Blind Willie McTell
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Blind Willie McTell
bn41.qxd 10.03.2005 17:31 Seite 28 History Blind Willie McTell - The Box Set Produzent Larry Cohn über eine außergewöhnliche Veröffentlichung Er war sein Leben lang im Grunde „nur“ Straßenmusikant. Seine zahlreichen Studioaufnahmen zwischen 1927 und 1935 – die Klassiker wie „Statesboro Blues“ und „Georgia Rag“ hervorbrachten – änderten wenig daran, und auch Jahrzehnte später, in den letzten Jahren seines Lebens, musizierte Willie McTell meist in irgendwelchen Gassen in Atlanta. Sein relativ früher Tod 1959 verwehrte ihm die Chance, „wiederentdeckt“ zu werden und so die Bewunderung einer jungen Generation von Bluesfans in den USA und Europa zu genießen. Und trotzdem gilt er heute als Musiklegende. Von Vincent Abbate Fans von diesem Meister der 12-saitigen Gitarre haben jetzt Grund zur Freude. Ein außergewöhnliches Box-Set von NiamaMedia, als „das erste umfassende Werk über Leben und Schaffen des legendären Blind Willie McTell“ angekündigt, kommt in den nächsten Wochen in die Plattenläden. Ganze fünf CDs, eine DVD, eine Vinylplatte sowie ein 200-seitiges Buch soll diese einmalige Schatztruhe umfassen. Verantwortlich für ihre Zusammenstellung ist der Amerikaner Larry Cohn – früher Vizepräsident von CBS/Epic Records, Kopf hinter der „Roots ’n’ Blues“-Reihe von Sony Music/Legacy und Autor von „Nothing But The Blues: The Music and the Musicians“. Seit er als junger Bluessammler in den Besitz des heute noch bekanntesten Original-Fotos von McTell kam (siehe Bild oben), fühlt er sich mit dem Künstler auf spiritueller Ebene verbunden. Er verwirklicht mit der Veröffentlichung der McTell-Box einen Jahrzehnte alten Traum. bluesnews sprach mit Cohn über dieses spannende Unterfangen. bluesnews: Wann wurden Sie zum ersten Mal auf Blind Willie McTell aufmerksam und was bedeutet Ihnen persönlich seine Musik? Larry Cohn: Ich war circa 20. Es klingt vielleicht blöd, aber es gibt zwischen mir und meiner Vorstellung von Blind Willie McTell eine spirituelle Verbindung – zwischen mir und dem romantischen Bild eines wandernden blinden Sängers, geboren um die Jahrhundertwende, der ganz allein durchs Land zieht. Ich war aber vor allem von seiner musikalischen Begabung fasziniert. Seine frühen Aufnahmen für Victor und Columbia – „Three Women Blues“, „Statesboro Blues“ – sind einfach umwerfend. Ebenfalls seine Poesie, seine Bildersprache. Seine Texte waren mindestens genauso gut wie die besten Beispiele der Blues-Poesie, also wie die Texte von Charley Patton oder einige von Robert Johnson. McTell hatte einfach alles. Und als ich später seine „Library of Congress“Aufnahmen hörte, wurde er mir noch sympathischer. In seinem Umgang mit John Lomax wird klar, wie intelligent McTell war. 28 Dies hört man auch aus seinen Texten heraus. Aber als ich die Gespräche mit Lomax hörte, dachte ich: meine Güte, dieser Mann ist konkurrenzlos. Wollten Sie ihm schon immer ein Denkmal wie mit diesem Box-Set setzen? Seit ich das Original-Foto von McTell besitze, d. h. seit ungefähr 1961. Ich wollte immer etwas Besonderes tun, das über eine bloße Wiederveröffentlichung seiner Aufnahmen hinausgeht. Eine Art Magnus Opus. Als dann die Charley Patton Box „Das ist das Tolle an seiner Musik. Ihre Zeitlosigkeit. In 50 Jahren wird sie immer noch von Bedeutung sein. Vielleicht werden die Orte, von denen er singt, verschwinden. Aber McTells Bildersprache ist zeitlos.“ Larry Cohn (Foto) über McTell 2001 erschien (von Revenant Records, die drei Grammys gewann, Anm. d. Red.), nahm die Idee eine konkretere Form an. Das Ganze hing davon ab, ob ich die komplette letzte Session von McTell noch finden würde. Ich meine die Atlanta-Session von 1956. Bislang sind nur zwei Drittel davon erschienen. Ed Rhodes, der McTell damals aufnahm, war die Schlüsselfigur. bluesnews 41 - April 2005 Und ich konnte Rhodes nicht finden. Keiner konnte ihn finden. Er war einfach verschwunden. Ich bekam einen Hinweis, ging der Sache nach und hatte letztendlich eine grobe Idee, wo ich Rhodes eventuell finden könnte. Ich fuhr da hin, ging in einen Laden und fragte eine Frau hinter der Theke, ob sie mir etwas über Ed Rhodes erzählen konnte. Sie guckte mich an und sagte: „Ja, vermutlich schon.“ Sie zögerte noch einen Moment und sagte dann: „Ich bin seit 37 Jahren mit ihm verheiratet.“ Ich wollte fragen, wann er gestorben sei – da er McTell schon 1956 aufnahm, vermutete ich, er wäre schon längst tot. Aber während ich mit ihr sprach, wählte die Frau eine Telefonnummer und reichte mir dann ihr Handy weiter. Der Mann am Hörer fragte mich: „Sind Sie an Blind Willie McTell interessiert?“ Ich sagte ja. „Sehr interessiert?“ Ich sagte ja. „Warten Sie dort, ich komme gleich vorbei.“ Rhodes kam vorbei und wir verstanden uns blendend. Das Beste an diesem Projekt ist die dabei entstandene Freundschaft. Auf der „Last Session“-CD auf Prestige/OBC sind dreizehn Songs von der 1956er Session. Wie umfangreich sind die kompletten Aufnahmen? Es kommen fünf noch nie veröffentlichte Musikstücke dazu sowie weitere Sprachaufnahmen von McTell. Es gibt zwar keine neuen Songs unter diesen fünf, aber sie gehören zum gesamten Tondokument, genauso wie diese sehr interessanten, noch nie gehörten Sprach-Clips. Und die Bonus-CD mit dem Ed Rhodes Interview? Das Interview habe ich selber geführt. Ed erzählt über die Session und über sein eigenes Leben, von seiner Bekanntschaft mit McTell und wie es zu dieser Session kam. Auch ein Dokumentarfilm auf DVD gehört zur Box. Existieren überhaupt Filmaufnahmen von McTell? Neulich stellte mir meine Freundin genau diese Frage. Leider gibt es, soweit wir wissen, keine Filmaufnahmen. Aber sie hatte gleich bn41.qxd 10.03.2005 17:31 Seite 29 History eine andere clevere Idee: Was ist mit Radio? McTell spielte bekanntlich für Radiosender in und um Atlanta. Vielleicht gab es jemanden, der damals klug genug war, einen Auftritt mitzuschneiden. Bislang haben wir nichts derartiges gefunden. Aber wir arbeiten mit vielen „Schnüfflern“ zusammen, also hoffentlich finden wir doch noch was. Um was genau handelt es sich bei der CD „Friends“? Das Box-Set wird ähnlich aufgebaut wie das von Charley Patton. McTells eigene Musik steht natürlich im Mittelpunkt. Auf der „Friends“-CD sind dann Stücke von Zeitgenossen, mit denen er bekannt oder gemeinsam unterwegs Heute Rathaus von Statesboro, früher das Jaeckel Hotel, in dem McTell musizierte. (Foto: V. Abbate) war. Wir wissen heute, dass McTell mit Tampa Red und Blind Blake befreundet war, obwohl sie nie zusammen aufgenommen haben. Nach McTells mündlicher Überlieferung weiß man, dass er mit Blind Willie Johnson umherzog. Im Grunde wol- len wir eine Geschichte erzählen, statt nur eine zusammengewürfelte Gruppe von Künstlern zu präsentieren. Zu Tampa Red und Blind Blake gibt es eine direkte Verbindung über McTells Ehefrau Kate, die diese beiden Männer kannte. Thomas Dorsey – bekannt als Georgia Tom – war ein entfernter Verwandter von McTell. Wir bemühen uns, die verschiedenen Fäden seines Lebens zusammenzuflechten, weil dies die eigentliche Faszination des Projekts ausmacht. Wie kam es dazu, dass McTell mit seiner Musik nie ordentlich Geld verdiente? Rückblickend ist diese Tatsache sehr schade, weil er ein ziemlich intelligenter Mann war. Wir müssen einiges berücksichtigen. Wie viele andere Blueskünstler hatte er nie einen richtigen Hit. Sogar Robert Johnson hatte mit „Terraplane Blues“ einen einzigen regionalen Erfolg – und das nur innerhalb der Mississippi-Delta-Region. Natürlich muss man hier die späteren Coverversionen von den Rolling Stones (Johnsons „Love In Vain“) oder den Allman Brothers (McTells „Statesboro Blues“) ausklammern. McTell fing sehr früh an, mit Jahrmärkten und Zirkussen umherzuziehen, und blieb eigentlich bis zum Lebensende eine unstete Seele. Gelegentlich ging er ins Studio. Er hatte auch seine Ressentiments. Ich fragte Ed Rhodes, ob Willie jemals über Musiker wie Curley Weaver oder Barbecue Bob etwas zu erzählen hatte. McTell erwähnte immer nur zwei Namen. Der eine war Rev. J.M. Gates. Willie hörte ihn gern, was logisch ist, da er sich zu dem Zeitpunkt eher mit Gospel als mit Blues beschäftigte. Der andere war John Lomax. Willie hasste ihn. Er fühlte sich von Lomax betrogen. Für seine „Library of Congress“-Aufnahmen glaubte McTell, er würde zwei- oder dreihundert Dollar bekommen. Er bekam zehn Dollar. Dies hat er Lomax nie verziehen. Es war auch ein wichtiger Grund, weshalb er sich zunächst weigerte, neue Aufnahmen für Ed Rhodes zu machen. Er glaubte, man würde ihn ausbeuten. Eine letzte Frage. Haben Sie eine Lieblingsaufnahme von McTell? Das ist schwierig, aber „Three Women Blues“ ist mein absolutes Lieblingsstück, zusammen mit „Statesboro Blues“. Beide Songs sind unglaublich dramatisch und wirken wie Mini-Opern. Und die Poesie! Sie sind nahezu unschlagbar. Bei McTell entdecke ich mit jedem Hören etwas Neues. Wissen Sie was? Ich höre ihn seit Jahrzehnten und reagiere immer noch genauso. Jedes mal springt etwas Neues heraus. Das ist das Tolle an seiner Musik. Ihre Zeitlosigkeit. In 50 Jahren wird sie immer noch von Bedeutung sein. Vielleicht werden die Orte, von denen er singt, verschwinden. Aber McTells Bildersprache ist zeitlos. Weitere Infos zur Box im Internet: www.niama-media.com www.cohndesilva.com/blind/