Presse - Cornelius Hummel
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Presse - Cornelius Hummel
26 KURIER-EXTRA Freitag, 10. Juni 2011 Wiesbadener Kurier GILGAMESCH PROJEKTCHRONIK . Frühjahr 09 . Heute wird die Bürgeroper „Gilgamesch“ im Staatstheater Wiesbaden uraufgeführt (19 Uhr). Am Samstag ist die zweite und vorerst letzte Vorstellung. Zwei Jahre lang erfanden, texteten, komponierten und probten rund 200 Wiesbadener Bürger zusammen mit Profis vom Staatstheater ihre eigene Oper. Vom Libretto über die Komposition bis nun schließlich zur Aufführung – alles entstand im Team. Unterstützt wurden die „Künstler auf Zeit“ von Ernst August Klötzke und Cornelius Hummel (Komposition), Bodo Busse und Priska Janssens (Libretto). . Das 5000 Jahre alte Epos von Gilgamesch und seinem Freund, dem wilden Enkidu, die als gefeierte Helden in der sumerischen Stadt Uruk mit der Götterwelt in Konflikt geraten, ist die Grundlage des soziokulturellen Projekts. Inspiriert von Vorstellungen der Teilnehmer zu einer idealen Stadt verbindet sich in „Gilgamesch“ ein Epos mit dem heutigen Wiesbaden und der Frage nach Merkmalen einer lebenswerten Stadt. Priska Janssens bringt mit dieser Oper wie bereits bei anderen Projekten des Jugendreferats viele Menschen auf die Bühne, die dort üblicherweise nicht zu finden sind. Der Traum entsteht: Bürger einer Stadt machen Musiktheater. Geht das? Welche Geschichte eignet sich? Gilgamesch begeistert alle. . September 09 Beginn der Arbeit am Libretto. Köpfe rauchen. Gilgamesch und Enkidu, die Götter, der Kampf, die Städte. Erhitzte Gemüter, entstehende Texte. . Oktober 09 Librettowerkstatt in den Schulen: Fluxus, Wichern, Comenius. „Es gibt unglaubliche Dinge. Wir verzaubern uns in Tiere, Maschinen und Monster, in gemeine Räuber, Discotänzer, Könige und feine Herrschaften.Es ist wie im echten Theater.“ . November 09 30.11.2009 Vorstellung des Librettos – zum ersten Mal auf der Bühne. Manchem wird himmelangst beim Vortragen der eigenen Texte. Das voll besetzte Haus spült Begeisterung auf die Bühne. Alles entsteht im Team: Projektteilnehmer auf der Bühne des Großen Hauses. Foto: Kretzer Wenn Jungfrauen noch nicht richtig hängen PROBENBESUCH Die Wiesbadener „Bürgeroper“ im Endspurt zur Bühnenreife beobachtet / Uraufführung am heutigen Freitag im Staatstheater Von Volker Milch WIESBADEN. Dienstagabend im Staatstheater. Noch drei Tage bis zur Uraufführung der Bürgeroper „Gilgamesch”, nur noch zehn Minuten bis zur Klavierhauptprobe. Projektleiterin Priska Janssens ist auf dem Weg in ihr Büro, um ein fehlendes Kostümteil zu holen. Arbeit am großen Mythos geht nicht ohne die Aufmerksamkeit für tausend Kleinigkeiten, aus denen sich eine gelungene Produktion eben auch zusammensetzt. Priska Janssens, mit ihrem Jugendreferat verantwortlich für so engagierte, die Bevölkerung in integrierende Theaterprojekte wie „Semiramis” oder „move@school“, findet das Stückchen Stoff und scheint auf dem Weg zur Bühne des Großen Hauses die Ruhe selbst zu sein. Sie habe „ein gutes Gefühl”, bestätigt sie, „wir sind sehr, sehr weit gekommen”. Bei der Klavierhauptprobe sind die Darsteller erstmals mit richtigen Kostümen auf der Bühne, „ein ganz seltsames Gefühl für Laien”. Im Großen Haus ist die Band der Waldorfschule noch mit dem Soundcheck beschäftigt. Sie spielt neben einem Stück des babylonischen Ischtar-Tores, wie man es aus Berlins Pergamonmuseum kennt. Priska Janssens, die auch Regie führt, wirft einen kritischen Blick auf die Szene: „Die Jungfrauen sind noch nicht eingerichtet, die wollte der Bühnenmeister umhängen”. Die „Jungfrauen” sind archaisch anmutende Figuren, die später, kopfüber, Gilgameschs Albtraum illustrieren sollen. Sie werden sich schon noch drehen. Vor ein paar Wochen konnte man die Projektteilnehmer noch in Alltagskleidern auf der Probebühne erleben. Von Schülern bis zu Senioren sind alle Altersklassen vertreten. Nur eine Art Kutte hatten sie sich übergeworfen. „Mein Partner fehlt, der mich verkloppt”, beklagte sich ein älterer Herr, bevor sich die Bürger der mythischen Stadt in verschiedenen Gruppen über die Bühne bewegen, in der Mitte zusammentreffen, fallen und sich mit Gesten des Schreckens und der Trauer zu lebenden Bil- dern formieren. Jetzt, auf der „richtigen” Bühne, hat die Szene deutlich an Intensität gewonnen, und man bekommt eine Ahnung davon, wie viel Aufmerksamkeit von jedem Teilnehmer bis zur Bühnenreife des Projekts gefordert ist – nicht zu- Projektleiterin und Regisseurin Priska Janssens. Foto: Kretzer letzt vom Dirigenten Wolfgang Ott, der bei dieser Probe nur einen Flügel vor sich, die Instrumentation der 181 Seiten starken Opernpartitur aber im Ohr hat („Jetzt kommt die Harfe”). Während die Probe auf vollen Touren läuft, haben die jugendlichen Projektteilnehmer Niels, Yaron (beide 14) und Taddeo (10) eine Pause eingelegt und Zeit für ein Gespräch: Niels erzählt, dass er, abgesehen von einem „Jim Knopf“-Besuch, keine besondere Theatererfahrung hatte. Die Begeisterung für den Gilgamesch-Text habe ihn erst zum Komponisten und nun zum Darsteller gemacht und auch den Freund Yaron zum Mitmachen motiviert. Die drei Jungs sind als „Traumtänzer“ engagiert und ziemlich froh, dass sie Gilgameschs Qualen und keine Bäume darstellen müssen, was im Vergleich doch „ziemlich langweilig“ sei. Gar nicht langweilig findet das Trio die Band, die jetzt an der Reihe ist. Sogar ein Rap gehört zur bunten Bürgeroper. Ein bisschen hakelt es noch in der Bühnentechnik. Aber bei der Uraufführung wird der Jeep, auf dem sich der Sänger positioniert, sicher ohne Panne durch den Mythos rollen. i v Aufführungen am 10. und am 11. Juni, jeweils 19 Uhr im Staatstheater. Die Vorstellungen sind bis auf wenige Restkarten ausverkauft. KartenInfo: 0611 132 325 Ein Video zu diesem Thema finden Sie im Internet unter www.wiesbadener-kurier.de/video . Dezember 09 Beginn der Arbeit in den Kompositionsgruppen . Januar 10 Waldorfschule: Eine Schulband komponiert das Liebeslied der Ishtar. Offene Werkstatt: Die ersten Klänge auf dem Computer . März 10 Alma Delon, Erik Biegel und Reinhold Schreyer-Morlock treffen die Komponisten und singen vom Blatt. Plötzlich wird Oper greifbar. . Juni 10 Präsentation der Komposition im Theater. Die Partitur ist fertig! Ein Kilo ist sie schwer und hat 181 Seiten. . September 10 Beginn der Choreografie. Schüler, Senioren, Arbeitnehmer und Arbeitslose, Menschen mit und ohne Behinderung entwickeln gemeinsam einen körperlichen Ausdruck für das Stück. . Oktober 10 „In jedem Menschen steckt Musik“ INTERVIEW Cornelius Hummel hat die Komponisten-Gruppe betreut WIESBADEN. Bis vor drei Jahren war der Wiesbadener Komponist Cornelius Hummel als Cellist im Staatsorchester aktiv. Zusammen mir Ernst August Klötzke, dem Leiter der Musik-Theater-Werkstatt, hat er nun beim GilgameschProjekt die KomponistenGruppe betreut. Herr Hummel, wie klingt die Wiesbadener Bürgeroper? Gab es so etwas wie eine Stil-Vorgabe? Keinesfalls. So ein Projekt ist nur zu realisieren, wenn man offen ist für die Ideen ganz unterschiedlicher Menschen, wenn man bereit ist, sich auf einen Schaffensprozess einzulassen, dessen Ausgang ungewiss ist. Unser Anliegen war, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen und die Ideen aus ihnen herauszulocken, denn in jedem Menschen steckt Musik. Cornelius Hummel mit Nachwuchs-Komponisten. Foto: Kretzer Wie setzt sich die Gruppe zusammen? Das Projekt sollte generationenübergreifend sein und möglichst viele Bevölkerungsschichten mit einbeziehen. Vom Harz-IV-Empfänger bis zum Rechtsanwalt, vom 10jährigen Schüler bis zum 80jährigen Rentner. Daher rech- neten wir mit einer Vielfalt stilistischer Einflüsse. Es ergab sich denn auch ein Spektrum, das tonal gebundene Passagen ebenso enthält wie dissonante Klänge. Es entstanden Rocksongs und sogar ein Rap, sinfonisch angelegte Orchestermusiken, kammermusikalisch begleitete Arien, Chöre, akkordisch unterlegte Melodramen. Sie haben 50 komponierende Projektteilnehmer betreut. Wie komponiert man eigentlich im Kollektiv? Indem man Aufgaben verteilt. In den wöchentlichen Treffen wurden sowohl im Plenum als auch in Gruppen Abschnitte des Librettos musikalisch vermessen. Tonmaterial, Instrumente, den Hauptfiguren zuzuordnende musikalische Motive, Stimmung und Spannung wurden diskutiert und festgelegt. Dann gab es Hausaufgaben: In Kleingruppen trafen sich die Komponisten, um die Ideen auszuarbeiten. Das wurde dann schriftlich festgehalten? Musik wurde auf Notenpapier skizziert, Ideen wurden in den Kassettenrekorder gesungen, Verläufe wurden mit Sequenzerprogrammen erstellt. Der Einsatz eines profes- sionellen Notenschreibprogramms machte es möglich, die Ergebnisse in Partiturform sichtbar und Dank naturgetreuer Instrumental-Samples hörbar zu machen. So konnte jeder auch ohne Notenkenntnisse in den Entstehungsprozess eingebunden werden. Setzen sich Ihre Kollegen im Orchestergraben mit dem Werk jetzt so ernsthaft auseinander wie sonst auch mit Mozart, Verdi, Strauss & Co.? Die Einstudierung wurde wie eine traditionelle Opernproduktion disponiert. Es gab Orchestereinzelproben, Proben mit Sängern und Orchester im Probenraum sowie Bühnenproben, Hauptprobe und Generalprobe. Es ist sehr spannend, die Proben zu verfolgen. Dirigent und Musiker treten dem Gemeinschaftswerk mit großem Interesse und Ernsthaftigkeit gegenüber und zeigen sich erstaunt über die vielfältige und trotzdem geschlossene Klangsprache. Ist überhaupt genug Musik für ein abendfüllendes Werk zusammengekommen? Wenn man bedenkt, dass wir in der Vorplanung mit etwa 20 Minuten komponierter Musik und sonst überwiegend mit im- provisierten Teilen gerechnet hatten, war es sehr erfreulich und erstaunlich, dass durch den sich immer mehr intensivierenden Arbeitsprozess und durch die Aufteilung der Arbeit in verschiedene Gruppen nun ein 181 Partiturseiten umfassendes Werk von etwa. 90 Minuten komponierter Musik vorliegt. Wie verhält sich gesungener zu gesprochenem Text? Um die relativ umfangreiche Textvorlage in den Griff zu bekommen war klar, dass ein Teil des Textes in Dialogform oder als Melodram präsentiert wird. Jedoch überwiegt zeitlich bei weitem das gesungene Wort. Was hat Ihnen persönlich auf dem langen Weg zur Bürgeroper am meisten Spaß gemacht? Mit so vielen Menschen zusammen zu komponieren und um ein Werk zu ringen war eine ganz neue Erfahrung für mich. Aus dem EinzelkämpferDasein des Komponisten herauszutreten und meine Fähigkeiten und Kenntnisse in den Dienst einer großen Gruppe zu stellen – das hat mir viel Freude gemacht! Das Gespräch führte Volker Milch. Das erste Mal auf der großen Bühne: Grund- und Gesamtschüler bewegen sich noch vorsichtig, wie auf Eis. . November 10 Workshop Bühnenbild: die Grafikklasse der Berufsschule entwickelt eigene Entwürfe zu Gilgamesch. Workshop „Gilgamesch im Hozschnitt“: Selbst kreierte Kunstwerke werden von Hand gedruckt. Ursprüngliche Technik für eine ursprüngliche Geschichte. . Dezember 10 Die Riederbergschüler ziehen ein Resümee der bisherigen Proben: „Es war lustig, weil wir immer zusammen umgefallen sind. Das war echt sehr schön!“ . Januar 11 Die Offene Gruppe Darstellung probt im Großen Ballettsaal. Bürger von „UrukWiesbaden“ in Bewegung, im Rausch der Musik. Orchesterproberaum: das gesamte Staatsorchester probt den Kampf zwischen Gilgamesch und Enkidu. Die Tontechniker machen eine Aufnahme, die später in der 11. Szene rückwärts abgespielt werden soll. . 10. Juni 2011 Uraufführung im Großen Haus des Staatstheaters.