Presse - Cornelius Hummel

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Presse - Cornelius Hummel
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KURIER-EXTRA
Freitag,
10. Juni 2011
Wiesbadener Kurier
GILGAMESCH
PROJEKTCHRONIK
. Frühjahr 09
. Heute wird die Bürgeroper
„Gilgamesch“ im Staatstheater
Wiesbaden uraufgeführt (19
Uhr). Am Samstag ist die zweite
und vorerst letzte Vorstellung.
Zwei Jahre lang erfanden, texteten, komponierten und probten
rund 200 Wiesbadener Bürger
zusammen mit Profis vom
Staatstheater ihre eigene Oper.
Vom Libretto über die Komposition bis nun schließlich zur Aufführung – alles entstand im
Team. Unterstützt wurden die
„Künstler auf Zeit“ von Ernst August Klötzke und Cornelius Hummel (Komposition), Bodo Busse
und Priska Janssens (Libretto).
. Das 5000 Jahre alte Epos von
Gilgamesch und seinem Freund,
dem wilden Enkidu, die als gefeierte Helden in der sumerischen Stadt Uruk mit der Götterwelt in Konflikt geraten, ist die
Grundlage des soziokulturellen
Projekts. Inspiriert von Vorstellungen der Teilnehmer zu einer
idealen Stadt verbindet sich in
„Gilgamesch“ ein Epos mit dem
heutigen Wiesbaden und der
Frage nach Merkmalen einer lebenswerten Stadt. Priska Janssens bringt mit dieser Oper wie
bereits bei anderen Projekten
des Jugendreferats viele Menschen auf die Bühne, die dort üblicherweise nicht zu finden sind.
Der Traum entsteht: Bürger
einer Stadt machen Musiktheater. Geht das? Welche
Geschichte eignet sich? Gilgamesch begeistert alle.
. September 09
Beginn der Arbeit am Libretto. Köpfe rauchen. Gilgamesch und Enkidu, die Götter, der Kampf, die Städte.
Erhitzte Gemüter, entstehende Texte.
. Oktober 09
Librettowerkstatt in den
Schulen: Fluxus, Wichern,
Comenius. „Es gibt unglaubliche Dinge. Wir verzaubern
uns in Tiere, Maschinen und
Monster, in gemeine Räuber,
Discotänzer, Könige und feine Herrschaften.Es ist wie
im echten Theater.“
. November 09
30.11.2009 Vorstellung des
Librettos – zum ersten Mal
auf der Bühne. Manchem
wird himmelangst beim Vortragen der eigenen Texte.
Das voll besetzte Haus spült
Begeisterung auf die Bühne.
Alles entsteht im Team: Projektteilnehmer auf der Bühne des Großen Hauses.
Foto: Kretzer
Wenn Jungfrauen noch nicht richtig hängen
PROBENBESUCH Die Wiesbadener „Bürgeroper“ im Endspurt zur Bühnenreife beobachtet / Uraufführung am heutigen Freitag im Staatstheater
Von
Volker Milch
WIESBADEN. Dienstagabend
im Staatstheater. Noch drei Tage bis zur Uraufführung der
Bürgeroper „Gilgamesch”, nur
noch zehn Minuten bis zur Klavierhauptprobe. Projektleiterin
Priska Janssens ist auf dem Weg
in ihr Büro, um ein fehlendes
Kostümteil zu holen. Arbeit am
großen Mythos geht nicht ohne
die Aufmerksamkeit für tausend Kleinigkeiten, aus denen
sich eine gelungene Produktion
eben auch zusammensetzt.
Priska Janssens, mit ihrem Jugendreferat verantwortlich für
so engagierte, die Bevölkerung
in integrierende Theaterprojekte wie „Semiramis” oder „move@school“, findet das Stückchen Stoff und scheint auf dem
Weg zur Bühne des Großen
Hauses die Ruhe selbst zu sein.
Sie habe „ein gutes Gefühl”,
bestätigt sie, „wir sind sehr, sehr
weit gekommen”. Bei der Klavierhauptprobe sind die Darsteller erstmals mit richtigen
Kostümen auf der Bühne, „ein
ganz seltsames Gefühl für
Laien”.
Im Großen Haus ist die Band
der Waldorfschule noch mit
dem Soundcheck beschäftigt.
Sie spielt neben einem Stück
des babylonischen Ischtar-Tores, wie man es aus Berlins Pergamonmuseum kennt. Priska
Janssens, die auch Regie führt,
wirft einen kritischen Blick auf
die Szene: „Die Jungfrauen sind
noch nicht eingerichtet, die
wollte der Bühnenmeister umhängen”. Die „Jungfrauen” sind
archaisch anmutende Figuren,
die später, kopfüber, Gilgameschs Albtraum illustrieren
sollen. Sie werden sich schon
noch drehen.
Vor ein paar Wochen konnte
man die Projektteilnehmer
noch in Alltagskleidern auf der
Probebühne erleben. Von Schülern bis zu Senioren sind alle Altersklassen vertreten. Nur eine
Art Kutte hatten sie sich übergeworfen. „Mein Partner fehlt, der
mich verkloppt”, beklagte sich
ein älterer Herr, bevor sich die
Bürger der mythischen Stadt in
verschiedenen Gruppen über
die Bühne bewegen, in der Mitte zusammentreffen, fallen und
sich mit Gesten des Schreckens
und der Trauer zu lebenden Bil-
dern formieren. Jetzt, auf der
„richtigen” Bühne, hat die Szene deutlich an Intensität gewonnen, und man bekommt eine
Ahnung davon, wie viel Aufmerksamkeit von jedem Teilnehmer bis zur Bühnenreife des
Projekts gefordert ist – nicht zu-
Projektleiterin und Regisseurin
Priska Janssens.
Foto: Kretzer
letzt vom Dirigenten Wolfgang
Ott, der bei dieser Probe nur
einen Flügel vor sich, die Instrumentation der 181 Seiten starken Opernpartitur aber im Ohr
hat („Jetzt kommt die Harfe”).
Während die Probe auf vollen
Touren läuft, haben die jugendlichen Projektteilnehmer Niels,
Yaron (beide 14) und Taddeo
(10) eine Pause eingelegt und
Zeit für ein Gespräch: Niels erzählt, dass er, abgesehen von
einem „Jim Knopf“-Besuch, keine besondere Theatererfahrung
hatte. Die Begeisterung für den
Gilgamesch-Text habe ihn erst
zum Komponisten und nun
zum Darsteller gemacht und
auch den Freund Yaron zum
Mitmachen motiviert. Die drei
Jungs sind als „Traumtänzer“
engagiert und ziemlich froh,
dass sie Gilgameschs Qualen
und keine Bäume darstellen
müssen, was im Vergleich doch
„ziemlich langweilig“ sei.
Gar nicht langweilig findet das
Trio die Band, die jetzt an der
Reihe ist. Sogar ein Rap gehört
zur bunten Bürgeroper. Ein
bisschen hakelt es noch in der
Bühnentechnik. Aber bei der
Uraufführung wird der Jeep, auf
dem sich der Sänger positioniert, sicher ohne Panne durch
den Mythos rollen.
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Aufführungen am 10. und am
11. Juni, jeweils 19 Uhr im
Staatstheater. Die Vorstellungen sind bis auf wenige Restkarten ausverkauft. KartenInfo: 0611 132 325
Ein Video zu diesem Thema finden Sie im Internet unter
www.wiesbadener-kurier.de/video
. Dezember 09
Beginn der Arbeit in den
Kompositionsgruppen
. Januar 10
Waldorfschule: Eine Schulband komponiert das Liebeslied der Ishtar. Offene
Werkstatt: Die ersten Klänge
auf dem Computer
. März 10
Alma Delon, Erik Biegel und
Reinhold Schreyer-Morlock
treffen die Komponisten
und singen vom Blatt. Plötzlich wird Oper greifbar.
. Juni 10
Präsentation der Komposition im Theater. Die Partitur
ist fertig! Ein Kilo ist sie
schwer und hat 181 Seiten.
. September 10
Beginn der Choreografie.
Schüler, Senioren, Arbeitnehmer und Arbeitslose,
Menschen mit und ohne Behinderung entwickeln gemeinsam einen körperlichen
Ausdruck für das Stück.
. Oktober 10
„In jedem Menschen steckt Musik“
INTERVIEW Cornelius Hummel hat die Komponisten-Gruppe betreut
WIESBADEN. Bis vor drei
Jahren war der Wiesbadener
Komponist Cornelius Hummel
als Cellist im Staatsorchester
aktiv. Zusammen mir Ernst
August Klötzke, dem Leiter
der Musik-Theater-Werkstatt,
hat er nun beim GilgameschProjekt die KomponistenGruppe betreut.
Herr Hummel, wie klingt die
Wiesbadener
Bürgeroper?
Gab es so etwas wie eine
Stil-Vorgabe?
Keinesfalls. So ein Projekt ist
nur zu realisieren, wenn man
offen ist für die Ideen ganz
unterschiedlicher Menschen,
wenn man bereit ist, sich auf
einen Schaffensprozess einzulassen, dessen Ausgang ungewiss ist. Unser Anliegen war,
die Menschen dort abzuholen,
wo sie stehen und die Ideen
aus ihnen herauszulocken,
denn in jedem Menschen
steckt Musik.
Cornelius Hummel mit Nachwuchs-Komponisten.
Foto: Kretzer
Wie setzt sich die Gruppe zusammen?
Das Projekt sollte generationenübergreifend sein und möglichst
viele
Bevölkerungsschichten mit einbeziehen.
Vom Harz-IV-Empfänger bis
zum Rechtsanwalt, vom 10jährigen Schüler bis zum 80jährigen Rentner. Daher rech-
neten wir mit einer Vielfalt stilistischer Einflüsse. Es ergab
sich denn auch ein Spektrum,
das tonal gebundene Passagen
ebenso enthält wie dissonante
Klänge. Es entstanden Rocksongs und sogar ein Rap, sinfonisch angelegte Orchestermusiken, kammermusikalisch begleitete Arien, Chöre, akkordisch unterlegte Melodramen.
Sie haben 50 komponierende
Projektteilnehmer betreut.
Wie komponiert man eigentlich im Kollektiv?
Indem man Aufgaben verteilt. In den wöchentlichen
Treffen wurden sowohl im Plenum als auch in Gruppen Abschnitte des Librettos musikalisch vermessen. Tonmaterial,
Instrumente, den Hauptfiguren
zuzuordnende
musikalische
Motive, Stimmung und Spannung wurden diskutiert und
festgelegt. Dann gab es Hausaufgaben: In Kleingruppen trafen sich die Komponisten, um
die Ideen auszuarbeiten.
Das wurde dann schriftlich
festgehalten?
Musik wurde auf Notenpapier skizziert, Ideen wurden
in den Kassettenrekorder gesungen, Verläufe wurden mit
Sequenzerprogrammen
erstellt. Der Einsatz eines profes-
sionellen
Notenschreibprogramms machte es möglich, die
Ergebnisse in Partiturform
sichtbar und Dank naturgetreuer Instrumental-Samples
hörbar zu machen. So konnte
jeder auch ohne Notenkenntnisse in den Entstehungsprozess eingebunden werden.
Setzen sich Ihre Kollegen im
Orchestergraben mit dem
Werk jetzt so ernsthaft auseinander wie sonst auch mit
Mozart, Verdi, Strauss & Co.?
Die Einstudierung wurde wie
eine traditionelle Opernproduktion disponiert. Es gab Orchestereinzelproben, Proben
mit Sängern und Orchester im
Probenraum sowie Bühnenproben, Hauptprobe und Generalprobe. Es ist sehr spannend, die Proben zu verfolgen.
Dirigent und Musiker treten
dem Gemeinschaftswerk mit
großem Interesse und Ernsthaftigkeit gegenüber und zeigen sich erstaunt über die vielfältige und trotzdem geschlossene Klangsprache.
Ist überhaupt genug Musik
für ein abendfüllendes Werk
zusammengekommen?
Wenn man bedenkt, dass wir
in der Vorplanung mit etwa 20
Minuten komponierter Musik
und sonst überwiegend mit im-
provisierten Teilen gerechnet
hatten, war es sehr erfreulich
und erstaunlich, dass durch
den sich immer mehr intensivierenden Arbeitsprozess und
durch die Aufteilung der
Arbeit in verschiedene Gruppen nun ein 181 Partiturseiten
umfassendes Werk von etwa.
90 Minuten komponierter Musik vorliegt.
Wie verhält sich gesungener
zu gesprochenem Text?
Um die relativ umfangreiche
Textvorlage in den Griff zu bekommen war klar, dass ein Teil
des Textes in Dialogform oder
als Melodram präsentiert wird.
Jedoch überwiegt zeitlich bei
weitem das gesungene Wort.
Was hat Ihnen persönlich auf
dem langen Weg zur Bürgeroper am meisten Spaß gemacht?
Mit so vielen Menschen zusammen zu komponieren und
um ein Werk zu ringen war
eine ganz neue Erfahrung für
mich. Aus dem EinzelkämpferDasein des Komponisten herauszutreten und meine Fähigkeiten und Kenntnisse in den
Dienst einer großen Gruppe zu
stellen – das hat mir viel Freude gemacht!
Das Gespräch führte Volker Milch.
Das erste Mal auf der großen Bühne: Grund- und Gesamtschüler bewegen sich
noch vorsichtig, wie auf Eis.
. November 10
Workshop Bühnenbild: die
Grafikklasse der Berufsschule entwickelt eigene Entwürfe zu Gilgamesch. Workshop „Gilgamesch im Hozschnitt“: Selbst kreierte
Kunstwerke werden von
Hand gedruckt. Ursprüngliche Technik für eine ursprüngliche Geschichte.
. Dezember 10
Die Riederbergschüler ziehen ein Resümee der bisherigen Proben: „Es war lustig,
weil wir immer zusammen
umgefallen sind. Das war
echt sehr schön!“
. Januar 11
Die Offene Gruppe Darstellung probt im Großen Ballettsaal. Bürger von „UrukWiesbaden“ in Bewegung,
im Rausch der Musik. Orchesterproberaum: das gesamte Staatsorchester probt
den Kampf zwischen Gilgamesch und Enkidu. Die Tontechniker machen eine Aufnahme, die später in der 11.
Szene rückwärts abgespielt
werden soll.
. 10. Juni 2011
Uraufführung im Großen
Haus des Staatstheaters.