VERMEER - Residenz Verlag

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VERMEER - Residenz Verlag
VERMEER
DIE MALKUNST
Spurensicherung an einem Meisterwerk
Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien
VERMEER
DIE MALKUNST
Spurensicherung an einem Meisterwerk
Herausgegeben von
Sabine Haag,
Elke Oberthaler und Sabine Pénot
Vermeer, The Art of Painting
Scrutiny of a Picture
With English Translations of the Essays
Kunsthistorisches Museum
26. Januar bis 25. April 2010
Residenz Verlag
— 2 —
kunst
historisches khm
museum
INHALT
IMPRESSUM DES KATALOGS
Herausgeber:
Dr. Sabine Haag
Generaldirektorin des
Kunsthistorischen Museums
Burgring 5, 1010 Wien
sowie
Mag. Elke Oberthaler und
Dr. Sabine Pénot
Gemäldegalerie
Redaktion: Marianne Hergovich
Lektorat: Elisabeth Herrmann
Autoren der Katalogbeiträge:
Dirk Jan Biemond (D. J. B.)
Carmen Bock (C. B.)
Aurelia Burckhardt (A. B.)
George Deem (†) (G. D.)
Barbara Graf (B. G.)
Gerhard Gutruf (G. G.)
Reinhard Hirzabauer (R. Hi.)
Rudolf Hopfner (R. H.)
Beatrix Kriller-Erdrich (B. K.-E.)
Roswitha Juffinger (R. J.)
Manuela Laubenberger (M. L.)
Elfriede Mayer (E. M.)
Sabine Pénot (S. P.)
Katja Schmitz-von Ledebur (K. S.-v. L.)
Übersetzungen:
Bernhard Geyer
Matthew Hayes
Ute Heinisch
Andrea Schellner
Monika Streissler
John Winbigler
Art-Direktion: Stefan Zeisler
Grafik: Michaela Noll
Fotos des KHM:
©: KHM
Fotografische Leitung:
Stefan Zeisler
Fotos:
Andreas Uldrich
Alexander Rosoli
Bildbearbeitung:
Tom Ritter
Florian Brunner
Abbildungsnachweis:
Abbildung auf dem Buchdeckel, auf der
Cover-Rückseite und Schmuckabbildungen: Kat.-Nr. 1 und Kat.-Nr. 1, Details
Abbildungen im Katalogteil:
Falls nicht anders angegeben: © Leihgeber
© Salvador Dalí. Foundation Gala/VBK,
Wien 2009. Collection of the Salvador Dalí
Museum, Inc., St. Petersburg, FL, 2009:
Kat.-Nr. 54
© VBK, Wien 2009: Kat.-Nr. 55
© Estate of George Deem / VBK, Wien
2009: Kat.-Nrn. 60, 62
© 2009 Sophie Matisse/Artist’s Right
Society (ARS), New York: Kat.-Nr. 63
© B. Graf & H. El Mestikawy: Kat.-Nr. 64 b
ISBN 978-3-85497-171-9
Alle Rechte vorbehalten.
Kurztitel:
Vermeer, Die Malkunst –
Spurensicherung an einem Meisterwerk
Ausstellungskatalog des
Kunsthistorischen Museums
Wien 2010
© 2010 Kunsthistorisches Museum Wien
© 2010 Residenz Verlag
AUSSTELLUNG
Gesamtleitung:
Sabine Haag
Konzept und wissenschaftliche Leitung:
Elke Oberthaler
Sabine Pénot
Ausstellungsmanagement:
Christian Hölzl
Ausstellungsorganisation:
Marianne Hergovich
Öffentlichkeitsarbeit & Marketing
Martina Taig
Edyta Kostecka
Angelika Kronreif
Ruth Strondl
Ausstellungsgestaltung:
Gerhard Veigel, Wien
Ausstellungsgrafik:
Michaela Noll
Audio Guide:
Natalie Lettner
Christoph Paidasch
Alexander Smith
Restauratorische Betreuung:
Restaurierwerkstätten des
Kunsthistorischen Museums
Führungsangebot:
Andreas Zimmermann
Rotraut Krall
Konrad Schlegel
Agnes Stillfried
Daniel Uchtmann
LEIHGEBER
Amsterdam, Rijksmuseum
Delft, Gemeente Archief
Den Haag, Gemeente Archief
Groningen, Groninger Archieven
Leeuwarden, Fries Museum
Leiden, Universiteitsbibliotheek
Mecheln, Stedelijke Musea
Norfolk, Viscount Coke and the Trustees of
the Holkham Estate, Innys Collection
Paris, Bibliothèque nationale de France
Topham/The Image Works/
PictureDesk.com
T`ŕebo`ń, Národní památkovy ústav,
Státní zámek T`ŕebo`ń
Washington, National Gallery of Art
Wien, Archäologische Sammlung der
Universität Wien
Wien, Gemäldegalerie der Akademie
der bildenden Künste Wien
Wien, Gesellschaft der Musikfreunde
Wien, Kunsthistorisches Museum, Archiv;
Bibliothek; Gemäldegalerie; Kunstkammer;
Sammlung alter Musikinstrumente
Wien, Liechtenstein Museum
Wien, Österreichische Galerie Belvedere
Wien, Österreichische Nationalbibliothek,
Bildarchiv; Kartensammlung und Globenmuseum; Sammlung von Handschriften
und alten Drucken
Wien, sixpackfilm
Arthaus
Privatbesitz Saskia de Boer
Privatbesitz Ulrich Ghezzi
Privatbesitz Barbara Graf
Privatbesitz Reinhard Hirzabauer
Privatbesitz Karl Kriebel
Privatbesitz Elfriede Mayer
USA, Privatsammlung
SABI N E HAAG – Vorwort 7
ELKE OBERTHALER und SABI N E PÉNOT – Vorwort 9
KARL SCHÜTZ – Einleitung 14
BEITRÄGE
DANK
Unser besonderer Dank ergeht an:
Carsten Ahrent, Alfred Auer, Ilsebill Barta,
Christina Bartosch, Frank Beseke,
Otto Biba, Magdalena Marta Brela,
Joël Calmettes, Wencke Deiters,
Francesca Del Torre, Ina Dinter,
Sepp Dreissinger, Blaise Ducos,
Angelika Enderlein, Sophie Faudel,
Sylvia Ferino, Michael Gallagher,
Ulrich Ghezzi, Gerlinde Gruber,
Charlotte Hale, Gabriele Helke,
Marianne Hergovich, Christian Hölzl,
Georg Imhof, Don Jonson, Rick Jonson,
Lore Korbei, Georg Kremer, Charlotte Lang,
Huigen Leeflang, Walter Liedtke,
Philippe Luez, Frank Marschall,
Sara Merigo, Helga Musner,
Michael Odlozil, Ruperta Pichler,
Franz Pichorner, Václav Pitthard,
Patrick Poch, Veronika Poll-Frommel,
Adelheid Rasche, Pieter Roelofs,
Christina Schaaf-Fundneider,
Veronika Sandbichler, Claudia Scharl,
Margret Schattauer, Wilhelm Schlink,
Jan Schmidt, Karl Schütz, Tina Seyfried,
Ann-Claudine Simmer, Julia Sommer,
Gwen Tauber, Katharina Uhlir,
Anne Sophie Vefling, Gerhard Walde,
Elizabeth Walmsley, Simone Wernitznig,
Alexander Wied, Elisabeth Wolfik,
Hubert Wolfrum, Elisabeth Zeilinger
ARTHUR WH EELOCK – Die Malkunst 19
SABIN E PÉNOT – Johannes Vermeer, Die Malkunst. Ein Gemälde 41
im Zeichen des Lichtes. Fragen zur Bilderfindung
ROSWITHA JUFFINGER, CH RISTOPH BRAN DHUBER – Das unerkannte 66
Meisterwerk. Aus der Provenienzgeschichte von Vermeers Malkunst
GÜNTER SCH ILDER – Visschers Wandkarte der Siebzehn 77
Provinzen (1636) und ihr Pendant auf Vermeers Malkunst
KATJA SCHMITZ-VON LEDEBUR – Anmerkungen zum textilen Medium in 93
Vermeers Gemälde Die Malkunst: Tapisserie und Wams mit Schlitzen
EVA MONGI-VOLLMER – Die Wiederbegegnung mit 103
Vermeers Malkunst im 19. Jahrhundert
ROLAN D PRÜGEL – Reflexive Aneignung, kritische Transformation. 111
Paraphrasen von Vermeers Malkunst im 20. und 21. Jahrhundert
BEATRIX KRILLER-ERDRICH – A bis V: Arthur Strasser und Johannes Vermeer 119
im Kunsthistorischen Museum Wien. Zur Rezeption eines Bildmotivs
ENGLISH TRANSLATIONS OF THE ESSAYS
262 ARTHUR WH EELOCK – The Art of Painting
271 SABI NE PÉNOT – Johannes Vermeer’s The Art of Painting.
A Picture marked by Light. Questions on Pictorial Invention
286 ROSWITHA JUFFI NGER, CH RISTOPH BRAN DHUBER – The Unrecog-
nised Masterpiece. Vermeer’s Art of Painting: The Story of Its Provenance
290 GÜNTER SCH I LDER – Visscher’s Wall Map of the Seventeen Provinces
(1636) and Its Counterpart in Vermeer’s Art of Painting
296 KATJA SCHMITZ-VON LEDEBUR – Remarks on the Textiles in Vermeer’s
The Art of Painting: Tapestry and Slashed Doublet
300 EVA MONGI-VOLLMER – Rediscovering Vermeer’s
Art of Painting in the 19th century
304 ROLAND PRÜGEL – Reflexive Appropriation, Critical Transformation:
Paraphrases of Vermeer’s Art of Painting in the 20th and 21st Centuries
308 BEATRIX KRI LLER-ERDRICH – A to V: Arthur Strasser and
Johannes Vermeer in the Kunsthistorisches Museum Vienna.
On the Reception of a Pictorial Motif
KATALOG
Katalognummern 1 bis 64 132
TECHNOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
ROBERT WALD – Die Malkunst. Betrachtungen zum 193
künstlerischen Ansatz und zur Technik
ELKE OBERTHALER, JAAP J. BOON, SABIN E STAN EK, MARTINA GRI ESSER 215
Die Malkunst von Johannes Vermeer. Geschichte der
Restaurierungen, Beobachtungen zum Zustand
JAAP J. BOON, ELKE OBERTHALER 235
Beobachtungen zur fragilen Struktur und zu den chemischen Prozessen in den
Schichten und an der Oberfläche des Gemäldes Die Malkunst von Vermeer
ANHANG
Literaturverzeichnis 256
312 ROBERT WALD – The Art of Painting. Observations
on Approach and Technique
322 ELKE OBERTHALER, SABINE STANEK, JAAP J. BOON, MARTINA GRIESSER
The Art of Painting by Johannes Vermeer. History of Treatments
and Observations on the Present Condition
328 JAAP J. BOON, ELKE OBERTHALER
Mechanical Weakness and Chemical Reactivity Observed in the
Paint Structure and Surface of The Art of Painting by Vermeer
ARTH U R W H EELO CK
Die Malkunst
In dieser Ausstellung wird ein Gemälde gefeiert, das zu
den größten Schätzen des Kunsthistorischen Museums
zählt: Die Malkunst von Johannes Vermeer, womit der
Besucher die Gelegenheit erhält, sich erneut mit der visuellen Brillanz dieses faszinierenden Bildes auseinanderzusetzen1. Wer vor diesem Gemälde steht, fühlt sich einmal mehr in ein wohlgeordnetes holländisches Interieur
versetzt, mit einem schwarz-weißen Marmorboden, einer
Balkendecke und einer weiß verputzten Wand. Wir bestaunen die Eleganz und die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen der einzelnen Gegenstände im Raum –
die lederbezogenen Holzstühle, die große, handkolorierte Wandkarte der Niederlande und den Messingglanz
des Kronleuchters an der Decke. Das Licht strömt durch
Fenster herein, die mitzudenken, aber nicht zu sehen
sind; eines von ihnen wird durch die große, mit einem
Blumenmuster versehene Tapisserie verdeckt, den Vermeer zurückgeschlagen hat, um gerade uns Privilegierten
einen Blick auf die Szene zu gewähren.
Der Raum bildet das Ambiente für den visuellen
und thematischen Mittelpunkt des Gemäldes: den modisch-elegant gekleideten Maler, der vor seiner Staffelei
sitzt. Er kehrt uns den Rücken zu, doch spüren wir die
Eindringlichkeit seines Blicks, während er ein Brustbild
des jungen weiblichen Modells vor der hell beleuchteten Rückwand auszuführen beginnt. Seine Rechte ruht
auf dem Malstock auf; sorgfältig gibt er eines der Lorbeerblätter im Kranz auf ihrem Kopf wieder. In Malerei
einzufangen sind noch das ovale Gesicht der Figur, ihr
verhaltener Ausdruck, ihr Lockenhaar, ihr bauschiges
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blaues Gewand sowie das Buch und die Trompete, die
sie in Händen hält.
Dieses packende Seh-Erlebnis macht aber nur einen
Teil der Faszination der Malkunst aus. Das große Format des Bildes, die Vielschichtigkeit seiner Komposition
und seine eigentümliche Thematik werfen viele Fragen
auf. Wie der Titel ausdrücklich besagt (er stammt, wie
im Folgenden dargelegt, von Vermeer selbst), geht es in
diesem Werk um einen abstrakten Begriff: „die Malkunst“. Welche literarischen und bildlichen Quellen hat
Vermeer herangezogen, als er sich dieses Sujet ausdachte, und wie adaptierte er sie, um seinen Zweck zu erreichen? Wie kam er auf den Gedanken, diese abstrakte
Allegorie in ein scheinbar realistisches Interieur zu versetzen? Wie legte er seine Komposition an und wie ordnete er sie, und womit erzeugte er die außerordentlichen
illusionistischen Effekte, die auch noch ca. 350 Jahre
später den Betrachter in Staunen versetzen? Ja, weshalb
beschloss Vermeer in den späten 1660er Jahren überhaupt, ein allegorisches Gemälde zu schaffen, das in den
Maßen und in seiner Komplexität so sehr von den intimen Alltagsszenen abweicht, die für sein Werk inzwischen charakteristisch geworden waren?
Diese Sonderausstellung will auf viele der rätselhaften Aspekte des Bildes eingehen, die im Laufe der Jahrhunderte für Diskussionen unter Kunstliebhabern gesorgt haben. Der vorliegende Beitrag behandelt Die Malkunst im Gesamtzusammenhang von Vermeers Laufbahn
und untersucht die ikonographische Vielschichtigkeit
dieses allegorischen Bildes. Ebenso erörtert er Stil und
— 19 —
Abb. 1: Johannes Vermeer,
Ansicht von Delft.
Um 1660/61. Den Haag,
Koninklijk Kabinet van
Schilderijen Mauritshuis.
(©: ebenda.)
Ill. 1: Johannes Vermeer,
View of Delft. C. 1660/61. The
Hague, Koninklijk Kabinet
van Schilderijen Mauritshuis.
Komposition des Werkes, wobei besonders auf Vermeers
Gebrauch der Perspektive und sein Interesse an der Camera obscura eingegangen wird. Andere Beiträge befassen sich genauer mit interessanten Einzelfragen, die in
der Ausstellung berührt werden, so etwa mit Art und
Bedeutung der von Vermeer dargestellten Gegenstände,
den von ihm verwendeten Materialien und Malweisen und
dem komplexen Aufbau seiner Farbschichten, jüngsten
konservatorischen Maßnahmen zur Erhaltung dieses
hochempfindlichen Meisterwerkes, Archivalien betreffend die Provenienz des Gemäldes, wissenschaftliche Aussagen zu Charakter und Bedeutung des Bildes im Laufe
der Jahrhunderte und die Art und Weise, wie moderne
Künstler Vermeers berühmtes Gemälde ihren eigenen
Zwecken anverwandelt haben.
Vermeers Leben
Die sorgfältigen Archivstudien von Michael Montias haben in den letzten Jahrzehnten viel Neues zur Biographie des Künstlers ans Licht gebracht, während es erstaunlich wenige Nachrichten über Vermeers Auffassung der Malerei gibt2. Vermeer hat nie über Kunst
geschrieben: Es gibt nicht ein Stück Papier, auf dem er
seine künstlerischen Ideale formuliert hätte. Auch Zeichnungen fehlen, weshalb man nicht weiß, welche Studien
er in seiner Lehrzeit oder im Zuge der Vorarbeiten für
seine noch erhaltenen Gemälde (es sind rund 35) anfertigte. Interpretationen seiner Kunst stützen sich somit in
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erster Linie auf genaue Untersuchungen der Gemälde
selbst sowie auf gründliche Vergleiche seiner Arbeiten
mit der Malerei seiner Zeitgenossen und mit literarischen Quellen. Die Malkunst, ein Bild, das die Ziele und
Ambitionen des Künstlers in der Gesellschaft zum zentralen Thema hat, ist das bei weitem wichtigste Werk, in
dem der Betrachter Vermeers künstlerische Einstellung
erkennen kann.
Über Vermeers Entscheidung für den Künstlerberuf
wissen wir nichts3. Wer sein Lehrer war (vielleicht waren
es auch mehrere), wie er ausgebildet wurde, wann er seine Lehre machte, bleibt ein Rätsel. 1632 in Delft geboren, wurde Vermeer am 31. Oktober d. J. in der zur Reformierten Kirche gehörigen Nieuwe Kerk getauft. Protestantisch erzogen wurde er von seiner aus Antwerpen
gebürtigen Mutter Digna Baltens und seinem Vater
Reynier Jansz. Vos, einem Delfter Weber, der Kaffa –
einen feinen Seidensatin – erzeugte. 1641 war die Familie wohlhabend genug, um einen großen, als „Mechelen“
bezeichneten Gasthof auf dem Marktplatz zu kaufen, in
dem sich Vermeers Vater auch als Kunsthändler betätigte.
Beim Tode des Vaters 1652 erbte Vermeer sowohl den
Gasthof als auch die Kunsthandelsfirma. Zu diesem Zeitpunkt muss er sich bereits für den Malerberuf entschieden gehabt haben, da er nur ein Jahr später, am 29. Dezember 1653, in der Sankt Lukas-Gilde als Meister eingetragen wird. Im selben Jahr ehelichte er Catharina
Bolnes, eine junge Katholikin aus dem Papistenviertel,
dem so genannten Papenhoek, von Delft. Im Zuge seiner
Eheschließung konvertierte er zum Katholizismus. Die
Mutter der Braut, Maria Thins, eine entfernte Verwandte
des Utrechter Malers Abraham Bloemart (1564–1651),
besaß eine bescheidene Sammlung von Gemälden der
Utrechter Schule. Mit Sicherheit kannte Vermeer die Utrechter Bilder aus ihrer Sammlung, denn zumindest
zwei von ihnen scheinen im Hintergrund eigener Arbeiten von ihm auf4.
Delft, wo Vermeer geboren und erzogen wurde, war
eine rege und prosperierende Stadt, deren Wohlstand
auf florierenden Steingutfabriken, Teppichmanufakturen und Brauereien gründete. Diese ehrwürdige Stadt
besaß außerdem eine lange und bemerkenswerte Vergangenheit. Ihre starken Befestigungen, Stadtmauern
und mittelalterlichen Tore hatten sie mehr als drei Jahrhunderte lang geschützt. Sie hatten Wilhelm dem
Schweiger, Prinz von Oranien, Zuflucht geboten, und
Abb. 2: Johannes Vermeer,
Diana mit ihren Gefährtinnen.
Um 1655/56. Den Haag, Koninklijk
Kabinet van Schilderijen
Mauritshuis. (©: ebenda.)
Ill. 2: Johannes Vermeer,
Diana and her Companions.
C. 1655/56. The Hague, Koninklijk
Kabinet van Schilderijen
Mauritshuis.
zwar von 1572 bis 1584, also zu der Zeit, als er den Aufstand der Niederlande gegen die spanischen Habsburger
anführte. Auch als zu Ende des 16. Jahrhunderts der
Hof des Prinzen und der Regierungssitz wieder in den
Haag verlegt wurden, konnte sich Delft durch seine Beziehungen zum Haus Oranien seine Sonderstellung in
der Provinz Holland erhalten. Das wichtigste Denkmal
des Hauses Oranien war das Grabmal Wilhelms des
Schweigers in der Apsis der Nieuwe Kerk, der Domkirche, deren sonnenbeschienener Turm zentral im Hintergrund von Vermeers Ansicht von Delft aufragt (Abb. 1).
Im Unterschied zu den nahe gelegenen Städten Amsterdam, Haarlem und Utrecht bildete Delft in den ersten
Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts kein wichtiges Kunstzentrum. In den Anfängen der Karriere Vermeers als
Maler war Leonaert Bramer (1596–1674) der bedeutendste
Künstler der Stadt; er malte vor allem kleinformatige Historienbilder, also Darstellungen biblischer oder mythologischer Themen. Möglicherweise durch Bramers Einfluss, vielleicht aber auch aus eigener religiöser Überzeugung begann Vermeer seine Laufbahn um die Mitte
der 1650er Jahre als Historienmaler. Er malte unter anderem Christus bei Maria und Martha (um 1654/55;
Edinburgh, National Gallery of Scotland) und Diana
mit ihren Gefährtinnen (1655/56; Abb. 2).
Mit Beginn der 1650er Jahre begann sich der Charakter von Delft als Kunstzentrum zu verändern. Vermeer
konnte wohl zusehen, wie die Architekturmaler, etwa
Gerrit van Houckgeest (um 1600 – 1661), dynamische,
lichterfüllte Gemälde der Innenräume von Delfter Kirchen schufen, wobei sie in ihren Kompositionen oft die
eindrucksvollen Grabmonumente von Wilhelm dem
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Schweiger und anderen holländischen Helden ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellten. Ebenso kamen ihm
die stimmungsvollen Genre-Szenen mit ihren neuartigen Perspektivwirkungen zur Kenntnis, die Carel Fabritius (1622–1654) verfertigte – ehe er bei der Explosion
des Delfter Munitionsdepots auf tragische Weise ums
Leben kam5. Auch Gerard ter Borch (1617–1681), mit
dem gemeinsam Vermeer kurz nach seiner Hochzeit 1653
ein Dokument unterzeichnete, und Pieter de Hooch
(1629 – um 1683), der sich 1654 in Delft niederließ, beeinflussten Vermeers stilistische und thematische Entwicklung von der Historienmalerei hin zu Stadtansichten (Abb. 1) und Alltagsszenen in realistischen Interieurs (Abb. 3).
Zu seinen Lebzeiten hatte Vermeer in seiner Vaterstadt einen guten Ruf; zweimal (1661–1662 und 1671–
1672) fungierte er als Vorstand der Malergilde. Sein Ruhm
drang über seine Vaterstadt hinaus; hin und wieder besuchten ihn Kunstliebhaber, die von seinen künstlerischen Leistungen gehört hatten6. Er galt auch als Kenner
der italienischen Malerei, denn im Mai 1672 wurde er in
den Haag gerufen, um dort eine Expertise über die Qualität einer zum Verkauf angebotenen Sammlung italienischer Gemälde abzugeben7. Dennoch weiß man – abgesehen von dem, was man seinen eigenen Gemälden entnehmen kann – wenig über seine Ansichten zur Kunst
oder seine Beziehungen zu Sammlern. Obwohl keines
von Vermeers Bildern dokumentarisch als Auftragswerk
ausgewiesen ist, dürfte er doch in erster Linie für eine
kleine Gruppe lokaler Kunden gemalt haben. Tatsache
ist, dass 1696 21 Gemälde von Vermeer zum Verkauf kamen; sie stammten aus dem Besitz eines Nachkommen
eines seiner Delfter Sammler8. Der einzige zeitgenössische Kommentar zu seinem Werk stammt von einem
namhaften Besucher aus dem Haag, der 1669, ein Jahr,
nachdem Vermeer Die Malkunst geschaffen hatte, sich
zu des Künstlers meisterhafter Beherrschung der Perspektive äußerte9.
Gegen Ende seines Lebens trat eine drastische Verschlechterung von Vermeers finanzieller Situation ein,
die hauptsächlich aus der verheerenden wirtschaftlichen
Lage Hollands infolge der Invasion französischer Truppen im Jahre 1672 resultierte. Als Vermeer 1675 starb,
hinterließ er eine Frau, acht unversorgte Kinder und einen
Berg von Schulden. Seine Witwe beschrieb 1677 in einer
Petition die Schwierigkeiten während der letzten Lebens-
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jahre des Künstler folgendermaßen: „[Vermeer] konnte
zur Zeit des zerstörerischen und langen Krieges nicht
nur seine eigene Kunst nicht mehr verkaufen, sondern
zu seinem großen Schaden auch die Bilder der anderen
Meister, so dass er auf ihnen sitzen blieb.“10
Die Malkunst im Gesamtwerk von Vermeer
Wenn man weiß, welchen Ruf Die Malkunst heutzutage
genießt, hört man mit Erstaunen, dass dieses Meisterwerk zu Vermeers Lebzeiten nie erwähnt wurde. Zeitgenössische Dokumente wissen nichts von seinem Vorhandensein, und offenbar weckte es auch in keinem Betrachter jemals den Wunsch, ein paar Worte darüber
niederzuschreiben11. Nach Vermeers Tod war das Bild
verschollen, bis es 1803 mit einer Zuschreibung an Vermeers Delfter Kollegen Pieter de Hooch auftauchte. Einerseits wissen wir zu wenig darüber, wie Vermeers Zeitgenossen Die Malkunst aufnahmen, und andererseits
bleibt unklar, weshalb der Künstler das Bild geschaffen
hat. Bei diesem meisterlichen Gemälde handelt es sich
wohl nicht um ein Auftragswerk, denn nach dem Tode
des Künstlers Mitte Dezember 1675 befand es sich in
seinem Nachlass. Das Sujet des Gemäldes hätte unmittelbaren Bezug zu Zweck und Aufgaben der Sankt Lukas-Gilde gehabt; es gibt jedoch keinen Hinweis darauf,
dass er es für diese Malergilde gemalt oder auch nur zur
öffentlichen Schaustellung in der Gildenhalle hergeliehen hätte. Trotz der Ungewissheit in Hinblick auf Entstehung und Zweck des Bildes lässt sich fast mit Sicherheit annehmen, dass Vermeer es als sein persönliches
Bekenntnis zur Bedeutung der bildenden Kunst in der
Gesellschaft ansah. Man kann sich gut vorstellen, dass er
es in seiner Wohnung oder in seinem Atelier aufbewahrte,
wo es seinen Freunden und Gönnern Anlass zu Gespräch und Betrachtung sein musste – Kunstliebhabern,
die Vermeers wohldurchdachte philosophische und künstlerische Ideale teilten12.
Wie wichtig dieses Gemälde Vermeer war, zeigen die
Bemühungen seiner Witwe, es nach dem Tod des Künstlers in der Familie zu halten. Trotz größter finanzieller
Schwierigkeiten unternahm Catharina Bolnes alles in ihrer Macht Stehende, um den Verkauf des Bildes an Gläubiger zu verhindern13. Am 24. Februar 1676, fünf Tage
vor der Erstellung eines Nachlassinventars, ließ sie
durch Notariatsakt das Eigentum an dem Gemälde auf
— 23 —
Abb. 3: Johannes Vermeer,
Der Soldat und das lachende
Mädchen. Um 1658/60. New
York, Slg. Frick. (©: ebenda.)
Ill. 3: Johannes Vermeer,
Officer and Laughing Girl.
C. 1658/60. New York,
The Frick Collection.
ihre Mutter Maria Thins überschreiben, scheinbar um
Schulden bei ihrer Mutter abzutragen14. Die Urkunde
dokumentiert nicht nur dieses persönliche Drama, sondern ist darüber hinaus auch deshalb von Bedeutung,
weil sie das Thema des Gemäldes als „de Schilderconst“
oder „Die Malkunst“ benennt15.
Anders als die beschreibenden Bezeichnungen, wie
sie für den Großteil der Gemälde des 17. Jahrhunderts
üblich waren, bezieht sich der Titel Die Malkunst (im
Unterschied zu einem Titel wie „Der Maler in seinem
Atelier“) auf den Bildinhalt, was darauf schließen lässt,
dass es Vermeer in erster Linie um das gedankliche Konzept dieses Werkes zu tun war. Für seine Allegorie eine
realistische Umsetzung zu wählen, entsprach Vermeers
eigenen künstlerischen Vorlieben. Sein ganzes Arbeitsleben lang war ihm deutlich bewusst, wie wirkungsvoll
und einleuchtend Gegenstände aus der eigenen Umgebung abstrakte Ideen auszudrücken vermögen, wenn sie
überlegt ausgewählt, sorgfältig wiedergegeben und in
entsprechendem gedanklichen Zusammenhang dargeboten werden. Dieses Meisterwerk überzeugt eben deshalb, weil es sichtbarer Ausdruck von Anliegen ist, die
für Vermeer in seinem Verständnis der Malkunst schon
seit langem von entscheidender Bedeutung waren. Auch
wenn seine Genreszenen und Landschaften von solchen
Idealvorstellungen weit entfernt sein mögen, war es ihm
doch immer um mehr gegangen als um die oberflächliche Wiedergabe der Wirklichkeit: Wie sich fast mit Gewissheit sagen lässt, wollte er den Grundwahrheiten
menschlicher Existenz nachspüren.
Um zu erfassen, wie wichtig diese Allegorie für unser
Verständnis von Vermeers künstlerischen Idealen ist,
müssen wir kurz zu den Anfängen seines Wirkens zurückgehen. Vermeers Ausbildung als Historienmaler
prägte sowohl seinen persönlichen Stil als auch die Wahl
seiner späteren Themen einschließlich der Malkunst. In
vielerlei Hinsicht lassen sich seine großformatigen Historienbilder, wie Christus bei Maria und Martha und
Diana mit ihren Gefährtinnen (Abb. 2), nur schwer mit
den späteren Arbeiten des Künstlers in Einklang bringen, doch zeigen sie eine Bandbreite des Vorstellungsvermögens und der Ausführung, wie sie kein anderer
Genremaler der Zeit besaß. Während etwa Gerard ter
Borch seine Laufbahn als Porträtmaler begann, auf Feinheit der Wiedergabe bedacht war und in kleinen Formaten arbeitete, besagt Vermeers anfängliche Neigung zu
großformatigen historischen Szenen, dass es ihm zunächst weniger um die sorgfältige Wiedergabe bestimmter Oberflächenstrukturen und Materialien zu tun war
als vielmehr um den Gesamteindruck seines Bildes. Seine
Maltechnik war daher zunächst relativ frei und kühn,
wie das der Größe des Themenkreises dieser seiner Werke
entsprach.
Als Vermeer sich in den späten 1650er Jahren Genreszenen und Stadtansichten zuwandte, verfeinerte er seine Maltechnik, um in seinen Arbeiten die Illusion der
Wirklichkeit entstehen zu lassen, bewahrte sich in seiner Technik jedoch immer die Fähigkeit, Form und
Struktur eher anzudeuten als abzubilden. In dem Bild
Der Soldat und das lachende Mädchen etwa stellte Vermeer ein ungezwungenes Beisammensein einer jungen
Frau mit einem in einen roten Mantel gekleideten Soldaten dar, der ihr in der Ecke eines Raumes gegenübersitzt (Abb. 3). Um den Effekt des durch das offene
Fenster und die durchscheinenden Glasscheiben einfallenden hellen Sonnenlichtes zu erzielen, setzte Vermeer
den gelben Streifen an den Ärmeln der Frau und den
geschnitzten Löwenköpfen auf ihrer Stuhllehne hell
spiegelnde Lichter auf. Andererseits verwendete er auf
der Wandkarte von Holland und West-Friesland weich
modulierte Striche, um die Alterspatina anzudeuten:
Um 1658/60, als Vermeer dieses Bild malte, war die
Karte fast vierzig Jahre alt.
In thematischer Hinsicht sind in Vermeers Historienbildern stille, verhaltene Augenblicke eingefangen, die
dem Betrachter Anlass geben, über das Leben zu meditieren. Während er in dem Gemälde Christus bei Maria
und Martha ganz ausdrücklich dazu aufgefordert wird,
geht dies im Bild Diana mit ihren Gefährtinnen (Abb. 2)
auf eine stärker verhaltene Weise vor sich: Hier berührt
eines der Mädchen mit beinahe sakramentalem Ernst
sanft den Fuß der Göttin und erinnert darin an Maria
Magdalena, die in anderen Gemälden Christus die Füße
wäscht. Aus diesem Bemühen entsteht der eigentümliche Charakter von Vermeers scheinbar alltäglichen Szenen der späten 1650er und 1660er Jahre, die von einem
Ernst getragen sind, dem in der holländischen Malerei
dieser Zeit nichts gleich kommt. Dies wird in seinen Bildern aus der Mitte der 60er Jahre besonders deutlich, in
denen Frauen ihre alltäglichen Handgriffe ganz in Gedanken versunken ausführen. In solch stillen Momenten
des Nachsinnens – in denen das Auge nach außen, der
— 24 —
Blick aber nach innen gerichtet ist – öffnete sich für Vermeer ein Fenster in das Innere eines Individuums. In einem dieser Werke, Junge Frau mit Wasserkanne am
Fenster (um 1664/65, Abb. 4), steht eine Frau verträumt
neben einer Zimmerecke, wobei sie mit der einen Hand
den Rahmen eines Fensters mit bleigefassten Glasscheiben hält und mit der anderen den Henkel eines Wasserkrugs umfasst. Durch die Entspanntheit ihrer Haltung,
aber auch die Sanftmut ihres Ausdrucks und die anmutigen Farbtöne ihres tiefblauen Gewandes vermittelt sie
ein Gefühl von Reinheit und innerem Frieden.
Der Maler und sein Modell
Die thematischen Anliegen und die stilistische Synthese
von Illusionismus und Abstraktion in Vermeers Werken
aus der Mitte der 1660er Jahre kulminieren in dem um
1666/68 geschaffenen Gemälde Die Malkunst16. In diesem Meisterwerk ist die Aufmerksamkeit des Künstlers
auf eine junge Frau gerichtet, die auf ihrem Haupt einen
Lorbeerkranz trägt und einen dicken, in Leder gebundenen Folianten in der einen sowie eine Naturtrompete
aus Messing in der anderen Hand hält. Cesare Ripas Iconologia zufolge, einer aus dem 16. Jahrhundert stammenden einflussreichen Sammlung von Emblemen und
allegorischen Personifizierungen, die in einer holländischen Übersetzung des 17. Jahrhunderts Vermeer bekannt gewesen sein muss, sind diese Gegenstände die
Attribute von Klio, der Muse der Geschichte, die von
Dichtern ihrer Gelehrtheit wegen geehrt und hochgeschätzt wurde17. Ripa identifiziert das Buch der Klio als
das des großen griechischen Historikers Thukydides,
des Autors der Geschichte des Peloponnesischen Krieges.
Ripa betont auch, dass der Lorbeerkranz der Klio, ein
traditionelles Symbol für Ruhm und Ehre, ein Attribut
der Geschichte sei. So wie das Lorbeerblatt grün und lebendig bleibt, bleiben durch die Schriften der Klio auch
Vergangenheit und Gegenwart auf ewig lebendig18.
Vermeers Maler ist elegant gekleidet, in einer Art, die
ihn über den gesellschaftlichen Rang eines anonymen
Kunsthandwerkers erhebt. Sein auffallendes, an Rücken
und Ärmeln mit Schlitzen geziertes Wams erinnert an
Kleidungsstücke, wie sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts bei besonderen Gelegenheiten von der Oberschicht
getragen wurden. Er ist wie eine Persönlichkeit gekleidet,
der es zukommt, anspruchsvolle Themen darzustellen,
und durch deren gesellschaftlichen Rang auf die Malkunst als eine der Freien Künste hingewiesen werden
sollte19. Der Künstler, der sein Modell als Muse der Geschichte gewandet hat, überträgt Klios Bild sorgfältig
auf seine grundierte Leinwand, zuerst als Unterzeichnung in weißer Kreide und darüber in Farben. Er ist nicht
so sehr Empfänger einer Inspiration durch die Muse als
vielmehr der Mittelsmann, durch den sie Leben und Bedeutung erhält.
Der Künstler hat begonnen, vor jedem anderen Attribut der Klio deren Lorbeerkranz zu malen. Das zeigt,
dass Vermeer die Wichtigkeit der Geschichte für das
Verständnis der Gegenwart betonen wollte. Dieser Gedanke, den er unmittelbar von Ripa übernahm, war nicht
neu, und durch die Darstellung des Künstlers in einer
dessen Anonymität wahrenden Rückenansicht betonte
Vermeer die Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit der
Botschaft. Seit der Antike waren Künstler und Denker
immer bemüht gewesen zu definieren, welche Eigenschaften und Ideale in Gemälden wiederzugeben seien
und welche Bedeutung sie für menschliche Anschauungen und Erkenntnisse hätten.
Von den Historienmalern wurden abstrakte Fragen
behandelt, die für den Menschen Bedeutung besaßen,
wie biblische, mythologische oder allegorische Themen.
Sie wurden höher geschätzt als solche, die nur die Wirklichkeit abmalten, etwa Porträtmaler. So argumentierte
der holländische Kunsttheoretiker des frühen 17. Jahrhunderts Karel van Mander (1548–1606), dass die Historienmalerei als die höchste Leistung des Künstlers zu
gelten hätte, da sie dessen Vorstellungsvermögen durch
die Wiedergabe von Menschen in Augenblicken von
großer historischer und moralischer Tragweite unter Beweis stelle20. Van Manders Auffassungen wiederholte
1678 Samuel van Hoogstraten (1627–1678), als er schrieb,
„die höchste und bedeutendste Stufe der Malkunst [… sei]
die Darstellung der denkwürdigsten Geschichten“21.
Mit solchen Bildern stellten Künstler ihr Wissen und die
Originalität ihres Denkens unter Beweis: Eigenschaften,
welche die Malerei auf die höhere Stufe einer Freien
Kunst erhoben.
Den ausführlichsten Kommentar zum Wesen der
„Schilderkonst“ gab Ripa gleichfalls in seiner Iconologia
ab22. So wie in seiner Erörterung über Klio gibt Ripa auch
für die Figur der „Pittura“, der Malkunst, Attribute mit
symbolischem Gehalt an. Er schreibt, die „Pittura“ sei
— 25 —
zu zeigen als „eine schöne Frau […] mit einer goldenen
Halskette, an der eine Theatermaske hängt […]. Sie sollte
in einer Hand einen Pinsel und in der anderen eine Palette halten“23. Die Maske steht für die Imitation, denn
die Fähigkeit, die Natur nachzuahmen, sei für den
Künstler sehr wichtig. Vermeer erweckte die verschlüsselte Sprache der Allegorie zu neuem Leben und gab die
als Symbol dienende Maske als Atelierzubehör wieder,
das auf dem Tisch im Vordergrund zufällig liegengeblieben ist.
Ripa betonte ferner, dass der Künstler sich ebenso
sehr auf seine Kunst wie auf die Natur stützen müsse: Er
müsse Urteile fällen, seine Einbildungskraft nutzen und
die Regeln der Perspektive beachten – Vorstellungen, die
Vermeer ganz offensichtlich teilte24. So wie Vermeers
Maler seine Komposition mit einer Unterzeichnung in
weißer Kreide beginnt, ist Ripa zufolge die Grundlage
eines Gemäldes die Zeichnung, die der Künstler dann
überdecken und im fertigen Werk verbergen müsse.
Ebenso wie der Rhetoriker solle der bildende Künstler
Wirkungen erzielen, ohne seine Kunstgriffe sichtbar
werden zu lassen25. Das Ziel des Malers ist das gleiche
wie das des Dichters und besteht aus der Beobachtung
der Natur, aber auch aus dem Einsatz seiner Kunst, um
zu gründlicherer Einsicht in die ihn umgebende Welt zu
gelangen.
Bildende Kunst und Geschichte
Vermeer betonte die Bedeutung der Geschichte für den
bildenden Künstler, indem er die Muse der Geschichte
in den Mittelpunkt seiner Allegorie stellte. Dieses Thema wird noch durch die Art und Weise unterstrichen,
wie er die Muse Klio zu der imposanten Wandkarte und
dem eleganten Kronleuchter in Beziehung setzt, die das
Atelier schmücken26. Die Karte der Niederlande mit den
Siebzehn Provinzen und deren wichtigsten Städten hatte
1636 der namhafte Amsterdamer Kartograph Claes Jansz.
Visscher verfertigt. Sorgfältig gibt Vermeer den lateinischen Titel der Karte (einschließlich Visschers latinisiertem Namen) an ihrem oberen Rand wieder: „NOVA
XVII PROV[IN]CIARUM [GERMANIÆ IN
F]ERI[O]RIS DESCRIPTIO, / ET ACCURATA
EARUNDEM DELINEATIO DE NO[VO] EM[EN]
D[ATA], AUCTA, ACQUE COREC[TISS]IME
EDIT[A P]ER NICOLAUM PISCATOREM“27. Der
— 26 —
Maler fing nicht nur getreulich Aussehen und Topographie der Karte ein (auf der die Westküste der Siebzehn
Provinzen nach oben zeigt), sondern gab auch die
schmückenden Kartuschen und den zwölfspaltigen Textstreifen am unteren Rand wieder. Panorama-Ansichten
der achtzehn wichtigsten Städte der Siebzehn Provinzen
sowie Darstellungen des Hofes von Holland im Haag
und des Hofes von Brabant in Brüssel flankieren die
Karte. Im Unterschied zu den Bildern der Höfe, die jeweils links und rechts am unteren Rand platziert sind,
finden sich die der Städte an den beiden Querseiten der
Karte, und zwar ohne ersichtliche Rangordnung: Wie es
sich für ein vereinigtes Staatswesen gehört, wird zwischen den Städten in den nördlichen und denjenigen in
den südlichen Provinzen nicht unterschieden28.
Indem er die große Wandkarte durch das von links
hereinflutende Licht beleuchtet, kann Vermeer die Unregelmäßigkeiten ihrer Oberfläche zeigen – so schildert
er nicht nur die Alterspatina, sondern auch die im Lauf
der Zeit entstandenen Falten und Knicke29. Wie schon
die Karte in dem Gemälde Der Soldat und das lachende
Mädchen (Abb. 3) war Visschers Karte zu der Zeit, als
Vermeer das Bild malte, längst überholt. Durch Landgewinnung hatte sich die physische Karte der Niederlande
gründlich verändert. Was noch wichtiger war: Politische Veränderungen hatten die Grenzen neu gezogen.
Mit der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens
(Münster 1648) wurden die Siebzehn Provinzen offiziell
geteilt und zu zwei getrennten politischen Gebilden:
Aus den sieben nördlichen Provinzen wurde die unabhängige Holländische Republik, während die Südlichen
Niederlande unter der Herrschaft Spaniens verblieben.
Ebenso wie die Karte spielt auch der Kronleuchter
auf jene frühere Periode der holländischen Geschichte
an, als die gesamten Siebzehn Provinzen eine politische
Einheit bildeten. Oben wird der Kronleuchter von einem
doppelköpfiger Adler überragt, der dem imperialen
Symbol der Habsburger ähnelt, aber mit diesem nicht
identisch ist (in letzterem tragen die Adler jeweils eine
Krone)30. Der Leuchter hängt mittig über der Karte,
seine Arme erstrecken sich so nach außen, als wollten
sie die Gesamtheit der einst von den Habsburgern beherrschten Siebzehn Provinzen umfassen und sie wieder
vereinigen.
Vermeer gab der Karte und dem Kronleuchter in seiner
Komposition erhebliches Gewicht. Dies geschah sowohl
— 27 —
Abb. 4: Johannes Vermeer,
Junge Frau mit Wasserkanne
am offenen Fenster. Um 1664/65.
New York, Metropolitan Museum
of Art. (©: 2009 The Metropolitan
Museum of Art/Art Resource/
Scala, Firenze.)
Ill. 4: Johannes Vermeer, Young
Woman with a Water Pitcher.
C. 1664/65. New York, The
Metropolitan Museum of Art.
durch ihre Platzierung als auch durch die Art und Weise,
wie das Licht ihre Oberflächen belebt und damit ihre
Bedeutung für das thematische Anliegen des Künstlers
betont31. Es muss ihn einige Mühe gekostet haben, diese
Gegenstände zu malen, denn es ist ganz unwahrscheinlich, dass einer von ihnen tatsächlich in seinem Besitz
war. Sowohl die Wandkarte als auch der Kronleuchter
wären außerordentlich teuer gewesen; im Nachlassinventar von 1676 kommen jedenfalls derartige Gegenstände nicht vor32. Kronleuchter mit dem Schmuckmotiv des doppelköpfigen Adlers müssen in holländischen Haushalten eine besondere Rarität gewesen sein;
eher hätte man sie in den Südlichen Niederlanden finden
können, wo sie hergestellt wurden33.
Weshalb Vermeer Wandkarte und Kronleuchter in
seine Allegorie einbezog, weiß man nicht. Etliche Forscher haben darauf hingewiesen, dass Vermeers Karte in
der Mitte einen deutlichen vertikalen Knick aufweist,
der annähernd dem Verlauf der politischen Trennungslinie zwischen den nördlichen und den Südlichen Niederlanden entspricht, wie sie im Friedensvertrag von Münster 1648 endgültig festgelegt wurde. Die genaue Position
dieses Knicks und die Art, wie ihn der Lichteinfall auf
der Kartenoberfläche hervorhebt, lassen vermuten, dass
Vermeer seine scheinbar exakte Wiedergabe der Karte
dazu benutzte, um die Aufmerksamkeit auf politische
Teilungen zu lenken, die in den Niederlanden seit der
Verfertigung der Karte eingetreten waren34. James Welu
hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Knick genau durch Breda geht, eine Stadt, die auf der holländischen politischen Bühne in den späten 1660er Jahren
eine wichtige Rolle spielte35.
Vermeer dürfte zwar kaum den Wunsch gehegt haben, die niederländische Republik zur politischen Abhängigkeit unter habsburgischer Herrschaft zurückkehren zu sehen, doch lässt die Art, wie er den Lorbeerkranz der Klio in der Malkunst betont, darauf schließen,
dass er den Gedanken der engen Verbindung zwischen
Vergangenheit und Gegenwart zum Ausdruck bringen
wollte. Wie viele seiner Zeitgenossen, insbesondere jene,
die mit der Politik des Hauses Oranien sympathisierten,
muss Vermeer den Gedanken vereinigter, aber unabhängiger und aus den ursprünglichen Siebzehn Provinzen
gebildeter Niederlande begrüßt haben36. Die künstliche
politische und geographische Teilung im Gefolge des niederländischen Aufstandes hatte viele Familien, darunter
die Vermeer, von ihren Wurzeln in den Südlichen Niederlanden abgeschnitten. Zudem hatte Vermeer, obwohl
als Protestant aufgewachsen, wie gesagt eine Katholikin
geheiratet und sich zum Katholizismus bekehrt, also
musste er den zahlreichen religiösen und kulturellen Beziehungen, die in dem gemeinsamen Erbe der Siebzehn
Provinzen zusammenliefen, wohlwollend gegenüberstehen. Es mag sogar seinen Grund haben, dass Vermeer
seinen Namen am Rand der Karte anbrachte, sodass er
unmittelbar hinter Klio erscheint: Dadurch entsteht der
Eindruck, als wollte er auf diese Weise seine Zustimmung zur historischen Idee in Hinblick auf Vereinigte
Niederlande ausdrücken.
Der Textstreifen, ein wichtiger Bestandteil einer Wandkarte, bezog sich üblicherweise auf Geschichte und Geographie des auf der Karte dargestellten Gebietes37. In
Vermeers Gemälde verbindet er am unteren Rand der
Karte den Künstler mit seinem Modell und erhält damit
zusätzliches kompositorisches Gewicht. Visschers Text
ist zwar nicht lesbar, doch war er den Betrachtern wohl
als Hinweis auf eine positive Beurteilung einer Vereinigung der Siebzehn Provinzen klar verständlich38. Obwohl dieser Textstreifen in den noch erhaltenen Exemplaren der Visscherschen Karte entweder fehlt oder unleserlich geworden ist, lässt sich aus anderen Beispielen
auf seinen Inhalt schließen. So hatte Visscher im Jahre
1609 eine allegorische Karte, Leo Belgicus, publiziert,
die ausdrückliche Vorschläge enthielt, wie die Teilungen,
die die nördlichen Niederlande von den Südlichen getrennt hatten, zu korrigieren wären, so dass sie den beiden Regionen bleibenden Frieden und politische Versöhnung brächten39. Die Veröffentlichung von Visschers
Wandkarte der Siebzehn Provinzen, die im Laufe des
17. Jahrhunderts mehrmals – und auch noch nach der
Unterzeichnung des Friedensvertrages von Münster –
nachgedruckt wurde, muss einem fortdauernden Wunsch
eines Teiles der holländischen Bevölkerung nach einer
Wiedervereinigung des Landes entsprochen haben40.
Vermeer, der diese Karte in seiner Allegorie offensichtlich mit besonderer Absicht zeigte, gehörte wahrscheinlich dazu41.
Abgesehen von den Anspielungen auf die jüngste politische Vergangenheit verweisen Visschers Karte und der
Kronleuchter auch darauf, wie wichtig der Künstler ist,
der seiner Vaterstadt und seinem Land Ruhm bringt. Die
Holländer schätzten die Rolle der bildenden Künstler
— 28 —
für die Mehrung des Ruhmes ihrer Heimat und ihrer
Geburtsstädte sehr hoch ein. Diese Vorstellung, eines
der Nebenthemen in Giorgio Vasaris einflussreichem
Werk Leben der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten, kehrt in einer sich auf den Norden beziehenden Variante bei Karel van Mander in dessen Het Schilder-Boeck aus 1604 wieder. Sie findet sich ebenso in den
im 17. Jahrhundert publizierten Texten zur Geschichte
einzelner holländischer Städte, und zwar unter anderem
in Dirck van Bleyswijcks Beschryvinge der Stadt Delft
[Beschreibung der Stadt Delft]; sie erschien 1667, also
etwa zur Zeit der Entstehung des Gemäldes42. Bezeichnenderweise hält Klio ihre Trompete, Symbol des Ruhmes, gerade über der Ansicht des holländischen Hofes
im Haag, dem Regierungssitz.
Bleyswijck merkte an, dass Künstler ihren jeweiligen
Städten Ruhm und Ehre bringen, beklagte aber, dass solcher Ruhm allzu oft erst nach ihrem Tode entstehe. Unter Verweis darauf, dass die gute Sitte ihn daran hindere,
lebende Maler zu preisen, erwähnte Bleyswijck Vermeer
lediglich als einen der in Delft tätigen Künstler, über
dessen Werk verlor er kein Wort43. Für den Leser von
Bleyswijcks Beschreibung der Stadt Delft bleibt Vermeer
von seinen Zeitgenossen so wenig unterscheidbar wie
der Künstler hier im Bild. Der Maler bleibt anonym,
wiewohl er seiner Heimat Ruhm und Ehre bringt: Wahrscheinlich stellte Vermeer ihn deshalb in Rückenansicht dar, weil er die Allgemeingültigkeit seiner Allegorie unterstreichen wollte.
Malerei und Illusionismus
Die symbolischen Anspielungen auf Geschichte und
Ruhm sind nur ein Teil von Vermeers Allegorie der Malkunst. Für Vermeer bedeutete die Malerei eindeutig mehr
als die Wiedergabe abstrakter Prinzipien in realistischer
Form. In ihrem Wesenskern beruhte sie für ihn auf der
Überzeugung, dass ein Künstler über gründliche Kenntnisse der Naturgesetze verfügen müsse, um eine illusionistische Wiedergabe der Realität schaffen zu können.
Die Schönheit von Vermeers Gemälde ist so verführerisch, dass die subtile Kunstfertigkeit des Malers vielfach
unbeachtet bleibt. Diesem Bild Leben einzuhauchen vermochte Vermeer durch die meisterliche Wiedergabe des
Lichtes, das die Figuren und Gegenstände im Raum erhellt. Auch wendete er in ausgeklügelter Weise seine
Kenntnis der Regeln der Linearperspektive an, um sein
Interieur glaubhaft als Raum entstehen zu lassen und die
wichtigsten kompositorischen und thematischen Bestandteile des Gemäldes zu betonen.
Der offensichtliche Realismus von Vermeers Szene ist
eine Qualität, um die holländische Künstler des 17. Jahrhunderts sehr bemüht waren. In seiner theoretischen Abhandlung schreibt Samuel van Hoogstraten: „Ein vollkommenes Gemälde ist wie ein Spiegel der Natur, in
dem Dinge, die nicht da sind, da zu sein scheinen, und
der sie in einer angenehmen, erheiternden und lobenswerten Weise täuschend genau wiedergibt.“44 Die Vorstellung, dass ein Gemälde das Auge mit seinem Illusionismus täuschen solle, geht auf die Antike zurück. In
seiner Historia Naturalis beschreibt Plinius einen Wettbewerb zwischen den Künstlern Parrhasius und Zeuxis,
die beide darauf aus sind, Bilder zu schaffen, die den Betrachter glauben machen sollen, die abgebildeten Gegenstände seien wirkliche. Parrhasius siegte, indem er einen
Vorhang so geschickt malte, dass Zeuxis ihn wegzuheben versuchte, um das vermeintlich darunter befindliche
Bild sehen zu können. An diese Geschichte erinnert die
große Tapisserie in Vermeers Gemälde, die offensichtlich in der Absicht zur Seite gezogen wurde, um die allegorische Szene sichtbar zu machen. Ihre überzeugend
wiedergegebenen schweren Falten, Farben und Oberflächenstrukturen, die Vermeer mit mehrfarbigen, die Rippen des Gewebes hervorhebenden Glanzlichtern versah,
fordern uns auf, die Tapisserie noch weiter zur Seite zu
schieben, damit wir noch mehr von dem Raum dahinter
sehen können.
So wie der Vorhang des Parrhasius dienten auch die
Maltechniken, die Vermeer zur Erzeugung der Illusion
verwendete, nicht als Selbstzweck: Sie verstärken die
Erwartungen der Betrachter und machen diese für das
Bildthema empfänglicher. In der Malkunst befindet sich
der thematische Höhepunkt nicht an der Oberfläche
der Dinge wie dies bei dem trompe l’œil des Parrhasius
der Fall ist, sondern hinter dem Vorhang. Vermeer hat
den Innenraum seines Gemäldes durch das Beiseiteziehen der Tapisserie für das Auge des Betrachters geöffnet
und zieht diesen dann sogleich mit Hilfe der Diagonalen der Perspektive in das Bild hinein, um ihn zum
Nachdenken über den Sinn der Allegorie hinzuführen.
Der Blickwinkel, den Vermeer für sein Gemälde gewählt hat, rückt den Betrachter nahe an die Bildebene
— 29 —
heran und fördert dadurch seine intensive Auseinandersetzung mit der Szene.
Vermeer verstärkte dieses Gefühl von Nahsichtigkeit
durch die Art, wie er die Formen der Gegenstände im
Bildvordergrund modellierte. Er benutzte Höhungen in
vielen verschiedenen Farben, um das Licht wiederzugeben, das auf den Rippen im Gewebe der Tapisserie auftrifft, und setzte auch den Messingnägeln des Stuhles
Glanzlichter auf. Allerdings versuchte er in diesen Fällen nicht, die Oberfläche der Materialien zu imitieren.
Die unscharfe Wiedergabe des grünen und des sandfarbenen Stoffes, der jeweils über die Tischkante herabhängt, ist besonders auffallend und zeigt Vermeers genaues Verständnis der Gesetze des Sehens. Die leicht
verschwommenen Formen entsprechen der Unschärfe
von Objekten im Vordergrund des menschlichen Blickfeldes. Durch Nachahmung dieses optischen Phänomens nötigte er den Betrachter zudem, sich auf die weiter hinten gelegenen Bereiche des Gemäldes zu konzentrieren, in denen dieses sein thematisches Zentrum hat.
Der vor seiner Staffelei sitzende Künstler ist unverhältnismäßig groß wiedergegeben, womit seine zentrale
Stellung innerhalb der Allegorie betont wird. Im Stehen
würde er sein Modell weit überragen. Diese Größendiskrepanz fällt jedoch nicht sofort auf, und zwar deshalb,
weil Vermeer die Punkte der Berührung zwischen dem
Körper des Malers und anderen Gegenständen im Raum
nicht eindeutig angibt. So ruhen beispielsweise die schwarzen Schuhe des Künstlers auf ebenso schwarzen Fliesen
des Marmorbodens auf, so dass ihre Formen weitgehend
unklar bleiben. Einen besonders bedeutsamen visuellen
Bezug zwischen dem Künstler und seiner Umgebung
schafft das Heft, das über die Tischkante herausragt und
die schwarzen Pluderhosen des Künstlers berührt. Dieses Heft bildet nicht nur eine sichtbare Verbindung zwischen dem Körper des Malers und dem Tisch im Vordergrund, sondern trägt auch dazu bei, die besondere Form
der zwischen ihm und seinem Modell sichtbar werdenden Wand zu definieren. Die so erzeugten räumlichen
Spannungen verstärken die dynamische Beziehung zwischen den beiden Figuren und beleben damit die ganze
Komposition.
Der breite Pinselstrich und die Farben, mit denen Vermeer den Maler modellierte, entsprechen der Kühnheit
von dessen Gestalt. Die Muster von schwarzem Wams,
roten Strümpfen, weißen Übersocken und schwarzen
Schuhen wirken in der lebhaften Wiedergabe von Licht
und Schatten beinahe abstrakt. Den Hintergrund des
Raumes malte Vermeer mit stärker nuanciertem Pinselstrich und mit genauerer Beachtung von Oberflächenstrukturen und Lichtwirkungen. Das auf Hände,
Gesicht und Gewand der Klio fallende Licht vermittelt
die Weichheit ihrer Haut, die Glätte des ledergebundenen Folianten, den sie hält, und den Schimmer des blauen
Stoffes, in den sie gehüllt ist. In ähnlicher Weise gab
Vermeer die abgegriffene Oberfläche der Wandkarte
wieder, indem er das Licht ihre Form verdeutlichen und
ihr offensichtliches Alter sichtbar machen lässt. Schließlich fing er in einer der eindrucksvollsten Partien seines
gesamten Werkes den Glanz des Sonnenlichtes ein, das
von der polierten Oberfläche des Messingkronleuchters
zurückgeworfen wird. Mit sicheren Strichen, die vom
dicken Impasto eines Blei-Zinn-Gelbs in den Glanzlichtern bis zu dunkleren und dünneren Strichen Ockers in
den Schatten reichen, schuf Vermeer die Illusion eines
Gegenstandes, der beinahe greifbar zu sein scheint.
Perspektive und Camera obscura
Vermeer hinterließ weder Zeichnungen noch Vorstudien,
weshalb wir das, was wir über seine Arbeitsweise wissen
wollen, nur den Gemälden selbst entnehmen können.
Die Malkunst ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sie einen Künstler bei der Arbeit
darstellt. Das Bild zeigt nicht nur, dass holländische Maler eher vor ihrer Staffelei saßen als standen, sondern
auch, dass sie Malstöcke verwendeten, um ihre Hand
während des Malens zu stabilisieren. Nachdem er seine
Leinwand bereits mit einer hellgrauen Grundierung versehen und seine Komposition mit weißen Linien, wahrscheinlich Kreidestrichen, angedeutet hat, trägt Vermeers
Maler in flachen, unzusammenhängenden Strichen Farbe als Untergrund für den Lorbeerkranz auf, der Klios
Haupt bekrönt. In einem späteren Stadium müssten
dann eine Reihe von Lasuren und kleine Glanzlichter
die Form modellieren.
Technische Untersuchungen von Gemälden Vermeers
haben ergeben, dass er dieses Verfahren in seinen eigenen
Werken häufig anwendete. Gelegentlich änderte er während des Malvorganges sein Konzept und nahm noch
— 30 —
Abb. 5: Camera obscura.
In: Athanasius Kircher,
Ars Magna lucis et umbrae,
Rom 1646, Taf. 28. Radierung.
Ill. 5: Camera Obscura.
Etching from Athanasius
Kircher, Ars Magna lucis et
umbrae, Rome, 1646, pl. 28.
nach der ersten Phase der Bild-Anordnung kompositionelle Veränderungen an Figuren, Landkarten, Stühlen
und Musikinstrumenten vor45. In dieser groß angelegten
und komplexen Szene konnten mit mikroskopischen
Untersuchungen sowie Infrarot-Photographie und Röntgenaufnahmen jedoch erstaunlicherweise lediglich minimale Veränderungen der Komposition festgestellt werden
(siehe Beitrag Robert Wald). Eine derartige Sicherheit
im Aufbau des Bildes spricht wohl dafür, dass Vermeer
diese Komposition im Vorhinein ausgearbeitet hatte,
wahrscheinlich mit einer sorgfältigen Vorzeichnung, die
er dann auf die große Leinwand übertrug.
Vermeer disponierte und gliederte sein Bild unter genauer Beachtung der Gesetze der Linearperspektive. Wie
es seine Gewohnheit gewesen sein dürfte, markierte er
den Fluchtpunkt mit einer Nadel, die er in die Leinwand
steckte46. Dann muss er an dieser Nadel Fäden befestigt
haben, um die rechtwinkeligen Fliesen und die Tischkante korrekt wiedergeben zu können. In schöpferischer
Weise nutzte Vermeer die Perspektive aber auch zur Steigerung der Dramatik der Szene. So fixierte er beispielsweise seinen Fluchtpunkt unmittelbar vor der Muse Klio,
und zwar genau unter dem schwarzen Knauf am Ende
des Stabes, der die Karte beschwert; auf diese Weise lenkte er den Blick des Betrachters auf diese Figur, wodurch
sie im Rahmen der Komposition mehr Gewicht erhält.
Ob sich Vermeer, als er diese Komposition erdachte,
durch die optischen und räumlichen Effekte der Camera
obscura (wörtlich: dunkle Kammer) anregen ließ oder
nicht, ist eine Frage, die in den letzten Jahren zu vielen
Vermutungen Anlass gegeben hat47. Dieses Gerät, ein
Vorläufer der modernen Kamera, beruht auf dem Prinzip, dass gebündelte Lichtstrahlen, gleichgültig ob direkt
oder reflektiert, ein Bild der Quelle erzeugen, von der
sie ausgehen. Licht, das durch ein kleines Loch in eine
verdunkelte Kammer fällt, egal ob es sich um ein Zimmer
handelt oder um eine Schachtel, wirft auf die dem Loch
gegenüberliegende Fläche ein umgekehrtes Bild. Um die
Mitte des 17. Jahrhunderts wurden tragbare, mit Konvexlinsen für die Scharfeinstellung der Bilder von Objekten in unterschiedlichen Entfernungen ausgestattete
Camerae obscurae sogar im Freien verwendet (Abb. 5).
Vermeer scheint die Möglichkeiten von Abbildungen
mittels der Camera obscura ab den späten 1650er Jahren
in seinen Arbeiten ausprobiert zu haben. Da jedoch eine
Camera obscura auf einem Gemälde keine Spuren hinterlässt, ist die Frage, ob er eine solche verwendete oder
nicht, ausschließlich dadurch zu beantworten, dass man
seine Gemälde in Hinblick auf ihre optischen Merkmale
miteinander vergleicht. So ist zum Beispiel der enge Bildausschnitt vieler seiner Werke, darunter Der Soldat und
das lachende Mädchen (Abb. 3), typisch für mit Hilfe
der Camera obscura angefertigte Bilder, und es ist möglich, dass dieses optische Hilfsmittel ihn dabei unterstützte, sich die Szene vorzustellen und ihn bei der Wahl
seines Kompositionsausschnitts leitete. Mit seinem feinen
— 31 —
Empfinden für Licht und Farbe hätte Vermeer auch einen weiteren optischen Effekt der Camera obscura nutzen können: deren unterschiedliche Schärfeeinstellungen. Ist eine Camera obscura auf den Mittelgrund fokussiert, so erscheinen Glanzlichter im Vordergrund des
Bildes verschwommen, ähnlich wie in unscharfen Photographien Glanzlichter zu Lichtflecken werden.
Ohne genau zu wissen, in welchem Umfang Vermeer
die Camera obscura benutzte, können wir deren Einfluss auf seinen Stil und seine Maltechnik schwer beurteilen. Hat dieses Gerät bereits vorhandene künstlerische Neigungen verstärkt, oder hat es den Maler in eine
neue Richtung gelenkt? Konnte er damit neue optische
Phänomene entdecken, durch die sich die von ihm angestrebte illusionistische Wiedergabe der Wirklichkeit noch
verstärken ließ, und brachte es ihn auf neue Gedanken,
wie sich solche Effekte in seinem Werk wiedergeben ließen? Und nicht zuletzt: Hat er auf die Camera obscura
zu verschiedenen Zeiten seiner Laufbahn in unterschiedlicher Weise reagiert? Wie dem auch sein mag: Sowohl praktische als auch konzeptionelle Gründe sprechen dagegen, dass Vermeer mittels dieses Geräts Bilder
auf seine Leinwände oder Holztafeln gezeichnet hat48.
Er scheint nie in erster Linie an einer exakten Wiedergabe der Wirklichkeit interessiert gewesen zu sein, sondern veränderte und verfeinerte das Gesehene, um seinen
Szenen einen Mittelpunkt und entsprechendes Gewicht
zu geben. Selbst in dem intimen Bild Mädchen mit rotem
Hut (um 1666/67, Abb. 6), das auf den LöwenkopfKnäufen des Stuhles verschwommene Glanzlichter zeigt,
die praktisch genau so aussehen wie in einem unscharfen
Bild einer Camera obscura, änderte Vermeer die Position
der Knäufe aus kompositorischen Gründen49.
Welche Rolle dieses optische Gerät im Schaffensprozess des Meisters spielte, ist in Bezug auf Die Malkunst
eine besonders interessante Frage, denn das Gemälde
weist tatsächlich Merkmale auf, wie sie sich in Bildern
einer Camera obscura finden. So erzeugt zum Beispiel
die Camera obscura Bilder nur von einem einzigen
Blickpunkt aus, wodurch Objekte im Vordergrund –
wie in diesem Gemälde – unverhältnismäßig groß erscheinen. Ganz so wie bei den Knäufen im Mädchen mit
rotem Hut ähnelt die verschwommene Wiedergabe der
über den Tisch hängenden Draperie dem unscharfen
Vordergrund von Bildern der Camera obscura. Folgen
wir aber dem Augenschein von Vermeers sorgfältiger
Abb. 6: Johannes Vermeer,
Mädchen mit rotem Hut. Um
1666/67. Washington, D. C.,
Andrew W. Mellon Collection.
(©: Courtesy of the Board of
Trustees, National Gallery
of Art, Washington.)
Ill. 6: Johannes Vermeer,
Girl with the Red Hat.
C. 1666/67. Washington D.C.,
Andrew W. Mellon Collection.
— 32 —
perspektivischer Konstruktion und dem komplexen
ikonographischen Aufbau des Gemäldes, so ist es dennoch unwahrscheinlich, dass solch ein Gerät bei der
Entstehung des Werks eine bedeutende Rolle spielte.
Zudem hatte Vermeer 1666/68, als er Die Malkunst schuf,
die Ausdrucksmöglichkeiten der Camera obscura seit
mindestens einem Jahrzehnt ausprobiert. Also muss er
deren optische Effekte bereits aus Erfahrung gekannt
haben und brauchte nicht zu einem solchen Hilfsmittel
zu greifen, um die von ihm in diesem Werk angestrebten
Effekte zu erzielen.
Die weitere Geschichte des Gemäldes
Catharina Bolnes’ Bemühungen, Die Malkunst als Teil
ihres Erbes zu erhalten und deren Versteigerung zusammen mit anderen Kunstwerken im Nachlass zu verhindern, blieben fast mit Sicherheit erfolglos. Der Nachlassverwalter, der berühmte Delfter Mikrobiologe Anthonie van Leeuwenhoek, entschied zu Recht, dass die
Übertragung des Werkes an Maria Thins, die Schwiegermutter des verstorbenen Malers, widerrechtlich erfolgt
war. Es ist weder bekannt, was am 15. März 1677 zum
Verkauf kam, noch wie der Rechtsstreit ausging; dennoch spricht vieles dafür, dass ab dieser Zeit das Gemälde nicht mehr im Besitz der Familie war50.
Wo es sich während des 18. Jahrhunderts befand, ist
nicht genauer bekannt – vielleicht weil, wie bei so vielen
von Vermeers Gemälden, die Zuschreibung dieses beachtlichen Werkes bald verloren ging. Es ist durchaus
möglich, dass es bereits ziemlich früh seinen Weg nach
Wien fand, wo es in die Sammlung des kunstliebenden
Barons Gerard van Swieten (gest. 1772), Leibarzt der
Kaiserin Maria Theresia, gelangte. 1803 fand sich das
Gemälde, damals Vermeers Zeitgenossen Pieter de Hooch
zugeschrieben (und mit einer falschen de Hooch-Signatur versehen), im Nachlass von van Swietens Sohn Gottfried van Swieten, Vorsteher der Kaiserlichen Hofbibliothek. 1813 von Graf Johann Rudolf Czernin (1757–1845)
erworben, blieb Die Malkunst weiterhin de Hooch zugeschrieben, bis in den 1860er Jahren der Vermeer-Forscher Thoré-Bürger das Gemälde als eines der Hauptwerke von Vermeer erkannte51.
Gegen Ende der 1820er Jahre richtete Graf Czernin,
zu dessen großem Grundbesitz auch Ländereien in und
um Wien und Prag gehörten, in seinem Wiener Stadt-
— 33 —

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