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Zwischen Herausforderung und Hüttengemütlichkeit
Zu Fuss durch
Australiens Wetterküche
Text: Heidi Schmidt Fotos: Christoph Michel Tasmanien, die Insel südlich des australischen Festlands, ist ein ideales
Wandergebiet – zumindest wenn man bereit ist, sich auf wechselhaftes und garstiges Wetter einzulassen. Heidi Schmidt war
mit Christoph Michel und Andy Ebert sowohl auf der Western Arthurs Traverse wie auch auf dem Overland Track unterwegs.
W
ir liegen eingemummelt in unseren klammen
Schlafsäcken, mit
einem
leisen
«sschwf» rutscht
der Graupel vom
roten Zeltdach. Was hat uns bloss hierher verschlagen? Schon den zweiten Tag liegen wir
mitten im Nirgendwo im Zelt auf glitschigen
Holzpaneelen, draussen wechseln sich Schnee,
Regen und Graupel ab, um uns herum nur
Wildnis und die Bergkämme der Western Arthurs, eines Gebirgszugs im Southwest-Nationalpark in Tasmanien. Wir sind hier im Gebiet
der Roaring Fourties, sehr starke Westwinde,
die um den 40. Grad südlicher Breite wehen
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und für das unbeständige Wetter verantwortlich sind – wie gerade jetzt, obschon eigentlich
Sommer ist. Aber genau deswegen wollten wir
ja unbedingt hierher. Auf die Suche nach Herausforderung. Wir? Nein, eigentlich nur
Christoph und Andy, denke ich und drehe
mich auf die Seite. Ich wollte wegen der einmaligen Natur und dem Wildnisgefühl auf diesen Trail.
Einfach nichts tun. Hilft alles nichts. Egal warum und weshalb, Fakt ist, dass wir zusammen
am Lake Oberon liegen, unserem dritten Etappenziel, und nicht wissen, wann und ob wir
weiter können. Nicht nur wegen des Nass, das
die Wolken auf ihrer Reise von der Antarktis
nach Tasmanien über dem Meer aufnehmen,
sondern auch wegen des extremen Windes.
Vorgestern sind wir bei Windgeschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern vom
Lake Cygnus hierhergelaufen. Vier Kilometer
in vier Stunden. So lange braucht man bei diesen Bedingungen für das Gekraxel auf kaum
erkennbaren Wegen. Mit aufgeblasenen, flatternden Regenhosen und -jacken mussten wir
uns über den Grat kämpfen, hinter Felsen wegducken, damit es uns mit den dicken Rucksäcken nicht umwehte. Die Kapuzen so tief im
Gesicht, dass wir kaum etwas sehen konnten.
Die Mittagspause verbrachten wir zitternd in
einer Felsspalte bei einer heissen Gemüsebrühe. Triefend kamen wir am Lake Oberon an.
In der Nacht hat der Wind dann noch einmal aufgedreht, und es wurde kälter. An Wei-
TASMANIEN
Toilette: eine zu gross geratene Handgranate
mit einem Deckel drauf, verborgen zwischen
zwei Büschen. Dann heisst es, auf das brusthohe Ding klettern, Deckel aufschrauben, einen Fuss rechts, einen Fuss links und bloss
nicht riechen. Nur einmal im Jahr werden die
Behälter ausgeflogen und entleert. Es ist nicht
viel los auf der Western Arthurs Traverse –
mittlerweile allerdings so viel, dass der tasmanische «Parks & Wildlife Service» entschieden
hat, diese Toiletten einzurichten, damit nicht
überall die sonst üblichen 30 Zentimeter tiefen
Kuhlen gebuddelt werden. Des labilen Ökosystems wegen.
Zurück im Zelt braucht es dann mindestens
eine halbe Stunde, bevor man wieder halbwegs
trocken, warm und zufrieden in seinem Schlafsack liegt. So vergehen die Stunden, strukturiert durch solche Klogänge und Essen. Wir
reden kaum, dösen vor uns hin, nur Andy geht
öfter als nötig vor die Tür, rennt durch den Regen und behauptet in regelmässigen Abständen:
«Es reisst auf», was es aber nicht tut. Erstaunlich, wie man ohne Buch, Musik und Gespräch
ganz ohne Langeweile durch den Tag kommt.
Ein Zeichen dafür, dass wir in unserem Alltag
viel zu selten nichts tun. Nachholbedarf.
tergehen war nicht zu denken. Deswegen liegen
wir seit zwei Tagen im Zelt. Alles ist klatschnass,
bis auf den Schlafsack und das, was wir am Leib
tragen: ein Shirt, eine lange Unterhose, ein paar
Socken und eine Wollmütze. Diese Sachen sind
nur feucht. Erstaunlich, mit wie wenig man
sich angesichts dieses Wetters und der Unausweichlichkeit der Lage wohlfühlen kann. Hier
drinnen ist es warm und bequem, wir haben
genug zu essen und geniessen sogar echten italienischen Espresso aus der Macchina!
Rund dreimal am Tag wälzen wir uns aus
den Schlafsäcken und schlüpfen in die nasse
Wanderausrüstung. Nur dann, wenn die körperlichen Bedürfnisse nicht mehr aufgeschoben werden können. Einmal in den nassen Sachen drin, balanciert man über den Bach zur
nicht gereicht, sie durch Bewegung zu erwärmen. Alles Jammern nützt nichts – es muss geklettert werden. Geschafft.
Der Pfad schlängelt sich entlang des Grates,
der Regen prasselt schon wieder auf uns herab.
Die Route führt uns über die Beggary Bumps,
ins Geröll hinunter und durch stacheliges Gestrüpp wieder hinauf. Von einem Weg kann
nicht die Rede sein: feste, kleinwüchsige, aber
knorrige Äste verfangen sich zwischen den
Bändern des Rucksacks, reissen und zupfen an
Jacken und Hosen.
Erst am nächsten Tag kommt plötzlich die
Sonne: Mit einem Mal können wir ein paar der
30 tiefblauen Seen und 22 Gipfel sehen. Pause.
Wir reissen die feuchten Schlafsäcke heraus
und breiten sie zum Trocknen aus. Doch leider
sind die Wolken schnell zurück, aber zumindest fängt es nicht wieder an zu regnen. Die
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Muss das sein? Der schlammige Weg ist
ein Stimmungskiller.
Wildnistoilette. Vor dem «Geschäft» muss
der Deckel aufgeschraubt werden.
Regen und Nebel. Irgendwann muss das
Wetter besser werden.
Umkehren oder weitergehen? Ab und an stören uns die Ratten, die mittlerweile gelernt haben, dass sie bei den Zelten einfach an gutes
Essen herankommen. Sie knabbern unsere
Vorratssäcke, das Zelt und sogar meine Jacke
an – nur weil eine leere Müesliriegelverpackung darin ist. Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass es die saubersten Ratten der Welt
sein müssen. Ausser den verplombten Klobomben gibt es hier Hunderte Kilometer keine
Unreinlichkeiten.
Zum Abendessen gibt es heute Linsen, dazu
eine Ratte im Zelt und ein Krisengespräch.
«Wenn wir morgen nicht weiter können, müssen wir umdrehen», sage ich. Wir haben nur
noch dreieinhalb Tage, bevor uns das Shuttle
aus der Wildnis holt. Verpassen ist keine Option. 80 Kilometer sind es bis zum nächsten
Haus. Die Strasse, die zum Ende des Trails
führt, wurde für den Bau des dortigen Damms
errichtet und wird nur von ein paar Wildnisfreaks wie uns benutzt. Auch unser
Essen reicht nur noch so lange. Wir
hatten zwei Reservetage eingeplant.
Die sind jetzt aufgebraucht. Wir
schieben die Entscheidung auf.
Die Nacht wird noch einmal wild,
der nächste Morgen sieht dann aber
tatsächlich etwas besser aus: weniger
Wind, die Sonne schafft es fast durch
die Wolken. «Los gehts», sagen Andy
und Christoph. Hinein ins nasse Zeug,
den Rest zusammenpacken, wie er ist:
klamm bis klatschnass. Schon nach
zwanzig Minuten kommen wir an die
erste Kletterstelle. Meine Füsse und
Hände sind noch Eisklumpen und
nicht zu spüren. Die Zeit hat noch
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Sonne zeigt sich später noch einmal – passenderweise, als wir direkt an einem See vorbeikommen: Waschzeit. Zelt, Schlafsack, Hosen
und Jacken wehen im bleichen Sonnenlicht, wir
springen vergnügt ins eiskalte Wasser. Was für
ein Wohlgefühl nach den Tagen im miefigen
Schweiss.
Vermeintliche Abkürzung. Am nächsten Tag
bestätigt sich, was wir die ganze Zeit geahnt
haben: Wir kehren zurück in die Ebene, und
schon auf halber Höhe sehen wir, dass die Wolken wirklich nur am Kamm der Berge hängen.
Das Wetter, das direkt vom Südpol hierherrauscht, sammelt sich an der ersten Bergkette
der Insel: den Western Arthurs. Zwar sind sie
nur knapp 1000 Meter hoch, aber es reicht, um
die Wolken zum Abregnen zu motivieren.
Wir können den Weg schon sehen, der uns
weiter unten zurück zum Damm führen wird.
Gut sichtbar schlängelt er sich durch die Ebene.
Warum also dem offiziellen Pfad folgen, der
noch ein paar Kilometer nach Osten führt, bevor er wieder in Richtung Westen weitergeht,
wo unser Ziel liegt? In einer der Tourenbeschreibungen ist eine unmarkierte Abkürzung
erwähnt. Was soll schon schief gehen: Es gibt
kaum Wald, nur etwas Gestrüpp und drei Bäche, die zu queren sind. Aber natürlich finden
wir die richtige Spur durchs Gebüsch nicht und
stehen nach einigen Kämpfen mit Ästen, Stacheln und Blättern vor einer Wand: Bäume und
Büsche wachsen, wie es ihnen gefällt – von
rechts nach links, von oben nach unten und
ganz durcheinander. «Ich schaffs nicht», schreie
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Es klart auf. Endlich Ausblick auf die Berge
der Western Arthurs.
Steiles Gelände. Da muss man im
rutschigen Hang die Hände zu Hilfe nehmen.
Regencamp. Hier trocknen leider weder die
Trekkingkleider noch die Schuhe.
Crater Lake. Auf dem Overland Track ist das
Wetter besser, ab und zu zeigt sich die Sonne.
ich. Umkehren wollen wir trotzdem nicht.
«Moment mal», sagt Andy, schmeisst sich mit
seiner ganzen Kraft rücklings gegen das Geäst,
steht auf, dreht sich um und fängt wieder von
vorne an. So wuchtet er eine Schneise, durch
die wir uns schliesslich mit den fetten Rucksäcken zwängen können. «Was machen wir denn
da? Wir zerstören Urwald. Das geht doch
nicht!» Doch, das geht. Dieses Stachelzeug hat
nun wirklich nichts Schützenswertes an sich.
Der Wald ist von verkohltem Holz durchdrungen, was ihn zusätzlich hässlich macht, uns aber
dafür die Chance bietet, überhaupt hindurch
zu kommen. Umweltschutz, moralisches Handeln – uns ist alles egal, wir wollen hier einfach
wieder raus!
Die Flussquerungen sind dann Pipifax. In
voller Montur stapfen wir durchs Wasser. Unsere Sachen sind eh nass, ausserdem haben wir
nur noch eine Übernachtung im Busch vor uns.
Nach einer Stunde haben wir es geschafft –
müssen aber zugeben, dass wir durch die Abkürzung weder Zeit noch Kräfte
gespart haben – im Gegenteil.
Trotzdem lachen wir erleichtert
auf. Den offiziellen Weg finden
wir zum Glück wieder und legen
in drei Stunden die gleiche Distanz zurück, für die wir auf dem
Rücken der Western Arthurs drei
Tage gebraucht haben. An diesem
Abend wird alles von der Vorfreude auf den morgigen Tag versüsst. Unterhaltung und Gedanken drehen sich nur noch darum,
was wir als Erstes machen werden,
wenn wir am späten Nachmittag
nach Hobart kommen: essen, duschen, waschen – oder einfach nur die Füsse
hochlegen! In der Nacht hören wir zum ersten
Mal einen Tasmanischen Teufel, eine ungefährliche Beutelratte, die furchterregend schreit.
Am nächsten Tag gehts fast im Laufschritt
zurück nach Scotts Peak Dam. Zwar müssen
wir uns am Anfang noch durch Matschlöcher
kämpfen, aber die Sonne scheint, es ist warm,
und der Weg wird zunehmend einfacher. Zum
Schluss können wir sogar auf einem Holzsteg
dahinschreiten. Am Parkplatz angekommen,
haben wir noch etwas Zeit, die wir nutzen, um
unsere Sachen zu trocknen. Schliesslich wird
es nach einem kurzen Aufenthalt in der tasmanischen Hauptstadt gleich weiter auf den Over-
TASMANIEN
TREKKING IN TASMANIEN
Auf Tasmanien gibt es ein rund 1700 Kilometer langes Wegenetz. Nur entlang des Overland
Track gibt es Hütten. Auf allen anderen Routen gibt es maximal ein paar präparierte Stellplätze
für Zelte und Toilettenvorrichtungen.
Western Arthurs Traverse, Southwest-Nationalpark
Von Scotts Peak Dam bis Haven Lake und wieder zurück: fünf bis acht Tage.
Von Scotts Peak Dam bis Lake Rosanne und wieder zurück: acht bis elf Tage.
à Gebühr: Nationalparkpass für 30 australische Dollar.
Overland Track, Cradle-Mountain/Lake-St.-Claire-Nationalpark
Von Cradle Mountain zum Lake St. Claire (umgekehrte Richtung nicht erlaubt): fünf bis acht Tage.
à Gebühr: Nationalparkpass für 30 australische Dollar plus 200 australische Dollar Trekkinggebühr in der Zeit von 1. Oktober bis 31. Mai, keine Trekkinggebühr vom 1. Juni bis
30. September (Winter).
Buchtipp
«Tasmanien: Overland Track», Outdoor-Handbuch, Conrad Stein Verlag, ISBN 978-3-89392-351-9
«Overland Track», John and Monica Chapman, ISBN 978-1-92099-502-7
«The Overland Track», (Englisch), Warwick Sprawson, Red-Dog-Verlag, ISBN 978-174203511-6
Weitere Informationen und Karten
à www.parks.tas.gov.au
à www.john.chapman.name
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Outdoorleben. Der Natur ganz nahe und
unter freiem Himmel kochen und zelten.
Hüttenkumpel. Heidi und Andy (links) mit
Mohy, dem Indonesier, und Alex, dem Russen.
New Pelion Hut. Ein Dach über dem Kopf
nach einem anstrengenden Tag.
land Track gehen, und es gibt viel zu erledigen.
Endlich kommt Louise Evans in ihrem Van und
holt uns ab: Noch nie in meinem ganzen Leben
habe ich mich über den Anblick eines Autos
dermassen gefreut. Auf dem Rückweg halten
wir bei der erstbesten Gelegenheit, kaufen
Schokolade, Limo, frische Milch und Pommes.
Die Kombination klingt genauso wie sie
schmeckt. Danach ist uns verdientermassen
schlecht.
Auf zu neuen Taten. Uns bleiben drei Tage,
bevor wir etwas weiter nördlich im CradleMountain/Lake-St.-Claire-Nationalpark das
nächste Trekking starten. Noch können wir uns nicht vorstellen, schon
bald wieder zu Fuss unterwegs zu sein.
Wir schlafen schlecht, gestört durch
das Leuchten der Strassenlaternen vor
unserem Fenster und das Ticken der
Ampel: tock, tock, tickticktick. Bereits
nach zwei Nächten sitzen wir aber tatsächlich im Bus nach Launceston.
Auf der Fahrt kommen wir durch
ein Tasmanien, das so ganz anders
aussieht als dasjenige, das wir bisher
kennengelernt haben: Die Landschaft
liegt lieblich neben der Strasse, Schafe
und Kühe weiden auf weitläufigen
Wiesen, immer wieder kommen wir
durch Ortschaften und an Häusern
vorbei. In Launceston kochen wir eine deftige
Mahlzeit, bevor wir uns wieder in die Wildnis
verabschieden – eine Riesenportion Nudeln mit
frischer Tomatensauce und Salat. Obwohl –
ganz so wild wird es diesmal nicht werden: Uns
erwarten 65 Kilometer gut ausgebauter Weg mit
Hütten und ziemlich viele andere Wanderer.
Weil der Overland Track die bekannteste Mehrtagestour Australiens ist, gibt es einen starken
Andrang. Um die Natur zu schützen, lässt der
«Parks & Wildlife Service» in den Sommermonaten täglich nur eine begrenzte Anzahl Trekker zu, die zusätzlich zur Nationalparkgebühr
von 30 australischen Dollar noch 200 Dollar
zahlen müssen. Das scheint uns zunächst etwas
befremdlich: Warum sollten wir für das Erleben
von Natur etwas zahlen? Wir werden unsere
Meinung im Laufe der Zeit aber noch ändern.
Unsere Rucksäcke sind diesmal nicht ganz so
schwer, da wir weniger Essen brauchen. Die
TA S MA N I E N
Launceston
Cradle Mountain/
Lake-St.-ClaireNationalpark
Hobart
SouthwestNationalpark
Zelte haben wir wieder mit dabei. Wir planen
einen Abstecher auf den Mount Ossa, mit 1617
Metern Tasmaniens höchster Berg, und da gibt
es keine Hütte. Weil wir uns nach unseren Erlebnissen in den Western Arthurs so einiges
zutrauen, sind wir etwas übermütig geworden,
haben für unser Risotto sogar Weisswein dabei
und ausserdem jeder eine Dose Bier.
Gleich am ersten Tag bereuen wir
es. Obschon wir eigentlich an die
schweren Rucksäcke gewöhnt sein
müssten, tun uns die Schultern weh,
und der erste Anstieg über komfortable Treppen geht alles andere als
leicht von den Füssen. Die Sonne
brennt vom Himmel, sodass wir uns
schon fast das schlechte Wetter der
Western Arthurs wünschen. Es ist so
viel los, dass wir nach den ersten zehn
freundlichen «Hi there, how are you»
aufgeben und es den anderen gleich
tun: Wir ignorieren sie. Neben den
Wanderern des Overland Track sind
hier noch Tagestouristen in Flipflops
unterwegs.
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Bei dem Wetter lohnt sich ein Abstecher, und so besteigen wir den Cradle
Mountain, eine beeindruckende Felsformation mit Sicht auf das, was uns die kommenden Tage erwartet. Hier in der Sonne ist
das nass-winterliche Treiben der letzten Tour
in weite Ferne gerückt. Die Sonne neigt sich
schon gegen Westen, als wir unser heutiges Ziel,
die Waterfall-Valley-Hütte, erreichen. Eigentlich wollten wir im Zelt schlafen, aber nachdem
wir einmal die mollig warme Hütte betreten
haben, bringen uns weder schnarchende Mitwanderer noch stinkende Socken wieder hinaus.
Wären wir zuerst auf dem Overland Track unterwegs gewesen, hätten wir uns das ganz sicher
nicht eingestehen können und uns nach draussen gezwungen. Vor dem Zubettgehen geniesse
ich sogar noch den Klogang: Komfortabel steige
ich ein paar Treppen hinauf, sperre eine Tür
hinter mir zu und nutze die Schüssel über einem Plumpsklo. Kein Regen von oben, die
Stinkbombe unter mir so weit entfernt, dass
nichts mehr zu riechen ist.
In Gesellschaft. Am nächsten Morgen ziehen
wir die über dem Ofen gewärmten Socken an
und schlüpfen in trockene Schuhe. Ein langer
und abwechslungsreicher Tag steht uns bevor.
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Cradle Mountain. Prächtige Aussicht auf
das, was uns die kommenden Tage erwartet.
Zutraulich. Diese Wallabys haben schon
viele Wanderer gesehen.
Auf dem Gipfel. Leider keine Aussicht vom
Mount Ossa.
Auch wenn die letzte Tour wesentlich wilder
war und uns der Weg hier eigentlich unterfordert, müssen wir eingestehen, dass die Berühmtheit des Overland Track wirklich ihre
Berechtigung hat. Wir haben freie Sicht auf
leicht verschneite Berge, laufen über Hochebenen durch Buttongras und steigen durch sumpfige Märchenwälder. Heute ist ein tasmanischer
Tag, wie er im Buche steht: Regen wechselt mit
Sonne, Schnee und Wind. Wir erleben fantastische Stimmungen in einer grossartigen Natur.
Die Mittagspause können wir bequem in einer
Hütte auf halber Strecke verbringen. Das sogenannte Bergbrot macht leider kaum satt. Wir
rollen etwas Käse und Wurst in die dünnen
Lappen und kauen lustlos darauf herum. Am
Abend sind wir fast sieben Stunden unterwegs
gewesen, kurz vor unserem Ziel,
der New-Pelion-Hütte, werden
wir belohnt und sehen endlich
Wallabys. Sie sind so zahm, dass
wir sie fast streicheln können.
Was für ein wundervoller Tag.
Die Hütte ist voll, und nach
den vielen Tagen mit uns selbst
sind wir wieder bereit für Gespräche mit Gleichgesinnten. Wir lernen Mohy, einen australischen Indonesier, und seinen Freund Alex,
einen russischen Australier, kennen. «Ich liebe es, in die Wildnis
zu gehen. Wegen der physischen
Herausforderung – aber auch, um
Abstand von der Arbeit zu bekommen», sagt
Mohy. «Nach dem Bushwalking kann ich die
einfachen Dinge des Lebens wieder geniessen»,
ergänzt Alex. Derweil kochen wir unseren Risotto mit echtem Weisswein. Leider können
wir damit kaum jemanden neidisch machen.
Mit in der Hütte ist eine Gruppe, die eine organisierte Tour macht. Auf der Veranda bereiten die Führer ein Fünfgängemenü für ihre
Gäste. Wir geniessen unser Abendessen trotzdem, und auch heute wird uns nichts dazu
bringen, unsere Zelte auf dem schlammigen
Waldboden aufzustellen.
Am nächsten Morgen lassen wir uns Zeit.
Wir wollen auf den Mount Ossa und haben nur
eine kurze Etappe vor uns. Es ist angenehm,
etwas trödeln zu können und nicht, wie an den
anderen Tagen, jeden Handgriff gut durchplanen zu müssen, damit es zügig losgehen kann.
Der Schlafsack kann noch eine Weile offen liegen, der Kaffee kann in Ruhe getrunken werden und auch das Geschirrspülen hat Zeit und
muss nicht zeitsparend mit dem Zähneputzen
kombiniert werden.
Als eine der letzten Gruppen machen wir
uns schliesslich auf den Weg. Das Wetter ist
wieder schlechter geworden und bleibt so. Die
Berge sind in Wolken gehüllt, um uns der Wald
mit seinem feuchten Atem. Nach eineinhalb
Stunden kommen wir bereits an die Kreuzung,
an der ein Pfad in Richtung Mount Ossa abzweigt. Wir suchen Schutz unter einem Baum.
Vom Mount Ossa ist weit und breit nichts zu
sehen. Wir können nur ahnen, dass sich hier
irgendwo Tasmaniens höchster Berg versteckt.
Warum sollten wir eine Nacht im nassen, kalten Zelt riskieren, wenn wir sie doch auch in
einer warmen Hütte verbringen könnten? –
Weil wir die Hoffnung auf Wetterbesserung und einen Sonnenaufgang nicht aufgeben wollen.
So steigen wir den Berg hinauf.
Weiter oben stossen wir auf
Schnee, rutschen über Felsblöcke
und stemmen uns wieder einmal
durch kaltes Nass einen Berg hinauf. Oben angekommen, sehen
wir wie erwartet: nichts. Wir
wählen einen einigermassen ebenen Platz neben einer grossen
Pfütze auf weichem Moos und
bauen unsere zwei Zelte auf.
Zum Abendessen gibt es Nudeln
und danach zur Feier des Tages
das Bier. Prost.
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Hüttenzauber. Leider bringt der nächste Morgen keine Wetterbesserung, sondern einfach
mehr Schnee. Die Regensachen sind jetzt nicht
mehr nass, sondern gefroren, genauso wie die
Zeltstangen. Zum Abbrechen müssen wir sie
mit unseren Händen auftauen. Stumm versuchen wir beim Abstieg über die glatten Steine
ein Tempo zu erreichen, das uns wärmt. Nach
Overland Track. Wunderbare Landschaft –
für einmal im Sonnenschein.
Langer Marsch. Einen Fuss vor den anderen – der Weg ist das Ziel.
Hüttengemütlichkeit. Jeder hat etwas zu
erzählen in der Kia Ora Hut.
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zwei Stunden kommen wir zur nächsten Hütte und machen eine ausgedehnte Pause. Ich
ziehe das einzige an, was noch trocken ist: meinen grünen Fleecepulli, kombiniert mit leicht
verschmutzten weissen langen Unterhosen
und bunt gemusterten Wollstrümpfen von
Oma. Alles andere hängen wir um den
Ofen. Wir bleiben mit dieser Idee nicht die
einzigen und schon nach kurzer Zeit ist
die Hütte überfüllt und dampfig. Den Gedanken, hier zu übernachten, legen wir
schnell beiseite und machen uns auf den
Weiterweg.
Diesmal werden wir belohnt. Wir
kommen durch mystische Wälder mit
moosbedeckten Stämmen, knorrigen Bäumen und den Liedern der tasmanischen
Vögel. Es hört sogar auf zu regnen, und am
Abend erwartet uns die nagelneue BertNichols-Hütte, in der zu unserer Begeisterung ein netter Schweizer seine üppigen
Schokoladenvorräte verteilt. Zufrieden
mampfend treffen wir Mohy und Alex wieder. Der Ranger Stuart Bright stösst zu uns.
Mit seinen Erzählungen schwindet das
letzte bisschen Gefühl, wir hätten zu viel
für diesen Weg gezahlt. «Fast eine halbe
Million Dollar kostet es jährlich, die Toilettenbehälter der Plumpsklos auszutauschen», erklärt er uns. «Per Helikopter werden sie ausgeflogen,
weil die Masse an menschlichen
Exkrementen das labile Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen würde.» Dazu kommen noch
die gut gepflegten Hütten, die
aufwendig gewarteten Wege, die
hilfsbereiten Ranger. Nach dem
Gespräch haben wir eher das Gefühl, zu wenig Weggebühr zu
zahlen.
An diesem Abend sitzen wir
etwas länger als sonst zusammen.
Es ist unsere letzte Nacht in der
Wildnis, morgen werden wir
nach einem zweistündigen Marsch an den Lake
St. Claire kommen, an dem uns ein kleines
Boot über den See zurück in die Zivilisation
bringt. Wir diskutieren über Ausrüstung. Der
Schweizer ist ohne Isomatte unterwegs, Helene
aus Frankreich, die mittlerweile auch mit am
Tisch sitzt, hat sich Gamaschen aus Plastiktüten gebastelt. Beide sind trotzdem gut durchgekommen. Dass eine mangelhafte Vorbereitung aber auch gehörig in die Hose gehen kann,
zeigt das Beispiel eines anderen Franzosen. Er
war mit einem Tagesrucksack unterwegs. Vor
zwei Tagen musste ihn Stuart zusammen mit
ein paar anderen Wanderern aufpäppeln: Er
war völlig unterkühlt, durchnässt und ausgehungert in der Hütte angekommen. «Schau immer die Wettervorhersage an», ist Alex’ Fazit.
«Sei auf wirklich alles vorbereitet», ergänzt Stuart. «Zwar sind die Sommer nicht immer so
schlecht wie dieser, aber sie können es eben
sein...» Alle freuen wir uns wieder auf die Zivilisation. Christoph, Andy und ich sind uns
aber trotzdem sicher, dass wir wieder kommen
wollen. Gerade deswegen.
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