Swiss Research Agenda for Nursing (SRAN)

Transcrição

Swiss Research Agenda for Nursing (SRAN)
© 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Pflege 2008; 21: 252–261
DOI 10.1024/1012-5302.21.4.252
Originalarbeit
252
Institut für Pflege, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Universitäre psychiatrische Dienste Bern
3 Institut für Pflegewissenschaft, Universität Basel
4 Frauenklinik, Inselspital Bern
5 Haute école de Santé, Fribourg
Lorenz Imhof1 (PhD, RN), Christoph Abderhalden2 (PhD, MNSc, RN), Eva Cignacco3 (PhD, MNSc, RN), Manuela Eicher4
(MScN), Romy Mahrer-Imhof1,3 (PhD, RN), Maria Schubert3 (MNS), Pflegeexpertin, Maya Shaha5 (PhD, MSC, RN)
1
2
Swiss Research Agenda for Nursing (SRAN)
Die Entwicklung einer Agenda für die klinische
Pflegeforschung in der Schweiz
In den angelsächsischen und nordeuropäischen Ländern wurden Agenden für die
Pflegeforschung entwickelt, um die Forschung auf gesundheitspolitische Zielsetzungen der Länder auszurichten. In der Schweiz erschwerte das Fehlen einer landesweiten gesundheitspolitischen Zielsetzung eine gemeinsame Ausrichtung der
Pflegeforschung. Im Projekt «Swiss Research Agenda for Nursing (SRAN)» wurde
deshalb zwischen 2005 und 2007 die erste nationale Agenda entwickelt. Basierend auf Literaturreviews, Expertenbefragungen und einer nationalen Umfrage
entwickelte ein Projektteam die Agenda, die an einer Konsensuskonferenz verabschiedet wurde.
Die Agenda beschreibt allgemeine forschungsleitende Grundsätze und definiert
sieben inhaltliche Schwerpunkte für die Jahre 2007 bis 2017. Priorisiert werden
soll Forschung 1) zur Wirkung pflegerischer Maßnahmen, 2) zur Anpassung von
Dienstleistungen an ein sich veränderndes Gesundheitssystem, 3) zur Identifizierung pflegerelevanter Phänomene, 4) zum Einfluss der Arbeitsumgebung auf die
Pflegequalität, 5) zum Funktionieren familialer Systeme und sozialer Netzwerke, 6) zur Integration der Vielfalt individueller Lebensumstände und 7) zur Umsetzung von ethischen Prinzipien in der Pflege.
Mit der Swiss Research Agenda for Nursing liegt erstmals eine nationale Agenda in deutscher und französischer Sprache vor. Sie kann als Orientierung für die
strategische Ausrichtung genutzt werden und dient zur Entwicklung eines Aktionsplans zur Förderung der Pflegeforschung in der Schweiz.
Einleitung
Klinische Entscheidungen basieren oft
auf hypothetischen, empirisch nicht
überprüften Annahmen. Demzufolge
stützt sich die medizinische und pflegerische Praxis zu einem erheblichen
Teil nicht auf forschungsgestützte Evidenz (Ketterer, Mahr & Goldberg, 2000;
Madjar & Walton, 2001). Heute besteht
aber der Anspruch, dass sich Entscheidungen der Pflege vermehrt an Forschungsergebnissen orientieren. Der
Bedarf an klinischer Forschung ist entsprechend hoch, die Mittel sind jedoch
Manuskript erstmals eingereicht am 16.10.2007
Endgültige Fassung eingereicht am 4.2.2008
limitiert. Dies führt zur Frage, welche
Evidenz prioritär durch Forschungsprojekte generiert werden soll. In einigen Ländern legen Forschungsagenden den Rahmen fest, in welchem
einzelne Forschungsprogramme und projekte eingebettet werden sollen. In
angelsächsischen Ländern bestimmen
auf politische Vorgaben abgestimmte
Agenden die Ausrichtung der Pflegeforschung und die Dissemination von
Auftraggeber
Schweizerischer Verein für Pflegewissenschaft
VFP.
Finanzierung
Hoffmann La Roche, Basel
Schweizerische Akademie der Medizinischen
Wissenschaften.
Forschungsresultaten in die Praxis.
Forschungsagenden wurden dazu in
großen, meist staatlich unterstützten
Projekten erarbeitet und enthalten
Forschungsschwerpunkte sowie teilweise konkrete Förderungsmaßnahmen (Allied Health Professions, 2004;
Higher Education Funding Council for
England (HEFCE), 2001; Levin, Perry &
Gurney, 2002; Moreno-Casbas, MartinArribas, Orts-Cortés & Comet-Cortés,
2001; National Institute of Nursing
Research, 1993, 2005, 2006). Unterstützt wurde die Erstellung dieser Forschungsagenden durch Berufsorganisationen wie etwa die Workgroup of
European Nurse Researchers (2001)
oder das Royal College of Nursing
(2004, 2005). Neben allgemeinen
Schwerpunkten für die Pflegeforschung wurde die Nützlichkeit von
Agenden auch für spezifische Pflegebereiche betont, wie z.B. für die psychiatrische Pflege (Davidson, MerrittGray, Buchanan & Noel, 1997; Pullen,
Tuck & Wallace, 1999), für die Geriatrie (Hoenig & Siebens, 2004; National
Institute of Nursing Research, 1994)
oder die Onkologie (Boyle, 2003).
Das National Institute for Nursing
Research (1993) betonte, dass das Erstellen von Forschungsagenden eine
Maßnahme darstellt, um aktuellen
Herausforderungen der Pflegewissenschaft begegnen zu können. Diese
Herausforderungen betreffen die Verbesserung der wissenschaftlichen
Qualität, den Aufbau einer forschungsfördernden Umgebung und
die Dissemination von Forschungsresultaten.
Von kritischen Stimmen wird verlangt,
dass klinisch tätige Pflegefachpersonen in der Prioritätensetzung mitwirken, damit sich eine Forschungsagenda an den Bedürfnissen der klinischen
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Praxis orientiert. Sie warnen davor,
dass durch Machtstrukturen beeinflusst wichtige Fragestellungen ausgeschlossen und die Entwicklung der
Gesundheitsversorgung
behindert
werden können (Cox, 2004).
Die
deutschsprachigen
Länder
(Schweiz, Österreich, Deutschland)
haben mit Verzögerung und begrenzten Mitteln diese Entwicklung ebenfalls aufgegriffen. Obwohl die Zahl
pflegewissenschaftlicher Projekte in
den letzten Jahren stark zugenommen
hat, fehlt bis anhin auch in der Schweiz
eine strategische Ausrichtung der Pflegeforschung (Bartholomeyczik, 2003;
Imhof, 2006b), Dies hat zur Folge, dass
Ressourcen wenig fokussiert eingesetzt werden, Forschende oft einzeln
und in der Regel mit kleinen Datensätzen operieren und dadurch das
vorhandene Potenzial der Pflegeforschung zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung nur ungenügend genutzt werden kann. In der Schweiz
erfolgte Pflegeforschung mehrheitlich
im Rahmen von Abschlussarbeiten, die
patientenorientierte Fragestellungen
untersuchten. Eine Analyse von 266
Abschlussarbeiten von Masterstudiengängen und PflegeexpertinnenAusbildungen der Jahre 1989–2005
zeigt, dass die Studien überwiegend
deskriptiv waren und auf sehr kleinen
Stichproben basierten. Die Resultate
lassen sich auch deshalb schlecht generalisieren, weil die einzelnen Arbeiten kaum miteinander koordiniert
wurden und nur in wenigen Fällen auf
früheren Ergebnissen aufbauten (Imhof, 2006a).
Der Schweizerische Verein für Pflegewissenschaft (VFP) hat sich zum Ziel
gesetzt, koordinierende Strukturen für
die Pflegeforschung zu bilden. Um den
optimalen Einsatz von Infrastruktur
und personellen Ressourcen zu ermöglichen initiierte er im Jahr 2005 zur
Bildung einer Forschungsagenda das
Projekt «Swiss Research Agenda for
Nursing». Das Fehlen von gesundheitspolitischen Vorgaben für die Pflegeforschung machte es notwendig, dass die
Agenda auch das Gebiet der Pflegeforschung definieren musste. Das Projekt
wurde auf die Formulierung klinischer
Schwerpunkte beschränkt. Die Entwicklung eines Aktionsplans wurde
für eine zweite Phase vorgesehen.
Der Projektauftrag basierte auf der
Annahme, dass der Gegenstand pflegewissenschaftlicher Forschung primär klinischen Charakter haben sollte
(Kesselring, 1997). Forschungsschwerpunkte sollen sich auf jenes Fachwissen beziehen, das den Pflegenden ermöglicht «Pflegephänomene gezielt
zu diagnostizieren, mit Bedingungen
und Einflussfaktoren in Beziehung zu
setzen, Arbeitshypothesen und Parameter zu entwickeln um Veränderungsprozesse festzustellen und
wirksame Interventionen darauf abzustimmen» (Käppeli, 1999: 156). Auf den
Grundsätzen aufbauend, dass Pflegeforschung präventiven pflegerischen
Maßnahmen und der Minderung von
Leidenszuständen bei akuten und
chronischen Erkrankungen den gleichen Stellenwert beimessen muss (Epping-Jordan, Bengoa, Kawar & Sabaté,
2001; Mösli, 2004; Rüesch, 2005) orientierte sich die Entwicklung der Forschungsagenda an einem sehr breiten
Spektrum pflegerischer Tätigkeit und
umfasst auch Prävention, Gesundheitsförderung sowie palliative Pflege.
Die Themen der Pflegeforschung stehen in enger Beziehung zu denen
anderer natur-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Spezifisch
an der Pflegewissenschaft sind weniger die untersuchten Themen und
eingesetzten Methoden als ihre Fragestellungen und ihre Perspektive auf
den Forschungsgegenstand (Bartholomeyczik, 2000).
Für das SRAN-Projekt wurden sieben
Zielsetzungen formuliert: 1) Die Forschungsagenda ist mit der internatio-
nalen Diskussion um Forschungsschwerpunkte in der Pflege vernetzt, 2)
richtet sich auf die klinische Praxis aus,
3) berücksichtigt die spezifischen Situation der Pflegeforschung in der
Schweiz, 4) hat nationale Gültigkeit, 5)
wird im interdisziplinären Dialog entwickelt, 6) bezieht Patientenorganisationen ein und 7) wird einer breiten nationalen Vernehmlassung unterzogen.
Methode
Schritte zur Entwicklung einer
Pflegeforschungsagenda
in der Schweiz
Zur Entwicklung der Agenda wurden
fünf Projektschritte durchgeführt: 1.
Bildung der Projektstrukturen, 2. Literaturrecherche zu durchgeführten
Agendaprojekten, 3. Literaturrecherche zu Forschungsschwerpunkten in
verschiedenen Gebieten der Pflege und
eine Prioritätensetzung durch Expertengremien, 4. Nationale Umfrage in
Institutionen des Gesundheitswesens,
bei Pflegefachleuten und in Organisationen der Pflege, 5. Durchführung
einer nationalen Konsensuskonferenz.
1. Bildung der Projektstrukturen
Es wurde ein Projektteam mit sieben
Fachleuten aus unterschiedlichen klinischen Pflegebereichen (gerontologische, kardiovaskuläre, onkologische,
psychiatrische und pädiatrische Pflege sowie Frauengesundheit und Patientensicherheit) gebildet. Begleitet
wurde dieses Team von einem Fachgremium (Advisory Panel), zusammengesetzt aus Vertreterinnen der Pflegewissenschaft, der Medizin, der Konferenz
der Fachhochschulen und der Pharmaindustrie.
2. Literaturrecherche zu durchgeführten
Agendaprojekten
Es wurde eine Literaturrecherche in
der Datenbank Pubmed (bis zum Jahr
253
L. Imhof et al.
254
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2006) mit den Begriffen «nursing» and
«research agenda» durchgeführt, ergänzend wurden im Internet einschlägige Publikationen professioneller
Organisationen des Gesundheitswesen gesucht. Die Bearbeitung umfasste 24 Forschungsagenden. Dreizehn
Dokumente stammten aus Europa.
Davon waren acht Dokumente aus
England und je ein Dokument aus
Finnland, Spanien, Irland. Zwei Dokumente bezogen sich auf den EU-Raum
ohne Bezug zu einem bestimmten
Land. Sieben stammten aus den USA,
zwei aus Australien und zwei wurden
von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) publiziert. Es wurden keine
pflegerischen Agendaprojekte aus dem
deutsch- oder französischsprachigen
Raum gefunden.
Elf Publikationen befassten sich mit
der Festlegung von Forschungsprioritäten und kombinierten diese Fragestellungen mit einem Aktionsplan zu
Umsetzung. Dabei handelte es sich um
sehr umfangreiche, meist staatlich unterstützte Projekte. Vier Publikationen
beschrieben einen Aktionsplan, ohne
jedoch inhaltliche Schwerpunkte näher zu bezeichnen. Weitere neun
Publikationen entwickelten Schwerpunkte für die Pflegeforschung ohne
jedoch konkrete Maßnahmen in einem
Aktionsplan zu beschreiben.
In den 24 Artikeln wurden fünf Methoden zur Prioritätensetzung identifiziert (Anzahl Nennungen in Klammer): a) ExpertInnenbefragung (21), b)
Befragung von Interessengruppen (7),
c) Befragung von Patientenorganisationen (2), d) systematische Literaturreview (6), e) Einbezug von Pflegenden
(4). Elf Projekte verwendeten höchstens
eine der genannten Methoden, während zehn Projekte zwei Methoden
kombinierten. Projekte, die mehr als
zwei Datenquellen zur Bestimmung der
Prioritäten kombinierten, hatten einen
staatlichen Auftrag und entsprechende
finanzielle Mittel zur Verfügung.
3. Literaturrecherche zu Forschungsschwerpunkten in verschiedenen
Gebieten der Pflege und eine Prioritätensetzung durch Expertengremien
Forschungsagenda dem Advisory Panel zur kritischen Begutachtung vorgelegt.
Eine erste Sammlung von Prioritäten
gründete auf Literaturrecherchen
(Pubmed, CINAHL, 1995–2005), die
202 Texte zu Forschungsprioritäten in
verschiedenen Bereichen der Pflege
identifizierten. Das Potenzial zur Prioritätensetzung der Artikel wurde nach
dem Schema von Ross, Mackenzie,
Smith, Masterson und Wood (2002) beurteilt. Das Schema unterscheidet in
sechs Stufen zwischen Artikel, die eine
Meinung ausdrücken (Stufe 1) bis zu
Forschungsberichten auf der Stufe 6,
welche Prioritäten basierend auf systematischen Erarbeitungen (Delphistudien, Literaturreviews, Fokusgruppen
etc.) beinhaltet.
Das Projektteam formulierte daraus
fachbereichsspezifische Forschungsschwerpunkte. Relevanz und Prioritätensetzung wurden danach durch verschiedene Expertengremien, meistens
Mitglieder der jeweiligen akademischen Fachgesellschaft, beurteilt. Es
entstand eine Liste von 150 Prioritäten, welche an einer speziell organisierten Fachtagung von zusätzlich 75 interessierten Pflegefachleuten aus allen
Bereichen diskutiert ergänzt und erneut gewichtet wurden. Als Synthese
dieses Prozesses formulierte das Projektteam einen ersten, bereichsübergreifenden Entwurf einer Agenda. Die
Struktur dieses Entwurfs orientierte
sich am modifizierten Kategoriensystem von Burnette, Morrow-Howell und
Chen (2003). Insgesamt wurden 12
Kategorien verwendet, passende Themenbereiche definiert und durch Beispiele konkretisiert. In einem dritten
Durchgang begutachteten verschiedene Expertengremien (Akademische
Fachgesellschaften, Pflegeexpertinnen) erneut die in Kategorien eingeteilten Schwerpunkte kritisch. Abschließend wurde der erste Entwurf der
4. Nationale Umfrage in Institutionen
des Gesundheitswesens, bei Pflegefachleuten und Organisationen der Pflege
Aufgrund der Rückmeldungen des Advisory Panels fand eine Neustrukturierung der Agenda statt. Sie gliederte
sich neu in zwei Teile. Im ersten Teil
«Allgemeine Aspekte» wurden übergreifende inhaltliche Aspekte und
methodologische Gesichtspunkte beschrieben, die in der Pflegeforschung
beachtet werden sollen. Im zweiten
Teil wurden sieben Forschungsbereiche bezeichnet, die die Schwerpunkte
der Pflegeforschung in den Jahren
2007–2017 benennen. Die Agenda wurde im Zeitraum zwischen Oktober
2006 und Dezember 2006 einer gesamtschweizerischen Umfrage unterzogen.
Die sieben Forschungsbereiche und
dazugehörenden Forschungsthemen
konnten mit einer 4-Punkte Likertskala gewichtet werden (hohe Priorität –
eher hohe Priorität – eher tiefe Priorität – tiefe Priorität). Diese Gewichtung
wurde ergänzt mit drei im Freitext zu
beantwortenden Fragen: 1.) «Nennen
Sie bitte die drei wichtigsten Themen,
die in der Liste fehlen; 2.) Gibt es Ihrer
Ansicht nach andere wichtige allgemeine Aspekte, die hohe Priorität haben sollten; 3.) Haben Sie allgemeine
Bemerkungen zu den Forschungsprioritäten, zum Projekt, zu dieser Vernehmlassung, zum Fragebogen?».
ExpertInnen und Organisationen des
Gesundheitswesens wurden mit einem
Schreiben auf die Umfrage aufmerksam gemacht und zur Teilnahme (online oder mittels Papierversion) aufgefordert. Es wurde darauf geachtet, dass
alle Landesteile (d.h. die deutsch-,
französisch- und italienischsprachigen Regionen) in die Umfrage miteinbezogen wurden.
An der Vernehmlassung nahmen ins-
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gesamt 273 Personen teil. 214 Fragebogen (78%) konnten ausgewertet werden. Die meisten Fragebogen wurden
online ausgefüllt und stammten aus
der deutschsprachigen Schweiz. Ein
überwiegender Teil der Teilnehmenden waren Pflegefachleute (85%),
weiblich (72%) und verfügten über eine
universitäre Aus- oder Weiterbildung
(62%).
Die Datenanalyse erfolgte mittels deskriptiver Statistik (Mittelwert, SD,
Vergleiche von Häufigkeiten mittels
Chi2/Fisher’s Exact Test). Um die Prioritätensetzung besser sichtbar zu machen, wurden die Daten dichotomisiert (hohe/eher hohe versus eher
tiefe/tiefe Priorität) und die Items mit
über 50% zustimmenden Antworten
(hohe oder eher hohe Priorität) als
prioritär angesehen. Basierend auf
dem prozentualen Anteil zustimmender Antworten wurde eine Rangliste
der Prioritäten erstellt.
Die Gewichtung (hohe/eher hohe Priorität) lag bei allen allgemeinen Aspekten und den sieben Schwerpunkten
über der 50% Marke. Bei den allgemeinen Aspekten wurde die Liste der
Zustimmung von der Notwendigkeit
interdisziplinärer Projekte, der Koordination von Projekten und dem vermehrten Einbezug der Patientenperspektive in Forschungsprojekte
angeführt. (Tab. 1).
Bei den sieben Forschungsbereichen
erhielten «Forschung zur Wirksamkeit
pflegerischer Maßnahmen» und «Forschung zur Entwicklung neuer Dienstleistungen in einem sich verändernden
Gesundheitssystem» die höchste Zustimmung (Tab. 2).
Insgesamt wurden 83 Bemerkungen zu
den drei Fragen formuliert. Mehrheitlich enthielten diese Voten Ergänzungsvorschläge für die Agenda. Die
Analyse mit einem vereinfachten inhaltsanalytischen Verfahren zeigte,
dass die meisten der vorgeschlagenen
Themen (n = 30) in der Agenda zwar
enthalten, aber auf einem höheren
Abstraktionsniveau formuliert waren.
Neun Vorschläge waren gar explizit in
der Agenda vorhanden. 36 Nennungen
befürworteten, dass Pflegeforschung
auch die Pflege als Berufsgruppe, die
Gesundheits- und Berufspolitik, sowie
Folgeprojekte zur SRAN-Agenda zum
Gegenstand von Untersuchungen machen sollte. Die Projektgruppe entschied sich diese Themen nicht zu
berücksichtigen, zumal sie nicht als
Gegenstand der klinischen Pflegeforschung identifiziert werden konnten.
Die Resultate aus der quantitativen
und qualitativen Analyse führten weder zu einer Reduktion noch zu einer
Ausweitung der vorgeschlagenen sieben Forschungsschwerpunkte.
5. Durchführung einer nationalen
Konsensuskonferenz
Die Resultate der nationalen Umfrage
wurden im Januar 2007 an einer nationalen Konsensuskonferenz den 105
Teilnehmenden vorgestellt. Patientenorganisationen, Fachleute aus der klinischen Praxis, aus der Politik, aus
Führungs- und Bildungsinstitutionen
nahmen daran teil. Das Ziel der Konferenz war es, einen nationalen Konsens
für die Gewichtung der Pflegeforschung zu erzielen. In der Diskussion
wurde die Neuformulierung des Textes
zu Punkt 7 «Priorität der Forschung
zur Umsetzung von ethischen Prinzipien in der Pflege» angeregt. Auch die
Bedeutung theoretischer Modelle in
der Forschung war Gegenstand der
Diskussion, führte jedoch zu keinen
Änderungen der Agenda. Unterschiedliche Meinungen betrafen die Abgrenzung zwischen klinischer Pflegeforschung und pflegepädagogischer und
Managementforschung. Dabei bestand Konsens, dass Ausbildungsforschung, Forschung zu den Auswirkungen der Akademisierung oder zur
Verbesserung der Organisation der
Pflege für das Berufsfeld wichtige Fra-
Tabelle 1: Bewertung der allgemeinen
Aspekte
Allgemeine Aspekte
Hohe/eher
hohe
Priorität %
Planung disziplinübergreifender Projekte
96
Einbezug der Perspektive
Betroffener in die
Forschung
92
Koordination einzelner
Forschungsprojekte
92
Teilnahme anderer
Disziplinen an
pflegerischen Projekten
89
Patientensicherheit:
Identifikation von Risiken
87
Integration pflegerischer
Fragestellungen in
die Forschung anderer
Disziplinen
87
Untersuchung negativer
Folgen therapeutischer
oder organisatorischer
Maßnahmen
86
Forschungsprozesse in
partnerschaftlicher
Zusammenarbeit mit
PatientInnen und
Angehörigen planen und
durchzuführen
84
Kombination qualitativer
und quantitativer Ansätze
in einem Projekt und in
sich ergänzenden Projekten
81
Einbezug transkultureller
Unterschiede in die Forschung 75
Einbezug von Gender-Aspekten
in die Forschung
69
Entwicklung von Theorien
59
Verbindung Forschungsergebnisse – bestehenden
theoretische Modelle
58
gestellungen beinhalten. Es wurde jedoch bestätigt, dass für diese Fragestellungen eigene Forschungsagenden
entwickelt werden sollten. Die vorliegende Forschungsagenda für die Jahre
2007–2017 wurde mit kleinen Modifikationen von den Teilnehmenden verabschiedet.
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Tabelle 2: Bewertung der Forschungsbereiche
Bereich
Hohe/eher
hohe
Priorität %
A) Forschung zur
Evaluation der Wirkung
pflegerischer Maßnahmen
91
B) Forschung zur Entwicklung
pflegerischer Dienstleistungen
in einem sich verändernden
Gesundheitssystem
87
C) Forschung, die pflegerelevante Phänomene
identifiziert, in theoretischen
Modellen beschreibt und
systematisch beurteilt
78
D) Forschung über Zusammenhänge zwischen Arbeitsumgebung und Pflegequalität 71
E) Forschung, die die
Funktionen und Ressourcen
familialer Systeme
konzeptualisiert und praktische
Implikationen beschreibt
69
F) Forschung über die Vielfalt
individueller Lebensumstände
und wie diese in der Pflege
berücksichtigt werden kann
60
G) Forschung zur Umsetzung
von ethischen Prinzipien
in der Pflege*
60
* Punkt wurde nach der Konsensuskonferenz überarbeitet
Resultat
Forschungsagenda
Die einzelnen Punkte der Forschungsagenda werden in Abbildung 1 dieses
Artikels detailliert dargestellt. Zuerst
werden die allgemeinen Aspekte und
anschließend die sieben Forschungsbereiche auf drei Ebenen in der Reihenfolge ihrer Gewichtung beschrieben.
Auf der ersten Ebene wird der Bereich
benannt und erklärt. Auf der zweiten
Ebene werden konkretisierte Themenbereiche und der Zweck der Forschung
dargestellt. Auf der dritten Ebene werden Bespiele konkreter Forschungsfragen des jeweiligen Bereiches angegeben. Diese sind als Illustrationen und
auf keinen Fall als abschließende Aufzählung zu verstehen.
Diskussion
Das Ziel des SRAN-Projekts war es,
eine klinisch ausgerichtete Agenda für
die Pflegeforschung in der Schweiz zu
formulieren. Trotz begrenzter Ressourcen und unterschiedlichen Ausgangslagen in den drei Landesteilen
der Schweiz konnte dieses Ziel erreicht
werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der schweizerischen Pflege
verabschiedeten Personen aus der
französischen, italienischen und deutschen Schweiz gemeinsam Schwerpunkte der Pflegeforschung.
Im Projekt wurden mehrere Methoden
der Prioritätensetzung kombiniert.
Die erstellte Agenda baut auf zwei Literaturrecherchen auf und wurde in
mehreren Schritten durch verschiedene Expertengremien begutachtet. Die
Rückmeldungen der Expertinnen wurden fortlaufend in die Entwicklung der
Agenda aufgenommen. Dieses schrittweise Vorgehen wurde auch in anderen
Projekten angewandt (Annells, DeRoche, Koch, Lewin & Lucke, 2005; Levin
et al., 2002; Moreno-Casbas et al., 2001).
Das SRAN-Projekt verwendete analog
zu vielen internationalen Projekten
ebenfalls ExpertInnen- und Interessengruppen als Informationsquelle
(Department of Health and Children,
2003; Higher Education Funding
Council for England (HEFCE), 2001;
National Institute of Nursing Research, 1993; Ross et al., 2002). Die Methode der Konsensuskonferenz wurde
jedoch nur selten verwendet. Patientinnen und Patienten wurden bisher
nur selten in den Agendaprozess integriert. Obwohl im SRAN Projekt ein
Einbezug vorgesehen war, scheiterte
der ursprüngliche Plan von Fokusinterviews mit Patientenvertreterinnen
an den fehlenden personellen Ressour-
cen. Patientenorganisationen nahmen
deshalb erst an der nationalen Umfrage und an der abschließenden Konsensuskonferenz teil.
Die Ausarbeitung der Forschungsagenda für die Pflege stellte eine große
Herausforderung dar. Die knappen
finanziellen und personellen Ressourcen führten zu Limitierungen. Die
nationale Umfrage konnte online
durchgeführt werden, jedoch fehlte
eine konstante Werbung, welche diese
Umfrage bekannter gemacht hätte und
damit die Chance für eine größere
Stichprobe, insbesondere in der französischen Schweiz, gesteigert hätte.
Die statistische Auswertung wurde
primär zur Identifikation eines Mehrheitskonsenses und zur Bildung einer
Rangordnung der Schwerpunkte verwendet. Das Ziel der Rangordnung
konnte mit der Dichotomisierung
(hohe/eher hohe – tiefe/eher tiefe Priorität) erreicht werden, verunmöglichte
aber eine differenziertere Aussage zur
Gewichtung innerhalb und zwischen
den Gruppen.
Die Agenda integriert Themen des Managements und der Pflegepädagogik
nicht, sondern ist auf klinische Forschung ausgerichtet. Dies entspricht
sowohl den Projektvorgaben, wie auch
den Empfehlungen anderer Projekte
(Academy of Finland, 2003; MorenoCasbas et al., 2001; National Institute
of Nursing Research, 1993). Die SRANAgenda erwähnt jedoch explizit die
«Forschung über Zusammenhänge
zwischen Arbeitsumgebung und Pflegequalität» als Priorität und integriert
so Themen an der Schnittstelle zwischen Forschung zu Management/
Ausbildung und klinischer Forschung.
Die Integration von allgemeinen
Aspekten wie Theoriebezug, Gender
und Kultur, den Einbezug von Patientinnen und Patienten in die Forschung,
Patientensicherheit, Förderung der
Methodenvielfalt und Kooperationen
entspricht in vielen Punkten den Emp-
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fehlungen von Pflegeorganisationen
(Honor Society of Nursing Sigma Theta Tau, 2005) und der WHO (Hirschfeld, 1998).
An der Konsensuskonferenz warnten
vereinzelte Stimmen, dass durch die
starke Gewichtung der Agenda auf
Interventionen und Ergebnisse, die
Forschung zu sehr auf biomedizinisches/naturwissenschaftliches Wissen ausgerichtet ist und sozialwissen-
schaftliche Aspekte vernachlässigt
werden könnten. Auch im internationalen Kontext wurde darauf hingewiesen, dass eine Prioritätensetzung
bestimmte Themen verhindert (Cox,
2004). Diese Befürchtungen bedürfen
daher in Zukunft der Aufmerksamkeit
und weiterer Diskussionen.
In der Agenda wurde bewusst auf zu
stark eingrenzende Formulierungen
verzichtet, um den gesellschaftlichen
Entwicklungen und Veränderungen im
Gesundheitswesen gerecht werden
zu können. Damit berücksichtigt die
Agenda die internationale Diskussion
über Veränderungen im Gesundheitswesen. Auf diesem Hintergrund hat
das Projektteam bewusst darauf verzichteten, die Liste der Prioritäten weiter zu reduzieren.
Klinische Forschungsagenda der Pflege 2007–2017 in der Schweiz
Teil A: Allgemeine Aspekte
Theoriebezug
Ein Ziel der Pflegeforschung muss die Entwicklung von Theorien sein, welche die Patientensituationen und die Pflegepraxis beschreiben,
erklären und vorhersagen.
Forschungsergebnisse sollen vermehrt in Beziehung zu bestehenden theoretischen Modellen gesetzt werden.
Gender und Kultur
In Studien müssen Fragestellungen, Stichprobenerhebung und Auswertungsstrategien Gender-Aspekten Rechnung tragen.
In Studien müssen Fragestellungen, Stichprobenerhebung und Auswertungsstrategien transkulturellen Unterschieden Rechnung
tragen.
Zusammenarbeit mit PatientInnen
Bei den untersuchten Phänomenen muss konsequent die Betroffenen- oder Nutzerperspektive einbezogen werden.
Es sind Strategien zu entwickeln, die es ermöglichen, Schritte des Forschungsprozesses in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit
Patientinnen und Angehörigen zu planen und durchzuführen.
Patientensicherheit
Pflegerische Forschung muss physische und psychosoziale Risiken identifizieren.
Negative Folgen therapeutischer oder organisatorischer Maßnahmen müssen in Fragestellungen der Pflegeforschung eingeschlossen
werden.
Forschungsmethoden
Qualitative und quantitative Ansätze sollten vermehrt kombiniert werden,
• durch Integration beider Ansätze in einem Projekt,
• durch qualitative und quantitative Studien, die sich auf dasselbe Thema beziehen.
Koordination
Die Tätigkeiten einzelner ForscherInnen und Forschungszentren sowie studentische Abschlussarbeiten sollen in kooperativen Projekten
oder Forschungsprogrammen gebündelt werden.
Interdisziplinarität
Der interdisziplinäre Charakter gesundheitsbezogener Forschung sollte vermehrt berücksichtigt werden. Dazu sollen
• andere Disziplinen an pflegerisch verantworteten Projekten partizipieren.
• pflegerische Fragestellungen in Forschungsprojekte anderer Disziplinen integriert werden.
• disziplinübergreifende Projekte gemeinsam geplant und durchgeführt werden.
Teil B: Die sieben Prioritäten der Forschungsagenda
1. Priorität hat Forschung zur Evaluation der Wirkung pflegerischer Maßnahmen
Pflegerische Interventionsforschung soll dazu beitragen, dass Maßnahmen und Programme eingesetzt werden, die klar definiert sind
und deren Effektivität nachgewiesen ist. Diese Art von Forschung setzt voraus, dass zunächst eindeutig bestimmbare pflegesensitive
Outcomekriterien zur Verfügung stehen.
Um den Bedarf an pflegetherapeutischen Interventionen zu definieren und deren Wirkung zu kontrollieren, müssen pflegesensitive
Patientenoutcomes definiert werden.
Beispiel: Vordringlich sind Untersuchungen zur Operationalisierung von Outcomes zur Erfassung eines für Patienten zufrieden
stellenden Symptommanagements.
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SRAN
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Beispiel: Von hoher Bedeutung ist die Entwicklung von Methoden zur Erfassung des Selbstmanagements im Umgang mit akuten oder
chronischen Erkrankungen.
Um definierte Patientenoutcomes zu erreichen, müssen pflegetherapeutische Interventionen entwickelt und/oder überprüft werden.
Beispiel: Dringend ist die Entwicklung von Interventionen zur Gewaltprävention bei verschiedenen Risikopopulationen.
Beispiel: Vordringlich ist die Erforschung der Wirksamkeit von Interventionen, im Bereich der Patientenedukation hinsichtlich ihres
Einflusses auf die Lebensqualität, auf die Prävention von Folgekomplikationen und auf das Coping im Umgang mit einer Erkrankung.
Beispiel: Benötigt werden Untersuchungen zur Effektivität nichtpharmakologischer Interventionen in Bezug auf das Symptommanagement.
Die Wirksamkeit von Interventionsprogrammen ist im Vergleich zu Einzelinterventionen anhand definierter Outcomekriterien zu
messen und evaluieren.
Beispiel: Nötig sind Studien zur Evaluation von Präventions- und Disease-Management-Programmen.
2. Priorität hat Forschung zur Entwicklung pflegerischer Dienstleistungen in einem sich verändernden Gesundheitssystem
Pflege ist ein wichtiger Teil der Gesundheitsversorgung und wird von Veränderungen des Systems beeinflusst. Umgekehrt kann die
Entwicklung der Pflege Impulse zur Verbesserung der Versorgung geben.
Um eine optimale Koordination der Dienstleistungen zu gewährleisten, müssen die organisatorischen Abläufe in ambulanten und
stationären Gesundheitsinstitutionen überprüft werden.
Beispiel: Vordringlich ist die Untersuchung interdisziplinärer und institutionsübergreifender Zusammenarbeit in der Betreuung
chronisch kranker Menschen.
Um dem sich verändernden Betreuungsbedarf gerecht zu werden, müssen neue Versorgungsangebote und Betreuungsmodelle
entwickelt und getestet werden.
Beispiel: Bedeutung haben Untersuchungen über den Nutzen von 24 Stunden-Angeboten und Follow-up Beratungen.
Beispiel: Nötig sind Untersuchungen zur Evaluation und Implementierung genetischer Pflegeberatung.
Beispiel: Benötigt werden Untersuchungen von Versorgungsangeboten, die die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung von Patientinnen nachhaltig verbessern.
Beispiel: Wichtig ist Forschung zur Wirksamkeit verschiedener Formen von Partizipation Betroffener in der Entwicklung von Angeboten.
Betreuungsangebote im Akutbereich müssen im Hinblick auf ihr Potenzial untersucht werden, den Veränderungen im Gesundheitssystem gerecht zu werden.
Beispiel: Notwendig ist Forschung zu den veränderten Bedingungen, die sich durch die verkürzte Verweildauer in stationären
Einrichtungen ergeben.
Beispiel: Vordringlich sind Untersuchungen zu den spezifischen Bedürfnissen chronisch oder mehrfach erkrankter Menschen,
die in akutmedizinischen Versorgungsstrukturen betreut werden.
3. Priorität hat Forschung, die pflegerelevante Phänomene identifiziert, in theoretischen Modellen beschreibt und systematisch
beurteilt
Viele pflegerelevante Phänomene sind bisher unzureichend beschrieben, definiert und theoretisch konzeptualisiert. Forschung in
diesem Bereich hat neben theoretischer Klärung und Entwicklung das Ziel, durch Operationalisierungen zu verlässlichen und fundierten
individuums- oder populationsbezogenen Einschätzungen und Datensammlungen beizutragen.
Um ein umfassendes Verständnis ihrer Situation zu ermöglichen, müssen Krankheitserfahrungen von Patienten erfasst werden.
Beispiel: Vordringlich sind Untersuchungen über das Erleben und die Erfahrungen von Menschen, die mit neuer Technologie und
Diagnostik konfrontiert werden und von Menschen die mit chronischen verlaufenden Krankheiten leben.
Um spezifische Unterstützungsangebote zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens und der Adhärenz zu entwickeln, müssen
Faktoren untersucht werden, die den Umgang von Menschen mit ihrer Erkrankung beeinflussen.
Beispiel: Wichtig sind Untersuchungen über selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen und über Veränderungen kognitiver
Fähigkeiten älterer Menschen.
Um die Betreuung und die Austrittsplanung zu verbessern, müssen Instrumente zur Einschätzung von Phänomenen wie Symptomen,
Risikoverhalten und Selbstpflegefähigkeiten entwickelt und überprüft werden.
Beispiel: Vordringlich ist die Entwicklung diesbezüglicher Instrumente für Patienten mit eingeschränkten sprachlichen Möglichkeiten
und für Patienten in Palliativsituationen.
Beispiel: Von hoher Bedeutung ist das Testen von Instrumenten zum Risikoverhalten bezüglich Drogen, Rauchen und Ernährung.
Beispiel: Dringend ist die Entwicklung von Screeninginstrumenten zur Erfassung von Selbstpflegefähigkeiten und -fertigkeiten bei
Menschen mit chronischen Krankheiten, und multimorbiden Patienten.
Um eine systematische und populationsbezogene Erfassung von Risikoprofilen zu gewährleisten, müssen vorhandene Pflegedaten
in bestehende epidemiologische Datensets integriert, oder neue Datensets für die Pflege entwickelt werden.
Beispiel: Wichtig ist das Monitoring pflegesensitiver Patientenoutcomes, wie Dekubitus, Sturz, nosokomoniale Infektionen, Schmerz
und Patientenzufriedenheit.
4. Priorität hat Forschung über Zusammenhänge zwischen Arbeitsumgebung und Pflegequalität
Angesichts der knappen personellen Ressourcen und der zunehmenden Differenzierung innerhalb der Pflegeberufe ist Forschung über
eine sinnvolle Ressourcenzuteilung dringend erforderlich.
Um die Auswirkungen auf die Pflegequalität zu erfassen, müssen personelle Ressourcenzuteilungen und organisatorische Strukturen
untersucht werden.
Beispiel: Wichtig ist die Entwicklung von Kriterien für einen optimalen Skill-Mix/Grade-Mix.
Beispiel: Benötigt werden Erhebungen von vergleichbaren Daten zu Organisationskultur, Leadership-Modellen, Teamarbeit, Entscheidungsfindungsprozessen, Arbeitspensen und Arbeitsabläufen auf nationaler Ebene.
Pflege 2008; 21: 252–261
Originalarbeit
Beispiel: Benötigt werden Kriterien zur Beurteilung der interdisziplinären Zusammenarbeit in Betreuungsteams.
Beispiel: Von Bedeutung ist die Überprüfung des Nutzens von Pflegespezialistinnen zur Verbesserung der Pflegequalität.
Um gute Patientenergebnisse mit gesunden Pflegenden zu erzielen, müssen die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf die
Gesundheit der Pflegenden untersucht werden.
Beispiel: Wesentlich ist die Untersuchung der Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz und unterschiedlichen Schichtarbeitsmodellen
auf die Gesundheit.
5. Priorität hat Forschung, die die Funktionen und Ressourcen familialer Systeme konzeptualisiert und praktische Implikationen
beschreibt
Gesundheitliche Störungen betreffen immer auch soziale Systeme und die entsprechenden Wechselwirkungen müssen von der Pflege
berücksichtigt werden.
Um Ressourcen und den pflegerischen Unterstützungsbedarf familialer Systeme zu definieren, müssen die Auswirkungen von Krankheit
und Beeinträchtigungen auf diese Systeme beschrieben werden.
Beispiel: Benötigt wird Forschung zum Unterstützungsbedarf von familialen Systemen mit kranken/verunfallten/oder Kindern mit
Behinderung.
Beispiel: Wichtig ist Forschung zum Unterstützungsbedarf pflegender Angehörigen von Menschen mit Demenz/psychisch/chronisch
kranken Menschen.
Um den pflegerischen Interventionsbedarf abzuleiten, muss der Einfluss des familialen Systems auf den Krankheitsverlauf, Therapieerfolg und Rehabilitationsmöglichkeiten untersucht werden.
Beispiel: Vordringlich ist Interventionsforschung zur Verbesserung der Adhärenz und des Lebensstils familialer Systeme, die durch
chronische Erkrankungen eines Angehörigen belastet sind.
6. Priorität hat Forschung über die Vielfalt individueller Lebensumstände und wie diese in der Pflege berücksichtigt werden kann
Der moderne Lebensstil erzeugt eine immer größere Vielfalt und Individualität von Lebenssituationen. Pflege ist nur dann effektiv,
wenn sie dieser Vielfalt Rechnung trägt. Eine besondere Herausforderung besteht darin, maßgeschneiderte pflegerische Angebote
für besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen zur Verfügung zu stellen.
Um eine umfassende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, müssen pflegerische Angebote entwickelt und evaluiert werden,
welche die Lebensumstände vulnerabler Populationen berücksichtigen.
Beispiel: Wichtig ist Forschung zur Optimierung des pflegerischen Angebotes an MigrantInnen und Menschen mit geringer Schulbildung und niedrigem sozioökonomischen Status.
7. Priorität hat Forschung zur Umsetzung von ethischen Prinzipien in der Pflege
Die Nähe der Pflegenden zu den Patienten auch in Grenz- und Entscheidungssituationen führt dazu, dass sie von einer Vielzahl ethischer
Dilemmata betroffen sind.
Um Pflegenden moralische Grundlagen zur Entscheidungsfindung in komplexen klinischen Situationen zu bieten, ist der Beitrag von
Pflegenden in diagnostischen und therapeutischen (inkl. Therapieabbruch) Entscheidungsprozessen in multiprofessionellen Teams
zu untersuchen.
Beispiel: Benötigt wird Forschung zur Definition pflegeethischen Handelns bei Ressourcenknappheit.
Um den pflegerischen Unterstützungsbedarf adäquat zu erfassen, ist zu beschreiben, wie sich die Betroffenen an den Entscheidungsprozessen beteiligen können.
Beispiel: Von Bedeutung ist Forschung, die Entscheidungsprozesse Betroffener bezüglich diagnostischer Verfahren und Behandlungen
untersucht.
Schlussfolgerungen
Die «Swiss Research Agenda for Nursing» bildet eine wertvolle Grundlage
für weitere Diskussionen, die nun dringend notwendig sind. Sie kann als
Grundlage für weiterführende gesundheitspolitischen Diskussionen dienen.
Eine Reduktion der sieben Schwerpunkte sollte nur in Verbindung mit
der Diskussion über eine klar ausgerichtete nationale Gesundheitspolitik
erfolgen.
Mit der Ansiedlung der Pflege an verschiedenen Hochschulen ist in naher
Zukunft mit einer Zunahme von Forschungsprogrammen und -projekten
zu rechnen. Wesentliche Fragestellungen, die für eine zukunftweisende Pflege beantwortet werden müssen, können auf dem Hintergrund der Agenda
zwischen Forschenden und Auftraggebern formuliert werden. Damit die
Agenda diese Rolle übernehmen kann,
bedarf es dringend eines Aktionsplans
zur Implementierung der Agenda. Die
Konsensuskonferenz erteilte dem
Schweizerischen Verein für Pflegewissenschaft (VFP) explizit den Auftrag,
dieses Folgeprojekt in die Wege zu leiten.
Dank
Die Autorinnen und Autoren danken
der Firma F. Hoffmann-La Roche AG,
Basel und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) für die finanzielle Unterstützung des Projekts. Folgenden
Institutionen danken wir, dass sie personelle und finanzielle Ressourcen zur
Verfügung gestellt haben: Haute école
de Santé, Fribourg; Institut für Pflegewissenschaft, Universität Basel; Institut für Pflege, Zürcher Hochschule für
Angewandte Wissenschaften, Winter-
259
L. Imhof et al.
260
SRAN
Originalarbeit
thur; Lindenhof Schule Bern; Universitäre Psychiatrische Dienste Bern;
Universitäts-Frauenklinik, Inselspital
Bern; Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe WE’G, Aarau; Zentrum für Entwicklung und Forschung
Pflege, Universitätsspital Zürich.
Bedanken möchten wir uns bei den folgenden Personen und Expertengruppen für ihre fachliche Unterstützung:
den Präsidentinnen des Lenkungsausschusses Frau M. Zierath, MScN, Basel
und Frau Dr. V. Hantikainen, Bern. Den
Mitgliedern des Advisory Panel Prof.
Dr. R. Spirig, Universität Basel (Leitung), Prof. Dr. med. J. Günthard, Kinderspital Basel (Co-Leitung), Prof. Dr.
S. Bartholomeyczik, Universität Witten/Herdecke, Dr. M. Bécherraz, Recherche Soins Infirmiers, Trelex, Dr.
P.-A. Delley, Roche Pharma Schweiz
AG, Dr. A. Glaus, Zentrum für Tumordiagnostik und Prävention, St.
Gallen, Dr. V. Hantikainen, Inselspital
Bern, PD Dr. Dr. S. Käppeli, Universitätsspital Zürich, Prof. Dr. P.C. Meyer,
Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften, Winterthur, Frau C.
Panchaud, Bern, Prof. Dr. med. W.
Stauffacher, Basel sowie den Mitgliedern der akademischen Fachgesellschaften gerontologische, psychiatrische, onkologische Pflege.
far was scarce. The “Swiss Research
Agenda for Nursing (SRAN)”project developed an agenda for clinical nursing
research between 2005 and 2007.
Based on literature reviews, expert
panels and a national survey a project
team formulated an agenda which
passed a consensus conference.
The agenda recommends aspects that
should lead research and defines seven
research priorities for nursing in
Switzerland for the time between 2007
and 2017. Nursing research should
prioritize to investigate 1) the effectiveness of nursing interventions; 2)
the influences of service adaptations in
a changing health care system; 3) the
phenomena in patients requiring nursing care; 4) the influence of the work
environment on the quality of nursing
care; 5) the functioning of family and
social systems; 6) varieties of life circumstances and their integration; and
7) the implementation of ethical principles in nursing.
Written in German and French, the
Swiss Research Agenda for Nursing for
the first time formulates priorities for
nursing research in Switzerland and
can be used for strategic discussions. As
Swiss Research Agenda for Nursing
a next step, the development of an ac-
(SRAN): The development of an
tion plan to enhance nursing research
agenda for clinical nursing research
will take place in Switzerland.
in Switzerland
In many Anglo-Saxon and North Euro-
Literatur
pean countries nursing research agendas have been developed to address
priorities in nursing research in accordance with a nationally defined health
policy. In Switzerland, due to lack of a
nationwide governmental health policy, co-ordination of nursing research so
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Korrespondenzadresse
Dr. Lorenz Imhof, PhD, RN
Zürcher Hochschule
für Angewandte Wissenschaften
Institut für Pflege
Bankstraße 4
Postfach 804
CH-8401 Winterthur
E-Mail: [email protected]
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