtigte Teilnehmer einer Weiterbildung“ zu begegnen. Gemeinsam wurden neue Begriffe und Ideen erarbeitet und ihre Funktionalität in der Praxis diskutiert. Es war der Beginn einer langfristig angelegten Auseinandersetzung, die schließlich dazu geführt hat, „dass da wirklich eine kollegiale Zusammenarbeit [zwischen freien und dem öffentlichen Träger, d. Verf.] entstanden ist“. 56 Die gute Kooperation zwischen der AHB und dem öffentlichen Träger spiegelt sich auch in der Finanzierung von Flexiblen Erziehungshilfen, welche die Vernetzung und Übergänge zwischen ambulanten und stationären Hilfen zur Erziehung (HzE) ermöglichen. So ist es machbar, Finanzierungsformen für HzE gemäß § 27 SGB VIII zu finden, die sich keiner Rechtsfolge nach dem SGB VIII eindeutig zuordnen lassen. Diese Hilfen werden also quer zu den Gesetzestexten realisiert. Neben dem öffentlichen wird hier mit dem Schwerpunktträger der stationären Erziehungshilfe, Jakus e.V., zusammengearbeitet. Den Anfang haben wir hier gemacht, indem wir Hilfen zusammen mit dem stationären Träger gemacht haben, um einen stationären und einen ambulanten Anteil miteinander zu verknüpfen und dann beide Träger gemittelt in der Arbeit, die an diesem Fall gearbeitet haben. Damit haben wir das Bezirksamt ein Stückchen herausgefordert, das auch zu finanzieren. Aber die kriegen das dann hin. 57 Die sozialräumliche Arbeit des NBF wird hauptsächlich als Projektförderung über einen Leistungsvertrag (§ 16 und § 77 SGB VIII) mit dem Bezirksamt finanziert. Zum Teil werden trägerbezogene Anteile aus den HzE-Entgelten zur Finanzierung der sozialräumlichen Arbeit genutzt. Diese Mittel decken im Wesentlichen die Personalkosten, die fallunspezifische und fallübergreifende Arbeit sowie die laufenden Sachkosten. Die bezirkliche Förderung sowie die Einnahmen zuzüglich eingesetzter Eigenmittel des Trägers ermöglichen die Finanzierung einer festen 30Stunden-Koordinationsstelle für das NBF. Des Weiteren sind der Hausmeister sowie eine Küchenkraft je zur Hälfte fest eingestellt. Zusätzliche hauswirtschaftliche 56 57 NI2, S. 9 NI2, S. 7 - 44 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 und handwerkliche Tätigkeiten werden durch VerstärkungsmitarbeiterInnen (MAE) wahrgenommen. Das Projekt erhält Spenden, Sponsoring sowie Naturalspenden vornehmlich aus der Nachbarschaft, über die kleinere Fehlbedarfe finanziert werden können. Auch fallen geringe Mieteinnahmen durch die Vermietung der Räume an sowie Einnahmen aus der Kiezkantine. Als großes Problem zeigt sich die notwendige bauliche Instandsetzung des sanierungsbedürftigen Hauses, für die Drittmittel eingeworben werden müssen. Dies ist äußerst aufwändig und Erfolge stellten sich erstmals nach mehreren Antragstellungen ein. Der HzE-Bereich muss kostendeckend arbeiten, vor allem zur Finanzierung der Mitarbeiterstellen. Er wird über das Entgelt der Fachleistungsstunde finanziert. So bleiben die Einnahmen von den Aufträgen abhängig und die Finanzierung der Personalstellen unterliegt einer hohen Planungsunsicherheit, da die Auftragslage perspektivisch nicht eingeschätzt werden kann. Nur aus diesem Grunde und um den MitarbeiterInnen sichere Arbeitsplätze schaffen zu können, wird vom Träger ein sozialräumliches Budgetierungsmodell favorisiert. Wie oben dargestellt ist diese Garantie die Voraussetzung für das flexible Arbeiten der MitarbeiterInnen auch über den eigenen begrenzten Bereich hinaus. Die finanzielle Situation des NBF bleibt defizitär. Das NBF ist also darauf angewiesen, dass „die anderen für uns mitarbeiten“, um bspw. Vertretung, Kontinuität und Unterstützung zu gewährleisten. Gemeint ist, dass die Aktivitäten des Nachbarschaftszentrums zum Teil über Eigenmittel des Trägers mitfinanziert werden müssen, die wiederum nur aus dem HzE-Bereich erwirtschaftet werden können, obwohl hier gar kein Spielraum mehr vorhanden ist. Bezüglich der äußeren Rahmenbedingungen wurde der Wunsch nach mehr Sicherheit geäußert. Die beständigen Änderungen, etwa im Bereich der Entgeltvereinbarungen, verunsichern und gefährden die laufende Arbeit. Beides zusammen - also erstens eine sicherere Finanzierung und zweitens eine höhere Verlässlichkeit in den administrativen Rahmenbedingungen – würde bezüglich der Planung von Projekten als auch gegenüber den MitarbeiterInnen des NBF (und deren Arbeitsverhältnissen) für größere Verlässlichkeit sorgen. - 45 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Von Seiten der interviewten Expertinnen wird eingeschätzt, dass für den Aufbau sozialräumlicher Strukturen zunächst der Einsatz zusätzlicher Geldmittel benötigt wird, die dann zukünftig zu möglichen Einsparungen führen können. Zusammengefasst können folgende Faktoren des Gelingens sozialräumlichen Handelns beim NBF formuliert werden: - Als herausragendes Element ist die überaus gute Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Träger zu nennen. Ausgehend von einem Selbstverständnis als Dienstleister des öffentlichen Trägers und den gemeinsamen Fortbildungen mit MitarbeiterInnen des öffentlichen Trägers wird auf einer persönlichen Ebene „Teampflege“ betrieben, die durch die Strukturen der Jugendhilfe im Bezirk unterstützt wird. Als Schwerpunktträger ist der AHB bevorzugter Ansprechpartner des öffentlichen Trägers - Der öffentliche Träger ist interessiert an gelingender Hilfe und regt zu innovativen Ideen an. Daran orientiert entwickelt das AHB passgenaue Angebote und setzt sie entsprechend um. Der (elementare) Arbeitsauftrag besteht genau darin, flexible Hilfen zu entwickeln, „Maßanzüge“ zu schneidern und nicht mehr Paragraphen des SGB VIII „von der Stange“ anzuwenden. - Mit diesem Arbeitsauftrag wird der Träger aufgefordert, sich zu verändern und weiterzuentwickeln.58 Er wendet seinen Blick dem Gemeinwesen und den Lebenswelten der BewohnerInnen zu. - Im Gegensatz zu anderen freien Trägern der Jugendhilfe, die sich ausschließlich der Fallarbeit widmen, öffnete sich der AHB mit dem NBF in den Stadtteil und entwickelte ein Arbeitsprinzip der grundsätzlichen Offenheit. - Die Ausrichtung an den Bedingungen „vor Ort“ und die dann passend gemachten Hilfen aus HzE, offener Jugendarbeit und Gemeinwesenarbeit machen die Zusammenarbeit mit der AHB für den öffentlichen Träger auch so attraktiv. - Demzufolge steht nicht die Suche nach der passenden gesetzlichen Grundlage bei einer anvisierten Lösung im Vordergrund des Gelingens, sondern die Sinnhaftigkeit einer Hilfe und deren Wirksamkeit. Erst in einem weiteren 58 NB3, S. 6 - 46 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Schritt ist es dann Aufgabe des öffentlichen Trägers, die administrative Logik der Finanzierung passend zu machen Das Besondere ist hier, dass der öffentliche Träger hier diese Aufgabe auch wahrnimmt. - Das NBF geht offen vielfältige Beziehungen zu anderen freien Trägern sowie Initiativen, Selbsthilfegruppen und Ehrenamtlichen ein. Ihr zentrales Handlungsmuster besteht im Netzwerkhandeln, also in der Verknüpfung unterschiedlicher Akteure und Aktivitäten „unter einem Dach“. - Über dieses vielfältige Angebot stellt der Träger Passungen zu den Akteuren des sozialen Raums her. Die Vielfältigkeit der Aktivitäten und Projekte ermöglicht es, unterschiedlichste Akteure anzusprechen. So wird das NBF zu einem Ort, an dem sich Menschen aus den verschiedensten sozialen Milieus begegnen können. - Ein wesentliches Moment ist dabei die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Kleidung, soziale Kontakte und sinnvolle Beschäftigung. Sie greift zentrale Bedürfnisse und Bedarfe der BürgerInnen auf und wird so zur Kontaktstelle zwischen dem NBF und den Menschen des sozialen Raums - Als weiteres Element für das Gelingen der Arbeit des NBF ist das verlässliche Einbinden von professionellen MitarbeiterInnen und Ehrenamtlichen in die Strukturen des NBF zu nennen. Übertragene Aufgaben werden verbindlich übernommen und eine gegenseitige Inanspruchnahme der jeweiligen Kompetenzen ist jederzeit und unproblematisch möglich; man kann sich aufeinander verlassen. Hervorzuheben ist auch das überdurchschnittliche Engagement der verantwortlichen MitarbeiterInnen. - Das NBF knüpft am Standort Finchleystraße an Traditionen der kirchlichen Gemeindearbeit an, die diese nicht (mehr) erfüllen kann. Sie übernimmt deren Aufgaben ohne klerikale Inhalte und Überbau. Durch die weltliche Ausrichtung gelingt es auch, Menschen zu erreichen, für die eine Trägerschaft der Kirchen eine zu große Zugangshürde bedeuten würde. Mit der Nutzung des ehemaligen Gemeindezentrums verfügt das Projekt über geeignete Räume für die Nachbarschaftsarbeit. - Dem NBF gelingt es hinsichtlich der Vermittlung zwischen verschiedenen Lebenswelten, die Grenzen der eigenen Arbeit zu erkennen. Vorsichtig ver- - 47 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 suchen die MitarbeiterInnen Menschen aus unterschiedlichen Milieus in Kontakt zu bringen. - Es wird auf jugend- und zielgruppenspezifische Räume geachtet und es werden Begegnungen mit anderen Menschen ermöglicht. Die Räume des NBF geben den nötigen Platz für selbst gestaltete Entwicklungen der Menschen, die diese nutzen. - 48 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 3.2 Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V. (SDL) Timo Ackermann Im Folgenden wird die Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V., abgekürzt SDL, vorgestellt werden. Untersucht wurde die sozialräumliche Arbeit des Trägers in der „Victoriastadt“, einem kleinen Stadtteil im Bezirk Lichtenberg. Die Victoriastadt ist durch eine mehr oder weniger durchgängige Altbaubebauung geprägt. Errichtet wurde ein Großteil der vier- bis fünfstöckigen Gebäude zur Gründerzeit, also gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden weitere drei- bis vierstöckige Gebäude erbaut. Auffällig ist die Insellage des Stadtteils. Das Gebiet ist räumlich von allen Seiten durch S-Bahn-Trassen begrenzt, so dass beim Betreten des Stadtteils das Gefühl einer Abgeschlossenheit, aber auch einer Vertrautheit aufkommen kann. Zu betreten ist die Victoriastadt nur mit Hilfe der S-Bahnunterquerungen. Gleich zu Beginn einer Stadtplanungsstudie über das Quartier heißt es, der Stadtteil sei „fast vollständig durch Eisenbahntrassen eingefasst“, städtebaulich isoliert und habe eine Art „Inselstatus“ 59 . Als wir die Einrichtungen der SDL besuchten und uns durch das Quartier bewegten, erzeugte dies bei uns ebenfalls das Gefühl, sich in einem eher abgeschlossenen und von außen schwer zugänglichen Areal zu befinden. In dem folgenden Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll wurde dieser Eindruck festgehalten: Mit meinem Rennrad habe ich bei Schnee und Eis, den vielen Löchern und der schiefen Fahrbahn einige Probleme. Ringsherum sehe ich zumeist graue, wohl größtenteils unsanierte Hallen und ein- bis zweistöckige Gebäude. Ich biege rechts ab, unter einer S-Bahnbrücke hindurch und bin jetzt in der Pfarrstraße. Hier ändert sich das Straßenbild. Vierstöckige Altbauten, meist bunte oder weiße Fassaden, die Häuser scheinen größtenteils saniert zu sein.60 Wurden die Gebäude der Victoriastadt nach dem 2. Weltkrieg kaum und dann in den 80er Jahren nur teilweise in Stand gesetzt, ist heute tatsächlich ein großer 59 60 Gude, Sigmar; Deutz, Lutz (2003): Sozialstruktur und Mietentwicklung in den Lichtenberger Sanierungsgebieten Kaskelstraße und Weitlingstraße 2002. Im Auftrag des Bezirksamts Lichtenberg, Abteilung für Stadtentwicklung, Amt für Planen und Vermessen, Fachbereich Stadtplanung – Stadterneuerung - . Berlin. S. 2. SB1, S. 2 - 49 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Teil saniert. Im Jahr 2002 lebten hier rund 8200 Menschen.61 Nachdem nach der gesellschaftlichen „Wende“ viele BewohnerInnen abwanderten, kam es um das Jahr 2000 herum - wie in anderen östlichen Innenstadtbezirken auch - zu einem Wiederanstieg der Bevölkerung. In den Jahren 1999 bis 2002 wuchs die Bevölkerung um deutliche 16,8 %. Der Ausländeranteil liegt mit rund 10 % leicht unter dem Berliner Durchschnitt von 13,5 %.62 Die Victoriastadt weist wie auch die Ostberliner Bezirke Friedrichshain und Prenzlauer Berg eine besonders junge Bevölkerungsstruktur auf. Während im gesamten Bezirk Lichtenberg 45 % der Einwohner 45 Jahre oder älter waren, sind es in der Victoriastadt nur 15 %. Besonders bemerkenswert ist, dass der Anteil der Kinder unter sechs Jahren in der Victoriastadt - entgegen der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung - im Zeitraum von 1996 bis 2002 kontinuierlich angestiegen ist. Als weiterer Beleg für einen großen Anteil an Familien mit jüngeren Kindern kann die starke Frequentierung der Kindertagesstätte „Buntstift“ im Stadtteil angeführt werden, die sich in Trägerschaft der SDL befindet. Wird die Erwerbssituation der BewohnerInnen des Stadtteiles betrachtet, so fällt im Zusammenhang mit der Altersstruktur auf, dass der Anteil der RentnerInnen mit 4 % sehr gering ist.63 Hingegen liegt der Anteil der Studierenden relativ hoch, jedoch etwas niedriger als in den „Studentenvierteln“ Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Auffällig ist weiterhin, dass sich die Einkommenssituation der BewohnerInnen deutlich verbessert hat. So stieg bei der Betrachtung der Sanierungsgebiete Lichtenbergs, zu der auch die Victoriastadt gehört, das durchschnittliche Einkommen der Haushalte in den Jahren 1999 bis 2000 um 250 auf 1730 (+17 %). Gleichermaßen lebte ein großer Teil der Bevölkerung weiterhin in relativer Armut so waren z. B. im Jahr 2002 40 % der Haushalte berechtigt, einen Antrag auf Wohnungsförderung zu stellen. Die Geschichte des untersuchten Trägers ist eng verknüpft mit der Geschichte des Stadtteils Victoriastadt. Die Wurzeln des Trägers liegen in der evangelischen 61 62 63 Diese und die im folgenden Abschnitt genutzten Daten sind der o. g., von Gude und Deutz verfassten Studie entnommen; vgl. S. 7 ff. Eigene Berechnung anhand von Auszügen aus dem Berliner Melderegister. Stichtag 30.06.2005, mit freundlicher Unterstützung der List-GmbH. Die in diesem Abschnitt verwendeten Daten sind ebenfalls der o.g. Untersuchung entnommen, s. Gude/Deutz 2003. - 50 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Jugendarbeit der DDR. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden in der Erlösergemeinde Lichtenberg alternative Angebote für Jugendliche, die aus der staatlichen Jugendarbeit der DDR ausgegrenzt wurden, geschaffen. Besonders Jugendliche aus subkulturellen Szenen (z. B. so genannte Rocker, Punks, Grufties und Skins) oder Jugendliche in psychosozialen Problemlagen (z. B. Obdachlose, Alkoholiker und psychisch Kranke) nutzten die Angebote der sozialdiakonischen Jugendarbeit in der Erlösergemeinde. 64 Die Vereinigung der alten Bundesrepublik mit der DDR erweiterte 1990 die Handlungsmöglichkeiten der SDL. Der heutige Geschäftsführer der SDL war damals als Sozialdiakon in der Jugendarbeit der Erlösergemeinde tätig. Gemeinsam mit engagierten MitstreiterInnen aus dem Kontext der Kirche und der Bürgerrechtsbewegung der DDR gründete er den Verein „Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V.“. Mit der neuen Rechtsform wurde die Grundlage für die weitere Entwicklung des Vereins gelegt. Die damaligen Akteure der SDL verließen die an der Peripherie des Stadtteils gelegenen kirchlichen Räume und taten damit - indem sie ihre Arbeit in eigenen Räumlichkeiten und unabhängig von der konfessionellen Ausrichtung fortsetzten - einen ersten Schritt in den sozialen Raum. Christof Buck - Projektleiter der Flexiblen Erziehungshilfen der SDL und mitverantwortlich für die sozialraumorientierte Arbeit - schildert diese Entwicklung wie folgt: „(…) der Verein ist gegründet am ersten Tag nach der Wende, also am 4. Oktober 1990, ist Micha Heinisch gleich zum Amtsgericht gegangen und hat den Verein eintragen lassen. Und das hat den Kiez glaube ich sehr verändert.“65 In den frühen 1990er Jahren besetzten Jugendliche aus der linken subkulturellen Szene einen leer stehenden Straßenzug in der Pfarrstraße. Jugendliche aus der Victoriastadt und dem angrenzenden Plattenneubaugebiet in der Frankfurter Allee Süd fühlten sich hingegen der rechten subkulturellen Szene zugehörig. Das hohe Konfliktpotenzial und die angespannte Situation führten häufig zu Eskalationen. Mitunter kam es zu gewalttätigen Straßenschlachten zwischen Gruppierungen der linken und rechten Szene. 66 Die SDL begann in dieser Zeit ihr erstes Beschäftigungsprojekt, in dem arbeitslose Jugendliche aus beiden Szenen miteinander handwerklich tätig waren und dabei ein marodes Haus im Stadtteil sanierten. Die64 65 66 vgl. SI1, S. 10 SI1, S. 23 Vgl. SI1, S. 3. - 51 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 ses durchaus mutige Projekt und das dadurch erste sanierte Haus leitete die Veränderung des Stadtteils ein.67 In einer Konzeption des Vereins heißt es dazu, die Arbeit mit den Jugendlichen und die Sanierung der Häuser habe „entscheidend zur Befriedung“ des Stadtteiles beigetragen, in dem „tätliche Auseinandersetzungen“ an der Tagesordnung gestanden hätten68. Auf diese Weise habe „sich der Verein mit seiner Arbeit fest im Quartier verankert“69. Die SDL stand am Anfang einer Entwicklung, in deren weiterem Verlauf zahlreiche Gebäude des Stadtteiles saniert wurden. Im Laufe der 1990er Jahre kam es zu einer Vergrößerung des Trägers. Im Mai 1993 begann das „Jugendwohnhaus“ als stationäre Einrichtung der Jugendhilfe in dem ersten sanierten Haus seine Arbeit. Das Angebot wurde von der SDL gemeinsam mit dem Jugendamt Lichtenberg entwickelt. Die Rechtsgrundlage: §§ 42, 34 SGB VIII i.V.m § 27 SGB VIII bzw. § 41 SGB VIII. Hier werden Jugendliche, die nicht mehr zu Hause leben können, stationär aufgenommen und sozialpädagogisch betreut. Es folgten weitere Projekte der beruflichen Beschäftigung und Ausbildung. 1995 wurden, auch in Kooperation mit dem Jugendamt Lichtenberg, die Flexiblen Erziehungshilfen, die alle Hilfeformen gemäß §§ 28 bis 35 SGB VIII i.V.m § 27 SGB VIII bzw. § 41 SGB VIII nach Bedarf des Einzelfalls realisieren, gegründet (s. dazu auch weiter unten). Die Projekte des Trägers sind untereinander gut vernetzt und bieten sich gegenseitige Unterstützung: So spielen die Einrichtungen der Jugendberufshilfe gemäß § 13 SGB VIII, die der Träger ebenfalls betreibt, eine tragende Rolle bei der Sanierung von Gebäuden im Stadtteil, die der Verein inzwischen erworben hat. In ihnen können zu einem späteren Zeitpunkt weitere Angebote des Trägers angesiedelt werden. Bei einem unserer Besuche in der gerade neu entstehenden Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“ trafen wir z. B. den Projektleiter des Ausbildungsprojektes „Hochbau“, der gemeinsam mit seinen Kollegen und den Auszubildenden an der Sanierung des Gebäudes arbeitet.70 Die Arbeit des Projektes liefert dabei einen zentralen Beitrag für eine kostengünstige Sanie67 68 69 Vgl. ebenda. Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg (2001): Sozialräumliche Jugend- und Begegnungsstätte in der Alten Schmiede. S. 8. ebenda - 52 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 rung des Gebäudes. Diese Form der internen Vernetzung und Unterstützung bietet der SDL die nötigen Ressourcen zur Realisierung eines sozialraumorientierten Zentrums, wie eben z. B. der im Aufbau befindlichen „alten schmiede“. In der Konzeption der „alten schmiede“ heißt es, die Eröffnung des Stadteilzentrums sei „der nächste Schritt“ in der Entwicklung der Stadtteilarbeit des Trägers.71 Eine Voraussetzung für die Entwicklung des Projektes war, dass die SDL bis zum Jahr 2001 schrittweise Eigentümerin des Grundstückes werden konnte. Seit dem Jahr 2003 wird das Gebäude nun „unter der Beteiligung von Anwohnern, Projekten der Jugendberufshilfe“72 sowie weiterer Akteure auch aus dem sozialen Raum saniert. Um die BürgerInnen in die Planung mit einzubeziehen und ihre Bedürfnisse überhaupt in Erfahrung zu bringen, ließ die SDL zunächst eine „aktivierende“ Befragung der BewohnerInnen des Stadtteiles durchführen. Im Auftrag des Trägers wurden an alle Haushalte der Victoriastadt umfangreiche Fragebögen verteilt: Ermittelt wurden bspw. die Vorstellungen der Menschen über mögliche Angebote, Nutzungsmöglichkeiten und eigenen Aktivitäten der „alten schmiede“, aber auch allgemeine Einschätzungen etwa über die Vorzüge und die Probleme des Lebens in der Victoriastadt. Schließlich schrieb die SDL einen Architekturwettbewerb aus. Es gelang dem Träger die Akteure des sozialen Raums in die konkrete Entscheidungsfindung über den Architektenentwurf mit einzubeziehen: Der Entscheidungsprozess wurde gemeinsam mit den BürgerInnen und VertreterInnnen der beteiligten Verwaltungen gestaltet.73 Daraufhin begann bereits die Stadtteilarbeit mit den BürgerInnen, wobei für sozialkulturelle Veranstaltungen bisher auf andere Räumlichkeiten des Trägers zugegriffen wurde. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung waren bereits große Teile der „alten schmiede“ bezugsfähig und die ersten Projekte hatten unlängst ihre Arbeit dort aufgenommen. Nach vollständiger Fertigstellung soll das Gebäude den bereits ansässigen offenen Jugendklub und weitere soziale Projektes des Vereins wie z. B. die Flexiblen Erziehungshilfen beheimaten. Überdies soll das 70 71 72 73 S. a. SB4, S. 5f. Sozialdiakonische Arbeit Victoriastadt (2005): Sozialräumliche Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“. Gemeinwesenorientierte Stadtteilarbeit mit dem Schwerpunkt im Stadtteil NeuLichtenberg. S. 3. ebenda Vgl. SI1, S. 19 - 53 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Zentrum Platz für gemeinwesenorientierte Stadtteilarbeit, etwa für ein Bürgercafè, für soziale Beratungen und Gruppenaktivitäten, bieten, aber auch als Veranstaltungsort sowie für Feste und Feierlichkeiten genutzt werden.74 Die MitarbeiterInnen sprechen in Bezug auf die „alte schmiede“ von einer möglichen „Begegnungsstätte zwischen Jung und Alt“.75 Ein anderer Mitarbeiter äußerte uns gegenüber die Hoffnung, die „alte schmiede“ könne zu einer weiteren Öffnung des Trägers führen, man wolle mit dem Zentrum „die Leute, die hier wohnen“76, stärker mit einbeziehen. So solle ein selbst organisiertes Café eröffnet werden, um den Eltern die Möglichkeit zu bieten, sich z. B. nach dem Abholen ihrer Kinder aus der benachbarten Kindertagesstätte auf einen Kaffee zu treffen, ein Gespräch zu führen und so in Kontakt miteinander zu kommen. Ein zentrales Projekt der sozialdiakonischen Jugendarbeit sind seit 1995 die Flexiblen Erziehungshilfen (s. a. oben), abgekürzt „Flex“. Bei der Gestaltung der flexiblen Hilfen bieten die MitarbeiterInnen „Hilfen aus einer Hand“. D. h., ein Wechsel der Hilfeart, auch von ambulanten in stationäre Formen, ist bei gleichzeitiger Betreuungs- und Beziehungskontinuität möglich. Üblich ist etwa, dass ein Mitarbeiter, der zunächst mit einem Jugendlichen in einer ambulanten Einzelfallhilfe arbeitet, zu einem späteren Zeitpunkt die ganze Familie des Jugendlichen in einer ambulanten Familienhilfe weiter betreut. Genauso ist es möglich, dass z. B. ein Jugendlicher - unter Beibehaltung der Bezugsperson - in das ebenfalls angebotene betreute stationäre Einzelwohnen wechselt. Die MitarbeiterInnen versuchen hier maßgeschneiderte Hilfen anzubieten, die sich nicht in erster Linie an dem Wortlaut der Gesetzestexte orientieren, sondern direkt an den Bedürfnissen und dem Bedarf der Menschen ausgerichtet sind. Professor Wiesner77 hat mal gesagt, ich krieg das wörtlich nicht mehr hin, aber so ungefähr, dass alles, was im KJHG steht, eine lockere Aufzählung von Möglichkeiten ist, aber kein geschlossenes System. (…) Diese Versäulung der Paragraphen steht eigentlich eher jeder Kreativität im Wege. Und das ist ein Spagat weil - wenn wir formal eine Hilfe installieren, dann gucken wir nach den Inhalten und das nachher in einen Kostensatz oder einen Paragraphen zu kriegen, das mache ich dann schon. Aber es wäre ja unsinnig, wenn wir ne Leis- 74 75 76 77 Vgl. Sozialdiakonische Arbeit Victoriastadt 2005, S. 3. SB2, S. 15 SI1, S. 30 Gemeint ist Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner, Ministerialrat und Leiter des Referates Kinderund Jugendhilferecht im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. - 54 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 tung nicht bringen können, die jemand ganz dringend braucht (…). Also mischen wir das Ganze.78 Als erfolgreiches Mittel, um in Kontakt mit den BewohnerInnen des Stadtteiles zu kommen, wird von Seiten des Trägers das Veranstalten von Festen beschrieben. So organisiert die SDL beispielsweise bereits seit 1998 ein jährlich stattfindendes Sommerfest, das „Viva Victoria“. Gemeinsam mit engagierten BürgerInnen - besonders aus der Betroffenenvertretung79 - und Gewerbetreibenden des Stadtteils gelang die Etablierung dieser Veranstaltung, die jährlich von mehreren hundert Menschen besucht wird. Zur Übersicht sollen hier noch einige aktuelle sozialräumliche Aktivitäten80 der SDL in der Victoriastadt stichwortartig genannt werden: - Etablierung offener Jugendarbeit gem. § 11 SGB VIII und Flexible Erziehungshilfen (HzE) in einem Haus - Öffnung der Kindertagesstätte „Buntstift“ als Kommunikations- und Veranstaltungsort für die Familien (z. B. Elterncafé, Kindergeburtstagsfeiern) - Unterstützung der von den BewohnerInnen organisierten sozialkulturellen Veranstaltungen in den Räumen des Ausbildungsrestaurants „Am Kuhgraben“ - Angebote der Elternbildung und von Elternkompetenztraining im Stadtteil (in Kooperation mit dem Jugendamt Lichtenberg) - Koordination des jährlich stattfindenden Stadtteilfestes „Viva Victoria“ mit Beteiligung sozialer, bürgerschaftlicher und gewerblicher Akteure im Stadtteil - Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, Beschäftigung und Berufsausbildung für erwerbslose Jugendliche und Erwachsene (gemäß SGB VIII und SGB II) 81 78 79 80 SI1, S. 31 Die Betroffenenvertretung ist ein von der öffentlichen Hand gefördertes Gremium zur Beteiligung von BürgerInnen in den so genannten Sanierungsgebieten. Insbesondere setzen sich die hier engagierten BürgerInnen für die Rechte der Mieter und Mieterinnen im Laufe eines Sanierungsverfahrens ein. Die für die Öffnung zum Sozialen Raum wichtigen Faktoren bestehen allerdings nicht nur in den hier benannten konkreten Projekten. So trägt unserer Ansicht nach etwa auch das Selbstverständnis der SDL zu einer gelingenden sozialräumlichen Arbeit bei. Siehe dazu auch am Ende dieses Abschnittes unter Faktoren des Gelingens. - 55 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Die Erweiterung der Stadtteilarbeit in der Victoriastadt im Zusammenhang mit der Eröffnung der Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“ wird im Jahr 2006 vom Bezirksamt Lichtenberg mit einer Personalstelle gefördert. Geplant sind vor allem die Initiierung von Beratungsangeboten wie Sozialberatung, Mieterberatung, Jugend- und Familienberatung, Unterstützung von Selbsthilfegruppen und ehrenamtlichen Aktivitäten der BewohnerInnen, sozialkulturelle Veranstaltungen. Betrachtet man das professionelle Selbstverständnis der SDL, so ist möglicherweise ein weiterer Blick auf die Geschichte des Trägers sinnvoll. Wir gewannen während unserer Untersuchung den Eindruck, dass der kirchliche Hintergrund des Vereins möglicherweise ein wichtiger Faktor für das Selbstbild der SDL ist, dass sozusagen eine Übertragung des kirchlichen Selbstverständnisses in die säkulare Arbeit der SDL stattgefunden hat.82 So beobachteten wir, dass sich die MitarbeiterInnen des Trägers bei Anliegen von Hilfesuchenden immer wieder zuständig fühlten, egal ob sie nun formal beauftragt waren zu helfen oder nicht. Es gelang ihnen, den Menschen, die Kontakt suchten, mit offenen Augen und Ohren zu begegnen. Wir hatten bisweilen den Eindruck, dass diese Offenheit etwas von der Zugewandtheit eines Diakons oder einer Diakonin hat, der/die sich um ihre (Kirchen-)gemeinde sorgt und kümmert. Möglicherweise ist hier also die Orientierung hin zum sozialen Raum bereits auf dem Hintergrund eines kirchlichen bzw. sozialdiakonischen und an der Gemeinde ausgerichteten Selbstverständnisses verwirklicht worden. Zu diesem Bild der Zugewandtheit passt, dass uns Herr Buck berichtete, sehr häufig kämen Eltern in die Räume der „Flex“, fragten „einfach“ nach ihm und bäten um Rat. Themen seien z. B. alltägliche familiäre Fragen, wie das Aufräumen des Kinderzimmers, aber auch in drängenden familiären Konflikten. Oft kämen die Eltern – wohlgemerkt, ohne dass die Familien zuvor bekannt seien oder sie 81 82 Neben den hier erwähnten Einrichtungen betreibt der Träger zahlreiche weitere interessante Projekte. Eine detaillierte Beschreibung wäre sicher sinnvoll, würde jedoch über den Rahmen des Berichtes hinausgehen. Eine formale Kirchenzugehörigkeit sowie religiöse Handlungen sind bei der SDL nicht Bestandteil der Arbeitsverhältnisse und des Alltages. - 56 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 eine Hilfe des Trägers in Anspruch nehmen würden – „mit heiklen Geschichten“83; es gehe dann nicht nur um „’Mein Kind räumt nicht auf`’“ 84. All das weist darauf hin, dass ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses der SDL darin besteht – auch neben den eigentlichen sozialen Dienstleistungen - ,ein offenes Ohr zu haben und sich für die Belange und Bedürfnisse der BewohnerInnen des Stadtteiles zuständig zu fühlen. Auf die Frage, wie sich der Träger in seiner Arbeit habe auf die Bedürfnisse der BürgerInnen einstellen können, sagte uns ein Mitarbeiter bezeichnenderweise, der Träger habe sich nicht den Bedürfnissen des Stadtteiles geöffnet, er sei vielmehr aus diesem entstanden. So ist eigentlich der Großteil des Kernvereins entstanden, aus dem Bedarf heraus, dass wir gesehen haben, da sind die Menschen, die brauchen irgendwas und lass uns doch mal überlegen, ob uns was dazu einfällt. Also [die SDL, d. Verf.] ist aus dem Kiez entstanden und nicht in den Kiez reingekommen (…).85 Dabei nahm die SDL entstehende Probleme der BewohnerInnen sensibel wahr und richtete ihre Angebote an neuen Bedarfen aus, nicht ohne sich dabei selbst auf Neues und Ungewohntes einzulassen. Als Beispiel kann der Bau und die Eröffnung der Kindertagesstätte „Buntstift“ angeführt werden: Die in der Victoriastadt bestehenden zwei Kindertagesstätten sollten aufgrund der bezirklichen Bedarfsplanung und ihres maroden baulichen Zustandes geschlossen werden. Daraufhin protestierten betroffene Eltern und baten die SDL gleichzeitig um Unterstützung. Die SDL unterstütze das Anliegen der Eltern und brachte sich selbst in politische Gremien des Bezirkes ein. Im Ergebnis sanierte die SDL mit „ihren“ Jugendlichen ein Gebäude, in dem schließlich eine moderne Kindertagesstätte entstand. So konnten die maroden Kitas geschlossen werden, während dem Quartier ein entsprechendes Angebot zur Kinderbetreuung erhalten blieb. Wichtig ist der SDL darüber hinaus, sich „bekannt zu machen“86 und öffentlich zu agieren. Dies lässt sich u. a. daran ablesen, dass der Träger in der lokalen 83 84 85 86 SI1, S. 20 ebenda SI1, S. 4 SI1, S. 20 - 57 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Presse regelmäßig präsent ist.87 Die SDL nutzt allerdings weitere Medien, um in Kontakt mit den Menschen zu treten. So dienen etwa Fahrradständer, Aufsteller und Schilder im Stadtteil dazu, die SDL selbst und ihre Angebote bekannt zu machen. Überdies erstellt die SDL eine monatliche „Kiezzeitung“, das „Kiez:G:Sicht“. In ihr wird über die Arbeit und die Aktivitäten des Trägers berichtet und es werden die nächsten Veranstaltungstermine bekannt gegeben. Hier schreiben Jugendliche und Bürger ebenso wie MitarbeiterInnen kleinere Beiträge. So werden etwa genauso „Das neueste Rezept“ aus dem Ausbildungsrestaurant veröffentlicht wie die letzte Jugendfahrt besprochen. Auch MitarbeiterInnen werden hier verabschiedet oder bei Beginn ihrer Arbeit kurz vorgestellt und herzlich willkommen geheißen.88 Ein weiteres Merkmal ist die Bedeutung des persönlichen Kontaktes in der Arbeit des Trägers. So fiel uns zu Beginn unserer Forschung auf, dass wir, wenn wir die Einrichtungen der SDL besuchten, von bestimmten zentralen Personen in Empfang genommen wurden.89 Auch der Übergang von einer Einrichtung zur nächsten wurde immer wieder durch zentrale Personen gestaltet. Wir selbst wurden stets freundlich, auf zugewandte, persönliche Art begrüßt und aufgenommen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden wir oft an eine weitere uns als kompetent angekündigte Person weitervermittelt oder sogar persönlich zu dieser Person begleitet.90 Dieses An- und Aufnehmen sowie der starke persönliche Kontakt ermöglichen es der SDL, Menschen zügig persönlich einzubeziehen, zum Mithandeln anzuregen und sie für eine Sache zu begeistern. Der distanzierte Besucher kann dies jedoch möglicherweise auch als zu sehr vereinnahmend 87 88 89 90 Um einen Eindruck über die Präsens der SDL in der Presse zu verschaffen sei nur eine Auswahl der Artikel genannt: s. z. B.: o. Verf. (2005): Eine alte Schmiede für den Kiez. Anwohner feiern Richtfest an der Spittastr. In: Berliner Woche, Nr. 27, 6. Juli 2005. S. auch: Engels, Volker (2004): Erzählen ohne Zeitdruck. In einem Berliner Plattenbau mit Kindertagesstätte entsteht ein Seniorenwohnheim. In: die Kirche, Nr. 48, 28. November 2004. Weiterhin: O. Verf. (2004a): Soziale Verelendung durch Armut. Wenn der Staat bei der Kinder- und Jugendhilfe die Mittel kürzt. Ein Interview mit Michael Heinisch. In: Diakonie, Nr. 1, Januar 2004. Ebenso: o. Verf. (2004b): Lesestunden und leichte Kost. Alt und Jung unter einem Dach: In einem Plattenbau an der Hedwigstraße soll Berlins erste Senioren-Kindertagesstätte entstehen. In: Berliner Zeitung, Nr. 227, 28. September 2004. Vgl. Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg e.V. (2006): KIEZ: G: SICHT. Zeitung der sozialdiakonischen Arbeit in Lichtenberg und Köpenick. Ausgabe 1/2006. Vgl. SB1; SB2; SB4, z. B. S. 1 und S. 7. Vgl. SB3, S. 7f; SB4, S. 7f. - 58 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 empfinden. Wie erging es unserem Forscher? Gleich nach dem ersten Gespräch in der SDL bot er bei der Verabschiedung spontan seine Mithilfe an und nahm einige Exemplare der Stadtteilzeitung „Kiez:G:Sicht“ mit über die Straße, um den leeren Zeitungsständer wieder zu befüllen. Bei der Kontaktaufnahme ohne persönlichen Kontakt bspw. per Telefon zeigte sich dieses Muster teilweise als hinderlich: Ein bestimmter Kontaktpartner oder eine bestimmte Kontaktpartnerin waren nicht erreichbar und so wurden mehrere Versuche nötig, um die zentrale Person zu erreichen.91 Von der Seite des Trägers wird ebenfalls betont, dass in der Arbeit mit den BürgerInnen der persönliche Kontakt von herausragender Bedeutung ist. Wichtiger Bestandteil der Arbeit sei es, Veränderungsprozesse „anzuschieben und Kontakte zu knüpfen“92. Grundsätzlich sagte uns Herr Buck dazu in dem von uns geführten Interview: Wenn man im Kiez aktiv wird und einfach bewusst durch den Kiez geht, dann bringt man Menschen miteinander in Kontakt, man grüßt sich, das fängt ja oft erst mit so einem vorsichtigem „Hallo“ an und irgendwann steht man an der Ecke und quatscht mal eine Runde. Daraus entwickelt sich ganz, ganz viel.93 Wichtig sei es, den BürgerInnen zugewandt zu begegnen, um so in Kontakt zu kommen. Auffällig war, dass Herr Buck tatsächlich mit großer Freude und Zugewandtheit über die Menschen sprach, mit denen er arbeitet. So erklärte er in unserem Interview mehrfach, dass er die Menschen des sozialen Raums sehr schätze – wörtlich betonte er: „Ich mag die Menschen einfach!“ Auch innerhalb des Trägers sieht Herr Buck einen Teil der Professionalität darin, die Vernetzung weiter voran- und die Mitarbeiter „untereinander in Kontakt zu bringen“94. Die Vernetzung zielt dabei darauf, es den MitarbeiterInnen zu ermöglichen, „auf die Kompetenzen und die Ressourcen der anderen zuzugreifen“95. Wichtiges Instrument in der trägerinternen Vernetzung der SDL ist dabei die so genannte „Leiterrunde“. Hier treffen sich die LeiterInnen der insgesamt 16 Pro- 91 92 93 94 95 Vgl. z. B. B1, S. 1; S. 6. ; B2, S. 1. SI1, S. 2 SI1, S. 34 SI1, S. 8 ebenda - 59 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 jekte des Träger, um sich „gegenseitig zu beraten und zu unterstützen“96. Es werden aktuelle Probleme und gemeinsame Vorgehensweisen erörtert. Neben dem Treffen in der Leiterrunde sei es aber genauso entscheidend, einfach in den Projekten vorbeizugehen, anzurufen, „weiter zu vernetzen und im Kontakt zu bleiben mit den Kollegen“97. Die so entstehende Vernetzung eröffne - neben dem gegenseitigen Zugriff auf die Kompetenzen der Anderen - die Möglichkeit, Jugendliche und Familien zwischen den Einrichtungen zu vermitteln, also auch untereinander konkurrenzfrei zu kooperieren und sich wechselseitig mehr finanzielle Sicherheit zu schaffen.98 Eine nach außen gerichtete Kooperation ist die SDL in jüngster Zeit mit „unerHÖRt e.V.“ eingegangen, einem Träger, der mit gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen und deren Familien arbeitet.99 Gemeinsam bieten die beiden Projekte Flexible Hilfen für gehörlose und schwerhörige Jungendliche an. Die SDL stellt immaterielle (Know-how) und materielle Ressourcen (Räume) für das betreute Wohnen zur Verfügung. Die speziell ausgebildeten MitarbeiterInnen von unerHÖRt e.V. ermöglichen ihrerseits einen spezifischen Zugang; sie verfügen über Kenntnisse in Gebärdensprache, unterstützen bei der Suche nach sozialen Kontakten u.v.m. Insgesamt betrachtet scheint der Fokus der SDL jedoch auf einer Vernetzung nach innen, einer „internen Vernetzung“ zu liegen. Diese enge Verbindung ermöglicht sicher, wie oben beschrieben, einen wechselseitigen Zugriff auf Ressourcen innerhalb des Trägers. Andererseits mag sie dazu führen, dass die SDL mitunter, so wurde uns geschildert, nach außen wie ein „geschlossenes System“, ein „closed shop“ wirkt.100 Viele der von der SDL realisierten Projekte waren nur in Kooperation mit dem öffentlichen Träger, dem Bezirksamt Lichtenberg, insbesondere dem Jugendamt, möglich. Die Kooperation war jedoch aus Perspektive des Trägers häufig nicht einfach und verlief nicht ohne Reibungen. So ist etwa aus Zeitungsartikeln aus dem Jahr 2004 zu entnehmen, dass die Übertragung einer Kindertagesstätte 96 97 98 99 100 SI1, S. 9 SI1, S. 8 Vgl. SI1, S. 8f, 23f Vgl. SI1, S. 9 Vgl. SI1, S. 23f. - 60 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Unstimmigkeiten zwischen Eltern, der SDL und dem Bezirksamt auslöste. Aus Sicht des Vereins wird ein Zusammenhang zwischen der Geschlossenheit des eigenen Trägers und den Kommunikationsschwierigkeiten hergestellt. So wurde im Experteninterview bemerkt, dass die eigene Arbeit nach außen „wirklich besser transparent“101 gemacht werden müsse. Die eher zurückhaltende Einstellung der SDL gegenüber dem öffentlichen Träger begründet sich möglicherweise auch aus der Geschichte des Trägers. Als soziale Arbeit innerhalb der Kirche war die Sozialdiakonische Jugendarbeit außerhalb der staatlichen DDR–Jugendhilfe tätig. Häufig wurden Jugendliche zu dieser Zeit auch vor staatlichem Zugriff, welcher in einigen Fällen sogar zu Inhaftierungen geführt hätte, geschützt. Ein Teil des Misstrauens gegenüber staatlichen Institutionen mag bis in die heutige Zeit erhalten geblieben sein. Ebenso nimmt die SDL auch heute noch eine Fürsprecherrolle und anwaltschaftliche Funktion für die BürgerInnen gegenüber dem Staat ein. Beispielsweise informiert sie die Menschen über ihre Rechte, legt selbst Wert auf sozialpolitisches Engagement in der Jugend- und Sozialpolitik und tritt etwa als „aktive Mahnerin“ in lokalen Gremien auf. Dennoch gelingt es der SDL und dem öffentlichen Träger, seit den Anfängen der Arbeit des Trägers auf produktive Weise zusammenzuarbeiten. So wurden in der Vergangenheit immer wieder innovative Ideen von der SDL an den öffentlichen Träger herangetragen oder gemeinsam mit diesem entwickelt, diskutiert und schließlich umgesetzt. Aufgrund der Größe und Vielfalt des Trägers ist eine vollständige Darstellung der Finanzierung der Projekte an dieser Stelle nicht möglich. Es handelt sich um eine so genannte Mischfinanzierung, wobei neben Jugendhilfemitteln weitere Finanzierungsquellen wie aus den Ressorts Soziales, Denkmalschutz, Stadtentwicklung, EU-Fördergelder, Spenden, Stiftungen, Kirche akquiriert werden. Die Letzteren dienen jedoch vor allem der Finanzierung der baulichen Kosten. Personalstellen können aus diesen Mitteln nicht finanziert werden. Die Basis für die Finanzierung der sozialräumlichen Arbeit bilden die Jugendhilfemittel. Das Jugendwohnhaus, die Flexiblen Erziehungshilfen sowie die Projekte 101 SI1, S. 24 - 61 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 der Jugendberufshilfe werden gem. SGB VIII über Entgelte finanziert. Diese ermöglichen zum einen die Finanzierung der Personalstellen, die Sanierung und Instandhaltung der Häuser durch die Projekte der Jugendberufshilfe sowie die offenen Beratungsangebote für die BürgerInnen im Stadtteil (also außerhalb der HzE-Arbeit) sowie die Koordination von Veranstaltungen und Straßenfesten. Die Entwicklungen in den letzten Jahren bringen diese Finanzierungsform für sozialräumliche Arbeit an ihre Grenzen: Die Jugendberufshilfe hat erhebliche finanzielle und personelle Einbußen hinnehmen müssen und auch die anderen entgeltfinanzierten Projekte sind unter erheblichem finanziellem Druck. So „stopft“ die für 2006 vom Bezirk bewilligte Stelle für die Stadtteilarbeit derzeit ein „Loch“, welches eine längere Entstehungszeit hinter sich hat. Wie die sozialräumliche Arbeit zukünftig finanziell abgesichert werden kann, ist derzeit offen. Allerdings werden mit der Sanierung der Jugend- und Begegnungsstätte „alte schmiede“ räumliche und materielle Werte im Stadtteil geschaffen, welche die soziale Infrastruktur des Quartiers nachhaltig aufwerten. Die finanzielle Situation wird von Seiten des Trägers als zentrales Problem der betroffenen Menschen gesehen. MitarbeiterInnen äußerten die Befürchtungen, benötigte Hilfe nicht länger anbieten zu können: Die Sparmaßnahmen, hier in Berlin, die über die Bedürfnisse der Menschen hinweggehen, das macht mir richtig Sorgen. Wo es darum geht, möglichst viel Geld zu sparen und nicht die Menschen, die Hilfe brauchen, zu unterstützen.102 Einen möglichen Ausweg aus der Finanzmisere sehen die MitarbeiterInnen der SDL durchaus in der sozialraumorientierten Arbeit. Diese sei in der Lage, langfristig Einsparungen zu ermöglichen. So wird als ein Ziel der eigenen Arbeit beschrieben, dass Menschen - die aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen und mit unterschiedlichen Ressourcen ausgerüstet sind – sich im sozialen Raum begegnen und unterstützen können. Dafür benötigten die Menschen allerdings zunächst Strukturen, die ihnen diesen Kontakt überhaupt ermöglichen: „Da muss erst mal was passieren, damit die [Menschen, d. Verf.] überhaupt in Kontakt miteinander treten können.“103 Erst dann sei es machbar „Brücken zu bauen“104 und im sozialen Raum vorhandene Ressourcen zu erschließen. Kurzfristig sei für die 102 103 104 SI1, S. 42 SB2, S. 11 SB2, S. 12 - 62 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Arbeit allerdings eher der Einsatz zusätzlicher Geldmittel für den Aufbau von Strukturen nötig, die dann zu einem späteren Zeitpunkt mögliche Einsparungen bewirken könnten. Zusammengefasst können folgende Faktoren des Gelingens sozialräumlichen Handelns der SDL formuliert werden: - Die MitarbeiterInnen der SDL bewegen sich mit offenen Augen und Ohren durch den Stadtteil. Sie sind sensibel für die Bedürfnisse der BürgerInnen und fühlen sich auch außerhalb der professionellen sozialen Dienstleistungen des Trägers für die Belange der BürgerInnen zuständig und verantwortlich. - Die SDL ist untereinander gut vernetzt (starke bonding-Beziehungen nach Robert Putnam). Die MitarbeiterInnen stehen in engem Austausch miteinander. Eine regelmäßig tagende „Leiterrunde“ ermöglicht den Austausch wichtiger Information. Darüber hinaus bietet die trägerinterne Vernetzung einen Austausch materieller und immaterieller Ressourcen. - Die Arbeit des Trägers ist öffentlich und transparent für die BürgerInnen. Die BürgerInnen haben so die Möglichkeit, die Unternehmungen des Trägers wahrzunehmen, sich ein Bild zu machen, an ihnen teilzuhaben und sich zu beteiligen. - Die SDL schafft eine Öffnung zum sozialen Raum durch die Herstellung persönlicher Kontakte. Der Fremde wird in die SDL offen aufgenommen. Man begegnet Fremden zugewandt, sie werden integriert und in die Arbeit des Trägers mit einbezogen. - Der Verein orientiert seine Tätigkeiten an den Bedürfnissen und dem Bedarf der BürgerInnen. Es gelingt der SDL, die Organisation so flexibel zu gestalten, dass es ihr möglich ist, auf Bedürfnisse der BürgerInnen mit der Schaffung und/oder Neuausrichtung von Angeboten zu reagieren. Der Träger ist beständig innovativ. - Die SDL nutzt vielfältige Finanzierungsformen. Auf diese Weise lassen sich auch Projekte realisieren, die nicht alleine aus öffentlicher Hand finanziert - 63 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 werden. Die wechselseitige Unterstützung der Einrichtungen des Trägers sorgt dabei für eine größere wirtschaftliche Flexibilität. - Dem Träger ist es gelungen, sozialräumliches Handeln in jeden seiner Arbeitsbereiche zu integrieren. In den Einrichtungen des Trägers wird nicht nur die Frage nach der Öffnung zum sozialen Raum gestellt, sondern es werden vielfältige Kontaktpunkte und sozialraumorientierte Angebote (für die BürgerInnen des sozialen Raums) aktiv geschaffen. - 64 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 3.3 Fabrik Osloer Straße (FOS) Thomas Pudelko Die Fabrik Osloer Straße (FOS) liegt am südlichen Rand des so genannten „Soldiner Kiez“ im Wedding. Die beiden wichtigsten Hauptverkehrsstraßen sind die Prinzenallee, die später Wollankstraße heißt, und die Soldiner Straße selbst, die das Gebiet in Ost-West-Richtung durchzieht. In diesem Quartier wohnen ca. 15.000 Menschen. Fast 42 % dieser Personen besitzen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Dies ist im Vergleich zu der Quote im gesamten Stadtgebiet ein erheblicher Unterschied, die lediglich 13,6 % beträgt. Von den nichtdeutschen BewohnerInnen sind wiederum etwa die Hälfte Staatsangehörige der Türkei. Die Bewohnerstruktur weicht in weiteren Faktoren auf signifikante Weise vom Berliner Durchschnitt ab. Dies bezieht sich auf die Bewohner im Alter von 0 bis 18 Jahren, denen im Untersuchungsgebiet 22,9 % dieser Altersgruppe angehören. In der Berliner Gesamtbetrachtung sind dies jedoch lediglich 15,3 %. Und auch am anderen Ende der Lebensspanne ist der Unterschied reziprok zu beobachten. In der Gesamtberliner Statistik wurden 2005 im Alter von 55 und älter 29,7 % erfasst. Im Soldiner Kiez hingegen wohnen nur 20,6 % Menschen in diesem Lebensalter. Das Jugendalter (18-25 Jahre) und die Lebensmitte (25-55 Jahre) sind dagegen unbedeutend anders verteilt. So sind 46,2 % der Berliner zwischen 25 und 55 Jahre und im Soldiner Kiez 45,6 %. Insgesamt in Berlin sind 8,8 % im Alter zwischen 18 und 25 Jahren; im Untersuchungskiez beträgt der Anteil dieser Altersgruppe 10,8 %. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass die Bevölkerungsstruktur insgesamt im Quartier Soldiner Straße etwas jünger als im Berliner Durchschnitt und der Anteil nichtdeutscher Bevölkerung erheblich höher ist.105 Geprägt ist das Gebiet einerseits durch die es durchziehenden und auch durchschneidenden Hauptverkehrsstraßen mit Ladengeschäften und andererseits durch verkehrsberuhigte Wohnquartiere dazwischen, die bis auf wenige Ausnahmen (Kneipen, Rotlichtbars, Bäcker) ohne Ladengeschäfte sind. Dort heimisches Gewerbe ist deshalb nur in seltenen Fällen außerhalb der großen Verkehrsadern op- - 65 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 tisch ohne Ortskenntnisse auszumachen. Dies wird auch durch die Informationsbroschüre des Quartiermanagements (QM) bestätigt. Nur 6 % aller erfassten Gewerbebetriebe befinden sich demzufolge in den kleinen Wohnstraßen des Kiezes.106 Die Einwohnerstruktur spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Einzelhandelsgeschäfte wider, was beim Besuch im Quartier augenscheinlich war.107 Nach dem Sozialstrukturatlas befindet sich das Gebiet auf Rang 162 von 170108, was auf eine hohe soziale Belastung der Gegend verweist. Sowohl Gemüse/Obsthändler haben ihre Ware auf der Straße aufgebaut und preisen diese mit lauter Stimme meist in nichtdeutscher Sprache, was auch Sinn zu machen scheint, da vom Augenschein hier keine Deutschen zu sehen sind. Von den Ausschilderungen sind es vordringlich aus der Türkei oder dem arabischsprachigen Raum stammende Menschen, die hier ihre Geschäfte betreiben. Das Gelände der „Fabrik Osloer Straße“ ist identisch mit der ehemaligen Zündholzmaschinenfabrik „Albert Roller“ an diesem Standort. Diese wurde 1855 als eine der ersten Industrieansiedlungen im Wedding gegründet. Im Jahre 1890 zog die Firma in die Prinzenallee 24. Die Hof- und Quergebäude wurden in den folgenden Jahren gebaut. Die Firmenleitung entschied sich 1977 wegen ökonomischer Schwierigkeiten, das Werk in der Osloer Straße zu schließen. Der Gebäudekomplex wurde anschließend von der Sanierungsgesellschaft DeGeWo erworben. Um eine Besetzung des Geländes abzuwehren, schloss die DeGeWo 1979 mit dem Bund Deutscher PfadfinderInnen (BDP) einen ersten Nutzungsvertrag über vier Jahre. Es zogen verschiedene Projekte der Jugendarbeit ein bzw. wurden diese von der FOS initiiert. Neben einer Jugend- und Erwachsenen-WG begannen Musikgruppen die Keller als Übungsräume zu nutzen, es entstand ein Jugendladen in Trägerschaft der „Putte“, Ausbildungsprojekte nahmen 1981 (Wohnwerkstatt) und 1982 (Durchbruch) ihre Arbeit auf. Im Jahre 1982 wurde dann der Verein „Fabrik Osloer Straße“ gegründet, um Jugend- und Gemeinwesenarbeit mit Kunst und Kultur in eigener Trägerschaft ver- 105 alle Zahlen auf dieser Seite: (Melderechtlich registrierte Einwohner am 30.06.2005) mit freundlicher Unterstützung der LIST-gmbh 106 Soldiner Kiez e.V. Informationen rund um den Soldiner Kiez (o. J.) S. 32-47 (eig. Berechnungen) 107 FB 4, S. 1 108 Sozialstrukturatlas, Statistische Gebiete (2004), S. 44 - 66 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 knüpfen zu können. Mit dem Labyrinth Kindermuseum und der NachbarschaftsEtage betreibt die FOS inzwischen zwei inhaltlich arbeitende Projekte, die originäre Nachbarschaftsarbeit betreiben und in dem Kiez vernetzend arbeiten. Obwohl aus der Jugendhilfe kommend (Unterbringung, Betreuung, Ausbildung) wurde 1986 mit der NachbarschaftsEtage ein Treffpunkt für den Stadtteil ins Leben gerufen und damit eine Konzepterweiterung realisiert, um Gemeinwesenarbeit im Stadtteil zu ermöglichen. Die ersten Gründe dafür waren u. a. „eine Anlaufstelle für die Menschen der Umgebung zu bieten und die Ziele des Vereins Osloer Straße in die Öffentlichkeit zu tragen“109. Wurden anfangs eher kulturelle Angebote konzipiert, so gab es 1997 eine Neuorientierung Richtung Familienarbeit als sozialintegratives Konzept. Mit der Gründung des „Stadtteil Verbund für Nachbarschaftsarbeit und Selbsthilfe im Wedding“ wurde ein Impulsgeber für stadtteilbezogene Arbeit im Bezirk ins Leben gerufen, ergänzt durch Kulturveranstaltungen z. B. im Kindertheaterbereich. Inzwischen ist auch die Vernetzung mit anderen Einrichtungen im Ortsteil Gesundbrunnen und im Bezirk Mitte Bestandteil der Arbeit. Es gibt Angebote, wie Deutschkurse für Frauen (mit Kinderbetreuung), Integrationskurse für Frauen, Babymassage sowie - Geburtsvorbereitung für Paare, bei der das Erlernen von verschiedenen Atmungs- und Entspannungstechniken, die Vorbereitung auf die Zeit nach der Geburt und das Stillen sowie Kenntnisvermittlung über mögliche Geburtsverläufe und Gebärpositionen auf dem Programm steht. - Die Rückbildungsgymnastik dient den körperlichen Rückbildungsvorgängen und der Stärkung nach Schwangerschaft und Geburt. - Im Musikgarten werden kleine Kinder (1,5 – 3 Jahre) zusammen mit ihren Eltern spielerisch und mit viel Spaß an Musik herangeführt. - In der Schuldenberatung werden Hilfen bei der Lösung von Schuldenproblemen angeboten. - Das Angebot der homöopathischen Hausapotheke beinhaltet eine sanfte Hilfe für die ganze Familie für zu Hause und auf Reisen. 109 20 Jahre Fabrik Osloer Straße, (2002) S. 17 - 67 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 - In den Eltern–Kind-Gruppen treffen sich je nach Alter der Kinder einmal wöchentlich diese Gruppen um Kontakte zu knüpfen, zum Reden und zum Spielen. - Im Prager Eltern-Kinder-Programm erhalten Eltern individuelle, altersgemäße Spiel-, Kontakt- und Bewegungsanregungen für ihre Babys. - Die Schreibabyambulanz unterstützt anhand sanfter, körperorientierter Methoden Eltern und ihre Kinder dabei, die psychischen und körperlichen Spannungszustände zu begreifen, eigene Kräfte und Ressourcen zu entdecken und so Spannungssituationen zu lösen. - Das Ziel der Rückenschule ist das Erlernen einer physiologischen Körperhaltung, von rückengerechten Bewegungen, sinnvollen Rückenübungen und der Förderung von wirbelsäulen- und gelenkfreundlichem Bewegungsverhalten. Neben Spiele-Nachmittagen für SeniorInnen, Frühstückstreff für Frauen aller Nationalitäten, Yoga und Qi Gong gibt es einen (eindeutigen) Schwerpunkt mit der Zielgruppe Eltern/Kinder. Andere Angebote werden eng abgestimmt mit dem in der unmittelbaren Nähe gelegenen Nachbarschaftshaus Prinzenallee 58, das sich auf Immigranten- und Behindertenarbeit spezialisiert hat, so dass es keine unnötigen Dopplungen gibt. Soziale Beratung wird integriert in verschiedene andere Angebote, wie z. B. in die Schreibabyambulanz und das Frauenfrühstückstreff. Daneben gibt es eine psychologische Beratung Familienangehöriger von Alkohol- und Medikamentenabhängigen. Das Gelände und die Projekte der FOS bilden ein eigenes abgeschlossenes Viertel im Gebiet, welches gleichermaßen als beschützender und sicherer Ort und als ein sozial-kulturelles Zentrum mit vielfältigen Angeboten wirkt. Vor allem für Kinder und deren Eltern, aber auch die dort beruflich tätigen Menschen stellt es eine Art „Oase“ in der eher unwirtlichen äußeren Umgebung des Stadtteils dar. Hier finden Kinder, Jugendliche und Familien eine anregende Umgebung und viele Möglichkeiten der Beschäftigung, der Bildung und des Lernens. Merkmale sind das Nebeneinander und die Verbindung zwischen Wohnen, Arbeiten, sozialen und kulturellen Projekten auf dem Gelände der ehemaligen - 68 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Fabrik, die das Zusammenleben und Zusammensein vieler ganz unterschiedlicher Menschen ermöglichen. Der Gebäudekomplex besteht aus einem dreiflügeligen Riegel, von dem zwei Quergebäude abgehen, deren ehemalige Produktions- und Fertigungsräume den heutigen Bedarfen mit einem hohen Anteil baulicher Selbsthilfe angepasst wurden. Hinzu kommt das ehemalige Büro- und Wohngebäude an der Prinzenallee, welches heute die Putte und Wohngemeinschaften enthält. An der Osloer Straße liegt die ehemalige Montagehalle, in der heute das derzeit erfolgreichste Eigenprojekt, das Labyrinth-Kindermuseum, untergebracht ist, welches mit kindgerechten Ausstellungen, Fortbildungen und anderen Angeboten ein höchst anspruchsvolles Programm anbietet, z.B.: - Die kinderfreundliche Stadt. Kinder bauen eine Stadt. - Wir Kinder aus Takakunterbü. Kinderprogramm im Rahmen der Langen Nacht der Museen - Ganz weit weg — und doch so nah. Die Welt zum Anfassen - Fachtagung zum Thema „Weltreligionen“. Für Lehrer, Erzieher, Eltern und Interessierte Jedes der Projekte in der FOS hat eigene Räume, in denen die von ihnen vorgehaltenen Angebote realisiert werden können. So haben zum Beispiel die Ausbildungsprojekte Werkstätten und Unterrichtsräume, die Kultur- und Begegnungsprojekte Veranstaltungsräume und das Übernachtungsprojekt Gruppen- und Schlafräume. Neben diesen Räumen, die den einzelnen Projekten zur Verfügung stehen und auch bei Bedarf gemeinsam genutzt werden, steht das Hofareal zur Verfügung. Diese Ressource soll verstärkt für kulturelle Vorhaben nutzbar gemacht werden. Gedacht ist dabei an eine ganze Palette von Veranstaltungen wie Kindertheater, Modenschau, Puppentheater, Konzerte oder After-Work-Partys sowie Kindertrödel und Schülerfeten. Das Selbstverständnis der FOS war zu Beginn der Arbeit in den 70er Jahren stark auf das Quartier bezogen, vor allem als es darum ging, sich im Stadtteil zu verankern und als Einrichtung zu etablieren. Als dies nicht gelang, weil die politischen Kräfte im Wedding mit einem Projekt, das starke Anlehnungen an die Hausbesetzerszene besaß, nicht zusammenarbeiten wollten, orientierte sich die FOS stadtweit. Die Rückorientierung auf den engeren Sozialraum erfolgt seit den - 69 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 letzten fünf Jahren. Damit endete auch die Ausrichtung als links-alternative Insel „im bösen Heer der Sozial- und Christdemokraten“ und inzwischen „sind wir langsam attraktiv für Leute, mit denen wir früher nichts zu tun haben wollten“, wie im Experteninterview betont wird.110 Dies steht im direkten Zusammenhang mit der Person des Geschäftsführers (GF), der sich stark engagiert und am Quartiermanagement (QM) im Soldiner Kiez, welches alle im Gebiet aktiven Gruppierungen anspricht und deren Möglichkeiten offen legt und bündelt. Die Ressourcen der „Insel“ werden nun verstärkt wieder dem Stadtteil und seinen BewohnerInnen zugänglich gemacht. Die Kindertagesstätte (Kita) ist ein in der nächsten Umgebung angesiedeltes Angebot der FOS. Hierher kommen Kinder, aber auch deren Eltern, aus der direkten Nachbarschaft. Über sie wirkt die FOS über das abgeschlossene Gelände in den unmittelbaren Sozialraum hinein und öffnet gleichzeitig ihre Angebote. Dagegen hat das Labyrinth-Kindermuseum das Problem, die Kinder bzw. deren Eltern, in der direkten Nachbarschaft anzusprechen, da es betriebswirtschaftlich arbeitet und Eintritt nehmen muss, um weiter zu existieren. Für ein spezielles Angebot am Sonntag, was sich vor allem an die Kiezkinder richtet, wurden deshalb Drittmittel akquiriert. Die Orientierung der Jugendberufshilfeträger in das Quartier geschieht dagegen vor allem aus Gründen des ökonomischen Drucks, sich auf den Standort zu konzentrieren. Das Gleiche kann über die Jugendwohngemeinschaft gesagt werden. Diese letztgenannten Projekte sahen sich in ihrem Selbstverständnis bisher nicht nur auf das engere Wohnquartier bezogen, da sie eine Begegnung aus verschiedenen Stadtteilen in ihren Gruppen für wünschenswert halten. Diese neue Orientierung ist nicht konfliktfrei und stark personengebunden. Als ich angefangen habe, war ich erschrocken, wie wenig wir im Sozialraum überhaupt verankert sind. Da war eigentlich nur die Nachbarschaftsarbeit einigermaßen im Sozialraum verankert, aber auch nicht wirklich mit vielen Dingen. Das hat sich jetzt sehr verändert. Also, es geht jetzt immer mehr in den Sozialraum hinein, einerseits aus Überzeugung von mir und auch von noch einigen anderen Kollegen und Kolleginnen, andererseits auch durch den Druck von außen. Viele merken, dass der politische Weg in den Sozialraum zurückgeht und 110 FI 1, S.20 und 23 - 70 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 akzeptieren langsam, dass sie, wenn sie existieren und ihren Job sichern wollen, sich dem auch anpassen müssen.111 Die persönlichen Kontakte in dem Stadtteil tragen das Konzept der Sozialraumorientierung vorrangig. Hilfsmittel bei der Bedarfsfeststellung ist auch der Sozialstrukturatlas. Durch die Vernetzung im sozialen Nahraum gibt es viele Kontakte zu anderen Einrichtungen in der Umgebung. Vor allem das Labyrinth und die NachbarschaftsEtage kooperieren sehr eng mit den Schulen im Einzugsbereich. Bedarfe werden durch Anfragen z. B. an die NachbarschaftsEtage erkannt, wenn AnwohnerInnen für Veranstaltungen z. B. nach Räumen fragen. Teilweise werden aus Anwohneranfragen dann auch Programmpunkte entwickelt. In nächster Zeit sollen zwei neue Schwerpunkte bearbeitet werden. Zum einen soll versucht werden, die Gruppe der Senioren – auch unter dem Aspekt der Alterung der eigenen MitarbeiterInnen – mit entsprechenden Angeboten zu erreichen. Zum anderen sollen die Kontakte zu den Immigrantenvereinen ausgebaut und intensiviert werden. Die Frage dabei ist, wie es gelingen kann, die dort vor allem aktiven Männer und die bisher vor allem von Frauen genutzten Angebote der FOS in Einklang zu bringen. Hier ist kulturelle Sensibilität besonders notwendig. Andere Aspekte sind in Bezug auf Anfragen – zum Beispiel nach Räumen für Veranstaltungen – und die inzwischen begrenzten Ressourcen in mehreren Richtungen zu sehen. Wohnungsleerstand in der direkten Nachbarschaft soll für Jugendarbeit genutzt und Erdgeschossflächen sollen für die erweiterte Nutzung durch behinderte Menschen gestaltet werden. Mit diesen Aktivitäten werden einige Akteure der FOS das eigene Gelände verlassen und sich in den Stadtteil hinausbegeben. Unter dem „Dach“ des Vereins „Fabrik Osloer Straße“ arbeiten insgesamt elf Projekte. Dies sind zum einen die „Eigenprojekte“ der FOS - NachbarschaftsEtage und - LabyrinthKindermuseum Darüber hinaus gibt es noch die Jugendhilfeträger 111 FI 1, S. 24 - 71 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 - Wohnwerkstatt - Durchbruch und - Putte sowie die - Gästeetage des BDP. Als kleine eigenständige Wirtschaftsbetriebe existieren eine - Druckwerkstatt - Tischlerei - KFZ-Werkstatt - Schlagzeugschule sowie neuerdings eine - Firma für Gebäudetechnik. Zwischen den Projekten in der FOS entwickelt sich die Zusammenarbeit auch inhaltlich immer stärker. Beispielsweise zu den Themen Gesundheit und Mobbing unter Kindern gab es konkrete Veranstaltungen, die zusammen durchgeführt wurden. Die Projekte nehmen aber auch gegenseitig die Angebote wahr oder entwickeln sie zusammen. Und natürlich engagieren sich die Handwerksprojekte seit Beginn der FOS-Arbeit auf dem gesamten Gelände – helfen beim Ausbau und der Reparatur. Darüber hinaus gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarschaftshaus Prinzenallee 58, die auch in einem Kooperationsvertrag besiegelt wurde. Dieser firmiert unter dem Namen „Stadtteilverbund Wedding“. Die inhaltliche Arbeit wird bereits sehr eng aufeinander abgestimmt. Hier gibt es seitens des Landes Berlin massive Bestrebungen, aus dem Kooperationsvertrag hinaus zu einem gemeinsamen Trägerschaftsmodell zu kommen, d. h. dass beide Einrichtungen nicht nur eng zusammenarbeiten, sondern auch strukturell und organisatorisch ihre Eigenständigkeit aufgeben. Wir haben die Inhalte mit der Prinzenallee 58 eng abgestimmt. Wir haben jetzt den Schwerpunkt auf Nachbarschaftsarbeit/ Familienarbeit und Kinderarbeit, die P58 hat Immigration und Behindertenarbeit als Schwerpunkte gehabt. Es - 72 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 vermischt sich aber immer mehr. Wir haben verschiedene Projekte, die gemeinsam entwickelt wurden, z. B. die „Freiwilligen- Agentur“.112 Insbesondere beim Projekt Labyrinth gibt es eine Mischfinanzierung aus Landesfinanzen, Eigenmitteln der FOS und Einnahmen aus Eintrittsgeldern. Hinzu kommen Drittmittel, die für bestimmte Vorhaben akquiriert werden. Die NachbarschaftsEtage bekommt einen Finanzierungsanteil wiederum über die Beteiligung am Stadtteilzentrumsvertrag und über Eigenmittel der FOS. So müssen sich inzwischen alle Projekte in der FOS um weitere Fördermöglichkeiten bemühen oder ihre Angebote neu strukturieren, um weiter existieren zu können. Dies reicht von Leistungsverträgen über Landeszuwendungen bis hin zu Eigenmitteln aus gemeinnützigen Wirtschaftstätigkeiten. Dagegen ist die Möglichkeit, über Spenden etwas zu finanzieren, im Einzugsgebiet nur minimal möglich. So gelingt es bspw. dem Labyrinth, als dem Projekt mit der weitreichendsten Bekanntheit, nur 0,05 % der Finanzierung über Spenden abzudecken. Da gibt es einige Leute, die Mitglied im Förderverein sind, ich zum Beispiel (lacht).. Also wir haben nicht so richtig finanzkräftige Leute. Wir haben im Moment jemanden mit viel Geld, bei dem wir hoffen, dass er vielleicht mehr einsteigt Aber. Hm, wer weiß...???.113 Deshalb sind auch die Versuche verstärkt worden, über das Programm „Soziale Stadt“ an Gelder zu kommen. Allerdings ist jetzt schon absehbar, dass mit dem Auslaufen der QM-Gelder im Jahre 2007 wieder neue Wege gesucht werden müssen. Problematisch ist die finanzielle Lage deshalb geworden, weil die Jugendhilfeprojekte nur noch wenig von den bezirklichen Jugendämtern in Anspruch genommen werden und bei einem wirtschaftlichen Zusammenbruch eines dieser Projekte auch die Mieteinnahmen für die Fabrik wegfallen würden, was in der Folge eine Gefahr für die Finanzierung der NachbarschaftsEtage und des Labyrinth Kindermuseum, aber grundsätzlich für das Gesamtprojekt darstellt. Hieraus ist ein Aspekt entstanden, der auf Gefahren bei bestimmten Entwicklungen hinweist, dass eine Verbindung, die aus einer Vernetzung unter spezifischen Bedingungen entsteht, ein erhebliches Risiko bei zu enger Verbindung bedeuten kann. Verbünde, die auch wirtschaftlich aneinander gekoppelt sind, können für größere Einheiten existenzbedrohend werden. 112 FI 1, S. 10 - 73 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Während es in der Vergangenheit nur wenig Absprachen und Kooperationen mit dem Bezirksamt gab, hat sich die Zusammenarbeit mit den bezirklichen Amtsstrukturen inzwischen positiv entwickelt. Doch was inhaltlich leichter geworden ist und aufgrund von persönlichem Engagement Einzelner die Arbeit vereinfacht hat, ist auf der Ebene der Abrechnungsverfahren komplizierter und aufwendiger geworden. In der Verwaltung hat sich auch was bewegt. Mit Hilfe des Generationsumbruchs scheiden einige aus, die gehen jetzt in Rente. Die Kooperation mit verantwortlichen Stellen und der politischen Führung ist ganz glücklich für uns gelaufen im Bezirk und wird immer besser, aber leider auch immer bürokratischer in den Abrechnungsverfahren. Also, unseren Standort zu fördern, soziale Projekte zu fördern, ja, Gespräche zu führen, ja, aber wenn es dann um Abrechnungen geht, um Leistungsverträge, ist es enorm bürokratisch, und dies nimmt zu. Und wir mussten schon zusätzliche Mittel investieren, weil wir das selbst nicht mehr leisten konnten, irgendwelche Abrechnungen dermaßen pedantisch auszuführen, wie es von der Verwaltung erwartet wird.114 Strukturell sind die einzelnen Teilprojekte inzwischen sehr professionell aufgestellt und arbeiten vor allem auf administrativer Ebene reibungslos zusammen. Dagegen werden neue Entwicklungen durch zwei Schlüsselpersonen initiiert, gewährleistet und vorangetrieben, die für das Gesamtprojekt FOS in den Sozialraum hineinwirken. Von zwei Personen, denk ich, hängt die gesamte Außenarbeit ab, das Initiieren von neuen Projekten, das Einreichen von Förderanträgen usw., wenn´s jetzt auf den Sozialraum bezogen sein soll, ansonsten arbeiten die einzelnen Projektteile selbstständig professionell. Und da haben sie jeweils Leute, die diese Sachen organisieren. Aber, ich denke, für das Gesamtkonstrukt sind´s im Moment zwei Personen, die entscheidend sind.115 Darüber hinaus tun dies die einzelnen Projekte für sich, teilweise, wenn es sich thematisch anbietet, auch zusammen. In der teilnehmenden Beobachtung der Projektbesuche ist die Kompetenz der MitarbeiterInnen in ihrem konkreten Handlungsfeld deutlich geworden. Diese wirkt nicht nur gegenüber den von außen kommenden NutzerInnen bzw. Nachfra- 113 FI 1, S. 7 FI 1, S. 20/21 115 FI 1, S. 20 114 - 74 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 gern, sondern auch in vielfältiger Weise nach innen in die Struktur der FOS. Es konnte beobachtet werden, dass eine große Identifizierung mit der FOS besteht. Während des Vorgesprächs zum Interview mit dem GF der FOS kam der Haushandwerker in das Büro und berichtete von einer Sachbeschädigung an der Wohnungstür einer der Wohngemeinschaften im Vorderhaus der Prinzenallee. Aus den Worten und der Weise, wie er sein Anliegen vortrug, war eine große Verantwortlichkeit zu erkennen, die über eine normale Arbeitsplatzidentifikation hinausreichte.116 Im Selbstverständnis des Trägers sind im Laufe der Zeit (immerhin seit 1978) verschiedene Veränderungen in der Selbstvergewisserung sowohl des Gesamtkomplexes als auch der verschiedenen Teilprojekte zu verzeichnen. Bei einigen dauern diese Veränderungen aktuell an. Ausgehend von der Neunutzung Ende 1978 durch Jugendhilfeideen in den „Neuen Sozialen Bewegungen“ mit weitgehenden Vorstellungen der Selbstverwaltung und Abkopplung von den damaligen gesetzlichen Möglichkeiten durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) und in der Folge einer Entgrenzung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, steht heute die FOS als ein Träger dar, der sich explizit auf die rechtlichen Rahmungen beruft (z. B. auf das SGB VIII und Möglichkeiten, die aus der Sozialraumorientierung erwachsen). Dieser Prozess ist nicht ohne Wandlungen des Selbstverständnisses des Trägers und seiner MitarbeiterInnen vor sich gegangen. Wurden anfangs alle Entscheidungen im Konsens auf dem Fabrikrat getroffen, so gibt es heute ein professionelles Management für die Gesamtanlage und in den einzelnen Projekten entsprechend ihrer Bedarfe, teilweise mit ausgelagerten Zuständigkeiten (z. B. Buchhaltung). Obwohl der Teamgedanke in den meisten Projekten der FOS weitgehend beibehalten wurde, was zum Beispiel heißt, dass gleichberechtigt Entscheidungen vorbereitet werden, so stellen sich diese Strukturen bei einigen Projekten als hinderlich dar, wenn es darum geht, Änderungen auf den Weg zu bringen, Einstimmigkeit bei Entscheidungen aber noch notwendig ist. Auf diese Weise werden zum Weiterbestehen notwendige Entscheidungen nicht oder nur sehr zögerlich getroffen. 116 FB 5, S. 1 - 75 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Möglicherweise hat die Ausdifferenzierung der Zuständigkeiten dazu geführt, dass die MitarbeiterInnen der Teilprojekte in ihrem Zuständigkeitsgefühl nicht mehr über alle im Komplex angebotenen Hilfen und Möglichkeiten informiert sind, und so nicht immer zielgerichtet verweisen können. Es wird dann auf zentrale Personen verwiesen, denen zugetraut wird, sowohl den Gesamtüberblick zu haben, als auch Detailwissen, z. B. über die Angebotsstruktur oder die Möglichkeit von Neuinstallation von Projekten unter dem Dach der FOS, zu liefern. Nach kurzer Zeit fing die Frau an, etwas zu suchen und gab uns dann einen Flyer, welcher Informationen zur Fabrik Osloer Straße enthielt. Sie sagt uns, dass sie selbst uns nicht weiterhelfen kann, und fragt eine Kollegin, welche in diesem Augenblick vorbeiging, wer wohl der geeignete Ansprechpartner für uns wäre. Ihre Kollegin antwortete nur kurz mit einem Namen. Durch ihre sehr reservierte Art zu reden hatten wir das Gefühl, dass die Frauen nicht wirklich Interesse an uns hatten. Die Angestellte, mit der wir vorher am Tresen sprachen, bat sich nun an, den Weg zu diesem Herrn zu zeigen. Sie führte uns einige Schritte ins Labyrinth und wies uns dann den Weg zum Büro des Herrn, dann wendete sie sich wieder ihrer Arbeit zu und ließ uns im Raum zurück.117 Einher mit der Tendenz zur Professionalisierung ging auch die Änderung der Orientierung vor allem der Jugendhilfeteilprojekte. Waren diese bis vor ca. fünf Jahren auf das gesamte Stadtgebiet ausgerichtet, so richten sie sich zunehmend am Sozialraum aus und informieren verstärkt dort über ihre Angebote. Eine Änderung ist auch bezüglich der Ansprache bestimmter Bevölkerungsgruppen eingetreten. Verstand sich die Mehrheit der FOS-Aktiven als in der Kinderund Jugendarbeit (incl. Elternarbeit) beheimatet, so wird nun auch der Blick in die andere Richtung gewendet und es gibt eine Veränderung des Selbstverständnisses Richtung Seniorenansprache. Aus der Entstehungsgeschichte des Projektes, die eine starke jugendpolitische Komponente hat, sind die aktuellen politischen Positionierungen zu verstehen, wenn der GF der FOS sagt: . . . und jetzt gibt‘s viele MAE–Kräfte, also die sogenannten 1-EURO-Jobs, bei denen wir uns gezielt nicht dafür ausgesprochen haben, Regiestelle zu werden, weil wir nicht daran verdienen wollen, weil wir sagen, das ist politisch der völlig falsche Weg. Auf einem Gelände Menschen für gleiche Arbeit unterschiedlich zu bezahlen soll bei uns nur auf freiwilliger Basis geschehen und beinhal- 117 FB 1, S. 3 - 76 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 tet ein großes Konfliktpotenzial. Das widerspricht unseren Vorstellungen von Menschenwürde.118 Die FOS nimmt nach wie vor eine soziale Verantwortung wahr, die sich auch in politischer Einmischung in regionalen Gremien äußert, dies auch auf die Gefahr hin, dadurch wirtschaftliche Nachteile hinnehmen zu müssen, wie im obigen Zitat deutlich wird. Die FOS kommt aus der Selbsthilfebewegung und trägt die Idee des bürgerschaftlichen Engagements seit ihrer Gründung in sich. Der Um- und Ausbau weiterer Teile des Gebäudes und der Außenanlagen sind in baulicher Selbsthilfe geschehen. Die dabei gesammelten Erfahrungen sind über die materielle Wertsteigerung für den Gebäudekomplex hinaus ein wertvoller Teil zur Herausbildung eines Selbstverständnisses gemeinschaftlich erbrachter Leistungen und sozialen Engagements. Die vom Jugendverband BDP 1979 maßgeblich betriebene Initiierung von Ausbildungsmöglichkeiten für benachteiligte Jugendliche in der FOS war hauptsächlich durch ehrenamtliche Mitglieder getragen, die seinerzeit so für diese Jugendhilfemaßnahme Umsetzungsmöglichkeiten erfanden und ohne diese Aktivitäten nicht denkbar waren. Gleiches gilt für die Wohnwerkstatt und die betreuten Wohngemeinschaften des BDP, die zeitweise ehrenamtlich von im Hause wohnenden Sozialpädagogen betreut wurden. Die Möglichkeit, Ideen aus dem Erleben von eigenen oder im Umfeld erfahrenen Bedarfen umzusetzen und dafür in der FOS räumliche und personelle Startressourcen vorzufinden, trägt wesentlich zum Gelingen der Arbeit im Quartier bei. So konnten spezielle Bedarfe vor allem von Müttern und anderen Frauen nachfrageorientiert ermittelt und aufgenommen werden. Diese so umgesetzten Entwürfe können im Schutz der FOS realisiert werden. Allerdings ist es für weitere interessierte Bürger nicht immer einfach, diese Angebote auch für sich zu nutzen, da nach einer gewissen Etablierung eine Art Closed-Shop entsteht, zu dem ein Zugang schwierig zu erreichen scheint. Das Bestreben, Netzwerke nach außen zu schaffen und „Brücken“ zwischen den vielfältigen Aktivitäten auf dem Gelände der FOS und dem Inneren des Stadtteils 118 FI 1, S. 10 - 77 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 zu bauen, wurde im Experteninterview deutlich benannt. Dies ist jedoch ein längerer Prozess, der Zeit benötigt. Es besteht eine prinzipielle Offenheit, sich der sozialen Probleme des Stadtteils anzunehmen und Angebote und Hilfen entsprechend zu modifizieren oder neu zu entwickeln. Die Veränderungsbereitschaft von Projekten und deren Flexibilität, bei Bedarf auch einen örtlichen Wechsel vorzunehmen und so anderen Ideen Platz zu machen, scheinen wesentliche Aspekte des Gelingens für die Öffnung in den Sozialraum zu sein. Insbesondere die Vorhaben im Kulturbereich scheinen dafür zu stehen. Beispielhaft werden in der Broschüre der FOS das WERKTHEATER WEDDING und das Programmkino EINSENSTEIN sowie das Hinterhofcafé genannt. Alle Vorhaben waren auf den Sozialraum ausgerichtet, konnten sich aber nicht verankern, wurden zu wenig nachgefragt oder waren in der Dimension zu waghalsig. Damit wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Bewohnerstruktur im Kiez enorm geändert hat und diese Änderung auch noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. So orientieren sich die Angebote immer stärker an Nachfragen von Immigranten, z. B. nach Integrations- oder Sprachkursen. Bisher konnte auch eine ausgewogene Nutzerstruktur bei den meisten Angeboten und Projekten erhalten werden, wo Menschen nichtdeutscher Herkunftssprache nicht unter sich bleiben. Wichtig scheint auch die äußere Rahmung zu sein, die es den verschiedensten NutzerInnen ermöglicht, sich in der FOS heimisch zu fühlen und gleichzeitig Ängste vor der vermeintlichen Größe des Gesamtkomplexes nicht aufkommen zu lassen. Bei uns bekommen sie ein kleines Frühstück, ein kleines Angebot, wir haben einen schönen Raum. Wir bieten die notwendige Kommunikation, dass sie auch ein bisschen das Gefühl kriegen, hier eine Heimat aufzubauen. Am Anfang einer Führung sagen manche: „Boah, was ihr hier alles habt!“ Diese Vielfältigkeit beeindruckt, macht auch Angst, hier einzusteigen. Und jetzt, diese Hemmnisse zu überwinden und zu sagen, Leute, wir sind keine Reichen, wir machen halt gemeinnützige Arbeit, wir haben keine Porsches vor den Türen, (lacht), weil wir das große Gelände hier betreiben.119 119 FI 1, S. 26 - 78 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Auch zeigt sich das Bestreben der Einbeziehung von BürgerInnen in stadtteilbezogene Gremien als schwierig. Es ist zwar möglich, sie im ersten Verfahren für eine Mitarbeit in den Quartiersräten zu gewinnen, doch dann gelingt es nicht, die persönliche Problematik, die häufig in die Gremien getragen wird, konstruktiv für die Quartiersentwicklung nutzbar zu machen. Diese Situation zu verbessern, wird als ein Anliegen verstanden. Zukünftig nicht nur die Vernetzung in den Sozialraum auszubauen und tragfähig zu gestalten, sondern auch ehrenamtliche und professionelle Arbeit in der FOS mehr zu verknüpfen, wird als die größte Herausforderung für die nächste Zukunft angesehen. Bei der FOS konnte eine Passung zwischen dem seit der Gründung bestehenden Anliegen der Förderung bürgerschaftlichen Engagements, also dem eigenen fachlichen Selbstverständnis, und dem Konzept der Sozialraumorientierung der Berliner Kinder- und Jugendhilfe bei gleichzeitig bestehendem hohem wirtschaftlichem Druck zum Erhalt bewährter, jedoch bedrohter Angebote, wie der Jugendberufshilfe, herausgearbeitet werden. - 79 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 4 Literatur Addams, Jane (1913): Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago. Berechtigte Übersetzung von Else Münsterberg. Nebst dem Bildnis der Verfasserin und einem Geleitwort von Alice Salomon. München. Aner, Kirsten (2004): Altersforschung im Dienst der Förderung freiwilligen Engagements? In: Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 35. Jg., H. 1, S. 50-64. BMAS - Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. 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Lenz, Karl; Schefold, Werner; Schröer, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim und München. Lüttringhaus, Maria (2001): Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang; Lüttringhaus, Maria; Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster. S. 263-267. Olk, Thomas (2000): Der "aktivierende Staat". Perspektiven einer lebenslagenbezogenen Sozialpolitik für Kinder, Jugendliche, Frauen und ältere Menschen. In: Müller, Siegfried; Sünker, Heinz; Olk, Thomas u. a. (Hrsg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied, Kriftel. S. 99-118. Oswalt, Philipp (2004): Schrumpfende Städte. Städtischer Wandel im Zeichen von Postfordismus und Globalisierung. Ostfildern. Putnam, Robert (2000): Bowling Alone. The collapse and revival of American community. New York u. a. 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Weinheim und München. Wolff, Mechthild (2000): Integrierte Erziehungshilfen. Eine exemplarische Studie über neue Konzepte in der Jugendhilfe. Weinheim und München. 5 Sonstiges Quellenmaterial Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg (Hrsg.) (2005): Ortsteilbeschreibung Lichtenrade. Broschüre. Engels, Volker (2004): Erzählen ohne Zeitdruck. In einem Berliner Plattenbau mit Kindertagesstätte entsteht ein Seniorenwohnheim. In: die Kirche, Nr. 48, 28. November 2004. Gude, Sigmar; Deutz, Lutz (2003): Sozialstruktur und Mietentwicklung in den Lichtenberger Sanierungsgebieten Kaskelstraße und Weitlingstraße 2002. Im Auftrag des Bezirksamts Lichtenberg, Abteilung für Stadtentwicklung, Amt für Planen und Vermessen, Fachbereich Stadtplanung – Stadterneuerung -. Berlin. o. Verf. (2004a): Soziale Verelendung durch Armut. Wenn der Staat bei der Kinder- und Jugendhilfe die Mittel kürzt. Ein Interview mit Michael Heinisch. In: Diakonie, Nr. 1, Januar 2004. o. Verf. (2004b): Lesestunden und leichte Kost. Alt und Jung unter einem Dach: In einem Plattenbau an der Hedwigstraße soll Berlins erste Senioren-Kindertagesstätte entstehen. In: Berliner Zeitung, Nr. 227, 28. September 2004. o. Verf. (2005): Eine alte Schmiede für den Kiez. Anwohner feiern Richtfest an der Spittastr. In: Berliner Woche, Nr. 27, 6. Juli 2005. o. Verf. Broschüre des Nachbarschafts- und Familienzentrum Finchleystr. (o. J.). o. Verf. Flyer der AHB-Berlin Süd gGmbH, Nachbarschafts- und Familienzentrum Finchleystr. (o. J.). o. Verf. Organigramm der AHB-Berlin Süd gGmbh (o. J.). o. Verf. Soldiner Kiez e.V. Informationen rund um den Soldiner Kiez (o. J.). o. Verf.20 Jahre Fabrik Osloer Straße, (2002). Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg (2001): Sozialräumliche Jugend- und Begegnungsstätte in der Alten Schmiede. Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, (2004) Sozialstrukturatlas Berlin 2003 (2004). - 82 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Sozialdiakonische Arbeit Victoriastadt (2005): Sozialräumliche Jugend- und Begegnungsstätte „alte Schmiede“. Gemeinwesenorientierte Stadtteilarbeit mit dem Schwerpunkt im Stadtteil Neu-Lichtenberg. Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg (2006): KIEZ: G: SICHT. Zeitung der sozialdiakonischen Arbeit in Lichtenberg und Köpenick. Ausgabe 1/2006. URL: www.ahb-berlin-sued.de (Zugriff: 12.02.2006). URL: www.fabrik-osloer-strasse.de (Zugriff: 26.02.2006). URL: www.kindermuseum-labyrinth.de (Zugriff: 15.03.2006). URL: www.nachbarschaftsetage.de (Zugriff: 12.02.2006). 6 Datenmaterial über die untersuchten Projekte Untersuch- Kürzel Datum Ort der Datengetes Projekt der Erhe- winnung bung NBF SDL NB 1 24.02.06 NB 2 16.03.06 NI 1 24.02.06 NI 2 16.03.06 Nachbarschafts- und Familienzentrum SB 1 02.02.06 Sozialraum Victoriastadt und Geschäftsstelle der SDL Sozialraum John-LockeSiedlung und Nachbarschafts- und Familienzentrum Nachbarschafts- und Familienzentrum Nachbarschafts- und Familienzentrum - 83 - Datenart Beobachtungsprotokoll Beobachtungsprotokoll Experteninterview mit der Koordinatorin der NBF Frau Barz Experteninterview mit der Geschäftsführerin der AHB Süd gGmbH, Frau StähleGrünewald Beobachtungsprotokoll Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Untersuch- Kürzel Datum Ort der Datengetes Projekt der Erhe- winnung bung 10.02.06 Geschäftstelle, Räume SB 2 der Flexiblen Erziehungshilfen, Jugendklub „Zwergenhöhle“ und „alte schmiede“ 23.02.06 Büroräume Flexible SB 3 Erziehungshilfen, Elterncafé in der „Kita Buntstift“ 23.02.06 s. o. SB 4 FOS SI 1 07. 03. 06 Jugend- und Begegnungszentrum „alte schmiede“ FB 1 23.02.06 FB 2 27.02.06 FB 3 02.03.06 FB 4 03.03.06 FB 5 16.03.06 FI 1 16.03.06 Kindermuseum in der Fabrik Osloer Straße Nachbarschaftsetage der Fabrik Osloer Straße Nachbarschaftsetage der Fabrik Osloer Straße Sozialraum Soldiner Kiez Fabrik Osloer Straße, Büro Geschäftsführer Fabrik Osloer Straße, Büro Geschäftsführer - 84 - Datenart Beobachtungsprotokoll Beobachtungsprotokoll 1 (Beobachter 1) Beobachtungsprotokoll 2 (Beobachter 2) Experteninterview mit Christof Buck, Stadtteilarbeit und Projektleiter Flexible Erziehungshilfen Beobachtungsprotokoll Beobachtungsprotokoll Beobachtungsprotokoll Beobachtungsprotokoll Beobachtungsprotokoll Experteninterview mit Martin Beck, Geschäftsführer der Fabrik Osloer Straße Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 7 Anhang 7.1 Leitfaden Teilnehmende Beobachtung nach: Rosenthal, Gabriele (2005): Ethnographische Feldforschung – Teilnehmende Beobachtung. In: dies.: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim und München. 1. Angabe der wesentlichen „objektiven Daten“ zum Ort, den anwesenden Personen, dem Zeitablauf und ggf. zur Organisation, in der die Beobachtung durchgeführt wurde 2. Informationen über den Zugang zum Feld 3. Grobe Niederschrift des Gesamtablaufs in der Abfolge des Geschehens . (sequenziell!) Dabei die Haltung des „Sich-Wunderns“ einnehmen, d. h. nichts für selbstverständlich nehmen, alles so sehen, als ob es das erste Mal ist (Prinzip der Befremdung). (Da nicht alles erfasst und im Gedächtnis behalten werden kann, werden einzelne Situationen besonders detailliert beobachtet und memoriert.) 4. Beschreibung von ca. zwei beobachteten Situationen in der zeitlichen detaillierten Abfolge des Geschehens mit Bezug zu der Gesamtbeobachtung. Diese detaillierte Beschreibung stellt den zentralen Teil des Protokolls dar. Dabei die Interaktionen zwischen den Menschen beobachten und aufschreiben, möglichst auch mit direkter Rede (Sprache des Feldes), die Perspektiven der unterschiedlichen TeilnehmerInnen herausarbeiten, auch herausarbeiten, was im Verlauf zwischen Beobachterin und Beobachteten passiert. 5. Soweit möglich sollte zwischen beobachteten Handlungsabläufen und Interpretationen unterschieden werden. Einschätzungen sollten nach Möglichkeit anhand von detailliert beschriebenen Beobachtungen belegt werden. 6. Niederschrift und Reflexion der eigenen Position im Feld: der Gefühle, der Eindrücke und der Assoziationen während der Beobachtung (während des Erlebens der Situation), danach sowie beim Schreiben des Protokolls. (Trennung der Zeitebenen: Was ist mir bei der Beobachtung aufgefallen?, Was ist mir später gekommen?, Was kommt mir jetzt beim Schreiben?) 7. Notieren von weiteren Überlegungen sowie Überlegungen für weitere mögliche Beobachtungen. Die Beobachtungen werden so aufgezeichnet, als seien sie für eine fremde Leserschaft, die wohlwollend ist, jedoch die Praxis/das Feld nicht kennt. Die Feldprotokolle haben demnach eine veröffentlichbare Form. Das Erlebte und Beobachtete wird so dargestellt, dass es später auch für die Analyse durch eine/n andere/n LeserIn zugänglich ist. - 85 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 7.2 Leitfaden Experteninterviews Wie kam es dazu, dass sich ein freier Träger der Jugendhilfe dem Sozialraum öffnet und Angebote und Ermöglichungsräume der Selbsthilfe, Kultur etc. für weitere BürgerInnen ermöglicht? Wie würdest du / würden Sie eure/Ihre Arbeit beschreiben? Worin besteht sie? Was macht euch/Sie zu einem Träger, der sich dem Sozialen Raum öffnet? Was führt zur Öffnung/zu Kontakt? Räume Personen Veranstaltungen Organisation Öffentlichkeitsarbeit Presse Ausrichtung an der Lebenswelt Bedürfnisse der BürgerInnen Wie bringt man sie in Erfahrung? Wie lassen sie sich aufgreifen/verwirklichen? Erreichbarkeit Quer zu Gesetzestexten und Zielgruppendefinitionen Umgang Finanzierung Welche Mittel? Jugendhilfemittel für Sozialraumprojekte? Spenden Eu-Mittel? Soziale Stadt? u. a. Kooperation Innerhalb des Trägers Mit anderen Organisationen Zwischen öffentlichen und freien Trägern Mit BürgerInnen - 86 - Forschungsbericht Sozialraumorientierung, April 2006 Vernetzung / Steuerung Mit anderen Organisationen Der BürgerInnen untereinander Wie lässt sich das machen? Steuerungsrolle des öffentlichen Trägers Strukturen schaffen/Räume schaffen Wie müssen die Räume aussehen? Wie müssen Strukturen beschaffen sein? Welches professionelle Können? Im Umgang mit den BürgerInnen/KlientInnen Gegenüber MitarbeiterInnen Im Umgang mit anderen Organisationen (und deren Vertretern) Beispiele gelingender Praxis Engagement der MitarbeiterInnen (Erwartung und Realität) Organisationsstruktur (Organigramm geben lassen) Motivation und Ziel der Arbeit Anspruch und Wirklichkeit, soziale Ausgrenzung zu überwinden (helfen) Motivation des sozialräumlichen Handelns Ziel des sozialräumlichen Handelns Was läuft gut? Was siehst du / sehen Sie als erhaltungswürdig an, wenn du eure / Sie Ihre Arbeit betrachten? (Claims) Was sollte sich ändern? Was bereitet Sorgen? (Concerns) Welche Streitpunkte und Konsequenzen ergeben sich aus den o.g. Punkten? Was würdest du / würden Sie verändern wollen? (Issues) (vgl. Langhanky u. a. 2004) - 87 -