Moderne und Avantgarde in Berlin

Transcrição

Moderne und Avantgarde in Berlin
Moderne und Avantgarde in Berlin vor 1933Der Zeichner Emil Orlik und sein Schüler Georg Grosz
Ein untertäniger, um nicht zu sagen serviler Ton ist nicht zu überhören: „Meine Berliner Angelegenheit scheint
im günstigen Sinn erledigt zu werden...wenn nicht in letzter Stunde die Moderne schrecken sollte?...“ Der sich
da am 22. November 1904 nach dem Stand seiner Berufung an die Unterrichtsanstalt des Berliner
Gewerbemuseums, eine der renommiertesten deutschen Kunstschulen des Kaiserreichs, bei dem allmächtigen
Generaldirektor der Königlichen Museen, Wilhelm von Bode, nicht gerade selbstbewußt erkundigt, ist der aus
Prag stammende jüdische Maler und Zeichner Emil Orlik ( 1870-1932). Der Briefschreiber darf sich – wie wir
noch sehen werden- berechtigte Hoffnungen machen. Seit dem frühen Tod des Stars des deutschen Jugendstils,
Otto Eckmann, 1902 ist die Stelle des Leiters der Fachklasse „Ornamentale Malerei“ an dem Institut unbesetzt.
Dem in Prag und Wien in Kunstkreisen bekannten Orlik käme eine Berufung nach Berlin aus vielerlei Gründen
sehr gelegen. Es lockt nicht nur die Anstellung als Professor mit einem Jahresgehalt von 3900 Goldmark plus
900 Mark Wohnungszulage und die Aussicht auf lukrative öffentliche und private Aufträge auf dem neben Paris
interessantesten Kunstmarkt Europas. Zugleich käme die Berufung Orliks einem Ritterschlag als „Moderner“
gleich. Denn in der Hauptstadt des Deutschen Reiches tobt seit der spektakulären Schließung einer Edvard
Munch-Ausstellung 1892 ein Kampf um die Moderne. Der Kopf der gemäßigten Modernen, wir würden nach
heutigem Verständnis eher aufgeklärten Traditionalisten sagen, ist Orliks Förderer Bode. Bode ist der
Auffassung – wie das jüngst sein Biograph formuliert- daß „ der wachsende Einfluß der internationalen
Kunstströmungen in Deutschland wesentlich der ungenügenden Darstellung und Würdigung deutscher
Kunsttradition“ zuzuschreiben ist. Zu der Unübersichtlichkeit der Berliner Kunstszene im ersten Jahrzehnt des
20. Jahrhundert trägt die Tatsache bei, daß in schiefen Schlachtordnungen gekämpft wird. Gemäßigte Moderne
stehen gegen Impressionisten. Traditionalisten und Moderne, mal taktisch verbündet, mal zerstritten, bieten
alles auf, um Expressionisten wie Emil Nolde und Max Pechstein von Ausstellungen auszuschließen und damit
vom Kunstmarkt fern zuhalten. Doch dazu ist es bereits zu spät. In Verlegern und Galleristen wie Paul und
Bruno Cassierer und Kunstkritikern wie Karl Scheffler, der das von den Cassiers finanzierte Sprachrohr der
entschiedenen Modernen, die Kunstzeitschrift „Kunst und Künstler“ redigiert, haben sie einflußreiche
Verbündete.
Die Bedenken Orliks hinsichtlich seiner Person sind eher Selbstzweifel als sachlich begründet. Er neigt nach
Ausbildung und Temperament dem Lager von Bode, also einer gemäßigten Moderne, zu. Als vielgefragtes
Multitalent: Zeichner, Maler, Buchgestalter, Illustrator, beherrscht er den Zeichenstift ebenso wie die Farbpalette
und den Stichel. Seine in München erworbenen soliden handwerklichen Fähigkeiten als Graphiker hebt ihn aus
der Schar der Konkurrenten um die lukrative Professorenstelle heraus. Dazu tritt seine hohe Anpassungsfähigkeit
und Einfühlsamkeit an den Zeitgeschmack. Angefangen hat er mit Volksstücken aus Prag, der Slovakei und
Galizien- der Heimat seines Vaters, eines Schneiders. Seit 1900 illustriert er Bücher und Zeitschriften in
Jugendstilmanier. Von einer einjährigen Reise nach Japan zurückgekehrt, huldigt er dem modischen Japanismus.
Orliks Auseinandersetzung mit dem Naturalismus hinterläßt eine bis heute sichtbare Spur. Aus dem Jahre 1897
stammt sein eindrucksvolles Plakat für Gerhard Hauptmanns „Die Weber“. Seiner expressionistischen
Schaffensphase verdanken wir eine weitere Ikone der Moderne, einen Holzschnitt mit dem Porträt des
norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen. Nach seiner Berufung nach Berlin, angeregt durch seine Bekanntschaft
mit Max Slevogt, malt er impressionistisch. Der Ertrag einer Reise in die USA 1924 besteht in einer Fülle von
Zeichnungen im Sinne der modischen Neuen Sachlichkeit.
Als Orlik am 1. April 1905 in den Lehrkörper der Unterrichtsanstalt eintritt, wird er nicht – wie erwartet und von
ihm gewünscht- Nachfolger Eckmanns, sondern übernimmt eine neu geschaffene Fachklasse „Grafik und
Buchgestaltung“. Aus Sicht seines Gönners ist dies der erste Schritt auf dem Weg zu einer grundsätzlichen
Reform des kunstgewerblichen Ausbildungswesens in Deutschland, auf dem Orlik durch seine Berufung eine
Rolle zugewiesen wird.
Steht die Person des Generaldirektors der kaiserlichen und von 1918 bis 1923 republikanischen Museen in
Berlin für die offizielle Kunstpolitik auf den verschlungenen Wegen einer konservativen Öffnung für die
Moderne in Deutschland, so verbindet sich prominent mit der Person des der breiten Öffentlichkeit eher als
Karikaturist des „Simplizissimus“ bekannten Architekten Bruno Paul (1874-1968) die pädagogische Praxis
einer „deutschen Moderne“. Bode möchte mit der Berufung von Emil Orlik und Bruno Paul (1906) die
Unterrichtsanstalt nicht nur aus ihrer zu engen Bindung an den Jugenstil herausführen, sondern sie zu einer
„Reformhochschule“ des deutschen Kunstgewerbes machen. Dabei müssen alte Zöpfe abgeschnitten werden.
Die seit Gründung der Schule bestehenden Fachklassen für Kupferstich und Sticken werden zugunsten von
Fachklassen für Mode und „Karrosseriedesigne“ von der Schule verbannt. Und auch Personal mußte
ausgewechselt werden. Ernst Barlach, angesprochen, winkt ab. Mehr Erfolg haben Bode und Paul bei der
Gewinnung einer der Gallionsfiguren der entschiedenen Moderne, des eifrigen Secessionisten und Mitglied des
1918 von Walter Gropius gegründeten „Arbeiterrates für Kunst“, des expressionistischen Malers Cäsar Klein.
Bruno Paul kann ihn dem gerade gegründeten Dessauer „Bauhaus“ vor der Nase weggeschnappen. Neben
Klein gewinnen Paul/Bode die Architekten Otto Bartning und Hans Poelzig als Lehrer.
Parallel zu diesen Reformbemühungen etabliert sich eine der spektakulärsten Avantgarde-Gruppierung in der
Stadt, Dada. Um eine ehemalige Schülerzeitung des Mommsen-Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf „ Neue
Jugend“ und seines Herausgebers, des Kriegsabiturienten Wieland Herzfelde, sammeln sich 1915/16 die
führenden Berliner Dadaisten wie Richard Huelsenbeck, Franz Jung, Raul Hausmann, Erwin Piscator und
Helmut Herzfelde, der sich später John Heartfield nennen wird. Zu ihnen stoßen Angehörige der
Unterrichtsanstalt, vor allem Schüler der Klasse von Orlik. An ihrer Spitze stehen Georg Grosz (1893-1959) und
Hannah Höch. Herzfelde entdeckt bei einem Besuch des Ateliers im Berliner Süden den Illustrator Grosz, der
sowohl für die „Neue Jugend“ als auch die Nachfolgeobjekte wie „Jeder sein eigner Fußball“ , „Die Pleite“ und
„Blutiger Ernst“ satirisch-groteske Zeichnungen beisteuern wird. Vorerst – bis 1917- verdienen Heartfield und
Grosz ihren Lebensunterhalt als Angestellte der „militärischen Bildstelle“, Vorläuferin der Ufa. Sie sollen einen
Dokumentationsfilm erstellen, der die amerikanische Landung in Frankreich lächerlich machen soll. Nach der
Landung der Amerikaner hat sich der Auftrag erledigt und sie fliegen raus. Diese Stelle verdanken sie Graf
Kessler, Beschützer und Mäzen der Berliner Dadaisten. Als ihm Herzfeld die Abzüge des „Fußball“ zeigt, notiert
er in sein Tagebuch...“...viel Kinderrei, aus der ein frischer Wind weht...“. Die neue Zeitschrift im
„typografischen Zeitungsstil“, eine Art frühe Bildzeitung, teilt nach allen Seiten aus. Neben expressionistischer
Lyrik u. a. von Johannes R. Becher veröffentlicht sie „Aufrufe zur Revolution“ und läßt –eine Idee von Groszdie Reformschule nicht ungeschoren. Der Name von Bruno Paul muß für ein Preisausschreiben zum Entwurf
„neuer deutscher Friedensuniformen“ herhalten.
Georg Grosz äußert sich in seinen Erinnerungen ( „Ein kleines Ja und ein großes Nein“ ) ausführlich über seine
Erfahrungen mit den Gipsorgien des konservativen Lehrpersonal seiner ersten Ausbildungsstätte, der Dresden
Kunstakademie. Über seine Berliner Dada-Anfänge verrät er auffällig wenig, über seine Lehrer und das
Reformklima an der Berliner Schule schweigt er sich vollens aus. Allenfalls eine Sotisse. So nennt er seinen
Mentor Orlik, in dessen Klasse er im Wintersemester 1912/13 eintritt und der ihn zeitweilig als Assistent
beschäftigt, witzelnd, auf die tschechische Namensbedeutung anspielend „Klein-Adler“ oder „lobt“ das andere
Mal herablassend dessen Weltläufigkeit und Liberalität. Orlik habe sie, entfährt es Grosz dann in aufmüpfigen
Ton „Speisekarten, Buchumschläge, Schrift und Tapete(n)“ zeichnen lassen. Grosz Federzeichnung „Der
Mörder“ in der Geburtstagsgabe für seinen Lehrer 1920 mag bei Orlik bestenfalls ein nachsichtiges
Kopfschütteln ausgelöst haben. Empfindlicher traf ihn da schon, wenn auch nicht namentlich erwähnt, Grosz
Bannstrahl des „bürgerlichen Künstlers“, welcher „seine begnadete Stellung“ herleitet vom „Nichtfertigwerden
mit der Welt, dem Leben“ ( Georg Grosz, „Statt einer Biographie“, in der Zeitschrift „Der Gegner“).
Dabei hätte er, der durch unflätiges Benehmen anläßlich einer Dada-Veranstaltung am 12. April 1918 in der
„Berliner Secession“ am Kurfürstendamm einen Skandal herausbeschwört, allen Anlaß, seines Lehrers – der
Jahr für Jahr in der Secession seine Bilder, in der Mehrheit „Blumenstücke“, ausstellt - wenn schon nicht
dankbar, so doch nachhaltiger zu gedenken. Die Unterlagen der Unterrichtsanstalt dokumentieren ein
anhaltendes Engagement Orliks zugunsten seines ungebärdigen Schülers. Seit seinem Eintritt in die Schule
taucht Georg Grosz ( Georg Gross, wie er sich zu dieser Zeit noch schreibt) regelmäßig unter Orliks
Vorschlägen für ein staatliches Stipendium auf. Unter der jährlich veröffentlichten Liste der mit
Ausgezeichnungen oder „lobenden Erwähnungen“ genannten Schülern der Anstalt findet sich mehr als einmal
der Name „Gross“.
Neben Grosz und Höch stoßen weitere Absolventen der Reformschule wie Gustav Nerlinger, Karl Hubbuch,
Robert Bell und Otto Schmalhausen zu Dada. Künstlerisch pflegen sie in diesen Jahren einen auffälligen
Kollektivstil. Grosz wird ihn das „jouralistische Zeichnen“ nennen, sein Ideal ist, wie er es selbst einmal
formuliert, der „journalistische Tageszeichner mit Anschluß an die Rotationspresse...“. In Wirklichkeit ist es die
scheinbar naive Adaption des routinierten Zeichenstifts ihres Lehrers: Kinderzeichnungen sich zu silmultanen
Aktions- und Figurenkonglomeraten zusammenballend mit einer Tendenz zur Groteske und Karikatur. Ihre
Themen entnehmen Grosz und Co. den politischen Schlagzeilen der Berliner Tageszeitungen.
“Ach knallige Welt, du Lunapark / Du seliges Abnormitätenkabinett / Pass auf! Hier kommt Grosz...“ dichtet seit
1915 der zwei Mal aus gesundheitlichen Gründen vom Fronteinsatz zurückgestellte Kriegsfreiwillige: Der eher
Dada-skeptische Kurt Tucholski beteiligt sich an der von vielen Seiten betriebenen Idolisierung des
Orlikschülers. Nach dem Besuch der „Ersten internationalen Dada-Messe“ am Lützow-Ufer schreibt er im
„Berliner Tagblatt“ am 20. Juli 1920: „Dada---na, ja. Aber einer ist dabei, der wirft den ganzen Laden um.
Dieser eine, um den sich der Besuch lohnt, ist Georg Grosz, ein ganzer Kerl und ein Bursche voll unendlicher
Bissigkeit...“.
Nach Abflauen der „revolutionären Dadaphase“ 1913/24 übt sich Grosz im Spagat zwischen der Annäherung an
den von ihm noch vor wenigen Jahren wütend bekämpften bürgerlichen Kunstmarkt und der Beibehaltung seiner
Rolle als engagierter Künstler, der am Silvesterabend 1918 von Rosa Luxemburg persönlich seinen KPDMitgliederausweis erhalten hatte. Neben Arbeiten für den „Simplizissimus“ übernimmt er 1923 die Leitung der
von der KPD herausgegebenen satirischen Wochenzeitschrift „ Der Knüppel“. Grosz wirft seit 1925 nach
eigenen Worten und zur Irritation seiner Weggefährten den „typischen Grosz-Stil“ „zugunsten einer größeren
Lebendigkeit“ über Bord. Wohl auf Rat seines Galeristen, Alfred Flechtheim, meidet er „anstößige Sujets“, will
er nicht mehr „kautziger Wahrheitsmann“ sein- nichtsdestotrotz malt er sich 1927 noch einmal als solcher. Vor
was warnt er? Seinem ehemaligen Mitschüler und nunmehrigen Schwager Otto Schmalhausen gegenüber
spricht er 1927 in mehreren Briefen über seinen Wunsch „verkäufliche Bilder“ zu malen. Bekommt der
Vorreiter einer veristischen Malerei als auf dem Kunstmarkt avancierte Avantgardist Kunst und Kommerz nicht
mehr zusammen?
1932 kommt Orlik überraschend um seine vorzeitige Pensionierung nach. Nach Zeugnis seines Schülers und
Nachfolgers Gerhard Ulrich ein Akt der Resignation. Orlik fühlt sich in der Schule zunehmend isoliert und ist
auch außerhalb der Mauern der Anstalt als Jude Anfeindungen ausgesetzt. Ende 1932 beschäftigt sich der
Konvent der Hochschule mit der Nachfolgefrage. Die Sitzung leitet anstelle des nach Konflikt mit der neuen
preußischen Regierung von Papens Gnaden zurückgetretenen Bruno Paul, Hans Poelzig. Als Anlage zum
Protokoll der Sitzung findet sich eine Liste möglicher Nachfolger. Auf ihr steht der Name von Georg Grosz.
Als Ergebnis der Sitzung hat der unbekannte Protokollant knapp notiert. „Georg Grosz. Ist in Amerika. Hat sich
politisch festgelegt“ und schwärzt den Namen. Damit ist Grosz aus dem Rennen.
Trotz ihrer unübersehbaren persönlichen Distanz weisen Orliks und Groszs Schicksale erstaunliche Parallelen
auf. Beide Künstler beanspruchen für sich Personen des öffentlichen Lebens zu sein. Kunst findet auf der Straße
statt. Über Orlik Omnipräsenz kursieren im Berlin der 20er Jahre die wildesten Geschichten. 1918 geht er im
Auftrag der deutschen Regierung als Porträtist zu den deutsch-russischen Friedensverhandlungen nach BrestLitowsk. 1921 schlüpft Orlik in die Rolle des Verteidiger einer von bürgerlichen Fesseln befreiten Moderne. Im
Prozeß über Arthur Schnitzlers „Reigen“ tritt er als Gutachter auf. Er rechnet sich geschmeichelt zu Gerhard
Hauptmanns Freundeskreis. Orliks Zeichnungen des Autors wachsen inflationistisch. Orlik weilt als Gast von
Max Slevogt, einem der bestbezahltesten Maler dieser Jahre, auf dessen repräsentativen Schlosses am Rhein zu
Gast und fotografiert und zeichnet den Gastgeber in Jägerpose. Jederzeit seinen Freunden gefällig, illustriert er
ein Buch der Schauspielerin Tilla Durieux, der Ehefrau von Paul Cassierer, veröffentlicht Schauspielerbildnisse
von Inszenierungen Max Reinhardts. In seinem Tagebuch nennt der Lyriker Oskar Loerke Orlik seinen Freund
und nimmt ihn öffentlich gegen Angriffe wegen dessen Hyperproduktivität in Schutz. Von allen unter den im
Niveau sehr unterschiedlichen zahllosen, zum Teil nach Fotografien gezeichneten Porträts ( Neider streuen das
Gerücht) finden sich über die Jahre verteilt so witzig-anrührende Zeichnungen seines Freundes und
Landsmannes Rainer Maria Rilke und die sarkastische Kopfstudie des einflußreichen Kunsthändlers Ossip
Flechtheim.
Orliks Beerdigung an einem grauen 1. Oktober 1932 wird nach Erinnerung eines Teilnehmers zu einer letzten
Demonstration der republikanischen Kulturschickeria: Alle wichtigen Theaterleute sind gekommen. Neben der
Diva Fritzi Massary werden der Physiker Albert Einstein und der Chirurg Ferdinand Sauerbruch gesichtet. Am
Grabe spricht der einflußreiche Kulturchef der „Vossischen Zeitung“ Max Orborn und der „Noch- Direktor“
Paul. Orliks Schüler Grosz fehlt unter den Trauergästen. Er befindet sich zu dieser Zeit auf Einladung der Art
Students League, in den USA
Drei Mal steht Grosz vor Gericht., aber nicht wie Orlik als engagierter Verteidiger der Moderne, sondern
angeklagt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Verunglimpfung militärischer und religiöser Symbole (
1921/22, 1924 und 1928). Orliks künstlerischer Ertrag seines moderaten Eintretens für die Moderne besteht in
einer mittelmäßigen Mappe zum „Reigen-Prozeß. Angesichts Grosz „schlappen“ Auftreten vor Gericht kommen
Tucholsky Zweifel, ob er mit seiner öffentlichen Einschätzung des Angeklagten als gleichermaßen analytisch
gewiften und elegant-aggressiven Zeichner richtig ist.
Und ein Weiteres verbindet und trennt Lehrer und Schüler zugleich. Sie sind moderne Multitalente
„angewandter“ Kunst, deren Kreativität vor immer neuen Herausforderungen sucht. Im Zeitraum von19051911 hat Orlik für wenigstens acht Theaterproduktionen Max Reinhardts Bühnenbilder und Kostüme entworfen
und unzählige Theaterzeichnungen angefertigt. Von 1919-1930 übernimmt Georg Grosz gleiche Aufgaben in elf
Inszenierungen davon vier von Erwin Piscator. Künstlerisch bringt Orlik seine Theaterarbeit nicht weiter, außer
daß sie ihm die Bekanntschaft mit fast allen wichtigen Schauspielern und Theaterleuten dieser Jahre verschafft.
Das Gleiche gilt für Grosz. Sieht man sich heute seine Versuche, den „journalistischen Zeichenstift“ für
Theaterkulissen und Kostüme fruchtbar zu machen, genauer an, so entdeckt man Banalitäten- entgegen allen in
jüngster Zeit unternommenen Anstrengungen das Gegenteil zu beweisen.
Ähnlich ist das Ergebnis der Beschäftigung mit der Fotografie. Es gibt auch nicht den leisesten Hinweis, daß es
sich z. B. bei Orliks 1923 entstandenem Foto von Marlene Dietrich und ihrer Freundin Resel Orla mehr als ein
einfühlsames Foto handelt. Von der modernen Bildsprache der Zeit keine Spur. Grosz, der zusammen mit
Heartfield ebenso wie Höch Fotos für Collagen verwendet, hat 1933 seine Überfahrt nach den USA und seine
ersten Eindrücke von New York fotografisch festgehalten. Auch dies ist jüngst unangemessen hochgespielt
interpretiert worden.
Künstlerisch gesehen gerät Orlik, 1905 in Berlin angetreten als Vertreter der Moderne, nach 1918 als
Repräsentant deren gemäßigten Variante ins Abseits, wird zum routinierten Schnellzeichner, avanciert zum
Markenzeichen. Für Grosz, Produkt der Reformbewegung kunstgewerblicher Ausbildung und Avantgardist
wird die Einladung nach Amerika nutzen, um unter Zurücklassung aller ungelösten künstlerischen Problemen
der Avantgarde Rettung mit Hilfe seines „journalistischen Zeichenstiftes“ zu suchen.