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KATEDRA GERMANISTIKY FILOZOFICKÁ FAKULTA Univerzita Palackého v Olomouci Bc. Marie Nevařilová Berlín ve vybraných prózách německých autorů 2. poloviny 20. století Vedoucí práce: Mgr. Sabine Voda Eschgfäller, Ph.D. Olomouc 2014 Prohlašuji, že jsem diplomovou práci vypracovala samostatně a uvedla v ní předepsaným způsobem všechny použité prameny a literaturu. V Olomouci dne 5. 5. 2014 …………………………. Tímto bych chtěla poděkovat vedoucí své práce, paní Mgr. Sabine Voda Eschgfäller, PhD., za její čas, cenné rady, komentáře a vstřícnou spolupráci. Obsah Einleitung und methodische Überlegungen ................................................................. 6 1 Geschichte Berlins im Zusammenhang mit der Geschichte Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts..................................................................... 8 1.1 Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Entstehung der BRD und der DDR ....................................................................................................................... 8 1.2 Weitere politische Entwicklung in der BRD und DDR bis zum Bau der Berliner Mauer ....................................................................................................... 10 2 3 1.3 Nach dem Bau der Berliner Mauer in der BRD .......................................... 11 1.4 Die Situation nach dem Mauerbau in der DDR .......................................... 14 1.5 Der Zusammenbruch der SED-Diktatur ...................................................... 15 Die Metropole Berlin in der deutschgeschriebenen Literatur ............................ 17 2.1 Berliner Prosa .............................................................................................. 17 2.2 Die Literatur Ost vs. West ........................................................................... 18 2.3 Literatur der Einwanderer............................................................................ 21 2.4 Fräuleinwunder ............................................................................................ 22 Analyse der ausgewählten Texte........................................................................ 24 3.1 Thomas Brussig ........................................................................................... 24 3.2 Am kürzeren Ende der Sonnenallee ............................................................ 25 3.2.1 Die Reflexion der Potsdamer Konferenz .................................................. 26 3.2.2 Das Alltagleben am kürzeren Ende der Sonnenallee ................................ 26 3.2.3 Die politische Dimension des Lebens ....................................................... 28 3.2.4 Die Liebe und das Erwachsenwerden ....................................................... 31 3.3 Emine Sevgi Özdamar ................................................................................. 33 3.4 Mutterzunge und Großvaterzunge ............................................................... 34 3.4.1 Wiedergabe der historischen und politischen Ereignisse .......................... 35 3.4.2 Alltagleben ................................................................................................ 37 3.4.3 Die Rolle der Liebe und Religion ............................................................. 39 4 Komparation der analysierten Texte .................................................................. 42 4.1 Der Erzähler ................................................................................................ 42 4.2 Die Erzählzeit und die erzählte Zeit ............................................................ 44 4.3 Der Raum .................................................................................................... 47 4.4 Die Figuren .................................................................................................. 49 4.5 Die Symbole ................................................................................................ 51 Zusammenfassung ...................................................................................................... 53 Resümee ..................................................................................................................... 57 Literaturverzeichnis.................................................................................................... 58 Annotation .................................................................................................................. 63 Einleitung und methodische Überlegungen In dieser Diplomarbeit, die den Titel Berlin in ausgewählten Prosatexten deutscher Autoren in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts trägt, befassen wir uns mit dem Raum der Berliner Metropole und seinem literarischen Abbild in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Berlin wird im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Stadt, wo die besondere politische, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung einem neuen Trend entstehen lässt. Man spricht von der sog. Berliner Prosa, die als Gesamtheit aller Texte, deren Autoren aus Berlin stammen, in Berlin leben oder die Stadt nur schöpferisch darstellen, definiert wird.1 Dank der Globalisierung handelt es sich nicht mehr nur um die deutschen Schriftsteller, die über die deutsche Metropole schreiben, sondern man kann auch die Zunahme der Werke ausländischer Literaten beobachten. Eine der markantesten Gruppen stellen die türkischen Autoren dar, die sich seit den 60er Jahre in Deutschland niederlassen. Das Ziel unserer Arbeit ist es, die literarische Darstellung der einheimischen Schriftsteller und der türkischen Immigranten anhand zweier ausgewählter Werke zu vergleichen. Wir haben zwei weltweit bekannte Texte ausgewählt, den Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee, der von Thomas Brussig 1999 geschrieben wurde, und den Erzählband Mutterzunge, der von der türkischen Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar stammt, wobei wir uns nur auf die zwei ersten Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge beschränken, denn (im Gegensatz zu den restlichen Erzählungen) sie entwickeln dieselbe Handlung und spielen sich überwiegend in Berlin ab. Diese Texte weisen viele gemeinsame Merkmale auf – beide spielen in der Zeit der Teilung Berlins, beschreiben das Alltagleben in der Umgebung der Berliner Mauer, beschäftigen sich mit der menschlichen Identität und bearbeiten das Motiv der Liebe. Die Länge beider Texte ist vergleichbar, sie sind beide in den 90er Jahren herausgegeben worden, d. h. nach dem Mauerfall, aber trotzdem thematisieren sie ihre Existenz. Wir wollen feststellen, inwieweit die Auswahl der Themen und Motive dieser Berliner-Prosa-Werke von der Herkunft des Autors abhängig ist. 1 LANGER, Phil C. Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von „Berlin“ in die deutsche Literatur der neunziger Jahre. Berlin, WEIDLER Buchverlag, 2002. S. 35–37. 6 Die Diplomarbeit beginnt mit einem Umriss der wichtigsten Ereignisse der deutschen Geschichte. Der Überblick sollte uns zum Verständnis der politischen Dimension der Texte helfen. Darauf folgt die Definition der Berliner Prosa, die Kategorisierung der Schriftsteller in Generationen nach den thematischen Ähnlichkeiten der Prosatexte und nach der Herkunft der Autoren, indem wir erstens die deutsch-deutsche (d. h. Ost vs. West) Literatur und zweitens die Bedeutung der türkischen Autoren im Bereich der Berliner Prosa beschreiben. Die Basis der Gliederung geht von Phil. C. Langers Arbeit über die Einschreibung von Berlin in die deutsche Literatur der 90er Jahre aus, denn Langer beobachtet diesen literarischen Trend aus möglichst vielen Blickwinkeln. Im dritten Teil der Diplomarbeit konzentrieren wir uns auf die Analyse der ausgewählten Texte, die wir aus thematischer Sicht durchführen. Daran knüpft das zweite analytische Kapitel an, die die Erzählungskomponente (den Erzählertyp, die Erzählzeit und die erzählte Zeit, den Raum, die Figuren und die Symbole) beider Texte im Vergleich behandelt. Als theoretische Grundlage der Analyse verwenden wir die literaturtheoretischen Schriften von Stanzel (Theorie des Erzählens2 und Typische Formen des Romans3) und Genette (Die Erzählung4), weil Stanzel ganz präzis die Erzählsituationen beschreibt, die in unseren ausgewählten Texten vorkommen. Bei der Analyse der Kategorie Zeit wollen wir außer der Erzählzeit und der erzählten Zeit noch die zeitlichen Abweichungen von der Handlungshauptlinie charakterisieren, deshalb gehen wir von Genette aus, denn er behandelt die vorkommenden zeitlichen Unregelmäßigkeiten sehr ausführlich und ermittelt die Gründe ihres Auftretens. Die Synthese der Ergebnisse führen wir in der Zusammenfassung dieser Arbeit an. 2 STANZEL, Franz K. Theorie des Erzählens. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1979. STANZEL, Franz K. Typische Formen des Romans. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1972. 4 GENETTE, Gérard. Die Erzählung. Stuttgart, Wilhelm Fink, 2010. 3 7 1 Geschichte Berlins im Zusammenhang mit der Geschichte Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin stand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zentrum fast aller wichtigen politischen Ereignisse. Kein Wunder, dass es viele Schriftsteller gab (und immer noch gibt), die diese sonderbare politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation beeinflusste und zur literarischen Tätigkeit inspirierte. Wenn wir annehmen, dass die Auswahl der Themen und ihre Verarbeitung von dem historischen Geschehen bestimmt werden, ist es für richtige Interpretation der ausgewählten Werke wichtig, einen Überblick der bedeutendsten Momente Geschichte Deutschlands, bzw. Berlins anzuführen. 1.1 Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Entstehung der BRD und der DDR Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist mit der Eroberung und Plünderung der deutschen Metropole verbunden. Im April 1945 drangen zahlreiche Truppen der Sowjetischen Armee in Berlin ein. Am 21. April fand die Schlacht um Berlin statt, die das Aussehen der Stadt für immer veränderte. Ein paar Tage später, am 1. Mai wurde, als Symbol der Niederlage des NS-Regimes und als Symbol des Triumphs der Sowjets, die sowjetische Fahne am Gebäude des Reichstags aufgehängt. Wenige Tage danach kam er zur Kapitulation Berlins, was den Krieg endete.5 Im Juli 1945 begann im Potsdamer Schloss Cecilienhof die Friedenkonferenz, die die Zukunft Europas nach dem Zweiten Weltkrieg lösen sollte. Die Vertreter der Siegermächte – der sowjetische Diktator Stalin, der US-Präsident Truman und der britische Premier Churchill wollten die Reste der NS-Herrschaft abschaffen und die Situation in Deutschland streng kontrollieren. Sie hatten jedoch verschiedene Vorstellungen darüber, wie es aussehen sollte. Vor allem Stalin wollte für sich die größte Einflusssphäre gewinnen. Nach vielen Verhandlungen teilten sie Deutschland und Berlin in vier Besatzungszonen und zwar in eine französische, britische, Berlin im Nationalsozialismus [online]. Aufgerufen am: 6. 1. 2014. http://www.berlin.de/berlin-imueberblick/geschichte/nationalsozialsmus.de.html. 5 8 amerikanische und sowjetische Zone. Die Teile der westlichen Siegermächte wurden in ein Ganze verbunden und von den West-Alliierten verwaltet.6 Der Zweite Weltkrieg hatte katastrophale Folgen für die deutsche Wirtschaft. Die Menschen litten unter dem Mangel an Lebensmitteln. Nicht nur die westalliierten Verwaltungsvertreter sondern auch die Sowjetunion wollte die deutsche Wirtschaft wiederbeleben. Die Alliierten wählten sich zu diesem Zweck eine Währungsreform aus. Am 20. Juni 1948 versuchten sie die Kaufkraft durch die Einführung neuer Währung, der D-Mark, zu stärken, damit Deutschland zu einem funktionierenden Staat wurde.7 Dieses erneute Wirtschaftsleben begann sich langsam dem westlichen, an Konsum gerichteten Lebensstil zu ähneln. Die Einführung der neuen Währung erregte im östlichen Teil Deutschlands eine Welle von Begeisterung und Hoffnung, dass auch dieses Landesgebiet solche Hilfe bekäme. Das wollte aber Stalin nicht akzeptieren, deshalb eröffnete er Blockade aller Landwege nach Westberlin. Die Versorgung Westberlins wurde durch eine Luftbrücke realisiert. Die Tatsache, dass die Alliierten den Deutschen diese Krise zu überwinden halfen, führte zur Veränderung der Verhältnisse zwischen den beiden Seiten, weil die Besiegten die Alliierten immer mehr positiver betrachteten.8 Die Alliierten wollten auf dem Gebiet ihrer Besatzungszonen einen Staat schaffen, dessen Lebensdauer ursprünglich nur vorläufig sein sollte. Am 23. Mai 1949 kam es zur offiziellen Gründung der Bundesrepublik Deutschland aus den westlichen Besatzungszonen. Der Sitz des Bundestags wurde in Bonn festgelegt. Darauf reagierte Stalin auch mit Gründung eines neuen sozialistischen Staats, der in den Augen der Westalliierten als ein demokratischer Staat aussehen sollte, aber in der Wirklichkeit regelte er alles aus der Sowjetunion. Der neue Staat entstand am 7. Oktober 1949. Zur Hauptstadt der DDR wurde Ost-Berlin. Die Entstehung der neuen Staaten befestigte die divergente Entwicklung beider Gebiete.9 6 ZÜCKERT, Gudula – ZÜCKERT, Ulrich. Eine getrennte Geschichte. Bamberg, C. C. Buchner, 1993. S. 5–6. 7 HARBECKE, Ulrich. Abenteuer Deutschland. Von der Teilung zur Einheit. Bergisch Gladbach, Gustav Lübbe Verlag, 1990. S. 27–28. 8 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. München, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 2010. S. 42–44. 9 Ebenda, S. 44–47. 9 1.2 Weitere politische Entwicklung in der BRD und DDR bis zum Bau der Berliner Mauer Nach der Entstehung der BRD regierte im Land eine demokratische gewählte Regierung, die aber noch unter der Kontrolle der Westalliierten (in der Form der sog. drei Hohen Kommissare) stand. Zum Bundeskanzler wurde Konrad Adenauer, der sich die schrittweise Wiedergewinnung der Souveränität als Ziel setzte. Die BRD orientierte sich in der Politik und Wirtschaft auf Westen. Dank der finanziellen Unterstützung (v. a. seitens der USA) erlebte die neu entstandene Republik einen wirtschaftlichen Aufschwung, der als Wirtschaftswunder bezeichnet wird. Die BRD wurde immer mehr in die internationale Politik und Wirtschaft integriert, sie wurde zum Mitglied der OEEC, NATO usw. Auch die jahrhundertlange Feindschaft zwischen den Deutschen und den Franzosen wurde mit Hilfe von einem Freundschaftsvertrag (1963) geendet. Die Besatzung Deutschlands wurde offiziell (im Westen und auch im Osten) im Jahre 1955 beendet. Die neue demokratische Regierung musste aber auch mit manchen Problemen ringen. Viele Regierungskritiker verübelten Adenauer, dass er die Vergangenheit schnell vergaß, denn er viele ehemaligen Nazis in die Regierung integrierte. Nicht nur dieses, sondern auch mehrere andere Gründe (wie z. B. die Spiegel-Affäre im Herbst 1962) führten dazu, dass im Oktober 1963 Adenauer zurücktrat. Zum nächsten Bundeskanzler wurde Ludwig Erhart.10 Während in der BRD eine demokratische Regierung herrschte, zeichnete sich die Verwaltung in der DDR durch die Parteidiktatur der SED aus. An der Spitze der Regierung stand Walter Ulbricht, der die Verwaltung auf das sowjetische Modell ausrichtete – die Staatswirtschaft wurde zentral gelenkt, die Betriebe wurden verstaatlicht, die Landwirtschaft wurde kollektiviert. Es wurde eine politische Geheimpolizei eingeführt, die viele Menschen verfolgte und abhörte. Nicht nur die Politik, sondern auch das private Leben wurden gleichschaltet – es entstanden viele Massenorganisationen wie Gewerkschaften, Jugendverbände, Frauenorganisationen, die von der SED geregelt wurden. Seitens der Bewohner verlier das Regime immer mehr an Sympathien, denn im Vergleich mit der BRD kam es in der DDR zu keiner Verbesserung der Lebensverhältnisse. Manche 10 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 57–73. 10 Menschen flohen deshalb nach Westen (zwischen 1949 und 1961 flohen etwa 2,7 Mio. Menschen), manche versuchten gegen die Verschlechterung des Lebensstandards zu kämpfen. Im Jahre 1953 verbreiteten sich Unruhungen unter den Arbeitern, die am 17. Juni zuerst zu einem Streik in Berlin und später zu einem Volksaufstand in allen Industriezentren der DDR führten. Sie forderten die freien Wahlen, wirtschaftliche Reformen und Beseitigung des Ulbricht-Regimes. Der Aufstand wurde von der Roten Armee mit Gewalt unterdrückt. Da die Zahl der Flüchtlinge nach Westen ständig wuchs, drohte der DDR ein Wirtschaftskollaps. Um ihn zu verhindern, entschied sich Ostdeutschland für eine radikale Lösung. In der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 wurde die Grenze zwischen dem westlichen und östlichen Teil Berlins durch einen Stacheldrahtverhaue und später durch eine Mauer abgetrennt.11 1.3 Nach dem Bau der Berliner Mauer in der BRD Obwohl der neue Regierungschef der Vater des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhart, war, stoppte in den 60er Jahren das wirtschaftliche Wachstum und kam es in der BRD zu einer wirtschaftlichen Krise. Einer der Gründe dazu war auch der Mangel an deutschen Arbeitskräften. 1961 vereinbarte die Türkei und die BRD ein Anwerbeabkommen mit beschränkter Arbeitsdauer von 2 Jahren. Danach sollten die Türken Deutschland verlassen und in die Türkei zurückkehren. Die Bedingungen veränderten sich anfangs der 70er Jahren und die Gastarbeiter begannen sich in der BRD mit ihren ganzen Familien niederzulassen. Dieses war aber seit der Zeit der Ölkrise unerwünscht. Infolgedessen wurden die Bedingungen immer mehr verschärft. Trotzdem ist in der Bundesrepublik nicht nur eine große Kommunität der Türken, aber auch der Polen, Griechen, Kroaten und Italiener entstanden.12 Die Unzufriedenheit der Menschen führte zu Neuwahlen, die Kurt Georg Kiesinger gewann. Es entstand neue christlich-liberale Koalition (die sog. Große Koalition), die die Krise zu lösen begann.13 Die Veränderung betraf auch die Einmischung des Staats in das private Leben der Menschen. Die Gesellschaft wurde nach Jürgen Weber modernisiert und liberalisiert: 11 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 89–96. DAYI, Serna. 50 Jahre Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, 2011. S. 4–6. 13 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 105–111. 12 11 „Der Staat zog sich aus den Schlafzimmern seiner Bürger zurück, Ehebruch und Homosexualität bei Erwachsenen waren nicht mehr strafbar.“14 Die 60er Jahren zeichneten sich neben der wirtschaftlichen Krise und den gesellschaftlichen Reformen durch die innenpolitische Instabilität aus. Es wurde eine neue rechtsextreme nationalistische Partei NDP gegründet, die bis 1969 sogar in manchen Parlamenten tagte. Die stärkste Gruppe, die sich oppositionell gegen die damalige Regierung stellte, war die Außenparlamentarische Opposition (APO), eine Organisation, die aus der akademischen Jugend entstand. Diese Gruppe kritisierte die absolute Macht der Großen Koalition, die im Parlament kein Gegengewicht hatte. Die Unzufriedenheit der jüngeren Generation hatte aber noch weitere Gründe. Viele Studenten protestierten gegen den Vietnamkrieg, der eine tiefe Krise des Vertrauens der Westdeutschen gegenüber den Amerikanern verursachte.15 Gleichzeitig trat die junge Generation gegen die NS-Vergangenheit der Elterngeneration auf. Alle diese Proteste eskalierten mit dem Besuch des diktatorischen Schachs von Persien im Juni 1967, wann bei einer Revolte ein Student starb.16 Die Protestbewegung beruhigte sich bis Ende der 60er Jahren, die Teilnehmer suchte sich eine neue Weise des Kampfes aus und eine kleine Minderheit von den Unzufriedenen formte sich sogar in eine terroristische Gruppe. Die Wahlen im Jahre 1969 brachten eine Veränderung in der westdeutschen Politik. Zum neuen Bundeskanzler wurde Willy Brandt ernannt, der sich um Verbesserung der Beziehungen mit der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Pakts bemühte. Diese charismatische Persönlichkeit sprach viele jungen Menschen an. Er wurde als Repräsentant des anderen, neuen Deutschlands angesehen, ohne Nazivergangenheit. Wie schon gesagt wurde, propagierte Brandt die Verständigungspolitik mit dem Osten. Er begann mit dem Regierungschef der DDR über gemeinsame Zusammenarbeit und über die Anerkennung der Existenz der DDR seitens der BRD (und anderen westeuropäischen Länder) zu verhandeln. In den 70er Jahren wurde auch heftiger die Position Westberlins diskutiert. Die BRD strebte nach Verbesserung des Lebens in Westberlin, v. a. durch die Stärkung der Wegeverbindungen an die Bundesrepublik.17 14 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 112. ZÜCKERT, Gudula – ZÜCKERT, Ulrich. Eine getrennte Geschichte. S. 71–72. 16 HARBECKE, Ulrich. Abenteuer Deutschland. Von der Teilung zur Einheit. S. 136–142. 17 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 147–160. 15 12 Die 70er Jahren zeichneten sich aber nicht nur durch dir Annäherung der beiden deutschen Staaten, sondern auch durch eine große Wirtschaftskrise und durch die Radikalisierung des Kampfes der Protestbewegungen gegen die politische Elite des Staates. Helmut Schmidt, der seit 1974 das Kanzleiamt vertrat, hatte zwar viele Erfahrungen in Fragen der Sicherheits-, Verteidigungspolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber er war gegenüber der Ölkrise, die im Jahre 1973 die ganze Welt traf, völlig machtlos. Das Krisenbewusstsein verstärkte noch die gegnerischen Gefühle der jungen Generation, deren kleiner Teil zum Terrorismus griff. Die RAF (Rote Armee Fraktion), mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Horst Mahler an der Spitze, wollte die Massen zum Kampf gegen die politische und gesellschaftliche Elite, gegen die „Unterdrücker“ mobilisieren. Während der 70er Jahre entführten und ermordeten sie viele Politiker.18 Der Kern der RAF wurde schon 1972 verhaftet, der Terror aber fortsetzte. Die terroristische Tätigkeit der RAF eskalierte im Jahre 1977, wann sie den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und eine Lufthansa-Maschine entführten. Die RAF-Mitglieder verlangen die Freilassung von RAF-Häftlingen. Nachdem die Aktion gescheitert hatte, begingen drei von den RAF-Terroristen im Gefängnis Selbstmord.19 In den 80er Jahren verschob sich die Krise in den auslandspolitischen Bereich. Es entstand eine neue Krise zwischen der Sowjetunion und den Amerikanern und zwar wegen der Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen. Die Angst der Menschen vor einem Atomkrieg und ihre Unzufriedenheit mit bestehendem Zustand führten zur Entstehung vieler Friedensbewegungen und schließlich auch zum Misstrauensvotum der politischen Opposition, das 1982 die Veränderung der Regierung verursachte.20 Helmut Kohl wurde als Regierungschef kein populärer Politiker. Er konzentrierte sich v. a. auf die Erneuerung eigener Partei (CDU) und auf die Stabilisierung der innenpolitischen und wirtschaftlichen Situation. Helmut Kohl trat aber auch als Kritiker des SED-Regimes auf und versuchte, die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD weiter zu normalisieren.21 18 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 167–178. ZÜCKERT, Gudula – ZÜCKERT, Ulrich. Eine getrennte Geschichte. S. 98–100. 20 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 179–186. 21 Ebenda, S. 223–239. 19 13 1.4 Die Situation nach dem Mauerbau in der DDR Da in den 50er und 60er Jahren viele Menschen aus der DDR in die BRD flüchteten, diente die Berliner Mauer dem SED-Regime als Schutz vor dem wirtschaftlichen Kollaps und zur Stabilisierung der SED-Herrschaft. Die Grenze wurde streng überwacht und mit den Schutzwaffen gegen sog. „Grenzverbrecher“ ausgerüstet. Niemand konnte die Republik verlassen und der Mensch, der bei einem Fluchtversuch verhaftet wurde, wurde als Staatsverbrecher behandelt. Die Bewohner der DDR wurden auf verschiedene Art und Weise eingeschüchtert, deshalb lebten viele von ihnen in einer Doppelexistenz, wenn sie das private Leben vor der Öffentlichkeit schützten. Es gab viele Einschränkungen auch im Bereich der Kunst – manche Schriftsteller hatten ein Schreibverbot und konnten nichts publizieren, es gab auch Liste der verbotenen Musiker, Philosophen, Filmemacher usw. Die Wirtschaft wurde (nach den Direktiven aus Moskau) zentral gelenkt. Der Parteiführer Walter Ulrich bestand auf der kompromisslosen ideologischen Starrheit und verstand sich selbst als Vollstrecker der kommunistischen Revolution.22 Er wollte in den ideologischen und politischen Fragen die Eigenständigkeit der DDR demonstrieren und das stellte für Moskau ein Problem dar. Deshalb wurde er durch Erich Honecker im Jahre 1971 ersetzt. Mit Honecker verbesserte sich ein bisschen das Leben der DDR-Bewohner. Er gewährte den Menschen kleine Freiheiten, um die grundsätzliche Unfreiheit abzulenken. Die ersten Jahre seiner Regierung wurden sogar positiv und hoffnungsvoll angesehen. Die Bewohner lebten im höheren Lebensstandard – die Löhne und Renten wurden erhöht, die berufstätigen Mütter begünstigt, die Arbeitszeiten verkürzt und die Haushalte besser ausgestattet. Diese soziale Unterstützung verursachte jedoch starke Verschuldung der DDR. Die Liberalität, die mit Honecker käme, war leider nur Fassade, Honecker wollte alles unter Kontrolle haben. Dazu half ihm der Staatsicherheitsdienst, d. h. ein dichtes Netz von Spitzeln und Zuträgern, die die Republik vor Staatsfeinden schützten sollten. Die Regimekritiker wurden streng bestraft. Einer der berühmtesten Fälle war die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahre 1976. Dem kritischen 22 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 127–135. 14 Liedermacher wurde gegen seinen Willen während einer Konzertreise in der BRD die Rückkehr in die DDR verwehrt. Im Laufe der letzen paar Jahre des SED-Regimes vertiefte sich die Unzufriedenheit der DDR-Bürger immer mehr. Trotz mancher humanitärer Erleichterungen, die die BRD den Bürgern der DDR (v. a. Ostberlins) durch finanzielle Unterstützung sicherte, herrschte im Land Versorgungsmangel und die Spannung zwischen der Führung und der Bevölkerung ständig wuchs.23 1.5 Der Zusammenbruch der SED-Diktatur In der zweiten Hälfte der 80er Jahren begann sich die Situation auch in der Sowjetunion zu verändern. Michail Sergejewitsch Gorbatschow pflegte mehr die Beziehungen mit dem Westen, führte Verhandlungen mit den USA, z. B. über die Entspannung und Abrüstung Europas und setzte sich als Ziel, den kalten Krieg zu beenden.24 Er wollte die sozialistische Gesellschaft reformieren, den Sozialismus leistungsfähiger machen. Die sozialistischen Länder sollten jetzt über eigene Zukunft selbst entscheiden. Diese Reformbegeisterung teilte Erich Honecker mit Gorbatschow nicht.25 Den Zusammenbruch des Ostblocks zeichneten die politischen Veränderungen in Polen und Ungarn vor. In der DDR wurden die Probleme des Regimes lange durch die Propaganda verdeckt. Die Massenproteste in der DDR begannen im Oktober 1989 in Leipzig und verbreiteten sich in viele ostdeutsche Städte. Die Ostdeutschen wollten Freiheit und durch eine friedliche Revolution das politische Regime umwandeln. Im November wurde die staatliche Grenze zu der Tschechoslowakei geöffnet, was eine Massenflucht durch die Tschechoslowakei nach Westen ermöglichte. Um das zu verhindern, entschied sich die Führung der DDR die Reisefreiheit gesetzlich festzulegen. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Wenige Tage nach dem Mauerfall ging die friedliche Revolution weiter. Die DDR-Bürger forderten freie Wahlen, an denen sie am 18. März 1990 erstmals teilnahmen. Über die Zukunft des Landes und besonders über die Vereinigung Deutschlands wurde dann heftig diskutiert (z. B. SPD war gegen die schnelle 23 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. S. 193–210. Ebenda, S. 257–259. 25 Ebenda, S. 265–266. 24 15 Vereinigung). Am 3. Oktober 1990 wurde die staatliche Vereinigung unterschrieben, die innere Vereinigung stand jedoch am Anfang.26 26 WINKLER, Heinrich August. 1989/90: Die unverhoffte Einheit. In: STERN, Carola – WINKLER, Heinrich August, eds. Wendepunkte deutscher Geschichte. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1994. S. 193–226. 16 2 Die Metropole Berlin in der deutschgeschriebenen Literatur In der Geschichte der Literatur passiert es manchmal, dass der Raum zur essentiellen Voraussetzung zur Entstehung eines besonderen Typs der Literatur wird. Der bestimmt bekannteste Fall betrifft die Prager (deutsche) Literatur. In der zweiten Hälfte und vor allem am Ende des 20. Jahrhunderts spielt die deutsche Metropole Berlin eine ähnliche Rolle. Durch besondere politische Entwicklung wurde die Stadt zu einem Mythos27, der aufgrund vieler Gegensätze (im politischen, historischen und kulturellen Bereich), die aufeinanderstoßen, entstand. Im folgenden Kapitel beschäftigen wir uns mit der Erklärung des Begriffs Berliner Prosa, der im Zusammenhang mit diesem besonderen Phänomen verwendet wird. Danach folgt die Gliederung der Berliner Prosa in Kategorien nach der Herkunft der Autoren, denn das Ziel unserer Arbeit ist, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der Verarbeitung im Zusammenhang mit das Herkunftsland der Autoren von der Berliner Prosatexten zu untersuchen. Wir unterscheiden ostdeutsche und westdeutsche Schriftsteller und die einheimische Literatur einerseits und die Literatur der deutschen Immigranten andererseits. In der Gruppe der von den Immigranten geschriebenen Literatur beschränken wir uns nur auf die Autoren türkischer Herkunft, damit wir eine theoretische Grundlage für die darauffolgende Analyse der zwei ausgewählten Texte haben. Dieses Kapitel schließen wir mit der Beschreibung eines bedeutenden Trends innerhalb der Berliner Prosa, dem sog. Fräuleinwunder. 2.1 Berliner Prosa Die Berliner Prosa stellt einen besonderen Fall der (post)modernen Literatur dar, in der die zentrale Rolle des Raumes im Vordergrund steht. Die Thematisierung Berlins ist in der deutschen Literatur nichts Neues. Schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Berlin in den Werken von Erich Kästner, Alfred Döblin, Franz Hessel oder Walter Benjamin abgebildet. Ihre literarischen Texte reflektierten die Krise der damaligen Gesellschaft gemeinsam mit der negativen Seite des 27 Vgl. MAGRIS, Claudio. Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien, Zsolnay, 2000. 17 Großstadtlebens und die Autoren suchten mit Hilfe von ihrer schöpfenden Tätigkeit nach neuen Orientierungs- und Handlungsparadigmen.28 Seit der politischen Wende ist es möglich zu beobachten, dass sich die Berliner Prosa zu einem neuen Trend in der Literatur entwickelt. Der Umsturz in DDR und die darauf folgende Wiedervereinigung Deutschlands sind durch einen Boom der mit Berlin verbundenen Literatur gekennzeichnet. Es entstand ein neuer Raum für die Literatur, die am Anfang hauptsächlich die Erinnerung an die jüngste Geschichte verarbeitete. Die Zunahme der Berliner Prosa hängt auch mit der Suche nach neuen verbindlichen Wertmaßstäben und Handlungsnormen, die zur Stabilisierung der Gesellschaft führen sollten, zusammen. Die Schriftsteller projizierten ihre Hoffnungen, Wünschen und Ängste in die wiedervereinigte Stadt. Nach Phil C. Langer zählen wir nicht nur die Autoren zu der Berliner Prosa, die aus Berlin stammten/stammen, sonder auch die Künstler, die in Berlin nur für eine bestimmte Zeit lebten/leben oder die sich diese Metropole als ihr Schreibort wählten. Weder die Thematisierung noch die Darstellung des Berliner Raums ist ein bestimmendes Merkmal, denn die Texte sind sehr vielfältig. Es handelt sich um verschiede Formen der Texte – manche bilden das Leben in Berlin realistisch ab, manche Texte sind eher experimentell, die der Stadt nicht gänzlich gewidmet werden müssen, andere Werke erzählen quasi-autobiographische Storys über dem Mauerfall und es gibt auch solche Bücher, in denen Berlin überhaupt nicht vorkommt und die mit der Stadt nur z. B. durch den Titel verbunden sind. Auch die Form der prosaischen Werke ist verschiedenartig – von (Tagebuch)Romane, Erzählungen, bis zu Autobiographien, Essays usw. Was sie aber gemeinsam haben, ist, dass sie das mythische und mystische Ambiente der Stadt verarbeiten.29 2.2 Die Literatur Ost vs. West In der Literatur der ostdeutschen und der westdeutschen Autoren können wir gewisse unterschiedliche Tendenzen beobachten, was nach der jahrelangen getrennten Entwicklung der beiden Teilen Deutschlands keine Überraschung ist. Der Umbruch dieser Entwicklung ist mit dem Fall der Berliner Mauer zu verbinden. Nach diesem Ereignis begann der Prozess der kulturellen und gesellschaftlichen 28 LANGER, Phil C. Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von „Berlin“ in die deutsche Literatur der neunziger Jahre. S. 19–20. 29 Ebenda, S. 20–40. 18 Wiedernäherung der beiden Staaten, die in der Literatur durch das gemeinsame thematische Feld gezeichnet wurde, und zwar durch die politische Wende und den Weg nach der Wiedervereinigung.30 Die Vorstellung, dass in einem Jahr nach so langer Zeit (von dem Mauerfall bis zur Wiedervereinigung Deutschlands) eine einheitliche Kultur der Trennung entstanden konnte, ist bestimmt unsinnig. Deutschland wurde zwar 1990 staatlich wiedervereinigt, aber der Prozess des kulturellen Nahebringens stellte einen langen Weg dar was auch zum Thema mancher Texte der Berliner Literatur wurde. Im folgenden Abschnitt befassen wir uns mit der thematischen Verschiedenheit bei den Berliner-Prosa-Schriftstellern, die aus Ost- oder Westberlin (oder auch Ost- oder Westdeutschland) stammen, und versuchen außer den deutsch-deutschen Differenzen auch die Generationsunterschiede zu beschreiben. Wenn wir über die Berliner Literatur sprechen, ist es für die Beschreibung der Unterschiede zwischen Ost und West zentral, von der Weise der Thematisierung Berlins auszugehen. Während die ostdeutschen Autoren die Stadt schon in der Zeit der Existenz beider deutschen Staaten thematisieren, fangen die meisten westdeutschen Autoren an, die Stadt erst nach dem Mauerfall literarisch darzustellen. Wir müssen aber auch nicht vergessen, dass in der DDR durften nur solche Texte herausgegeben wurden, die unter dem Einfluss des sozialistischen Realismus geschaffen worden waren. Die Menge der kritischen Texte, die von den ostdeutschen Autoren stammte, konnte erst nach dem Mauerfall publiziert werden.31 Im Osten wird allgemein Berlin als ein Erinnerungsort präsentiert, d. h. die Künstler verarbeiten folgende Themenbereiche: das politische und soziale Alltagsleben in der DDR, die Entwicklung eines Individuums oder einer Identität in der feindseligen Gesellschaft und letztlich die Eigenverantwortlichkeit des Handelns in einer diktatorischen Gesellschaft.32 Aber viele der ehemaligen DDR-Schriftsteller schildern das verlorene Vaterland auch mit bestimmten Maß der Nostalgie (z. B. 30 BRÜNS, Elke. Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung. München, Wilhelm Fink Verlag, 2006. S. 16. 31 LANGER, Phil C. Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von „Berlin“ in die deutsche Literatur der neunziger Jahre. S. 35. 32 ERB, Andreas. „Neues gibt aus den Städten – aus den Städten gibt es nichts“. Peter Wawerzineks Berlin. In: ERB, Andreas, Hrsg. Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1998. S. 167 19 Thomas Brussig im Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee).33 Dagegen wird im Westen die deutsche Metropole als eine dynamische Baustelle, die ihre Bewohner mit ihren Widersprüchen fasziniert, und als Inszenierungsort abgebildet. 34 Der Unterschied zwischen den ost- und westdeutschen Texten steht nach Phil C. Langer nicht im Vordergrund der Forschung der Berliner Literatur, weil es vor allem in der Kategorie der Themen viele Gemeinsamkeiten gibt, die in den Texten der beiden Gruppen vorkommen. Die Ereignisse von 1989/1990 verursachten, dass sich eine Menge von Autoren mit dem Raum Berlins in der Literatur zu beschäftigen begann. Langer geht in seiner Generationsgliederung von Andreas Schumann aus, der innerhalb der Berliner Prosa drei Generationen unterscheidet: a) die ältere Generation, b) die mittlere Generation, c) die jüngere Generation. Die ältere Generation besteht aus Schriftstellern, die vor dem Jahr 1930 geboren waren. Günter Grass, Christa Wolf, Martin Walser u. a. verarbeiteten in seinen Werken Themen wie der Nationalsozialismus, Krieg oder Ost-West-Konflikt. Es handelt sich um politisch und gesellschaftlich orientierte Texte, die das Verhältnis vom Individuum und der Gesellschaft literarisch verarbeiten. Berlin funktioniert in diesen Werken als Ort der nationaler Identität und individueller Vergangenheitsbewältigung. Die mittlere Generation versammelt die Schriftsteller, die um 1968 etwa 30jährig waren. Sie widmeten sich entweder der NSVergangenheit, Wiederaufbau und Adenauerzeit (im Westen) oder der Gründerzeit der DDR (im Osten). Ihre Romane und Erzählungen sind immer noch teilweise politisch und kritisch, aber die Mehrheit zeichnet sich durch Selbstreflexivität und Subjektivität durch. Zu den Vertretern der mittleren Generation zählen wir Botho Strauß, Friedrich Christian Delius oder Irina Liebmann. Die dritte Gruppe, die sog. junge Generation, vertreten Thomas Meinecke, Judith Hermann, Thomas Brussig, Ulrich Woelk, Tim Steffel usw. Sie schaffen keine gesellschaftlich engagierten Texte (das gilt nicht für manche ostdeutsche Texte), es geht um wertneutrale, unpolitische, konsumorientierte Texte, die nach dem Mauerfall oder der Wiedervereinigung 33 NOSKOVÁ, Barbora. Die Teilung und Wende im Spiegel der Berliner-Literatur. Diplomarbeit. Brno, Masarykova Univerzita, 2006. S. 53. 34 ERB, Andreas. Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. S. 7–8. 20 publiziert wurden. Es gibt in dieser Generation viele Autoren, die nach Berlin kamen, um zum Zweck dort zu schreiben.35 Die meisten Literaturtheoretiker beschränken sich bei der Gliederung der Berliner Prosa nur auf zwei Generationen der Autoren ein: die ältere und die jüngere Generation. Die ältere Generation setzt Weltfabrik Berlin in den Berliner Raum ihre Erinnerungen ein (sie besteht aus den zwei ersten, von Schumann unterschieden, Generationen), die jüngere Generation dagegen beschäftigt sich nicht mehr mit der Geschichte, sondern sie innoviert den Inhalt ihrer Texte, indem sie das Leben in der Gegenwart realistisch darstellt. Die Literatur dient der zweiten Generation einerseits als Mittel der Suche nach neuen Wertorientierungen und persönlichem Glück und andererseits als Unterhaltungsmittel, weil sie mit der Literatur Geld verdienen will.36 2.3 Literatur der Einwanderer Nach dem Zweiten Weltkrieg litt Deutschland unter dem Mangel an Arbeitskräfte, der mit dem Bau der Berliner Mauer noch verschlechtert wurde, denn die BDR konnte keine neuen arbeitsfähigen Flüchtlinge aus dem Osten aufnehmen. Deshalb entschied sich die Bundesrepublik, ausländische Arbeiter anzuwerben. Am Anfang fand es die deutsche Regierung nicht notwendig, die sog. „Gastarbeiter“ auszubilden und ihnen die deutsche Sprache beizubringen, weil sie nur für einen beschränkten Zeitabschnitt in Westdeutschland arbeiten sollten und danach die BRD verlassen sollten. Die Arbeiter kamen aus Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Jugoslawien und vor allem aus der Türkei.37 Ganze Familien begannen sich in der BRD niederzulassen und eine eigenartige Kultur zu entwickeln. Viele von ihnen widmen sich der literarischen Tätigkeit, die man als „Gastarbeiterliteratur“, „deutschsprachige Literatur nicht-deutscher Herkunft“, „Migrationsliteratur“ oder auch „interkulturelle Literatur“ bezeichnet. Es gibt noch kein einheitlicher Begriff für diese deutschschreibende Sondergruppe, obwohl es kein neues Phänomen ist. Diese 35 LANGER, Phil C. Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von „Berlin“ in die deutsche Literatur der neunziger Jahre. S. 63–75. 36 GERSTENBERGER, Katharina – HEMINGHOUSE, Patricia. German Literature in a New Century. Trends, Traditions, Transitions, Transformations: An Introduction. In: GERSTENBERGER, Katharina – HEMINGHOUSE, Patricia, eds. German Literature in a New Century. Trends, Traditions, Transitions, Transformations. New York, Berghahn Books, 2008. S. 1–7. 37 AKYOL, Cigdem. Zuhause in Almanya – 50 Jahre türkische Einwanderung in Deutschland [online]. Aufgerufen am 17. 3. 2014. http://heimatkunde.boell.de/2013/11/18/zuhause-almanya-50jahre-t%C3%BCrkische-einwanderung-deutschland. 21 Literaturströmung wird heutzutage zu dem Kanon der deutschen bzw. deutschsprachigen Literatur gezählt. Was die Künstler türkischer Herkunft betrifft, unterscheiden wir im Rahmen der Literatur zwei Generationen der Schriftsteller. Die ältere Generation repräsentieren die Migranten, die am Anfang der 60er Jahre nach Westdeutschland kamen und die sich in diesem Jahrzehnt in der BRD niederließen. Die zweite Generation besteht aus den Kindern dieser Immigranten, die meistens in der 90er Jahren begannen, ihre Texte zu publizieren. Die Bücher beider Generationen thematisieren meistens die Sehnsucht nach der Heimat, die Einsamkeit und Isolation in dem deutsch Gastland38, weiter die Probleme der Einwanderer in einem fremden Land, der langsame Verlust der von den Eltern ererbten Kultur, die Suche nach der Identität, die sich aus zwei verschiedenen Quellen entspringt, die sprachlichen Probleme. Zu den Schriftstellern türkischer Herkunft gehören Persönlichkeiten wie Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoğlu, Zafer Şenocak, Yadé Kara oder Hatice Akyün.39 2.4 Fräuleinwunder Die Jahrtausendwende brachte eine neue Entwicklungsrichtung nicht nur in der Berliner Prosa mit sich, sondern in der deutschen (bzw. deutsch-türkischen) Literatur allgemein. Volker Hage nannte sie im Spiegel (12/1999) „Fräuleinwunder“. Mit diesem Begriff bezeichnet Hage die etwa 30jährigen Künstlerinnen, die den Mut zur neuen literarischen Schreibweise fanden und distanzierten sich dadurch von dem typischen, klischeehaften Bild der Frauen in der Literatur. Obwohl in manchen ihren Büchern das Thema der Diktatur immer noch im Vordergrund steht, unterscheiden sich die jungen Autorinnen von denen Schriftstellerinnen, die der älteren Generation angehören, durch ihre persönliche, meistens nüchterne und illusionslose Darstellung der Themen wie Sex, Erotik, Ehe und Krise in der Ehe, dagegen verschwindet die 38 TANTOW, Lutz. In den Hinterhöfen der deutschen Sprache [online]. Aufgerufen am 17. 3. 2014. http://www.zeit.de/1984/15/in-den-hinterhoefen-der-deutschen-sprache. 39 YEŞILASA, Karin E. Deutsch? Türkisch? Deutsch-türkisch? Wie türkisch ist die deutsch-türkische Literatur? [online]. Aufgerufen am 17. 3. 2014. http://heimatkunde.boell.de/2008/11/18/deutschtuerkisch-deutsch-tuerkisch-wie-tuerkisch-ist-die-deutsch-tuerkische-literatur. 22 Thematisierung Berlins langsam. Diese Gruppe der Schriftstellerinnen wird mit Namen wie Judith Hermann, Zoë Jenny, Kathrin Schmidt etc. verbunden.40 Die Zunahme der Frauen in der Literatur können wir auch im Rahmen der deutsch-türkischen Literatur beobachten. Die jungen deutsch-türkischen Schriftstellerinnen, die um 1970 geboren sind, verarbeiten in ihren Werken ihr eigenes Leben als Türkin in Deutschland. Viele von ihnen arbeiten als Journalistinnen für deutsche Zeitungen und veröffentlichen dort ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Leben in der Großstadt Berlin. Sie treten selbstbewusster als die Autoren der älteren Generation auf und widmen sich den Themen wie Leben, Liebe, Sex oder Mode in den etablierten Verlagen in Deutschland (bzw. Berlin) – Ullstein, Rowohlt, Goldmann oder Piper.41 40 HAGE, Volker. Ganz schön abgedreht [online]. Aufgerufen am 17. 3. 2014. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-10246374.html. 41 YEŞILASA, Karin E. Deutsch? Türkisch? Deutsch-türkisch? Wie türkisch ist die deutsch-türkische Literatur? [online]. Aufgerufen am 17. 3. 2014. http://heimatkunde.boell.de/2008/11/18/deutschtuerkisch-deutsch-tuerkisch-wie-tuerkisch-ist-die-deutsch-tuerkische-literatur. 23 3 Analyse der ausgewählten Texte Nachdem wir die theoretischen Grundlagen unserer Arbeit zusammengefasst haben, setzen wir mit der Analyse der konkreten Werke der Berliner Prosa fort. Wir unterziehen den Roman von Thomas Brussig der Analyse, der Am kürzeren Ende der Sonnenallee heißt, und die Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge, die von Emine Sevgi Özdamar verfasst und in im Erzählband unter dem Titel Mutterzunge herausgegeben wurden. Die Werke behandeln wir getrennt, wir konzentrieren uns auf das Thematische – vor allem auf die Wiedergabe der historischen Ereignisse, den Einfluss der Politik auf das alltägliche Leben und den Prozess des Erwachsenwerdens. Den Vergleich beider Werke führen wir dann später, in einem selbstständigen Kapitel, durch, indem wir uns auf die Konstruktionskomponente der Werke konzentrieren (konkret auf den Erzähler, die Erzählzeit vs. die erzählte Zeit, den Raum, die Figuren, die Symbole). Vor jeder Analyse stellen wir den Autor bzw. die Autorin kurz vor. 3.1 Thomas Brussig Der deutscher Schriftsteller und Drehbuchautor Thomas Brussig wurde am 19. Dezember 1965 in Ostberlin geboren. Nach dem Grundschulbesuch machte er eine Berufsausbildung als Baufacharbeiter, die er 1985 mit dem Abitur abschloss. Bis 1990 wechselte er viele Tätigkeiten, er arbeitete als Museumpförtner, Tellerwäscher, Reiseleiter, Hotelportier, Fabrikerarbeiter oder Fremdenführer und dazwischen musste er auch seinen Wehrdienst ableisten. Sein Hochschulstudium der Soziologie (1990-1993) an der Freien Universität Berlin blieb unabgeschlossen.42 Dann widmete er sich dem Studium der Dramaturgie an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. Seit 1995 ist er als freiberuflicher Schriftsteller tätig.43 Thomas Brussig debütierte mit dem Roman Wasserfarben (1991), der einen Abiturienten und seinen Weg zur Reife schildert. 1995 erschein sein zweiter Roman unter dem Titel Helden wie wir, der in satirischer Weise über den Mauerfall berichtet. 1999 wurde das Werk Am kürzeren Ende der Sonnenallee herausgegeben, 42 Thomas Brussig. Biographie [online]. Aufgerufen am: 4. 4. 2014. http://www.thomasbrussig.de/biographie.html. 43 Thomas Brussig: Porträt [online]. Aufgerufen am: 4. 4. 2014. http://www.goethe.de/ins/es/bar/prj/lit/aag/bru/deindex.htm. 24 das die Geschichte einer Gruppe von Teenagern in der DDR erzählt. Das Thema Sport in der Literatur bearbeitet sein prosaisches Werk Leben bis Männer (2001). Im Jahre 2004 publizierte Brussig seinen nächsten Roman, der den Titel Wie es leuchtet trägt. Er verarbeitet die Ereignisse vom Sommer 1989 bis Sommer 1990 und zeigt, wie verschiedene Figuren sich damit abfinden. Das Thema der Sexualität und der Prostitution bildet den Kern des 2007 erschienen Romans Berliner Orgie. Sein letztes publiziertes Werk heißt Schiedsrichter Fertig, Eine Litanei (2007).44 3.2 Am kürzeren Ende der Sonnenallee Die Handlung des Romans wurde ursprünglich als Stoff für einen nostalgischen Film über die Jugend und den Prozess des Erwachsenwerdens Michas und seiner Freunden im Schatten der Mauer bearbeitet. Das Drehbuch, das Brussig gemeinsam mit Leander Haußmann ausarbeitete, bildete die Grundlage für Haußmanns filmisches Debüt Sonnenallee (1999). In demselben Jahr wurde die prosaische Version Michas Geschichte unter dem Titel Am kürzeren Ende der Sonnenallee herausgegeben.45 Der Buchtitel bestimmt den Raum, in dem sich die Geschichte abspielt. Es geht um eine real existierende Straße, die nach dem Zweiten Weltkrieg so merkwürdig geteilt wurde, dass im Westen fast die ganze Länge der Allee und im Osten nur ein kleines Teilchen davon lag. Das Buch enthält 14 Kapitel, die manchmal aus mehreren Handlungslinien bestehen, aber in den meisten Fällen konzentriert sich die Geschichte auf den Protagonisten und die lineare Wiedergabe des Geschehens. Der Autor verwendet in den Kapitelnamen viele intertextuelle Anspielungen – z. B. der Titel Ton oder Knete, das ist hier die Frage ist eine klare Anspielung auf Shakespeares Hamlet, der Name Non, je ne regrette rien ist mit dem Titel von Edith Piafs Chanson identisch und das Kapitel Wie Deutschland nicht gevierteilt wurde erinnert durch die Struktur des Titels an die typischen Namen der Märchen. 44 Thomas Brussig: Bücher [online]. Aufgerufen am 5. 4. 2014. http://www.thomasbrussig.de/buch2.html. 45 VON HAGE, Volker. Der Westen küsst anders [online]. Aufgerufen am 5. 4. 2014. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14718461.html. 25 Der Roman ist in der Standardsprache geschrieben, aber man findet im Text auch ein paar Repliken in der Umgangssprache (von Micha und seinen Freunden) oder im Berliner Dialekt (von der Existenzialistin). 3.2.1 Die Reflexion der Potsdamer Konferenz Der Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee beginnt mit einer ausgedachten Geschichte über die Entstehung des kürzeren Endes der Straße. Obwohl die Namen der historischen Figuren wahrheitsgetreu sind, geht es um eine fantasievolle Verarbeitung der Ereignisse, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen sind. Der Erzähler berichtet davon, wie es möglich ist, dass eine lange Straße in so merkwürdiger Weise in zwei ungleiche Teilen geteilt werden konnte. Brussigs Erzähler berichtet darüber, wie alles auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 begann, wo die Sektorenteilung Berlins verhandelt worden wurde. Stalin wollte die Sonnenallee oder mindestens einen Teil davon für sich gewinnen, weil er eine poetische Seele hatte und der Name ihm sehr gefiel. Dagegen trat Truman auf und Churchill dachte nach, wie diese Situation zu lösen ist. In demselben Augenblick wollte Churchill aus seiner Zigarre ziehen, aber bemerkte, dass sie wieder kalt war. Stalin gab ihm Feuer so bereitwillig und so schnell, dass ihm Churchill einen Zipfel der Sonnenallee als Symbol der Dankbarkeit schenkte. Diese Geschichte dient dem Protagonisten, Michael Kuppisch, als eine Art des Abfindens mit der Vergangenheit. Die eigenartige Interpretation der historischen Ereignisse entlastet die Ungerechtigkeit der Geschichte, hilft beim Suchen nach ihrem Sinn und reflektiert die Schöpfungskraft der jungen Generation. 3.2.2 Das Alltagleben am kürzeren Ende der Sonnenallee Das Alltagleben am kürzeren Ende der Sonnenallee spiegelt die Alltagsrealität in der ganzen DDR wider. Wir können sagen, dass das Funktionieren des Regimes an dem Beispiel der Sonnenallee gezeigt wird. Die Individualität der Menschen wird in vielen Sphären des Lebens eingeschränkt. Sie alle leben in den gleichen Wohnungen, tragen die gleichen Klamotten, hören dieselbe Musik und es wird vom Thomas Brussig sogar so weit getrieben, dass die Jungen, die in diesem Berliner Stadtteil wohnen, alle dasselbe Mädchen lieben. Wenn dann jemand vom 26 Normalzustand abweicht, wird er zur verdächtigen Person, weil nur die Mitglieder der Stasi in besseren Lebensumständen leben können (s. kommenden Abschnitt): „‘Aber unser Nachbar liest auch das ND!’ meinte Frau Kuppisch. ‘Da kann’s doch nicht so schlimm sein. ‘Der ist ja auch bei der Stasi!’ meinte Herr Kuppisch. ‘Woher willst du das wissen?’ ‘Weil er das ND liest!’ Herr Kuppisch fand ständig Beweise, dass sein Nachbar bei der Stasi ist. Frau Kuppisch war sich da nicht so sicher. Und so gab es endlose Dispute. Er: ‘Außerdem haben sie Telefon.’ Sie: ‘Aber das beweist gar nichts!’ Er: ‘Ach nee? Sind wir etwa bei der Stasi?’ Sie: ‘Natürlich nicht.’ Er: ‘Und haben wir Telefon? Na?’ ‘Nein, aber …’“46 Das Regime stört also die nachbarschaftlichen Beziehungen. Das Alltagleben in der DDR bringt der Autor auch durch den Wortschatz näher, denn er verwendet viele lexikalischen Einheiten, die sich zur Realien der damaligen Zeit beziehen (z. B. die Q3a-Bauten, das Trabi, das AWO Motorrad, das ND / das Neue Deutschland, die FDJ / die Freie Deutsche Jugend, der ABV / der Abschnittsbevollmächtigte). Das kürzere Ende der Sonnenallee wird von dem längeren Ende durch die Mauer und ein Grenzübergang geteilt. Obwohl der Protagonist, seine Familie und seine Freunde in der unmittelbaren Nähe von der Berliner Mauer leben, nehmen sie sie fast nicht wahr: „Das merkwürdige an der Mauer war, dass die, die dort wohnten, die Mauer gar nicht als außergewöhnlich empfanden. Sie gehörte so sehr zu ihrem Alltag, dass sie sie kaum bemerkten, und wenn in aller Heimlichkeit die Mauer geöffnet worden wäre, hätten die, die dort wohnten, es als allerletzte bemerkt.“47 Dass die Menschen die Mauer kaum bemerken, könnte der Grund dafür sein, dass der Autor von einem Aussichtsturm auf der Westseite ganze Schulklassen nach Micha und seinen Freunden rufen lässt. Es könnte auch die Ursache dafür darstellen, warum Michas erster Liebesbrief in den Todesstreifen geraten ist. Wahrscheinlich sollten diese Tatsachen Micha und seine Freunde auf die Existenz der Mauer aufmerksam machen. Das Privatleben der einzelnen Figuren geht aber weiter, auch wenn sie nicht in der wirklichen Freiheit leben. Die Jungen treffen sich auf einem verwaisten Spielplatz, wo sie zusammen Musik hören, sie besuchen die Fahrschule, 46 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2001. S. 35. 47 Ebenda, S. 137. 27 um einen Führerschein zu bekommen, sie besuchen die Tanzschule, um das hübscheste Mädchen zu bewundern, sie verlieben sich und leben einfach weiter, als ob es keine Mauer und keinen Kalten Krieg gibt. Das einzige Glied der Familie Kuppisch, das die Berliner Mauer wahrnimmt, ist der im Westen lebende Onkel Heinz. Er besucht den Rest seiner Familie sehr oft und da er sich ein bisschen schuldbewusst fühlt, dass er das Glück hat, im Westen leben zu können, schmuggelt er jedes Mal eine Kleinigkeit für sie. Komischerweise schmuggelt er immer die Sachen, die er legal in den Osten bringen kann und das wird in vielen witzigen Situationen beschrieben, die die Geschichte immer entspannen und frisch machen: „‘Mensch, Heinz, du Hungerhaken, komm, setz dich an Tisch’, sagte Frau Kuppisch besorgt und vertrieb Herrn Kuppisch, der sich schon wieder am Ausziehtisch nützlich machen wollte. ‘Hast du ’nen Bandwurm?’ fragte Micha erschrocken, als er seinen Onkel sah. ‘Nee’, sagte Heinz und begann sich auszuziehen. ‘Ich hab was geschmuggelt!’ Unter seinem Anzug, der ihm schlaff am Körper hing, trug er noch einen zweiten Anzug, der wie angegossen passte. ‘Der ist für dich!’ sagte Heinz feierlich zu Micha. […] Micha nickte. Er brachte es nicht übers Herz, Heinz zu sage, dass es legal gewesen wäre, einen Anzug rüberzubringen.“48 Der Onkel ist sich der Bedrohung und der Einschränkung der Freiheit, die die Mauer mit sich bringt, bewusst. Er erlebt sie jedes Mal, wenn er seine Verwandte im Osten besuchen geht. 3.2.3 Die politische Dimension des Lebens Die Tatsache, dass die Menschen die physische Existenz der Mauer fast nicht bemerken, bedeutet aber nicht, dass sie alles, was das Regime vorschreibt, völlig akzeptieren und sich damit identifizieren. Thomas Brussig widmet sich in seinem Roman auch dem Thema der Doppelexistenz. Michas Mutter verhält sich in der Öffentlichkeit so, als ob sie das Regime unterstützen hätte, um Micha eine gute Ausbildung in Moskau zu sichern. Deshalb will sie z. B. das ND abonnieren, damit alle Nachbarn sehen können, dass sie eine vorbildliche Bürgerin ist oder sie nennt ihren Sohn Mischa, weil es russisch klingt. In der privaten Sphäre kritisiert sie aber das, was in der Gesellschaft geschieht. Aber es geht sogar weiter. Sie findet einen Reisepass, dass eine westdeutsche Touristin im Grenzgebiet verloren hat, und 48 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 69. 28 bemüht sich so wie sie auszusehen, um nach Westen zu reisen. Und wenn sie sich daran endlich wagt, durch den Grenzübergang durchzugehen, stellt sie fest, dass es zwar möglich ist, wie ein Westler auszusehen, aber sie wird nie so locker und selbstbewusst wirken, deshalb gibt sie ihre Bemühungen auf. Die Mauer existiert also nicht nur physisch, sonder auch in ihrem Kopf. Micha und seine Freunde, Mario, Wuschel und Brille, machen sich nicht so viel daraus, dass sie unter der Kontrolle des Regimes leben und verhalten sich, als ob ihr Verhalten die Zukunft nicht beeinflussen könnte. Sie leben wie normale Jungen, verüben Jugendstreiche, verlieben sich und rebellieren gegen das Regime. Sie stellen aber mehrmals fest, dass es sich nicht lohnt. Eine der milden Strafen stellt ein pflichtiger Diskussionsbeitrag über ein politisch-erzieherisches Thema vor der ganzen Schule dar, zu dem Micha und später auch Miriam verdonnert werden. Wenn die Jungen hören, dass Miriam daran teilnehmen muss, verändert sich die Situation und eine Strafe wird zum etwas Ersehnten. So entsteht eine der vielen witzigen Situationen, die das ganze Buch zu einem für den Leser amüsanten Werk machen: „Trotzdem gab es in den kommenden Tagen ständig Vorkommnisse, für die jeder Schüler unter normalen Umständen zu einem Diskussionsbeitrag verdonnert worden wäre. Wuschel antwortete im Physikunterricht, als er nach drei Verhaltensmaßregeln bei Atombombendetonationen gefragt wurde: ‘Erstens: Hinsehen, denn so was sieht man nur einmal. Zweitens: Hinlegen und zum nächsten Friedhof robben, aber – drittens: Langsam, damit keine Panik entsteht.’“49 Wenn es aber um größere Probleme geht, haben die Vertreter der Gesellschaftsordnung die Macht, alle Aussichten auf eine gute Zukunft zu vernichtet. Das spiegelt sich in einem Witz, den sich Mario und Micha ausgedacht haben. Sie spielen den Westdeutschen Touristen ein Theater vor, bei dem sie vor den Touristen vortäuschten, dass die Kinder in Ostberlin unter armseligen Bedingungen leben und kein Geld für Lebensmittel haben. Jemand hat sie aber fotografiert und dieses Bild ist später in einer Illustrierten erschienen und es ist von einem Parteimitglied entdeckt worden. Diese Situation wird dann in der Schule gelöst und wegen Marios unpolitischer Rede wird er aus der Schule rausgeschmissen. Er wird zum Opfer der politischen Macht, weil er nicht weiter mitmachen will. Also nicht nur das Leben der Erwachsenen, aber auch das Leben der Teenager wird politisiert. Das Rebellieren der jungen Generation finden wir auch im Bereich der Kultur, die vom Regime ebenso reguliert wird. Es gibt eine Liste der verbotenen 49 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 26. 29 Künstler und Werke, die man nicht besitzen oder mit ihnen in Kontakt kommen darf. Die Vergnügung der jungen Generation, mit Micha an der Spitze, ist es, die verbotenen Sachen zu hören und zu lesen. Es handelt sich um die westliche Kultur, die angeblich eine schädliche Wirkung auf die Jungen hat. Im Vordergrund der Richtungen, die in DDR als verboten gelten, steht der Existenzialismus. Im Brussigs Roman wird er mit der Figur Elisabeth gleichgesetzt. Der Grund, warum der Existenzialismus eine Bedrohung für den Regime darstellte, zeigt dieser Abschnitt: „‘Wir sind zur Freiheit verurteilt’, sagte sie. ‘Weißt du, was das für die Mauer bedeutet? Was Sartre zur Berliner Mauer sagen würde?’ Mario war noch nicht richtig vertraut mit dem Existenzialismus, deshalb musste er raten: ‘Dass ich irgendwann in den Westen fahren darf.’ ‘Nein’, sagte sie. ‘Das genaue Gegenteil.’ […] ‘Dass es sie irgendwann nicht mehr geben wird’, sagte die Existenzialistin, und das war für Mario so ungeheuerlich, das überstieg alles Vorstellbare.“50 Das Regime will nicht, dass sich die Menschen in der Wirklichkeit frei fühlen, sonst kann das Regime außer Kontrolle geraten. Und die Vorstellung, dass es die Zeit kommen wird, in der es keine Mauer mehr gibt, ist für das ostdeutsche diktatorische Gesellschaftssystem sehr gefährlich. Die Romanfiguren sind aber junge Leute in der Zeit des Heranreifens, die erst ihre bürgerliche Freiheit gewinnen und dieses Rebellieren kann ein Symbol dafür sein, dass sie nicht nur nach der bürgerlichen sondern auch, und vorzugsweise, nach der inneren Freiheit streben. Die Sprache ist eines der bedeutendsten Merkmale einer Epoche, weil sie viel über der wirklichen Freiheit informieren kann. In der Zeit der DDR dient die Sprache oft zur Mystifikation und zum Verdecken der wahren Wirklichkeit, weil man oft solche Ausdrücke benutzt, die verschönend klingen und den wahren Kern der Aussage verbergen. Und obwohl die Menschen, die am kürzeren Ende der Sonnenallee leben, keine Regimesympathisanten sind, kann man in ihrer Ausdrucksweise beobachten, wie das Regime, wenn auch unbewusst, sie beeinflusst. „Beschwerde, Beschwerde, wie das klingt! Als ob wir uns beschweren. […] Wir regen an … oder wir geben zu bedenken … oder wir fragen nach …. oder wir bitten darum, dass … Aber beschweren? Wir? Uns? Niemals!“51 Die weitere Bedeutung, die diese phrasenhafte Sprache hat, ist, dass sie die sprachlich-schöpferische Tätigkeit einschränkt und die Individualität des Menschen 50 51 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 76. Ebenda, S. 36. 30 unterdrückt. Die Menschen werden zu nicht denkenden Robotern, was wir z. B. beim Michas Bruder sehen können, der sich im Wehrdienst eine andere Sprache aneignete. „Als Bernd von der Musterung kam, erzählte er nur, dass ‘die da alle so komisch sprechen’. Als er dann selbst bei der Armee war, nahm auch er eine komische Art an, sich auszudrücken. […] Und wenn er gefragt wurde, wie’s im Theater war, dann klang seine Antwort ungefähr so: ‘Nach dem Einrücken in den Zuschauerraum bezog ich in Reihe acht meine Stellung. Keine besonderen Vorkommnisse.’“52 Obwohl wir sagen würden, dass die Politik nicht das zentrale Thema darstellt, spielt sie eine wichtige Rolle. Es ist natürlich, dass im Vordergrund die Schattenseite des Regimes steht. Der Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee wird sehr häufig als ein nostalgischer Roman bezeichnet und das können wir bestimmt mit dem Thema der Liebe und des Erwachsenwerdens verbinden, aber was die politische Dimension des Romans betrifft, trägt er unbestritten einen kritischen Ton, wennschon er von Brussig fast immer mit Hilfe von Übertreibung und Tragikomik ausgedrückt wird. 3.2.4 Die Liebe und das Erwachsenwerden Die Liebe und das Erwachsenwerden stellen die zentralen Motive des analysierten Romans dar. Sie stehen in einer engen Beziehung und man kann sie im Rahmen dieser Geschichte nicht ganz getrennt behandeln. Zu den wichtigsten unpersönlichen Symbolen der Reifezeit, die in der Geschichte vorkommen, gehört die Tanzschule und die Fahrschule. In der Tanzschule werden den Studenten nicht nur die grundsätzliche Tanzfähigkeiten beigebracht, sondern man lernt dort auch, wie man sich richtig bei Tisch benehmen soll. Die Tanzstunden bereiten die jungen Menschen dazu, vollwertige Glieder der Gesellschaft zu werden. Und den Führerschein zu haben, bedeutet, dass man ein bisschen mehr Selbstständigkeit, Verantwortlichkeit und Freiheit gewinnt, d. h. die Attribute, die einen Teenager zu einem Erwachsenen machen. Die Liebe dagegen kann als ein persönliches Symbol der Reifezeit betrachtet werden. Diese Form des Erwachsenwerdens wird im Roman durch drei Figuren vermittelt – durch Micha, Miriam und Mario. Am Anfang der Geschichte ist Micha ein normaler Junge, der mit seinen Freunden zusammentrifft und in das neue, wunderschönste Mädchen verliebt ist, wie 52 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 33. 31 alle anderen Jungen. Miriam ist für die Jungen ein rätselhaftes Wesen, weil sie nicht lange an ihrer Schule ist. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen und die Mutter hat sich mit ihren zwei Kindern nach Osten umgezogen, um von Miriams Vater Ruhe zu haben. Micha und seine Freunde versuchen, möglichst viele Informationen über sie von ihrem kleinen Bruder festzustellen, indem sie ihn mit Matchbox-Autos, die sie irgendwie aus Westen kriegen müssen, bestechen. Die erste Chance, die Micha mit Miriam zu sprechen hat, bekommt er dank dem Diskussionsbeitrag, zu dem auch Miriam verdonnert wird. Sie verspricht ihm, ihm zu zeigen, wie die „Westler“ küssen. Seit dieser Zusage macht Micha alles, um diesen Kuss zu kriegen. Seine Besessenheit wird dadurch vervielfacht, dass er später seinen ersten Liebesbrief bekommt, der in den Todesstreifen geweht wird. Er fand nie heraus, ob dieser Brief wirklich von Miriam stammt. Nachdem sein Freund Wuschel beim Versuch den Brief aus dem Todesstreifen zu gewinnen beinahe getötet worden ist, entscheidet sich Micha endlich Miriam zum Date einzuladen. Dieses Date ist etwas, was Miriam zu einem normalen, ihm ähnlichen Wesen machte, weil er zu sehen beginnt, dass sie sich auch manchmal in der unfreien Welt niedergeschlagen fühlt und sich nach der Freiheit sehnt. Also sie hört auf, für ihn ein unerreichbares Mädchen zu sein, sondern sie stellt eine Seelenverwandte dar und die jugendliche Verliebtheit verändert sich zu einem reifen, wahren Liebesgefühl. Auch Miriam erlebt am Anfang nur solche Beziehungen, die für eine unreife, sorgenfreie Person typisch sind. Sie trifft sich immer nur mit den „Westlern“ und fährt mit ihnen auf dem Motorrad, weil sie das Gefühl der Freiheit erleben will. Sie hatte solche Beziehungen, weil sie sich auf diese Weise gegen das Regime und dessen Vorschriften wehrt. Sie will fühlen, dass sie selbst die Kontrolle über ihr Leben hat. Ihr Date mit Micha ist ihr erstes Treffen mit einem „Ostler“. Sie gehen ins Kino, wo sie den Zauber der Ferne kennen lernen und wenn sie das Kino verlassen, stoßen sie auf die harte Realität ihrer Gegenwart, indem sie einen Panzer, das Symbol der Unterdrückung, sehen. Das beraubt Mariam der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Nach diesem Erlebnis beginnt sie apathisch zu sein, weil sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation im Osten fühlt. Jetzt kann sich Micha als Held erweisen. Er will Miriam zeigen, dass sie nicht die einzige ist, die sich so fühlt, daher denkt er sich aus, dass er jahrelang Tagebücher schreibt, die ihm helfen, diese 32 Gefühle zu überwinden. In einer Nacht schafft er sieben Tagebücher, um Miriam zu trösten. Wenn er zu ihr zu Besuch kommt, liest er vor: „Liebes Tagebuch! Heute war ein wichtiger Tag, denn wir haben heute das ß gelernt. Jetzt lohnt es sich, mit dem Tagebuch anzufangen, weil ich jetzt endlich ein ganz wichtiges Wort schreiben kann, das ich bis jetzt immer nur denken konnte: SCHEISSE!“53 Sie sucht die ganze Zeit nach dem Verständnis und begreift, dass sie es bei Micha finden kann, weil er sogar bereit ist, für sie heranzureifen. Bei Mario kann man den fortschreitenden Prozess des Heranreifens mit der Begegnung der Existenzialistin verbinden. Davor war er nur einer der Jungen, die in Miriam verliebt waren und kein wahres Liebesgefühl gekannt haben. Das kommt erst mit der Existenzialistin, Lebensphilosophie. aber Elisabeth nicht gibt nur Mario das, sondern durch die auch die neue Erkenntnis der existenzialistischen Philosophie das Gefühl der wahren Freiheit. Und da er sich nicht mehr dem Regime unterordnen will, wird er aus der Schule rausgeschmissen und muss seine Reife früher als die anderen erleben. Er muss sich eine Arbeit suchen, und weil Elisabeth schwanger ist, muss er sich auch um seine neue Familie kümmern. 3.3 Emine Sevgi Özdamar Emine Sevgi Özdamar wurde am 10. August 1946 in Malatya (Türkei) geboren. 1965 kam sie zum ersten Mal als Gastarbeiterin nach Westberlin. Zwei Jahre später ging sie in die Türkei zurück, um in Istanbul die Schauspielschule zu besuchen. 1975 zog sie wieder nach Deutschland, wo sie 1976 als eine Regieassistentin an der Volksbühne im östlichen Teil Berlins arbeitete. Nach dieser Erfahrung war sie in verschiedenen Theatern und beim Film als Schauspielerin tätig und daneben führte sie die Regie von vielen Brecht-Stücken. Zwischen den Jahren 1979 und 1984 betätigte sie sich als Schauspielerin beim Bochumer Schauspielhaus. Schon in dieser Zeit schrieb sie ihre ersten Werke – vor allem Gedichte, Romane und 53 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 148. 33 Erzählungen.54 Außer ihrem kurzen Aufenthalt in Düsseldorf, lebt sie in Berlin. 2007 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.55 Während sie anfangs der 80er Jahre beim Bochumer Schauspielhaus arbeitete, schuf sie ihr erstes Theaterstück, das Karagöz in Alamania (bzw. Schwarzauge in Deutschland) heißt. Nicht nur in diesem Stück, sondern in ihrem ganzen Schaffen, steht die Erfahrung eines Immigranten in einem fremden Land im Vordergrund. Darauf folgte der Erzählband Mutterzunge (1990), in dem vier Erzählungen vorkommen, die mehr oder wenig miteinander verbunden sind und das Thema der Suche nach der Identität thematisieren. 1992 erschien ihr erster Roman unter dem Titel Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus der einen kam ich rein, aus der anderen ging ich heraus, der die Geschichte einer Kindheit zwischen dem armen Anatolien und der nach Westen orientierten Großstadt Istanbul bearbeitet. Özdamars zweiter Roman heißt Die Brücke vom Goldenen Horn (1998), der die Reise eines 19-jährigen Mädchens nach Deutschland in der späten 60er Jahren abbildet.56 2001 veröffentlichte sie einen nächsten teilweise autobiographischen Erzählband mit dem Namen Der Hof im Spiegel. Berlin in der Mitte der 70er Jahre finden wir im Berlin-Roman Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding - Pankow 1976/77 (2003), dessen Protagonistin eine junge türkische Schauspielerin aus Istanbul ist, die das Theater Bertold Brechts kennen lernen will.57 3.4 Mutterzunge und Großvaterzunge Die Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge kommen in Emine Sevgi Özdamars Erzählband, der den Namen Mutterzunge (1990) trägt, vor. Neben diesen zwei Erzählungen finden wir in dem genannten Band noch zwei weitere Erzählungen, und zwar Karagöz in Alamania, Schwarzauge in Deutschland und Karriere einer Putzfrau mit dem Untertitel Erinnerungen an Deutschland. Die zwei letztgenannten Erzählungen spielen sich zwar in Deutschland ab, aber die Handlung bezieht sich nicht ausschließlich auf Berlin, die Stadt spielt darin keine wichtige 54 Emine Sevgi Özdamar: Porträt [online]. Aufgerufen am: 11. 4. 2014. http://www.goethe.de/ins/es/bar/prj/lit/aoz/oez/deindex.htm. 55 Emine Sevgi Özdamar [online]. Aufgerufen am: 11. 4. 2014. http://www.nrw-literatur-imnetz.de/datenbank/autoren/263-oezdamar-emine-sevgi.html. 56 Emine Sevgi Özdamar: Porträt [online]. Aufgerufen am: 11. 4. 2014. http://www.goethe.de/ins/es/bar/prj/lit/aoz/oez/deindex.htm. 57 SCHERER, Sigrid. Geteilte Stadt, geteiltes Mädchen [online]. Aufgerufen am: 11. 4. 2014. http://www.zeit.de/2003/13/L-_85zdamar. 34 Rolle, deshalb konzentrieren wir uns in dem folgenden analytischen Kapitel auf die zwei erstgenannten kurzprosaischen Texte. Die Erzählungen stehen außerdem in einer engen Verbindung, weil sie dieselbe Handlung entwickeln. Die zu analysierenden Erzählungen nehmen ihren Verlauf in Berlin zur Zeit der Teilung der Stadt. Die Namen der Erzählungen deuten die Botschaft der Texte an, indem sie an das sprachliche Problem der deutschen Immigranten schon in dem Titel aufmerksam machen. Der Name entstand wahrscheinlich absichtlich als Verwechslung der im Deutschen semantisch unterschiedlichen Bezeichnungen für die Wörter die Sprache (ein Kommunikationsinstrument) und die Zunge (ein Sprechorgan), die in manchen Sprachen einem Äquivalent entsprechen. Es wird auch teilweise die Verwandtschaft der arabischen (Großvaterzunge) und der türkischen (Mutterzunge) Sprache angedeutet. Der Text wurde zum größten Teil in der deutschen Sprache verfasst, obwohl es sich manchmal um keine korrekte Standardsprache handelt. Das Deutsche kommt auch oft in der Konfrontation mit der türkischen bzw. arabischen Sprache vor. 3.4.1 Wiedergabe der historischen und politischen Ereignisse Obwohl sich beide Erzählungen räumlich in Berlin abspielen, finden wir in den Texten sehr selten eine Bemerkung, die die Stadt und die in der Stadt verlaufenden Ereignisse thematisieren. An mehreren Stellen können wir lesen, dass sich die türkische Protagonistin zwischen beiden Teilen Berlins bewegt. Sie wohnt in Westberlin, aber sie besucht auch Ostberlin sehr oft, um dort Berthold Brecht zu bewundern. Der Grenzübergang erregt in ihr keine Reaktion. „Ich ging zur Grenze, eine dicke blinde junge Ostfrau lief die Treppen von der Grenze und gab ihren Pass zu dem Polizisten, dann ging sie Richtung Westen, andere Ältere kamen Richtung Osten, in ihren Taschen Erdnüsse. Als ich im Westen war, ich schaute auf die Erde, sagte: ‘Ach, hier hat es auch geregnet.’“58 Die zweite und letzte Bemerkung zur deutschen Geschichte ist mit dem Namen Benno Ohnesorg verbunden. Sie dient aber nur der zeitlichen Orientierung, die Protagonistin verwendet das Datum des Todes Ohnesorgs ohne Erwähnung der Ereignisse, die mit seinem Tod verbunden sind (d. h. eine Demonstration gegen den 58 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. Köln, Kiepenheuer & Witsch 1998. S. 18. 35 Schah von Persien am 2. Juni 196759). Sie schreibt dem Datum keine Bedeutung zu, man könnte sogar sagen, dass sie damit zeigt, wie unbedeutend die politischen Ereignisse des damaligen Deutschlands für sie waren, denn sie benutzt das Datum für Beschreibung ihrer ersten sexuellen Erfahrungen. Andererseits ist es nicht möglich solche Schlussfolgerungen zu machen, dass die damalige politische Ordnung keine wichtige Rolle in den Texten spielt. Wir haben zwar gesagt, dass manche Erwähnungen über die politische Situation in Deutschland kaum zu finden sind, dagegen können wir aber in den beiden prosaischen Texten viele kritische Äußerungen zum inhumanen politischen Geschehen in der Türkei und im Arabien der damaligen Zeit antreffen. Die Protagonistin erinnert ein paar Mal daran, was sie noch in der Türkei erlebt hat. Erstens beziehen sich die Erinnerungen auf die Erlebnisse eines gewaltsamen politischen Regimes, das die Menschen aus politischen Gründen verfolgte. Wir befinden uns in der Türkei nach dem Ende der Ära Atatürk und diese Zeit ist durch innenpolitische Krise, politische Instabilität und sogar militärische Interventionen gekennzeichnet. Es gab viele Putsche und die politische Orientierung hat ständig gewechselt.60 Zweitens betreffen die Erinnerungspassagen die Zeit der Regierung Atatürks und die Reformen, die er durchgesetzt hat – vor allem den Wechsel von der arabischen Schrift auf die lateinische, die zwar der Annäherung an Westen dienen sollte61, aber auch einen Teil der türkischen Tradition vernichtet und eine Kluft zwischen den Generationen geschaffen hat: „Ich werde zum anderen Berlin zurückgehen. Ich werde arabisch lernen, das war mal unsere Schrift, nach unserem Befreiungskrieg, 1927, verbietet Atatürk die arabische Schrift und die lateinischen Buchstaben kamen, mein Großvater konnte nur arabische Schrift, ich konnte nur lateinische Alphabet, das heißt, wenn mein Großvater und ich stumm wären und uns nur mit Schrift was erzählen könnten, könnten wir uns keine Geschichte erzählen.“62 Neben den Beschreibungen der politischen Geschichte der Türkei, befinden sich im Text auch Anmerkungen zur Geschichte Arabiens im Zusammenhang mit dem 59 WEBER, Jürgen. Deutsche Geschichte 1945 bis 1990. München, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 2010. S. 122. 60 Die Türkei nach der Ära Atatürk [online]. Aufgerufen am: 13. 4. 2014. http://www.cap-lmu.de/themen/tuerkei/geschichte/nach-atatuerk.php. 61 Die türkische Republik unter Mustafa Kemal [online]. Aufgerufen am: 13. 4. 2014. http://www.cap-lmu.de/themen/tuerkei/geschichte/republik.php. 62 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 14. 36 Geleibten der Protagonistin, Ibni Abdullah. Er erinnert an den Kriegskonflikt mit Israel, in dem er seine Brüder verlor und selbst fast ums Leben kam. Die politische Ordnung Arabiens bzw. der Türkei wird in Kontrast mit dem Regime in Deutschland gesetzt. „Hier in Deutschland aber kann ich in den Park gehen und meine Meinung laut sagen, hier gibt es Demokratie.“63 Die Aussage beweist, dass die beiden Figuren entweder eher in ihren Erinnerungen an ihr ursprüngliches Zuhause leben, ohne das gegenwärtige Geschehen in der Umgebung zu beobachten, oder dass im Vergleich mit dem gewaltsamen Regime in ihrem Herkunftsland die politische Situation in Deutschland nicht so schlimm scheint. Für die erste Variante spricht daneben auch die Tatsache, dass die Erinnerungen in beiden Erzählungen allgemein sehr oft vorkommen. 3.4.2 Alltagleben Wie wir in dem vorigen Kapitel erwähnt haben, wird die politische Situation in Deutschland nur mit ein paar Anmerkungen kommentiert und wir wissen nur, dass sich die Geschichte zur Zeit der Existenz der Berliner Mauer abspielt. Die Protagonistin unterscheidet die Teile Berlins fast nie mit der konkreten Bezeichnung Ost- oder Westberlin, sondern sie verwendet den Namen „das andere Berlin“ je nach dem, in welchen Teil der Stadt sie sich gerade befindet. „Ich werde zum anderen Berlin zurückgehen. Ich werde Arabisch lernen […]. In Westberlin gebe es einen großen Meister der arabischen Schrift.“ 64 „Ich ging aus dem Schriftzimmer mit fünf ersten arabischen Buchstaben raus zum anderen Berlin. Ich setzte mich vor dem Berliner Ensemble in den Park, dort will ich lernen.“65 Wahrscheinlich sollte die unkonkrete Bezeichnung die Tatsache symbolisieren, dass sie keinen Unterschied zwischen den beiden Teilen Berlins und infolgedessen auch keinen Unterscheid zwischen den beiden Regimen sieht, weil es die Suche nach ihrer Identität kaum beeinflusst. Sie nimmt die Verschiedenheiten West vs. Ost fast nicht wahr, sie widmet ihnen nur ein paar zerstreute Bemerkungen, ohne ihnen eine Bedeutung beizumessen. Ostberlin wird vor allem durch die Statue Brechts, das Berliner Ensemble, den Mangel an Waren und durch die Ungewöhnlichkeit des 63 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 16. Ebenda, S. 14. 65 Ebenda, S. 17. 64 37 Begegnens mit anderen Kulturen symbolisiert. Westberlin dagegen wird mit ALDIGeschäften, der Schriftzimmer und der Moschee Ibni Abdullahs und Kudamm, voll von Menschen arabischer Herkunft, verbunden. Im Ganzen wird Berlin eher als eine multikulturelle als eine bikulturelle Großstadt angesehen. Der Alltag der Protagonistin ist mir der Suche nach der Identität mit Hilfe vom Wiedererlernen der vergessenen Muttersprache erfüllt. Die Muttersprache stellt für sie die wichtigste Quelle der Identität dar, weil mit ihr alle Erinnerungen an die Kindheit und Jugend verbunden sind. Sie sagt, die Wörter in einer Fremdsprache hätten keine Kindheit, deshalb will sie feststellen, in welchen Moment sie ihre Muttersprache verlor, um sich möglicherweise zu der verlorenen Identität zurückzukehren. Am Anfang der Geschichte (in der ersten Erzählung) erinnert sie sich nur an drei Wörter im Türkischen, die sich zu bestimmten Situationen beziehen: Görmek (sehen), Kaza gecirmek (Lebensunfälle erleben) und ISCI (Arbeiter). Diese Wörter evozieren in ihr traurige, die Freiheit einschränkende Geschichten, die sich noch in der Türkei ereignet haben. Die Unfreiheit war unbestritten einer der Gründe der Emigration nach Deutschland. Wahrscheinlich hat sie ihre Muttersprache verloren, mit der Entscheidung in Deutschland zu leben, denn seit dieser Zeit fing die neue Sprache an, das Schaffen ihrer Identität zu beeinflussen. Die Fremdsprache verdrängte langsam die Muttersprache aus ihrem Gedächtnis und das, was ihr ursprünglich eigen war, wurde allmählich zum etwas Fremden. „Ich erinnere mich noch an eine türkische Mutter und ihre Wörter, die sie in unserer Mutterzunge erzählt hatte. […] Dieser Sätze, von der Mutter eines Aufgehängten, erinnere ich mich auch nur so, als ob sie diese Wörter in Deutsch gesagt hätte.“66 Mit der Muttersprache verliert man aber nicht nur die Sprachkenntnis, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu der Herkunftsgesellschaft. Um dieses zu verändern, entscheidet sich die Protagonistin die verlorene Identität mittels der Sprache wieder zu erwerben. Dazu verwendet sie nicht die „Mutterzunge“ (das Türkische in der lateinischen Schrift), sondern die „Großvaterzunge“ (das Türkische in der arabischen Schrift), die ältere Schriftform des Türkischen. Mit der Großvaterzunge könnte auch das Arabische bezeichnet werden, weil die Hauptfigur an die Verwandtschaft der Sprachen mehrmals aufmerksam macht. 66 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 9–11. 38 3.4.3 Die Rolle der Liebe und Religion In Özdamars Erzählungen handelt es sich kaum um einen Prozess des Erwachsenwerdens, weil die beiden Figuren, die Protagonistin und Ibni Abdullah, schon reif sind, mindestens was die physische Seite des Menschen betrifft. In Hinblick auf die psychische bzw. emotionelle Entwicklung, könnten wir wenigstens bei der weiblichen Hauptfigur sagen, dass dieser Prozess nicht gänzlich beendet wurde. Im vorigen Kapitel haben wir das zentrale Thema der analysierten Erzählungen, das die Suche nach der verlorenen Identität darstellt, besprochen. Zu dem Verlust der Identität der Protagonistin ist wegen des Mutterspracheverlustes und damit verbundenen Erinnerungen an die Kindheit, ihre Familie und Herkunft gekommen. In diesem Sinne ist es möglich, Ibni Abdullah als den Zugang zu ihrer verlorenen Identität zu betrachten, weil sie mithilfe der arabischen Schrift die Großvatersprache und infolgedessen auch ihre Muttersprache wiedererkennen will. „Ich werde Arabisch lernen, das war mal unsere Schrift […], mein Großvater konnte nur arabische Schrift, ich konnte nur lateinisches Alphabet […]. Vielleicht erst zu Großvater zurück, dann kann ich den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden. Inschallah. In Westberlin gebe es einen großen Meister der arabischen Schrift. Ibni Abdullah.“67 Da Ibni Abdullah die arabische Schrift im Zusammenhang mit der Heiligen Schrift unterrichtet, beginnt sie wieder auch die Religion ihres Herkunftslandes kennen zu lernen. Bevor Ibni Abdullah die Protagonistin trifft, hat er sein Leben nur dem Koran und Allah geweiht. Wenn sie seinen Schriftunterricht besuchen beginnt, verliebt er sich in sie und seine Liebe wird von der Protagonistin erwidert. Ihre Liebe wird zu einem der zentralen Motive der zweiten Erzählung. Für beide Figuren stellt die Liebe eine Art der Störung ihrer inneren Ruhe. Während die Protagonistin die Störung begrüßt, stellt sie für Ibni Abdullah eine unerwünschte innere Kluft dar. Die Schrift ihm normalerweise hilft, sich von der irdischen Wonne zu befreien, aber die Protagonistin nimmt ihm die Fähigkeit der Konzentration und innerlichen Meditation ab, indem sie ihn physisch erregt. Wir könnten auch sagen, dass sie seinen Weg zur geistlichen Reife vernichtet. Deshalb wehrt er sich dagegen und wenn er es nicht 67 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 14. 39 mehr aushalten kann, bittet er seine Schülerin darum, dass sie weiter nur in der heiligen (d. h. geistlichen) Liebe verbleiben. Die Protagonistin erlebt die Liebe mehr leidenschaftlich. In ihrer Figur ist es schön die bipolare Eigenschaft der Liebe zu beobachten – einerseits gibt sie dem Menschen die Freude und innere Ruhe, andererseits verursacht sie das psychische Leiden. Ihr Erleben der Liebe steht im starken Kontrast zu der Erlebensweise der Leibe Ibni Abdullahs. Deshalb schafft sie sich sein verinnertes Ich, das nach Özdamar buchstäblich in ihrem Innere lebt. „Ich hatte Schmerzen in meinem Körper, ein Fieber kam und trennte mich von anderen Lebenden, ich legte mich hin, sah, wie der Schmerz meine Haut aufmachte und sich in meinem Körper überall einnähte, ich wusste, dass in diesem Moment Ibni Abdullah in meinen Körper reingekommen war, dann war Ruhe, Schmerz und Fieber gingen weg, ich stand auf.“68 Dieses symbolisiert den Widerspruch, wie Ibni Abdullahs Ausdruck der Liebe in der Wirklichkeit ist und wie sie ihn haben will. Dem passt sie auch ihr Verhalten an – wenn sie mit dem wirklichen Ibni Abdullah spricht, ist sie eher zurückhaltend, weil er sich mehr wie ihr Schirmherr als ihr Geliebter verhält; wenn sie aber mit dem verinnerten Schriftlehrer spricht, ist sie leidenschaftlich, poetisch und ungebunden. Da Ibni Abdullah nicht mehr fähig ist, ihre Liebe physisch zu erwidern, und verlässt sie, entscheidet sie sich auch den verinnerten Verliebten, auch als Seele ihrer Seele genannt, aus dem Körper zu verdrängen. Dank der Liebe zu ihrem Lehrer, auch wenn sie nicht glücklich endet, entdeckt sie ihre Liebe zu dem Arabischen, d. h. dazu, was ihre Herkunft darstellt. „Als ich zum ersten Mal vor Ibni Abdullahs Tür stand, hatte ich drei Wörter aus meiner Mutterzunge. Sehen, Lebensunfälle erleben, Arbeiter, ich wolle zurück zum Großvater, dass ich dann den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden könnte. Ich verliebte mich in meinen Großvater. Die Wörter, die ich die Liebe zu fassen gesucht habe, hatten alle ihre Kindheit.“69 Wenn wir uns von der Tatsache befreien, dass die arabische Schrift als Vermittler der verlorenen Identität gedeutet werden kann, sollten wir uns fragen, welche Bedeutung noch die Religion in Özdamars Texten trägt. Vermittelt der Koran wirklich nur den Weg zur Erkenntnis des islamischen kulturellen und poetischen Erbes? Allgemein wird der Islam als eine sehr traditionsgeprägte Religion präsentiert. Nach Margaret Littler gehört der Islam in heutiger globalisierter Welt zu 68 69 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 21. Ebenda, S. 45–46. 40 den markantesten Merkmalen der modernen Kultur. Schon in der ersten Erzählung begegnen wir der Bemerkung über Atatürk, den Reformer des türkischen Staats und der türkischen islamischen Religion. Er bemühte sich darum, eine westlich geprägte Gesellschaft ohne Islam als Staatsreligion aufzubauen. Der osmanische Islam entstand als Verschmelzung verschiedener Religionen, denen der arabische Islam dominierte.70 Unserer Meinung nach bewahrt Emine Sevgi Özdamars Islam beide Formen – während Ibni Abdullah die traditionelle arabische Form verkörpert, vertritt die Protagonistin die modernere Variante des Islams, indem sie die Religion mehr mit der Erotik verbindet. 70 LITTLER, Margaret. Profane und religiöse Intensitäten: Die islamische Kultur im Werk von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Ziamoğlu. Amsterdam – New York, Rodopi 2009. S. 143–150. 41 4 Komparation der analysierten Texte Das letzte Kapitel widmen wir der Komparation und der Analyse des Romans von Thomas Brussig Am kürzeren Ende der Sonnenallee und der Erzählungen von Emine Sevgi Özdamar Mutterzunge und Großvaterzunge. Wir untersuchen auf einzelne Komponentenmerkmale der Werke hin – wir erforschen die Typen des Erzählers, die in den Texten vorkommen, behandeln den Unterschied zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit, analysieren die Rolle des Raums, die Beschreibung der Figuren und die Bedeutung der Symbole in beiden Prosa-Werken. Die Auswertung erfolgt folgerichtig am Ende dieser Diplomarbeit an. 4.1 Der Erzähler Als theoretische Grundlage der Untersuchung literaturtheoretischen Texte Theorie des Erzählens 71 nehmen wir und Typische Formen 72 die des Romans von Franz Karl Stanzel, der sich mit den Typen des Erzählers so befasst, dass er die grundsätzlichen Erzählsituationen beschreibt und die Merkmale des für solche Erzählsituationen typischen Erzählers charakterisiert. Seine Erzähltypen stehen im deutlichen Kontrast, der auch in den bei von uns analysierten Werken erscheint. Brussigs kurzer Roman wird von einem auktorialen Erzähler vermittelt. Dieser Erzähler steht außerhalb der fiktionalen Welt der Figuren. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er fähig ist, alle Figuren in der von ihm erzählten Geschichte aus der Außen- und Innenseite zu beschreiben und nicht nur das, er kennt auch ihre Lebensgeschichte, d. h. dass er weiß, wie ihre Vergangenheit oder Zukunft aussieht. Er kann in alle Figuren hineinschauen. In Brussigs Text macht das der Erzähler vor allem in Zusammenhang mit der Hauptfigur, Micha. Dass er aber wirklich über der fiktionalen Welt steht, und nicht nur Michas Inneres darstellt, demonstriert Brussig z. B. auch durch die Figur von Michas Geliebten. „So muss es gewesen sein, dachte Michael Kuppisch. Wie sonst konnte eine so lange Straße so kurz vor dem Ende noch geteilt worden sein?“ 73 71 STANZEL, Franz K. Theorie des Erzählens. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1979. S. 68– 238. 72 STANZEL, Franz K. Typische Formen des Romans. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1972. S. 16–39. 73 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 8. 42 „Miriam war noch nicht lange an der Schule, in die auch Micha, Mario und die anderen gingen. Niemand wusste etwas Genaues über sie. […] Streng genommen war Miriam ein uneheliches Kind, aber auch das wusste keiner.“74 Die vorigen Ausschnitte beweisen, dass der Erzähler in Brussigs Roman in mehrere Figuren hineinblicken kann und dass er für seine Erzählung keine Figurenperspektive benutzt, sondern die sog. Außenperspektive. Emine Sevgi Özdamar konstruierte ihren Erzähler als einen Ich-Erzähler. Ihr Erzähler kommt aus der Figurenwelt und ist sogar mit der Protagonistin identisch, d. h. dass er in der fiktionalen Welt körperlich existiert und stellt nicht nur die erzählerische Stimme dar, sondern handelt (von Stanzel auch als personales Erzählverhalten genannt). Da es um einen weiblichen Ich-Erzähler geht, könnte man daraus (wenn man ihren Lebenslauf mit dem Geschehen in den Erzählungen vergleicht; s. Kapitel 3.3) schlussfolgern, dass die Geschichte (mindestens teilweise) autobiographisch ist. „Stehe auf, geh zum anderen Berlin, Brecht war der erste Mensch, warum ich hierher gekommen bin […].“75 Dafür spricht auch Stanzels Behauptung, dass ein solcher Erzähler zum Erzählen existenziell motiviert sei, sein Erzählen entspringe aus seinen Lebenserfahrungen. Im Gegensatz zu Brussigs auktorialem Erzähler hat dieser Erzähler nur die Fähigkeit, über die vergangenen Erlebnisse zu sprechen, deshalb kommen in Özdamars Kurztexten nur Erinnerungen vor. Özdamars Vermittler der Erzählung ist also durch die Perspektive der Protagonistin beschränkt. Dagegen kann Brussigs Erzähler auch die Geschichte antizipieren, d. h. die zukünftige Handlung beschreiben, weil er außer der Geschichte steht: „Aber all diese Absonderlichkeiten waren nichts gegen die schier unglaubliche Erfahrung, dass sein erster Liebesbrief vom Wind in den Todesstreifen getragen wurde und dort liegenblieb – bevor er ihn gelesen hatte.“76 So wird das Ereignis, das sich erst auf der Seite 71 abspielt schon im ersten Kapitel kommentiert. Was noch, Brussigs Erzähler existiert auch zeitlich außerhalb der Figurenwelt, denn im Text steht neben dem Ausdruck „uncool“ (schon mit der Anmerkung begleitet, dass er damals nicht existiert hat) folgende Aussage: 74 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 17. ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 13. 76 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 9. 75 43 „Die Musik war damals gut, viel besser als heute. Das sagen alle, die schon damals einen Kassettenrecorder hatten.“77 Dieser Kommentar beweist einerseits, dass sich die Allwissenheit des Erzählers weit über die erzählte Zeit erstreckt, und andererseits, dass der Erzähler nicht völlig objektiv ist, weil er manchmal das Geschehen bewertet oder kommentiert (das bezeichnet Stanzel als auktoriales Erzählverhalten). Was die textuelle Ebene betrifft, sind die Aussagen des Erzählers im Brussigs Roman sowie in Özdamars Erzählungen von den Aussagen der Figuren deutlich, mit Hilfe von den Anführungszeichen, getrennt, auch wenn die Figur der Protagonistin von Mutterzunge und Großvaterzunge mit dem weiblichen Erzähler eine Einheit bildet. 4.2 Die Erzählzeit und die erzählte Zeit Als Basistext zur Analyse der Kategorie Zeit benutzen wir wiederum den literaturwissenschaftlichen Text Typische Formen des Romans, der den Kontrast zwischen der Zeit, die man zum Lesen eines literarischen Werkes braucht (die Erzählzeit), und der Zeitspanne, in der sich die erzähle Geschichte abspielt (die erzählte Zeit), behandelt. Dann befassen wir uns mit der Abfolge der Ereignisse in beiden prosaischen Werken und mit den zeitlichen Abweichungen von der Haupthandlungslinie. Wir kommentieren, welche zeitlichen Unregelmäßigkeiten in den Texten vorkommen, und ermitteln die Gründe ihres Auftretens. Wir gehen von Gérard Genettes Erzählung78 aus, der diesen Aspekt der erzählte Zeit sehr ausführlich beschreibt. Die erzählte Zeit beider analysierten Texte überschreitet ihre Erzählzeit. In beiden Fällen wird die erzählte Zeit nicht genau bestimmt. Wir nehmen zuerst den Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Das aus dem zeitlichen Aspekt erst vorkommende Ereignis beschreibt Michas erdichtete Geschichte über die Entstehung des kürzeren Endes der Allee, das sich 1945 ereignet hat. Dieser Zeitpunkt stellt den fernsten Moment der ganzen Geschichte dar. Seit dem wird die Handlung linear präsentiert und irgendwelche konkrete Anmerkungen zur zeitlichen Angaben der einzelnen Ereignisse finden wir im Text sehr selten. Meistens handelt es sich um vage Zeitbestimmungen: 77 78 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 57. GENETTE, Gérard. Die Erzählung. Stuttgart, Wilhelm Fink, 2010. S. 17–52. 44 „Einmal, in einer echten Zwangslage, hat Micha dann doch versucht, Miriams Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.“79 Ein anderes Mal werden zur zeitlichen Orientierung im Text die Geschehnisse, die schon in der Erzählung passiert sind, verwendet. „Micha war seit dem Kuss-Versprechen nur einmal mit Miriam zusammengetroffen.“80 Wie viel Zeit von dem ersten Ereignis vom Jahr 1945 vergeht, wissen wir nicht genau. Da die Berliner Mauer schon steht, muss sich die Geschichte nach 1961 abspielen. Zur weiteren ungefähren Zeitbestimmung hilft uns die Zeitangabe, die sich auf das Jahr 1972 bezieht. In diesem Jahr wurde nach Brussigs Erzähler (aber auch in der Wirklichkeit) das Doppelalbum Exile on Main Street von den Rolling Stones herausgegeben, das Doppelalbum, wonach sich Wuschel sehr sehnt. Das Ende des Romans wird mit dem 7. Oktober eines unbestimmten Jahres gleichgesetzt, wann eine Militärparade stattfindet. Manchmal entwickelt der Erzähler auch parallele Geschichten, aber darauf stößt man nur selten. Die erzählte Zeit des Romans erstreckt sich also über mehr als 28 Jahre. Die erste Zeitbestimmung ist weit von der Hauptlinie der Handlung eingesetzt, deshalb taucht die Frage auf, ob es überhaupt notwendig ist, so einen entfernten Zeitpunkt in der Geschichte zu haben. Obwohl er kaum mit der Geschichte zusammenhängt, ist er von großer Bedeutung, wenn wir uns auf die Suche nach dem Sinn der Weltgeschichte oder nach der Rolle des Einzelnen in dem Weltgeschehen konzentrieren. Auch das Enddatum hat unserer Meinung nach eine symbolische Funktion – das Baby, das zur Welt mit der Hilfe eines sowjetischen Soldaten kommt, symbolisiert die Tatsache, dass auch in einem diktatorischen Regime schöne Sachen passieren können und dass das Leben ohne Rücksicht auf die tragischen und beschränkenden Umstände weitergeht. Als Anfang der imaginativen Zeitachse, die den Verlauf der Handlung in Emine Sevgi Özdamars Erzählungen darstellt, können wir die Erinnerung an die Mutter der Protagonistin bezeichnen. Diese Erinnerung bezieht sich zwar auf keine konkrete Zeitangabe, aber sie wird mit der Kenntnis der türkischen Sprache verbunden, die die Protagonistin zur Zeit der Erzählung nicht mehr beherrscht. 79 80 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 21 Ebenda, S. 43. 45 „Wenn ich nur wüsste, wann ich meine Mutterzunge verloren habe. Ich und meine Mutter sprachen mal in unserer Mutterzunge. […] Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache.“81 Die Erinnerungspassage funktioniert als Auslöser ihrer Suche nach ihren Wurzeln und damit zusammenhängend auch nach ihrer verlorenen Identität. Weiter entwickelt sich die Handlung chronologisch, auch wenn es ziemlich oft durch das Zurückdenken beider Figuren unterbrochen wird. In Özdamars kurzprosaischen Texten begegnen wir keinem genauen Datum, das die Handlung zeitlich abgrenzt. Wir sind aber fähig, wie bei Brussig, das historische Geschehen als das Indiz für die Zeitbestimmung zu benutzen. Auch in diesem Fall spielt sich die Geschichte nach dem Mauerbau ab, und wie schon in der thematischen Analyse erwähnt wurde, wissen wir sogar, dass es sich um die Zeit nach Benno Ohnesorgs Tod (d. h. 1967) handelt. Trotzdem ist es nicht möglich, die erzählte Zeit genau zu bestimmen. Wenn wir diesen Fakt mit dem Hauptthema der Erzählungen verbinden, können wir daraus schlussfolgern, dass die Protagonistin nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit verloren ist. Jetzt widmen wir uns der Abfolge der in den Büchern präsentierten Ereignisse. Schon in der vorigen Passage bezeichneten wir die Werke als chronologisch erzählte Geschichten. In beiden Texten stoßen wir auf zahlreiche Anachronien, d. h. auf die Teile der Handlung, in denen die Zeitfolge der Ereignisse mit ihrer Abfolge in der Geschichte nicht identisch ist. Es gibt zwei Arten der Anachronien – die Analepsen und die Prolepsen. Die Analepsen kehren zu dem Zeitpunkt, der innerhalb der Geschichte vor dem gerade erreichten Zeitpunkt liegt, zurück. Die Prolepsen beschreiben ein Ereignis im Voraus, das in der Geschichte nach dem aktuell beschriebenen Zeitpunkt kommt. Die Analepsen kommen bei Brussig sowie in Özdamars Werk vor. Während sie Brussig sehr selten zum Konstruieren der Charaktere verwendet, indem er ihre Herkunft oder die Umstände der entstandenen erklärt, herrscht bei Özdamar die Form der Erinnerungen vor, was bestimmt vieles mit der Suche nach der verlorenen Identität zu tun hat. „Als Miriams kleiner Bruder geboren wurde, war Miriam bereits klar, dass sich ihre Eltern trennen würden. […] Als sich Miriams Eltern endlich trennten, wollte sich 81 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 9. 46 Miriams Mutter von den belästigenden Nachstellungen von Miriams verrücktem Vater sicher fühlen – und so zog sie ans kürzere Ende der Sonnenallee.“82 „Wenn ich nur wüsste, in welchem Moment ich meine Mutterzunge verloren habe. Ich lief einmal in Stuttgart um dieses Gefängnis da, da war eine Wiese, nur ein Vogel flog vor den Zellen, ein Gefangener […] sprach in derselben Mutterzunge, sagte laut zu jemandem: ‘Bruder Yashar, hast du gesehen?’ Der andere, den ich nicht sehen konnte, sagte: ‘Ja, ich hab gesehn.’ Sehen: Görmek.“83 Dass die Analepsen häufiger in Mutterzunge und Großvaterzunge vorkommen, hängt eng mit dem Typ des Erzählers zusammen, denn der mit der Figur der Protagonistin identische Ich-Erzähler verfügt nur über die Vergangenheit der eigenen Figur, in der er die Quellen ihrer Identität sucht, dagegen Brussigs auktorialer Erzähler steht über allen Figuren und über dem gesamten Romangeschehen, deshalb ist er auch fähig die zukünftige Handlung vorauszusagen und die Anspielungen auf sie im Lauf des Textes zu zerstreuen. „Wenn der ABV die Kassette mit Moscow, Moscow nicht an sich genommen hätte, dann wäre Michas erster Liebesbrief auch nicht in den Todesstreifen geflattert.“84 „Ein paar Tage später fand Micha im Briefkasten einen Brief, ohne Namen, ohne Absender, aber mit roten Herzchen zugeklebt. […] Der Brief fiel Micha aus der Hand, und weil es ein windiger Tag war, flatterte er davon. Micha wollte dem Brief hinterherrennen, aber der ABV […] bestand auf der Fahndungskontrolle. Der Brief wurde einfach weggeweht, bis in den Todesstreifen […].“85 Solche Bemerkungen sollen den Leser in einer ständigen Spannung behalten, denn der Erzähler enthüllt zuerst nur Teile der kommenden Geschichte, die der Leser erst später, nachdem alle Informationen, die zum Verständnis der angedeuteten Situation brauchbar sind, im Text präsentiert werden, verstehen kann. 4.3 Der Raum Berlin wird mit der Ausnahme der Erinnerungspassagen von der Protagonistin und Ibni Abdullah, die in der Türkei und im Arabien situiert sind, zum Schauplatz beider Geschichten. Warum gerade Berlin? Wenn wir uns auf das Hauptthema beider Texte ausrichten, d. h. entweder auf die Suche oder auf das Schaffen der Identität der Protagonisten, und das Thema in den Zusammenhang mit dem Berliner Raum bringen, stellen wir fest, dass es auch ein Ort ist, der einen Teil 82 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 18. ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 11. 84 Ebenda, S. 16. 85 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 71–72. 83 47 seiner Identität infolge der Nachkriegsereignissen verloren hat. Die Charaktere leben sozusagen in einer Symbiose mit der Stadt – sie gewährt ihnen einen Lebensraum, den Raum zum Suchen des eigenen Ichs, aber gleichzeitig nimmt er ihnen die Freiheit (in Michas Fall) oder die Kulturquellen (bei der Protagonistin). Die genauen Örtlichkeiten kommen in den von uns den analysierten Werken sehr selten vor. Der Erzähler der ersten zwei Texte vom Erzählband Mutterzunge erwähnt im Laufe seiner Erzählung einige der Berliner Bezirke, die traditionell von den Türken bewohnt sind, und zwar Wilmersdorf und Neukölln. Die Protagonistin bewegt sich also meistens in dem Raum, wo sie auf die Träger ihrer ursprünglichen Kultur stoßen kann. In Wilmersdorf befindet sich das Schriftzimmer Ibni Abdullahs, das zum Zentrum der Bemühungen von der Protagonistin in der Suche nach der Identität wird. Der zweite Ort, den sie oft zum Nachdenken und Lernen benutzt, ist der Platz vor dem Berliner Ensemble mit Brechts Statue. Nach dem weiblichen IchErzähler stellt Berthold Brecht einen der Gründe dar, warum die Protagonistin aus der Türkei ausgereist ist. In dem Text wird dieser Platz sehr oft zur Rückkehr zu den Wurzeln verwendet. Die Motive der Emigration und der Entscheidung, sich zu den Kulturquellen zurückzukehren, treffen sich an diesem Ort. „Ich ging aus dem Schriftzimmer mit fünf ersten arabischen Buchstaben raus zum anderen Berlin. Ich setzte mich vor dem Berliner Ensemble in den Park, dort will ich lernen. Da stand eine Statue von Brecht, […] ich wollte, dass diese Statue verschwindet und Brecht mit Mütze und Flöte dasteht.“86 Der Lebensraum der Romanhauptfigur bei Brussig wird dagegen nur auf das kürzere Ende der Sonnenallee beschränkt. Der östliche Raum wird sehr deutlich von dem westlichen abgegrenzt, die Berliner Mauer wird zur klaren Grenze des Lebensraums. Obwohl die Figuren nach dem Erzähler die Mauer kaum wahrnehmen, mischt sie sich in ihr Leben. Am markantesten ist dies im Fall von Michas Leben zu sehen, denn die Mauer tritt als seine Gegenspielerin in Sachen Liebe auf – zuerst in dem Sinne, dass sich Miriam nur für die „Westler“ interessiert (und zu dem kann er wegen der Mauer und dem Regime nicht werden), später weil sein erster Liebesbrief in dem Todestreifen endet und er nicht feststellen kann, ob er von Miriam stammt oder nicht. Die zweite Rolle der Berliner Mauer besteht darin, dass sie als Symbol der Unfreiheit, das Familien und Freunde trennt, dargestellt wird. Alle Hindernisse, die die Mauer den Charakteren in den Weg stellt, sind am Ende der Geschichte 86 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 17. 48 überschritten, indem sich Miriam in Micha verliebt und Michas Mutter die Asche des gestorbenen Westonkels über die Grenze schmuggelt und die Familie wieder vereint. 4.4 Die Figuren Die Folge der Erzählertypauswahl können wir auch bei der Analyse der Figurentypen beobachten. Während Brussigs auktorialer Erzähler ins Innere der beliebigen Figur einzudringen fähig ist, kann das Özdamars Ich-Erzähler nur bei der Protagonistin machen. Auch was die Charakteristik der Charaktere betrifft, wählen die Schriftsteller verschiedene Verfahren, denn im Roman Am kürzeren Ende der Sonnenalle hat jede Figur einen Namen oder mindestens einen Spitznamen, d. h. dass ihnen eine Identität zugeschrieben wird, aber in den Erzählungen von der türkischen Autorin finden wir nur einen Charakter, den einen Namen trägt, Ibni Abdullah. Der fehlende Name der Protagonistin bestätigt uns immer wieder, dass wir mit der Figur ohne Identität etwas zu tun haben. Die Figuren im Brussigs Roman können wir in zwei Gruppen teilen – erstens handelt es sich um die Teenager, die alle einem ähnlichen Typ entsprechen, zweitens treffen wir auf die karikierten Mitglieder Michas Familie. Zu der ersten Gruppe gehören die Jungen, die im Zentrum der Handlung stehen, d. h. Micha, seine Freunde und Miriam. Wir können alle als junge Menschen, die den Prozess des Erwachsenwerdens zur Zeit der Erzählung erleben, nach der Liebe, Unterhaltung und ihrer Gesellschaftsrolle suchen und gegen das diktatorische Regime rebellieren, charakterisieren. Michas Familie wird dagegen ein bisschen schematisch, sehr stereotypisiert dargestellt, oder sogar karikiert. Michas Vater verdächtigt immer seinen Nachbarn der Stasi-Zugehörigkeit und will eine Eingabe schreiben, in der er sich über etwas beschwert (aber macht das nie). Die Schwester der Protagonisten interessiert sich nur für die Männer, die sie ständig wechselt und ihr Bruder wird als Roboter im Dienste der Armee beschrieben. Die einzige Person, die auf dem ersten Blick dem Muster von Michas Familie entspricht, aber später einen Ausbruch erlebt, ist die Mutter. Am Anfang wirkt sie als eine Hausfrau, die nur für das sorgt, wie sie vor den Nachbarn aussieht, denn sie will ihrem Sohn dadurch ein gutes Studium sichern. Sie macht eine Veränderung durch, worüber man fast am Ende der Geschichte feststellt, wenn sie über die Grenze mit einem fremden Pass zu überschreiten versucht. Nur Micha (zum 49 Zweck der Rettung von Miriam) und seine Mutter sind die einzigen Figuren ihrer Familie, die eine Veränderung durchmachen, andere Familienmitglieder können wir als statische, sich nicht verändernde Figuren bezeichnen. Die Handlung der Erzählungen von Emine Sevgi Özdamar wird nur auf zwei Figuren konzentriert – auf die Protagonistin und Ibni Abdullah. Diese zwei Figuren stehen, wie die Figuren bei Brussig, im Gegensatz zueinander. Ibni Abdullahs Identität, die zwar durch den Namen geschaffen wird, entspringt der Gottesglaube, dank dem er auf einem festen Boden steht. Wenn sein Glaube durch die Liebe zu der Protagonistin geschwächt wird, indem er sich weniger um die überirdischen Sachen kümmert, fühlt er eine Bedrohung und beginnt sich dagegen zu wehren. „Du bist sehr schön, ich will die heilige Liebe, reine Liebe. Wenn ich mit der weiterschlafe, mein Körper wird sich ändern, ich werde meine Arbeit verlieren. […] Mein Körper ist verrückt geworden, wenn du weiter in mich kommst, spätestens in einem Monat verliere ich meine Arbeit, ich bin ein armer Mann.“ 87 Wir können also sagen, dass der Glaube zu seiner Identitätsquelle wird. Die Eigenschaften der Figur der Protagonistin werden völlig dem Thema und dem Erzählertyp untergeordnet. Wir sind nicht fähig, etwas über das Aussehen der Figur zu sagen, die einzige Weise, wie wir sie charakterisieren können, ist durch ihr Inneres, das sich uns in den Träumen und Erinnerungen zeigt. Sie kommen in der Geschichte sehr häufig vor, weil sie die einzige Quelle zu ihrer verlorenen Identität darstellen. Wenn wir die guten und bösen Charaktere unterscheiden sollen, finden wir heraus, dass beide Schriftsteller auf die böse Seite die Vertreter des politischen Regimes stellen, denn sie nehmen den Figuren die Freiheit ab, und die anderen Figuren als gute abbilden. In Brussigs Roman wird aber diese Unterscheidung in dem Charakter des ABVs gebrochen, der sich nicht nur für den Gesundheitszustand Michas Verliebte sorgt, sondern er nimmt auch an der Beerdigung des Westonkels teil, dessen Asche Michas Mutter über die Grenze geschmuggelt hat (und damit die Verordnung des Regimes verletzt hat). „Nach einer Woche war der ABV nicht vom Obermeister zum Unterleutnant befördert, sondern zum Meister degradiert worden. Und begann Micha zu schikanieren, indem er sich von ihm immer den Personalausweis zeigen ließ.“88 87 88 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 42. BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 15. 50 „Am nächsten Morgen blieb sie [Miriam] liegen und schaute nur an die Decke. […] Erst der ABV hat Micha geraten, mal zu Miriam zu gehen. ‘Deiner Kleinen geht’s nicht gut.’“89 Also sogar die böse politische Figur wird im Zusammenhang mit dem nostalgischen Ton der Geschichte als menschlich präsentiert. 4.5 Die Symbole Es wäre möglich, beide analysierten Texte auf der symbolischen Ebene zu deuten, was wir im Laufe dieser Diplomarbeit schon mehrmals gemacht haben. In dem letzten Abschnitt dieses Kapitels werden wir uns um die Analyse der Dingsymbole, die in den Texten vorkommen, bemühen. In dieser Hinsicht stehen Özdamars Erzählungen im Vordergrund, denn Thomas Brussig verwendet keine sich wieder zurückkehrenden Symbole, die auf etwas eindeutig aufmerksam machen sollen oder eine Tatsache symbolisieren sollen. Das erste der Symbole, die in der Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge auftauchen, ist ein Diwan. Dem Diwan begegnen wir zum ersten Mal während der kurzen Rückkehr der Protagonistin in die Türkei, bevor sie sich entscheiden hat, die arabische Schrift zu lernen. Dann kommt das Symbol wieder, diesmal befindet es sich in der Schriftzimmer Ibni Abdullhas, wo sich die weibliche Hauptfigur mit der arabischen Schrift beschäftigt. Der Diwan dient der Protagonistin dazu, ihre Herkunft und ihre verlorene Identität wiederzugewinnen. „Diwan, auf dem ich auf meinen Beinen saß, gib mir meine Erinnerungen.“ 90 Wir können sagen, dass der Diwan den Vermittler der Suche nach der Identität darstellt – d. h. die Sprache, denn er befindet sich entweder in dem Herkunftsland oder in dem Schriftzimmer, also im Raum der türkischen, bzw. arabischen Sprache. Das zweite Symbol, das als Parallele der Liebe verwendet wird, ist ein Vogel. Das Bild des Vogels verändert sich mit der Beziehung der Verliebten – am Anfang ist er jung, ungeduldig, frei und leicht, mit der Entwicklung ihrer Beziehung und Ibni Abdullahs ablehnenden Stellungnahme zu der Protagonistin wird der Vogel schwerer, kann sich nicht mehr so leicht wie früher bewegen. „[…] die Liebe ist ein leichter Vogel, er setzt sich leicht irgendwo hin, aber steht schwer auf.“91 89 90 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 146. ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 27. 51 Das Symbol des Vogels erscheint auch in den religiösen Schriften, die die Protagonistin zum Zweck der Identitätssuche studiert. Sie benutzt ihre Vorstellungskraft, um sich die Buchstaben am besten zu merken. Am Ende der Geschichte wird der Vogel metaphorisch, im Rahmen des Textes, mit einem Pfeil getötet. Das passiert in dem Moment, als sich die Protagonistin entscheidet, aus dem Schriftzimmer hinauszugehen, weil Ibni Abdullah nicht fähig ist, die Schwere der irdischen Liebe zu tragen, und verlässt sie, womit ihre Liebe endet. 91 ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Mutterzunge. S. 40. 52 Zusammenfassung Nachdem ich die theoretische Basis für Analyse der ausgewählten Texte bestimmt habe und beide Werke thematisch getrennt und aus der Sicht der Erzählungskomponente im Bezug aufeinander analysiert habe, fasse ich die Ergebnisse zusammen. In dem theoretischen Teil meiner Diplomarbeit habe ich Brussig als Autor der jüngeren Autorengeneration der Berliner Prosa bezeichnet, denn sein literarischer Stil und die Weise, in der das mit Berlin verbundene Thema präsentiert wird, entspricht der neuer Welle der Berliner-Prosa-Schriftsteller, d. h. er schreibt subjektiv und stellt die mit Berlin verbundenen historischen Ereignisse nicht wahrheitsgetreu dar. Die Tatsache, dass er in seinem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee überhaupt ein historisches Thema bearbeitet, deutet an, dass er, was dieses konkrete Werk betrifft, nicht völlig von der älteren Generation der Autoren zu unterscheiden ist. Berlin wird von ihm als ein Erinnerungsort abgebildet, er denkt an das Alltagleben in der DDR, an den Einfluss des diktatorischen Regimes auf die Formierung der Identität der Teenager, zurück. Die ganze Geschichte zeichnet sich durch einen nostalgischen Ton aus: „Wer wirklich bewahren will, was geschehen ist, der darf sich nicht den Erinnerungen hingeben. Die menschliche Erinnerung ist ein viel zu wohliger Vorgang, um das Vergangene nur festzuhalten; sie ist das Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgibt. Denn die Erinnerung kann mehr, viel mehr: Sie vollbringt beharrlich das Wunder, einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, in dem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was man scharf und schneidend empfunden wurde. Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen.“ 92 Wenn ich dazu aber noch den Fakt zähle, dass Brussig der Gruppe der ostdeutschen Autoren zugehört, die nach dem Mauerfall manchmal dazu tendieren, den untergangenen Staat mit einem bestimmten Maß der Nostalgie zu schildern, kann ich daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass die Kategorisierung in die Generationen die deutsch-deutsche Unterschiede vernachlässigt. Deshalb wird diese Einteilung in Kategorien von manchen Literaturwissenschaftlern, die sich mit der Berliner Prosa befassen, als zweckdienlich bezeichnet.93 Da eine Kategorisierung immer eine Vereinfachung der komplizierteren Realität darstellt, muss man mit kleinen Abweichungen rechnen. Meiner Meinung nach wäre es in der Zukunft nützlich, die 92 93 BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. S. 156–157. Vgl. BRÜNS, Elke. Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung. S. 28. 53 Gliederung der Autoren anhand der Lektüre einer größeren Menge zusammenhängender Texte zu revidieren. Emine Sevgi Özdamar gehört zu der älteren Generation der türkischen deutschschreibenden Schriftsteller, denn sie ist schon in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen. Da man im Rahmen der deutschen Autoren türkischer Herkunft ähnliche Themen in beiden abgegrenzten Kategorien beobachtet, gibt es kein Problem in unserem Fall, den Erzählband Mutterzunge in den von uns bestimmten Kategorien einzureihen. In der Einleitung dieser Diplomarbeit habe ich gesagt, dass beide analysierten Texte in der thematischen Ebene gemeinsame Merkmale aufweisen. Nicht nur Brussig, sondern auch Özdamar schildern das Alltagleben der Protagonisten. Während bei Brussig das Alltagleben Am kürzeren Ende der Sonnenallee so abgebildet wird, dass normale Menschen mit ihren normalen Problemen im Vordergrund stehen, mit denen sich man auch in einem nichtdiktatorischen Regime befasst, widmet die türkische Autorin den Merkmalen der damaligen Zeit fast keine Aufmerksamkeit und der Alltag als Zeit der Suche nach der Identität dargestellt wird. Was die Wiedergabe der historischen und politischen Ereignisse betrifft, finden wir in beiden Büchern keine detailierte Bearbeitung. Brussig zeichnet sich dadurch aus, dass er ihre Wirkung entlastet und obwohl die politische Wirkung des Regimes ganz breit bearbeitet wird, spiegelt er vor allem den Einfluss der Politik auf das alltägliche Leben wider. Auch Özdamar beschreibt die politischen und historischen Ereignisse in Deutschland ohne besondere Gefühle, sie konzentriert sich mehr auf die vergangenen Ereignisse in ihrem Herkunftsland, denn sie will durch die Erinnerungen an sie den Weg zurück zu ihrer Identitätsquelle finden. Das Motiv der Liebe steht im Zentrum beider Berliner-Prosa-Texte. Im Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee kommt die Liebe als ein Bestandteil des Prozesses von Erwachsenwerden vor, in Özdamars Erzählungen dagegen wird die Liebe zum arabischen Schriftlehrer mit dem Zugriff auf die Quelle der Identität verbunden. Aus dem vorigen zusammenfassenden Vergleich kann ich herausziehen, dass, obwohl das Thema beider Texte ähnlich ist, wird es dem Zweck des Textes verschiedenartig angepasst. Eines der weiteren Merkmale, für die ich mich interessiert habe, war das Bild Berlins in den ausgewählten Prosatexten. Der Raum der Großstadt spielt in den 54 Texten auch eine unterschiedliche Rolle. Von dem deutschen Schriftsteller wird Berlin als Raum des Erwachsenwerdens und der Entwicklung einer jungen Generation im Schatten der Mauer präsentiert. Brussig betont das Alltagleben und dadurch entmythisiert er die Geschichte. In den Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge wird Berlin zum Raum der Identitätssuche und wahrscheinlich stellt er daneben auch den Grund des Verlustes von der Quelle ursprünglicher Kultur dar, denn die in Berlin neu erworbene deutsche Kultur hat die ursprüngliche Kulturquelle verdrängt. Wenn ich jetzt die Erzählanalyse mit dem Kommentar über die thematische Ebene verbinde, stelle ich fest, dass die Erzählungskomponenten dem Thema der Texte untergeordnet sind. Die Suche nach der Identität wird meistens mit einem konkreten Ich verbunden, deshalb schafft Emine Sevgi Özdamar einen Ich-Erzähler, der mit der Protagonistin identisch ist. Die weibliche Hauptfigur tritt ohne Namen und in einer unbestimmten Zeit auf, was die Verlorenheit des Charakters noch unterstreicht. Noch dazu spielt sich die Geschichte in einer Stad ab, die auch einen Teil eigener Identität verloren hat. Thomas Brussigs auktorialer Erzähler beschreibt die Handlung aus größerer Distanz, er kann also das Ambiente der Zeit von der Existenz der DDR gut darstellen, denn die Aussage über die Geschichte wirkt objektiver und die Leser können sich leicht mit den Figuren identifizieren, weil er über das gemeinsame Erlebnis einer ganzen Generation spricht. Ich strebe nicht danach, die Ergebnisse meiner Diplomarbeit zu verallgemeinern. Ich will nur anhand zwei konkreter Beispiele das unterschiedliche Verfahren der Autoren deutscher Herkunft einerseits und türkischer Herkunft andererseits präsentieren. In Zukunft wäre es bestimmt interessant, den Vergleich noch um die Differenz zwischen einem ost- und westdeutschen Literat zu bereichern oder die deutschen und deutsch-türkischen Schriftstellerinnen im Bereich des Fräuleinwundertrends zu vergleichen. Die Arbeit wird aber dadurch erschwert, dass es sich um die gegenwärtige Literatur handelt, eigentlich nur um einen Trend der Gegenwartsliteratur, und man muss sich vor allem auf Internetquellen (in Form verschiedener Artikel) verlassen. Wenn man sich dadurch nicht abschrecken lässt, kann ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Gegenwartsliteratur entstehen. Es gibt viele Bücher, die sich mit der Berliner Prosa beschäftigen. Ich habe für meine Arbeit 55 die relevantesten Titel der Sekundärliteratur ausgewählt und Untersuchung finde ich am übersichtlichsten. 56 Phil C. Langers Resümee The thesis Berlin in the chosen prose of German authors in the 2nd half of the 20th century describes one of the many trends in the contemporary German literature – the reflection of Berlin in the literature published in the 2nd half of the 20th century. At the beginning of it we summarize the most important events of the German history after the WW II which influenced not just the separated development of two German states but also the way of depiction of the political, social and cultural events in the literature. After that we define the Berlin prose as a total of every piece of literature which is related to Berlin or was written by a writer who lives or lived there. Nowadays there many Turkish authors who contribute to it, too. The aim of the thesis is to analyse the differences between two short stories, Mutterzunge and Großvaterzunge, by the Turkish author Emine Sevgi Özdamar and the novel Am kürzeren Ende der Sonnenallee by Thomas Brussig. First we describe the themes of both texts separately and then we analyse the narrative structures together. Both writers proceed differently even though they depict similar themes (the everyday life in the separated city, the search for or the formation of own identity and the love) and take place in the German’s capital at the time of existence of the Berlin Wall. Neither of the books contains any detailed reflexion of the event from the German history. Thomas Brussig focuses on the normally everyday life of a group of young people in the dictatorial regime in the GDR while Emine Sevgi Özdamar connects the everyday life with the search for the identity of her female Turkish protagonist. Also the motive of love is shown from a different angle – in the novel by Thomas Brussig represents love a part of growing up but the motive of love in Mutterzunge and Großvaterzunge is linked to the search for the identity of the main character. We can observe the contrast of the analysed prose in the narrative structure of the texts, too. Both writers subordinate the choice of the narrator type to the theme of the prose. Brussig uses a third-person narrator to describe a process of growing up of one generation in the GRD in contrast to Özdamar who concentrates on one person’s life story told by a first-person narrator. 57 Literaturverzeichnis Primärliteratur BRUSSIG, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2001. ISBN 978-3-596-14847-9. BRUSSIG, Thomas. Helden wie wir. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1998. ISBN 978-3-596-13331-4. HERMANN, Judith. Sommerhaus, später. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2000. ISBN 978-3-596-14770-0. KAMINER, Wladimir. Russendisko. München, Goldmann, 2000. ISBN 3-44254519-6. KARE, Yadé. Selam Berlin. Zürich, Diogenes Taschenbuch, 2004. ISBN 978-3-25723391-9. SCHNEIDER, Peter. Der Mauerspringer. 6. Aufl. 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Sabine Voda Eschgfäller, Ph.D. Berlín ve vybraných prózách německých autorů 2. poloviny 20. století Berlin in the chosen prose of German authors in the 2nd half Název v angličtině: of the 20th century Diplomová práce, nesoucí název Berlín ve vybraných Anotace práce: prózách německých autorů 2. poloviny 20. století, se zabývá literárním obrazem německého hlavního města ve dvou vybraných textech, tj. v povídkách Emine Sevgi Özdamar Mutterzunge a Großvaterzunge a v románu Thomase Brussiga Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Práce se skládá ze čtyř tematických celků. V první části se nachází stručný přehled německých dějin 2. poloviny 20. století, druhý celek obsahuje definici tzv. berlínské prózy, ve třetí kapitole se nachází tematický rozbor děl, který je ve čtvrté části doplněn o analýzu narativních komponentů textů. Berlín, próza, 2. polovina 20. století, Thomas Brussig, Klíčová slova: Emine Sevgi Özdamar, Am kürzeren Ende der Sonnenallee, Mutterzunge, Großvaterzunge, próza všedního dne, DDR, identita, jazyk Anotace v angličtině: The thesis, named Berlin in the chosen prose of German authors in the 2nd half of the 20th century, deals with the reflection of the German’s capital in the literature. The thesis is focused on two chosen books, i.e. on the short stories Mutterzunge and Großvaterzunge by Emine Sevgi Özdamar and on the novel Am kürzeren Ende der Sonnenallee by Thomas Brussig. It is divided into four parts. The first chapter contains a brief summary of the German history in the 2nd half of the 20th century, in the second unit there is a definition of the Berlin prose, the analysis of the literary texts follows in the third part and the fourth chapter deals with the narrative analysis. Berlin, prose, 2nd half of the 20th century, Thomas Brussig, Klíčová slova Emine Sevgi Özdamar, Am kürzeren Ende der Sonnenallee, v angličtině: Mutterzunge, Großvaterzunge, prose of everyday life, GDR, identity, language žádné Přílohy vázané v práci: 49 Počet titulů použité literatury: 115 128 znaků (včetně mezer) Rozsah práce: Název práce: 63