VERMEER - Residenz Verlag
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VERMEER DIE MALKUNST Spurensicherung an einem Meisterwerk Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien VERMEER DIE MALKUNST Spurensicherung an einem Meisterwerk Herausgegeben von Sabine Haag, Elke Oberthaler und Sabine Pénot Vermeer, The Art of Painting Scrutiny of a Picture With English Translations of the Essays Kunsthistorisches Museum 26. Januar bis 25. April 2010 Residenz Verlag — 2 — kunst historisches khm museum INHALT IMPRESSUM DES KATALOGS Herausgeber: Dr. Sabine Haag Generaldirektorin des Kunsthistorischen Museums Burgring 5, 1010 Wien sowie Mag. Elke Oberthaler und Dr. Sabine Pénot Gemäldegalerie Redaktion: Marianne Hergovich Lektorat: Elisabeth Herrmann Autoren der Katalogbeiträge: Dirk Jan Biemond (D. J. B.) Carmen Bock (C. B.) Aurelia Burckhardt (A. B.) George Deem (†) (G. D.) Barbara Graf (B. G.) Gerhard Gutruf (G. G.) Reinhard Hirzabauer (R. Hi.) Rudolf Hopfner (R. H.) Beatrix Kriller-Erdrich (B. K.-E.) Roswitha Juffinger (R. J.) Manuela Laubenberger (M. L.) Elfriede Mayer (E. M.) Sabine Pénot (S. P.) Katja Schmitz-von Ledebur (K. S.-v. L.) Übersetzungen: Bernhard Geyer Matthew Hayes Ute Heinisch Andrea Schellner Monika Streissler John Winbigler Art-Direktion: Stefan Zeisler Grafik: Michaela Noll Fotos des KHM: ©: KHM Fotografische Leitung: Stefan Zeisler Fotos: Andreas Uldrich Alexander Rosoli Bildbearbeitung: Tom Ritter Florian Brunner Abbildungsnachweis: Abbildung auf dem Buchdeckel, auf der Cover-Rückseite und Schmuckabbildungen: Kat.-Nr. 1 und Kat.-Nr. 1, Details Abbildungen im Katalogteil: Falls nicht anders angegeben: © Leihgeber © Salvador Dalí. Foundation Gala/VBK, Wien 2009. Collection of the Salvador Dalí Museum, Inc., St. Petersburg, FL, 2009: Kat.-Nr. 54 © VBK, Wien 2009: Kat.-Nr. 55 © Estate of George Deem / VBK, Wien 2009: Kat.-Nrn. 60, 62 © 2009 Sophie Matisse/Artist’s Right Society (ARS), New York: Kat.-Nr. 63 © B. Graf & H. El Mestikawy: Kat.-Nr. 64 b ISBN 978-3-85497-171-9 Alle Rechte vorbehalten. Kurztitel: Vermeer, Die Malkunst – Spurensicherung an einem Meisterwerk Ausstellungskatalog des Kunsthistorischen Museums Wien 2010 © 2010 Kunsthistorisches Museum Wien © 2010 Residenz Verlag AUSSTELLUNG Gesamtleitung: Sabine Haag Konzept und wissenschaftliche Leitung: Elke Oberthaler Sabine Pénot Ausstellungsmanagement: Christian Hölzl Ausstellungsorganisation: Marianne Hergovich Öffentlichkeitsarbeit & Marketing Martina Taig Edyta Kostecka Angelika Kronreif Ruth Strondl Ausstellungsgestaltung: Gerhard Veigel, Wien Ausstellungsgrafik: Michaela Noll Audio Guide: Natalie Lettner Christoph Paidasch Alexander Smith Restauratorische Betreuung: Restaurierwerkstätten des Kunsthistorischen Museums Führungsangebot: Andreas Zimmermann Rotraut Krall Konrad Schlegel Agnes Stillfried Daniel Uchtmann LEIHGEBER Amsterdam, Rijksmuseum Delft, Gemeente Archief Den Haag, Gemeente Archief Groningen, Groninger Archieven Leeuwarden, Fries Museum Leiden, Universiteitsbibliotheek Mecheln, Stedelijke Musea Norfolk, Viscount Coke and the Trustees of the Holkham Estate, Innys Collection Paris, Bibliothèque nationale de France Topham/The Image Works/ PictureDesk.com T`ŕebo`ń, Národní památkovy ústav, Státní zámek T`ŕebo`ń Washington, National Gallery of Art Wien, Archäologische Sammlung der Universität Wien Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien Wien, Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Kunsthistorisches Museum, Archiv; Bibliothek; Gemäldegalerie; Kunstkammer; Sammlung alter Musikinstrumente Wien, Liechtenstein Museum Wien, Österreichische Galerie Belvedere Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv; Kartensammlung und Globenmuseum; Sammlung von Handschriften und alten Drucken Wien, sixpackfilm Arthaus Privatbesitz Saskia de Boer Privatbesitz Ulrich Ghezzi Privatbesitz Barbara Graf Privatbesitz Reinhard Hirzabauer Privatbesitz Karl Kriebel Privatbesitz Elfriede Mayer USA, Privatsammlung SABI N E HAAG – Vorwort 7 ELKE OBERTHALER und SABI N E PÉNOT – Vorwort 9 KARL SCHÜTZ – Einleitung 14 BEITRÄGE DANK Unser besonderer Dank ergeht an: Carsten Ahrent, Alfred Auer, Ilsebill Barta, Christina Bartosch, Frank Beseke, Otto Biba, Magdalena Marta Brela, Joël Calmettes, Wencke Deiters, Francesca Del Torre, Ina Dinter, Sepp Dreissinger, Blaise Ducos, Angelika Enderlein, Sophie Faudel, Sylvia Ferino, Michael Gallagher, Ulrich Ghezzi, Gerlinde Gruber, Charlotte Hale, Gabriele Helke, Marianne Hergovich, Christian Hölzl, Georg Imhof, Don Jonson, Rick Jonson, Lore Korbei, Georg Kremer, Charlotte Lang, Huigen Leeflang, Walter Liedtke, Philippe Luez, Frank Marschall, Sara Merigo, Helga Musner, Michael Odlozil, Ruperta Pichler, Franz Pichorner, Václav Pitthard, Patrick Poch, Veronika Poll-Frommel, Adelheid Rasche, Pieter Roelofs, Christina Schaaf-Fundneider, Veronika Sandbichler, Claudia Scharl, Margret Schattauer, Wilhelm Schlink, Jan Schmidt, Karl Schütz, Tina Seyfried, Ann-Claudine Simmer, Julia Sommer, Gwen Tauber, Katharina Uhlir, Anne Sophie Vefling, Gerhard Walde, Elizabeth Walmsley, Simone Wernitznig, Alexander Wied, Elisabeth Wolfik, Hubert Wolfrum, Elisabeth Zeilinger ARTHUR WH EELOCK – Die Malkunst 19 SABIN E PÉNOT – Johannes Vermeer, Die Malkunst. Ein Gemälde 41 im Zeichen des Lichtes. Fragen zur Bilderfindung ROSWITHA JUFFINGER, CH RISTOPH BRAN DHUBER – Das unerkannte 66 Meisterwerk. Aus der Provenienzgeschichte von Vermeers Malkunst GÜNTER SCH ILDER – Visschers Wandkarte der Siebzehn 77 Provinzen (1636) und ihr Pendant auf Vermeers Malkunst KATJA SCHMITZ-VON LEDEBUR – Anmerkungen zum textilen Medium in 93 Vermeers Gemälde Die Malkunst: Tapisserie und Wams mit Schlitzen EVA MONGI-VOLLMER – Die Wiederbegegnung mit 103 Vermeers Malkunst im 19. Jahrhundert ROLAN D PRÜGEL – Reflexive Aneignung, kritische Transformation. 111 Paraphrasen von Vermeers Malkunst im 20. und 21. Jahrhundert BEATRIX KRILLER-ERDRICH – A bis V: Arthur Strasser und Johannes Vermeer 119 im Kunsthistorischen Museum Wien. Zur Rezeption eines Bildmotivs ENGLISH TRANSLATIONS OF THE ESSAYS 262 ARTHUR WH EELOCK – The Art of Painting 271 SABI NE PÉNOT – Johannes Vermeer’s The Art of Painting. A Picture marked by Light. Questions on Pictorial Invention 286 ROSWITHA JUFFI NGER, CH RISTOPH BRAN DHUBER – The Unrecog- nised Masterpiece. Vermeer’s Art of Painting: The Story of Its Provenance 290 GÜNTER SCH I LDER – Visscher’s Wall Map of the Seventeen Provinces (1636) and Its Counterpart in Vermeer’s Art of Painting 296 KATJA SCHMITZ-VON LEDEBUR – Remarks on the Textiles in Vermeer’s The Art of Painting: Tapestry and Slashed Doublet 300 EVA MONGI-VOLLMER – Rediscovering Vermeer’s Art of Painting in the 19th century 304 ROLAND PRÜGEL – Reflexive Appropriation, Critical Transformation: Paraphrases of Vermeer’s Art of Painting in the 20th and 21st Centuries 308 BEATRIX KRI LLER-ERDRICH – A to V: Arthur Strasser and Johannes Vermeer in the Kunsthistorisches Museum Vienna. On the Reception of a Pictorial Motif KATALOG Katalognummern 1 bis 64 132 TECHNOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN ROBERT WALD – Die Malkunst. Betrachtungen zum 193 künstlerischen Ansatz und zur Technik ELKE OBERTHALER, JAAP J. BOON, SABIN E STAN EK, MARTINA GRI ESSER 215 Die Malkunst von Johannes Vermeer. Geschichte der Restaurierungen, Beobachtungen zum Zustand JAAP J. BOON, ELKE OBERTHALER 235 Beobachtungen zur fragilen Struktur und zu den chemischen Prozessen in den Schichten und an der Oberfläche des Gemäldes Die Malkunst von Vermeer ANHANG Literaturverzeichnis 256 312 ROBERT WALD – The Art of Painting. Observations on Approach and Technique 322 ELKE OBERTHALER, SABINE STANEK, JAAP J. BOON, MARTINA GRIESSER The Art of Painting by Johannes Vermeer. History of Treatments and Observations on the Present Condition 328 JAAP J. BOON, ELKE OBERTHALER Mechanical Weakness and Chemical Reactivity Observed in the Paint Structure and Surface of The Art of Painting by Vermeer ARTH U R W H EELO CK Die Malkunst In dieser Ausstellung wird ein Gemälde gefeiert, das zu den größten Schätzen des Kunsthistorischen Museums zählt: Die Malkunst von Johannes Vermeer, womit der Besucher die Gelegenheit erhält, sich erneut mit der visuellen Brillanz dieses faszinierenden Bildes auseinanderzusetzen1. Wer vor diesem Gemälde steht, fühlt sich einmal mehr in ein wohlgeordnetes holländisches Interieur versetzt, mit einem schwarz-weißen Marmorboden, einer Balkendecke und einer weiß verputzten Wand. Wir bestaunen die Eleganz und die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen der einzelnen Gegenstände im Raum – die lederbezogenen Holzstühle, die große, handkolorierte Wandkarte der Niederlande und den Messingglanz des Kronleuchters an der Decke. Das Licht strömt durch Fenster herein, die mitzudenken, aber nicht zu sehen sind; eines von ihnen wird durch die große, mit einem Blumenmuster versehene Tapisserie verdeckt, den Vermeer zurückgeschlagen hat, um gerade uns Privilegierten einen Blick auf die Szene zu gewähren. Der Raum bildet das Ambiente für den visuellen und thematischen Mittelpunkt des Gemäldes: den modisch-elegant gekleideten Maler, der vor seiner Staffelei sitzt. Er kehrt uns den Rücken zu, doch spüren wir die Eindringlichkeit seines Blicks, während er ein Brustbild des jungen weiblichen Modells vor der hell beleuchteten Rückwand auszuführen beginnt. Seine Rechte ruht auf dem Malstock auf; sorgfältig gibt er eines der Lorbeerblätter im Kranz auf ihrem Kopf wieder. In Malerei einzufangen sind noch das ovale Gesicht der Figur, ihr verhaltener Ausdruck, ihr Lockenhaar, ihr bauschiges — 18 — blaues Gewand sowie das Buch und die Trompete, die sie in Händen hält. Dieses packende Seh-Erlebnis macht aber nur einen Teil der Faszination der Malkunst aus. Das große Format des Bildes, die Vielschichtigkeit seiner Komposition und seine eigentümliche Thematik werfen viele Fragen auf. Wie der Titel ausdrücklich besagt (er stammt, wie im Folgenden dargelegt, von Vermeer selbst), geht es in diesem Werk um einen abstrakten Begriff: „die Malkunst“. Welche literarischen und bildlichen Quellen hat Vermeer herangezogen, als er sich dieses Sujet ausdachte, und wie adaptierte er sie, um seinen Zweck zu erreichen? Wie kam er auf den Gedanken, diese abstrakte Allegorie in ein scheinbar realistisches Interieur zu versetzen? Wie legte er seine Komposition an und wie ordnete er sie, und womit erzeugte er die außerordentlichen illusionistischen Effekte, die auch noch ca. 350 Jahre später den Betrachter in Staunen versetzen? Ja, weshalb beschloss Vermeer in den späten 1660er Jahren überhaupt, ein allegorisches Gemälde zu schaffen, das in den Maßen und in seiner Komplexität so sehr von den intimen Alltagsszenen abweicht, die für sein Werk inzwischen charakteristisch geworden waren? Diese Sonderausstellung will auf viele der rätselhaften Aspekte des Bildes eingehen, die im Laufe der Jahrhunderte für Diskussionen unter Kunstliebhabern gesorgt haben. Der vorliegende Beitrag behandelt Die Malkunst im Gesamtzusammenhang von Vermeers Laufbahn und untersucht die ikonographische Vielschichtigkeit dieses allegorischen Bildes. Ebenso erörtert er Stil und — 19 — Abb. 1: Johannes Vermeer, Ansicht von Delft. Um 1660/61. Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis. (©: ebenda.) Ill. 1: Johannes Vermeer, View of Delft. C. 1660/61. The Hague, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis. Komposition des Werkes, wobei besonders auf Vermeers Gebrauch der Perspektive und sein Interesse an der Camera obscura eingegangen wird. Andere Beiträge befassen sich genauer mit interessanten Einzelfragen, die in der Ausstellung berührt werden, so etwa mit Art und Bedeutung der von Vermeer dargestellten Gegenstände, den von ihm verwendeten Materialien und Malweisen und dem komplexen Aufbau seiner Farbschichten, jüngsten konservatorischen Maßnahmen zur Erhaltung dieses hochempfindlichen Meisterwerkes, Archivalien betreffend die Provenienz des Gemäldes, wissenschaftliche Aussagen zu Charakter und Bedeutung des Bildes im Laufe der Jahrhunderte und die Art und Weise, wie moderne Künstler Vermeers berühmtes Gemälde ihren eigenen Zwecken anverwandelt haben. Vermeers Leben Die sorgfältigen Archivstudien von Michael Montias haben in den letzten Jahrzehnten viel Neues zur Biographie des Künstlers ans Licht gebracht, während es erstaunlich wenige Nachrichten über Vermeers Auffassung der Malerei gibt2. Vermeer hat nie über Kunst geschrieben: Es gibt nicht ein Stück Papier, auf dem er seine künstlerischen Ideale formuliert hätte. Auch Zeichnungen fehlen, weshalb man nicht weiß, welche Studien er in seiner Lehrzeit oder im Zuge der Vorarbeiten für seine noch erhaltenen Gemälde (es sind rund 35) anfertigte. Interpretationen seiner Kunst stützen sich somit in — 20 — erster Linie auf genaue Untersuchungen der Gemälde selbst sowie auf gründliche Vergleiche seiner Arbeiten mit der Malerei seiner Zeitgenossen und mit literarischen Quellen. Die Malkunst, ein Bild, das die Ziele und Ambitionen des Künstlers in der Gesellschaft zum zentralen Thema hat, ist das bei weitem wichtigste Werk, in dem der Betrachter Vermeers künstlerische Einstellung erkennen kann. Über Vermeers Entscheidung für den Künstlerberuf wissen wir nichts3. Wer sein Lehrer war (vielleicht waren es auch mehrere), wie er ausgebildet wurde, wann er seine Lehre machte, bleibt ein Rätsel. 1632 in Delft geboren, wurde Vermeer am 31. Oktober d. J. in der zur Reformierten Kirche gehörigen Nieuwe Kerk getauft. Protestantisch erzogen wurde er von seiner aus Antwerpen gebürtigen Mutter Digna Baltens und seinem Vater Reynier Jansz. Vos, einem Delfter Weber, der Kaffa – einen feinen Seidensatin – erzeugte. 1641 war die Familie wohlhabend genug, um einen großen, als „Mechelen“ bezeichneten Gasthof auf dem Marktplatz zu kaufen, in dem sich Vermeers Vater auch als Kunsthändler betätigte. Beim Tode des Vaters 1652 erbte Vermeer sowohl den Gasthof als auch die Kunsthandelsfirma. Zu diesem Zeitpunkt muss er sich bereits für den Malerberuf entschieden gehabt haben, da er nur ein Jahr später, am 29. Dezember 1653, in der Sankt Lukas-Gilde als Meister eingetragen wird. Im selben Jahr ehelichte er Catharina Bolnes, eine junge Katholikin aus dem Papistenviertel, dem so genannten Papenhoek, von Delft. Im Zuge seiner Eheschließung konvertierte er zum Katholizismus. Die Mutter der Braut, Maria Thins, eine entfernte Verwandte des Utrechter Malers Abraham Bloemart (1564–1651), besaß eine bescheidene Sammlung von Gemälden der Utrechter Schule. Mit Sicherheit kannte Vermeer die Utrechter Bilder aus ihrer Sammlung, denn zumindest zwei von ihnen scheinen im Hintergrund eigener Arbeiten von ihm auf4. Delft, wo Vermeer geboren und erzogen wurde, war eine rege und prosperierende Stadt, deren Wohlstand auf florierenden Steingutfabriken, Teppichmanufakturen und Brauereien gründete. Diese ehrwürdige Stadt besaß außerdem eine lange und bemerkenswerte Vergangenheit. Ihre starken Befestigungen, Stadtmauern und mittelalterlichen Tore hatten sie mehr als drei Jahrhunderte lang geschützt. Sie hatten Wilhelm dem Schweiger, Prinz von Oranien, Zuflucht geboten, und Abb. 2: Johannes Vermeer, Diana mit ihren Gefährtinnen. Um 1655/56. Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis. (©: ebenda.) Ill. 2: Johannes Vermeer, Diana and her Companions. C. 1655/56. The Hague, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis. zwar von 1572 bis 1584, also zu der Zeit, als er den Aufstand der Niederlande gegen die spanischen Habsburger anführte. Auch als zu Ende des 16. Jahrhunderts der Hof des Prinzen und der Regierungssitz wieder in den Haag verlegt wurden, konnte sich Delft durch seine Beziehungen zum Haus Oranien seine Sonderstellung in der Provinz Holland erhalten. Das wichtigste Denkmal des Hauses Oranien war das Grabmal Wilhelms des Schweigers in der Apsis der Nieuwe Kerk, der Domkirche, deren sonnenbeschienener Turm zentral im Hintergrund von Vermeers Ansicht von Delft aufragt (Abb. 1). Im Unterschied zu den nahe gelegenen Städten Amsterdam, Haarlem und Utrecht bildete Delft in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts kein wichtiges Kunstzentrum. In den Anfängen der Karriere Vermeers als Maler war Leonaert Bramer (1596–1674) der bedeutendste Künstler der Stadt; er malte vor allem kleinformatige Historienbilder, also Darstellungen biblischer oder mythologischer Themen. Möglicherweise durch Bramers Einfluss, vielleicht aber auch aus eigener religiöser Überzeugung begann Vermeer seine Laufbahn um die Mitte der 1650er Jahre als Historienmaler. Er malte unter anderem Christus bei Maria und Martha (um 1654/55; Edinburgh, National Gallery of Scotland) und Diana mit ihren Gefährtinnen (1655/56; Abb. 2). Mit Beginn der 1650er Jahre begann sich der Charakter von Delft als Kunstzentrum zu verändern. Vermeer konnte wohl zusehen, wie die Architekturmaler, etwa Gerrit van Houckgeest (um 1600 – 1661), dynamische, lichterfüllte Gemälde der Innenräume von Delfter Kirchen schufen, wobei sie in ihren Kompositionen oft die eindrucksvollen Grabmonumente von Wilhelm dem — 21 — Schweiger und anderen holländischen Helden ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellten. Ebenso kamen ihm die stimmungsvollen Genre-Szenen mit ihren neuartigen Perspektivwirkungen zur Kenntnis, die Carel Fabritius (1622–1654) verfertigte – ehe er bei der Explosion des Delfter Munitionsdepots auf tragische Weise ums Leben kam5. Auch Gerard ter Borch (1617–1681), mit dem gemeinsam Vermeer kurz nach seiner Hochzeit 1653 ein Dokument unterzeichnete, und Pieter de Hooch (1629 – um 1683), der sich 1654 in Delft niederließ, beeinflussten Vermeers stilistische und thematische Entwicklung von der Historienmalerei hin zu Stadtansichten (Abb. 1) und Alltagsszenen in realistischen Interieurs (Abb. 3). Zu seinen Lebzeiten hatte Vermeer in seiner Vaterstadt einen guten Ruf; zweimal (1661–1662 und 1671– 1672) fungierte er als Vorstand der Malergilde. Sein Ruhm drang über seine Vaterstadt hinaus; hin und wieder besuchten ihn Kunstliebhaber, die von seinen künstlerischen Leistungen gehört hatten6. Er galt auch als Kenner der italienischen Malerei, denn im Mai 1672 wurde er in den Haag gerufen, um dort eine Expertise über die Qualität einer zum Verkauf angebotenen Sammlung italienischer Gemälde abzugeben7. Dennoch weiß man – abgesehen von dem, was man seinen eigenen Gemälden entnehmen kann – wenig über seine Ansichten zur Kunst oder seine Beziehungen zu Sammlern. Obwohl keines von Vermeers Bildern dokumentarisch als Auftragswerk ausgewiesen ist, dürfte er doch in erster Linie für eine kleine Gruppe lokaler Kunden gemalt haben. Tatsache ist, dass 1696 21 Gemälde von Vermeer zum Verkauf kamen; sie stammten aus dem Besitz eines Nachkommen eines seiner Delfter Sammler8. Der einzige zeitgenössische Kommentar zu seinem Werk stammt von einem namhaften Besucher aus dem Haag, der 1669, ein Jahr, nachdem Vermeer Die Malkunst geschaffen hatte, sich zu des Künstlers meisterhafter Beherrschung der Perspektive äußerte9. Gegen Ende seines Lebens trat eine drastische Verschlechterung von Vermeers finanzieller Situation ein, die hauptsächlich aus der verheerenden wirtschaftlichen Lage Hollands infolge der Invasion französischer Truppen im Jahre 1672 resultierte. Als Vermeer 1675 starb, hinterließ er eine Frau, acht unversorgte Kinder und einen Berg von Schulden. Seine Witwe beschrieb 1677 in einer Petition die Schwierigkeiten während der letzten Lebens- — 22 — jahre des Künstler folgendermaßen: „[Vermeer] konnte zur Zeit des zerstörerischen und langen Krieges nicht nur seine eigene Kunst nicht mehr verkaufen, sondern zu seinem großen Schaden auch die Bilder der anderen Meister, so dass er auf ihnen sitzen blieb.“10 Die Malkunst im Gesamtwerk von Vermeer Wenn man weiß, welchen Ruf Die Malkunst heutzutage genießt, hört man mit Erstaunen, dass dieses Meisterwerk zu Vermeers Lebzeiten nie erwähnt wurde. Zeitgenössische Dokumente wissen nichts von seinem Vorhandensein, und offenbar weckte es auch in keinem Betrachter jemals den Wunsch, ein paar Worte darüber niederzuschreiben11. Nach Vermeers Tod war das Bild verschollen, bis es 1803 mit einer Zuschreibung an Vermeers Delfter Kollegen Pieter de Hooch auftauchte. Einerseits wissen wir zu wenig darüber, wie Vermeers Zeitgenossen Die Malkunst aufnahmen, und andererseits bleibt unklar, weshalb der Künstler das Bild geschaffen hat. Bei diesem meisterlichen Gemälde handelt es sich wohl nicht um ein Auftragswerk, denn nach dem Tode des Künstlers Mitte Dezember 1675 befand es sich in seinem Nachlass. Das Sujet des Gemäldes hätte unmittelbaren Bezug zu Zweck und Aufgaben der Sankt Lukas-Gilde gehabt; es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass er es für diese Malergilde gemalt oder auch nur zur öffentlichen Schaustellung in der Gildenhalle hergeliehen hätte. Trotz der Ungewissheit in Hinblick auf Entstehung und Zweck des Bildes lässt sich fast mit Sicherheit annehmen, dass Vermeer es als sein persönliches Bekenntnis zur Bedeutung der bildenden Kunst in der Gesellschaft ansah. Man kann sich gut vorstellen, dass er es in seiner Wohnung oder in seinem Atelier aufbewahrte, wo es seinen Freunden und Gönnern Anlass zu Gespräch und Betrachtung sein musste – Kunstliebhabern, die Vermeers wohldurchdachte philosophische und künstlerische Ideale teilten12. Wie wichtig dieses Gemälde Vermeer war, zeigen die Bemühungen seiner Witwe, es nach dem Tod des Künstlers in der Familie zu halten. Trotz größter finanzieller Schwierigkeiten unternahm Catharina Bolnes alles in ihrer Macht Stehende, um den Verkauf des Bildes an Gläubiger zu verhindern13. Am 24. Februar 1676, fünf Tage vor der Erstellung eines Nachlassinventars, ließ sie durch Notariatsakt das Eigentum an dem Gemälde auf — 23 — Abb. 3: Johannes Vermeer, Der Soldat und das lachende Mädchen. Um 1658/60. New York, Slg. Frick. (©: ebenda.) Ill. 3: Johannes Vermeer, Officer and Laughing Girl. C. 1658/60. New York, The Frick Collection. ihre Mutter Maria Thins überschreiben, scheinbar um Schulden bei ihrer Mutter abzutragen14. Die Urkunde dokumentiert nicht nur dieses persönliche Drama, sondern ist darüber hinaus auch deshalb von Bedeutung, weil sie das Thema des Gemäldes als „de Schilderconst“ oder „Die Malkunst“ benennt15. Anders als die beschreibenden Bezeichnungen, wie sie für den Großteil der Gemälde des 17. Jahrhunderts üblich waren, bezieht sich der Titel Die Malkunst (im Unterschied zu einem Titel wie „Der Maler in seinem Atelier“) auf den Bildinhalt, was darauf schließen lässt, dass es Vermeer in erster Linie um das gedankliche Konzept dieses Werkes zu tun war. Für seine Allegorie eine realistische Umsetzung zu wählen, entsprach Vermeers eigenen künstlerischen Vorlieben. Sein ganzes Arbeitsleben lang war ihm deutlich bewusst, wie wirkungsvoll und einleuchtend Gegenstände aus der eigenen Umgebung abstrakte Ideen auszudrücken vermögen, wenn sie überlegt ausgewählt, sorgfältig wiedergegeben und in entsprechendem gedanklichen Zusammenhang dargeboten werden. Dieses Meisterwerk überzeugt eben deshalb, weil es sichtbarer Ausdruck von Anliegen ist, die für Vermeer in seinem Verständnis der Malkunst schon seit langem von entscheidender Bedeutung waren. Auch wenn seine Genreszenen und Landschaften von solchen Idealvorstellungen weit entfernt sein mögen, war es ihm doch immer um mehr gegangen als um die oberflächliche Wiedergabe der Wirklichkeit: Wie sich fast mit Gewissheit sagen lässt, wollte er den Grundwahrheiten menschlicher Existenz nachspüren. Um zu erfassen, wie wichtig diese Allegorie für unser Verständnis von Vermeers künstlerischen Idealen ist, müssen wir kurz zu den Anfängen seines Wirkens zurückgehen. Vermeers Ausbildung als Historienmaler prägte sowohl seinen persönlichen Stil als auch die Wahl seiner späteren Themen einschließlich der Malkunst. In vielerlei Hinsicht lassen sich seine großformatigen Historienbilder, wie Christus bei Maria und Martha und Diana mit ihren Gefährtinnen (Abb. 2), nur schwer mit den späteren Arbeiten des Künstlers in Einklang bringen, doch zeigen sie eine Bandbreite des Vorstellungsvermögens und der Ausführung, wie sie kein anderer Genremaler der Zeit besaß. Während etwa Gerard ter Borch seine Laufbahn als Porträtmaler begann, auf Feinheit der Wiedergabe bedacht war und in kleinen Formaten arbeitete, besagt Vermeers anfängliche Neigung zu großformatigen historischen Szenen, dass es ihm zunächst weniger um die sorgfältige Wiedergabe bestimmter Oberflächenstrukturen und Materialien zu tun war als vielmehr um den Gesamteindruck seines Bildes. Seine Maltechnik war daher zunächst relativ frei und kühn, wie das der Größe des Themenkreises dieser seiner Werke entsprach. Als Vermeer sich in den späten 1650er Jahren Genreszenen und Stadtansichten zuwandte, verfeinerte er seine Maltechnik, um in seinen Arbeiten die Illusion der Wirklichkeit entstehen zu lassen, bewahrte sich in seiner Technik jedoch immer die Fähigkeit, Form und Struktur eher anzudeuten als abzubilden. In dem Bild Der Soldat und das lachende Mädchen etwa stellte Vermeer ein ungezwungenes Beisammensein einer jungen Frau mit einem in einen roten Mantel gekleideten Soldaten dar, der ihr in der Ecke eines Raumes gegenübersitzt (Abb. 3). Um den Effekt des durch das offene Fenster und die durchscheinenden Glasscheiben einfallenden hellen Sonnenlichtes zu erzielen, setzte Vermeer den gelben Streifen an den Ärmeln der Frau und den geschnitzten Löwenköpfen auf ihrer Stuhllehne hell spiegelnde Lichter auf. Andererseits verwendete er auf der Wandkarte von Holland und West-Friesland weich modulierte Striche, um die Alterspatina anzudeuten: Um 1658/60, als Vermeer dieses Bild malte, war die Karte fast vierzig Jahre alt. In thematischer Hinsicht sind in Vermeers Historienbildern stille, verhaltene Augenblicke eingefangen, die dem Betrachter Anlass geben, über das Leben zu meditieren. Während er in dem Gemälde Christus bei Maria und Martha ganz ausdrücklich dazu aufgefordert wird, geht dies im Bild Diana mit ihren Gefährtinnen (Abb. 2) auf eine stärker verhaltene Weise vor sich: Hier berührt eines der Mädchen mit beinahe sakramentalem Ernst sanft den Fuß der Göttin und erinnert darin an Maria Magdalena, die in anderen Gemälden Christus die Füße wäscht. Aus diesem Bemühen entsteht der eigentümliche Charakter von Vermeers scheinbar alltäglichen Szenen der späten 1650er und 1660er Jahre, die von einem Ernst getragen sind, dem in der holländischen Malerei dieser Zeit nichts gleich kommt. Dies wird in seinen Bildern aus der Mitte der 60er Jahre besonders deutlich, in denen Frauen ihre alltäglichen Handgriffe ganz in Gedanken versunken ausführen. In solch stillen Momenten des Nachsinnens – in denen das Auge nach außen, der — 24 — Blick aber nach innen gerichtet ist – öffnete sich für Vermeer ein Fenster in das Innere eines Individuums. In einem dieser Werke, Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster (um 1664/65, Abb. 4), steht eine Frau verträumt neben einer Zimmerecke, wobei sie mit der einen Hand den Rahmen eines Fensters mit bleigefassten Glasscheiben hält und mit der anderen den Henkel eines Wasserkrugs umfasst. Durch die Entspanntheit ihrer Haltung, aber auch die Sanftmut ihres Ausdrucks und die anmutigen Farbtöne ihres tiefblauen Gewandes vermittelt sie ein Gefühl von Reinheit und innerem Frieden. Der Maler und sein Modell Die thematischen Anliegen und die stilistische Synthese von Illusionismus und Abstraktion in Vermeers Werken aus der Mitte der 1660er Jahre kulminieren in dem um 1666/68 geschaffenen Gemälde Die Malkunst16. In diesem Meisterwerk ist die Aufmerksamkeit des Künstlers auf eine junge Frau gerichtet, die auf ihrem Haupt einen Lorbeerkranz trägt und einen dicken, in Leder gebundenen Folianten in der einen sowie eine Naturtrompete aus Messing in der anderen Hand hält. Cesare Ripas Iconologia zufolge, einer aus dem 16. Jahrhundert stammenden einflussreichen Sammlung von Emblemen und allegorischen Personifizierungen, die in einer holländischen Übersetzung des 17. Jahrhunderts Vermeer bekannt gewesen sein muss, sind diese Gegenstände die Attribute von Klio, der Muse der Geschichte, die von Dichtern ihrer Gelehrtheit wegen geehrt und hochgeschätzt wurde17. Ripa identifiziert das Buch der Klio als das des großen griechischen Historikers Thukydides, des Autors der Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Ripa betont auch, dass der Lorbeerkranz der Klio, ein traditionelles Symbol für Ruhm und Ehre, ein Attribut der Geschichte sei. So wie das Lorbeerblatt grün und lebendig bleibt, bleiben durch die Schriften der Klio auch Vergangenheit und Gegenwart auf ewig lebendig18. Vermeers Maler ist elegant gekleidet, in einer Art, die ihn über den gesellschaftlichen Rang eines anonymen Kunsthandwerkers erhebt. Sein auffallendes, an Rücken und Ärmeln mit Schlitzen geziertes Wams erinnert an Kleidungsstücke, wie sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts bei besonderen Gelegenheiten von der Oberschicht getragen wurden. Er ist wie eine Persönlichkeit gekleidet, der es zukommt, anspruchsvolle Themen darzustellen, und durch deren gesellschaftlichen Rang auf die Malkunst als eine der Freien Künste hingewiesen werden sollte19. Der Künstler, der sein Modell als Muse der Geschichte gewandet hat, überträgt Klios Bild sorgfältig auf seine grundierte Leinwand, zuerst als Unterzeichnung in weißer Kreide und darüber in Farben. Er ist nicht so sehr Empfänger einer Inspiration durch die Muse als vielmehr der Mittelsmann, durch den sie Leben und Bedeutung erhält. Der Künstler hat begonnen, vor jedem anderen Attribut der Klio deren Lorbeerkranz zu malen. Das zeigt, dass Vermeer die Wichtigkeit der Geschichte für das Verständnis der Gegenwart betonen wollte. Dieser Gedanke, den er unmittelbar von Ripa übernahm, war nicht neu, und durch die Darstellung des Künstlers in einer dessen Anonymität wahrenden Rückenansicht betonte Vermeer die Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit der Botschaft. Seit der Antike waren Künstler und Denker immer bemüht gewesen zu definieren, welche Eigenschaften und Ideale in Gemälden wiederzugeben seien und welche Bedeutung sie für menschliche Anschauungen und Erkenntnisse hätten. Von den Historienmalern wurden abstrakte Fragen behandelt, die für den Menschen Bedeutung besaßen, wie biblische, mythologische oder allegorische Themen. Sie wurden höher geschätzt als solche, die nur die Wirklichkeit abmalten, etwa Porträtmaler. So argumentierte der holländische Kunsttheoretiker des frühen 17. Jahrhunderts Karel van Mander (1548–1606), dass die Historienmalerei als die höchste Leistung des Künstlers zu gelten hätte, da sie dessen Vorstellungsvermögen durch die Wiedergabe von Menschen in Augenblicken von großer historischer und moralischer Tragweite unter Beweis stelle20. Van Manders Auffassungen wiederholte 1678 Samuel van Hoogstraten (1627–1678), als er schrieb, „die höchste und bedeutendste Stufe der Malkunst [… sei] die Darstellung der denkwürdigsten Geschichten“21. Mit solchen Bildern stellten Künstler ihr Wissen und die Originalität ihres Denkens unter Beweis: Eigenschaften, welche die Malerei auf die höhere Stufe einer Freien Kunst erhoben. Den ausführlichsten Kommentar zum Wesen der „Schilderkonst“ gab Ripa gleichfalls in seiner Iconologia ab22. So wie in seiner Erörterung über Klio gibt Ripa auch für die Figur der „Pittura“, der Malkunst, Attribute mit symbolischem Gehalt an. Er schreibt, die „Pittura“ sei — 25 — zu zeigen als „eine schöne Frau […] mit einer goldenen Halskette, an der eine Theatermaske hängt […]. Sie sollte in einer Hand einen Pinsel und in der anderen eine Palette halten“23. Die Maske steht für die Imitation, denn die Fähigkeit, die Natur nachzuahmen, sei für den Künstler sehr wichtig. Vermeer erweckte die verschlüsselte Sprache der Allegorie zu neuem Leben und gab die als Symbol dienende Maske als Atelierzubehör wieder, das auf dem Tisch im Vordergrund zufällig liegengeblieben ist. Ripa betonte ferner, dass der Künstler sich ebenso sehr auf seine Kunst wie auf die Natur stützen müsse: Er müsse Urteile fällen, seine Einbildungskraft nutzen und die Regeln der Perspektive beachten – Vorstellungen, die Vermeer ganz offensichtlich teilte24. So wie Vermeers Maler seine Komposition mit einer Unterzeichnung in weißer Kreide beginnt, ist Ripa zufolge die Grundlage eines Gemäldes die Zeichnung, die der Künstler dann überdecken und im fertigen Werk verbergen müsse. Ebenso wie der Rhetoriker solle der bildende Künstler Wirkungen erzielen, ohne seine Kunstgriffe sichtbar werden zu lassen25. Das Ziel des Malers ist das gleiche wie das des Dichters und besteht aus der Beobachtung der Natur, aber auch aus dem Einsatz seiner Kunst, um zu gründlicherer Einsicht in die ihn umgebende Welt zu gelangen. Bildende Kunst und Geschichte Vermeer betonte die Bedeutung der Geschichte für den bildenden Künstler, indem er die Muse der Geschichte in den Mittelpunkt seiner Allegorie stellte. Dieses Thema wird noch durch die Art und Weise unterstrichen, wie er die Muse Klio zu der imposanten Wandkarte und dem eleganten Kronleuchter in Beziehung setzt, die das Atelier schmücken26. Die Karte der Niederlande mit den Siebzehn Provinzen und deren wichtigsten Städten hatte 1636 der namhafte Amsterdamer Kartograph Claes Jansz. Visscher verfertigt. Sorgfältig gibt Vermeer den lateinischen Titel der Karte (einschließlich Visschers latinisiertem Namen) an ihrem oberen Rand wieder: „NOVA XVII PROV[IN]CIARUM [GERMANIÆ IN F]ERI[O]RIS DESCRIPTIO, / ET ACCURATA EARUNDEM DELINEATIO DE NO[VO] EM[EN] D[ATA], AUCTA, ACQUE COREC[TISS]IME EDIT[A P]ER NICOLAUM PISCATOREM“27. Der — 26 — Maler fing nicht nur getreulich Aussehen und Topographie der Karte ein (auf der die Westküste der Siebzehn Provinzen nach oben zeigt), sondern gab auch die schmückenden Kartuschen und den zwölfspaltigen Textstreifen am unteren Rand wieder. Panorama-Ansichten der achtzehn wichtigsten Städte der Siebzehn Provinzen sowie Darstellungen des Hofes von Holland im Haag und des Hofes von Brabant in Brüssel flankieren die Karte. Im Unterschied zu den Bildern der Höfe, die jeweils links und rechts am unteren Rand platziert sind, finden sich die der Städte an den beiden Querseiten der Karte, und zwar ohne ersichtliche Rangordnung: Wie es sich für ein vereinigtes Staatswesen gehört, wird zwischen den Städten in den nördlichen und denjenigen in den südlichen Provinzen nicht unterschieden28. Indem er die große Wandkarte durch das von links hereinflutende Licht beleuchtet, kann Vermeer die Unregelmäßigkeiten ihrer Oberfläche zeigen – so schildert er nicht nur die Alterspatina, sondern auch die im Lauf der Zeit entstandenen Falten und Knicke29. Wie schon die Karte in dem Gemälde Der Soldat und das lachende Mädchen (Abb. 3) war Visschers Karte zu der Zeit, als Vermeer das Bild malte, längst überholt. Durch Landgewinnung hatte sich die physische Karte der Niederlande gründlich verändert. Was noch wichtiger war: Politische Veränderungen hatten die Grenzen neu gezogen. Mit der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens (Münster 1648) wurden die Siebzehn Provinzen offiziell geteilt und zu zwei getrennten politischen Gebilden: Aus den sieben nördlichen Provinzen wurde die unabhängige Holländische Republik, während die Südlichen Niederlande unter der Herrschaft Spaniens verblieben. Ebenso wie die Karte spielt auch der Kronleuchter auf jene frühere Periode der holländischen Geschichte an, als die gesamten Siebzehn Provinzen eine politische Einheit bildeten. Oben wird der Kronleuchter von einem doppelköpfiger Adler überragt, der dem imperialen Symbol der Habsburger ähnelt, aber mit diesem nicht identisch ist (in letzterem tragen die Adler jeweils eine Krone)30. Der Leuchter hängt mittig über der Karte, seine Arme erstrecken sich so nach außen, als wollten sie die Gesamtheit der einst von den Habsburgern beherrschten Siebzehn Provinzen umfassen und sie wieder vereinigen. Vermeer gab der Karte und dem Kronleuchter in seiner Komposition erhebliches Gewicht. Dies geschah sowohl — 27 — Abb. 4: Johannes Vermeer, Junge Frau mit Wasserkanne am offenen Fenster. Um 1664/65. New York, Metropolitan Museum of Art. (©: 2009 The Metropolitan Museum of Art/Art Resource/ Scala, Firenze.) Ill. 4: Johannes Vermeer, Young Woman with a Water Pitcher. C. 1664/65. New York, The Metropolitan Museum of Art. durch ihre Platzierung als auch durch die Art und Weise, wie das Licht ihre Oberflächen belebt und damit ihre Bedeutung für das thematische Anliegen des Künstlers betont31. Es muss ihn einige Mühe gekostet haben, diese Gegenstände zu malen, denn es ist ganz unwahrscheinlich, dass einer von ihnen tatsächlich in seinem Besitz war. Sowohl die Wandkarte als auch der Kronleuchter wären außerordentlich teuer gewesen; im Nachlassinventar von 1676 kommen jedenfalls derartige Gegenstände nicht vor32. Kronleuchter mit dem Schmuckmotiv des doppelköpfigen Adlers müssen in holländischen Haushalten eine besondere Rarität gewesen sein; eher hätte man sie in den Südlichen Niederlanden finden können, wo sie hergestellt wurden33. Weshalb Vermeer Wandkarte und Kronleuchter in seine Allegorie einbezog, weiß man nicht. Etliche Forscher haben darauf hingewiesen, dass Vermeers Karte in der Mitte einen deutlichen vertikalen Knick aufweist, der annähernd dem Verlauf der politischen Trennungslinie zwischen den nördlichen und den Südlichen Niederlanden entspricht, wie sie im Friedensvertrag von Münster 1648 endgültig festgelegt wurde. Die genaue Position dieses Knicks und die Art, wie ihn der Lichteinfall auf der Kartenoberfläche hervorhebt, lassen vermuten, dass Vermeer seine scheinbar exakte Wiedergabe der Karte dazu benutzte, um die Aufmerksamkeit auf politische Teilungen zu lenken, die in den Niederlanden seit der Verfertigung der Karte eingetreten waren34. James Welu hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Knick genau durch Breda geht, eine Stadt, die auf der holländischen politischen Bühne in den späten 1660er Jahren eine wichtige Rolle spielte35. Vermeer dürfte zwar kaum den Wunsch gehegt haben, die niederländische Republik zur politischen Abhängigkeit unter habsburgischer Herrschaft zurückkehren zu sehen, doch lässt die Art, wie er den Lorbeerkranz der Klio in der Malkunst betont, darauf schließen, dass er den Gedanken der engen Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zum Ausdruck bringen wollte. Wie viele seiner Zeitgenossen, insbesondere jene, die mit der Politik des Hauses Oranien sympathisierten, muss Vermeer den Gedanken vereinigter, aber unabhängiger und aus den ursprünglichen Siebzehn Provinzen gebildeter Niederlande begrüßt haben36. Die künstliche politische und geographische Teilung im Gefolge des niederländischen Aufstandes hatte viele Familien, darunter die Vermeer, von ihren Wurzeln in den Südlichen Niederlanden abgeschnitten. Zudem hatte Vermeer, obwohl als Protestant aufgewachsen, wie gesagt eine Katholikin geheiratet und sich zum Katholizismus bekehrt, also musste er den zahlreichen religiösen und kulturellen Beziehungen, die in dem gemeinsamen Erbe der Siebzehn Provinzen zusammenliefen, wohlwollend gegenüberstehen. Es mag sogar seinen Grund haben, dass Vermeer seinen Namen am Rand der Karte anbrachte, sodass er unmittelbar hinter Klio erscheint: Dadurch entsteht der Eindruck, als wollte er auf diese Weise seine Zustimmung zur historischen Idee in Hinblick auf Vereinigte Niederlande ausdrücken. Der Textstreifen, ein wichtiger Bestandteil einer Wandkarte, bezog sich üblicherweise auf Geschichte und Geographie des auf der Karte dargestellten Gebietes37. In Vermeers Gemälde verbindet er am unteren Rand der Karte den Künstler mit seinem Modell und erhält damit zusätzliches kompositorisches Gewicht. Visschers Text ist zwar nicht lesbar, doch war er den Betrachtern wohl als Hinweis auf eine positive Beurteilung einer Vereinigung der Siebzehn Provinzen klar verständlich38. Obwohl dieser Textstreifen in den noch erhaltenen Exemplaren der Visscherschen Karte entweder fehlt oder unleserlich geworden ist, lässt sich aus anderen Beispielen auf seinen Inhalt schließen. So hatte Visscher im Jahre 1609 eine allegorische Karte, Leo Belgicus, publiziert, die ausdrückliche Vorschläge enthielt, wie die Teilungen, die die nördlichen Niederlande von den Südlichen getrennt hatten, zu korrigieren wären, so dass sie den beiden Regionen bleibenden Frieden und politische Versöhnung brächten39. Die Veröffentlichung von Visschers Wandkarte der Siebzehn Provinzen, die im Laufe des 17. Jahrhunderts mehrmals – und auch noch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Münster – nachgedruckt wurde, muss einem fortdauernden Wunsch eines Teiles der holländischen Bevölkerung nach einer Wiedervereinigung des Landes entsprochen haben40. Vermeer, der diese Karte in seiner Allegorie offensichtlich mit besonderer Absicht zeigte, gehörte wahrscheinlich dazu41. Abgesehen von den Anspielungen auf die jüngste politische Vergangenheit verweisen Visschers Karte und der Kronleuchter auch darauf, wie wichtig der Künstler ist, der seiner Vaterstadt und seinem Land Ruhm bringt. Die Holländer schätzten die Rolle der bildenden Künstler — 28 — für die Mehrung des Ruhmes ihrer Heimat und ihrer Geburtsstädte sehr hoch ein. Diese Vorstellung, eines der Nebenthemen in Giorgio Vasaris einflussreichem Werk Leben der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten, kehrt in einer sich auf den Norden beziehenden Variante bei Karel van Mander in dessen Het Schilder-Boeck aus 1604 wieder. Sie findet sich ebenso in den im 17. Jahrhundert publizierten Texten zur Geschichte einzelner holländischer Städte, und zwar unter anderem in Dirck van Bleyswijcks Beschryvinge der Stadt Delft [Beschreibung der Stadt Delft]; sie erschien 1667, also etwa zur Zeit der Entstehung des Gemäldes42. Bezeichnenderweise hält Klio ihre Trompete, Symbol des Ruhmes, gerade über der Ansicht des holländischen Hofes im Haag, dem Regierungssitz. Bleyswijck merkte an, dass Künstler ihren jeweiligen Städten Ruhm und Ehre bringen, beklagte aber, dass solcher Ruhm allzu oft erst nach ihrem Tode entstehe. Unter Verweis darauf, dass die gute Sitte ihn daran hindere, lebende Maler zu preisen, erwähnte Bleyswijck Vermeer lediglich als einen der in Delft tätigen Künstler, über dessen Werk verlor er kein Wort43. Für den Leser von Bleyswijcks Beschreibung der Stadt Delft bleibt Vermeer von seinen Zeitgenossen so wenig unterscheidbar wie der Künstler hier im Bild. Der Maler bleibt anonym, wiewohl er seiner Heimat Ruhm und Ehre bringt: Wahrscheinlich stellte Vermeer ihn deshalb in Rückenansicht dar, weil er die Allgemeingültigkeit seiner Allegorie unterstreichen wollte. Malerei und Illusionismus Die symbolischen Anspielungen auf Geschichte und Ruhm sind nur ein Teil von Vermeers Allegorie der Malkunst. Für Vermeer bedeutete die Malerei eindeutig mehr als die Wiedergabe abstrakter Prinzipien in realistischer Form. In ihrem Wesenskern beruhte sie für ihn auf der Überzeugung, dass ein Künstler über gründliche Kenntnisse der Naturgesetze verfügen müsse, um eine illusionistische Wiedergabe der Realität schaffen zu können. Die Schönheit von Vermeers Gemälde ist so verführerisch, dass die subtile Kunstfertigkeit des Malers vielfach unbeachtet bleibt. Diesem Bild Leben einzuhauchen vermochte Vermeer durch die meisterliche Wiedergabe des Lichtes, das die Figuren und Gegenstände im Raum erhellt. Auch wendete er in ausgeklügelter Weise seine Kenntnis der Regeln der Linearperspektive an, um sein Interieur glaubhaft als Raum entstehen zu lassen und die wichtigsten kompositorischen und thematischen Bestandteile des Gemäldes zu betonen. Der offensichtliche Realismus von Vermeers Szene ist eine Qualität, um die holländische Künstler des 17. Jahrhunderts sehr bemüht waren. In seiner theoretischen Abhandlung schreibt Samuel van Hoogstraten: „Ein vollkommenes Gemälde ist wie ein Spiegel der Natur, in dem Dinge, die nicht da sind, da zu sein scheinen, und der sie in einer angenehmen, erheiternden und lobenswerten Weise täuschend genau wiedergibt.“44 Die Vorstellung, dass ein Gemälde das Auge mit seinem Illusionismus täuschen solle, geht auf die Antike zurück. In seiner Historia Naturalis beschreibt Plinius einen Wettbewerb zwischen den Künstlern Parrhasius und Zeuxis, die beide darauf aus sind, Bilder zu schaffen, die den Betrachter glauben machen sollen, die abgebildeten Gegenstände seien wirkliche. Parrhasius siegte, indem er einen Vorhang so geschickt malte, dass Zeuxis ihn wegzuheben versuchte, um das vermeintlich darunter befindliche Bild sehen zu können. An diese Geschichte erinnert die große Tapisserie in Vermeers Gemälde, die offensichtlich in der Absicht zur Seite gezogen wurde, um die allegorische Szene sichtbar zu machen. Ihre überzeugend wiedergegebenen schweren Falten, Farben und Oberflächenstrukturen, die Vermeer mit mehrfarbigen, die Rippen des Gewebes hervorhebenden Glanzlichtern versah, fordern uns auf, die Tapisserie noch weiter zur Seite zu schieben, damit wir noch mehr von dem Raum dahinter sehen können. So wie der Vorhang des Parrhasius dienten auch die Maltechniken, die Vermeer zur Erzeugung der Illusion verwendete, nicht als Selbstzweck: Sie verstärken die Erwartungen der Betrachter und machen diese für das Bildthema empfänglicher. In der Malkunst befindet sich der thematische Höhepunkt nicht an der Oberfläche der Dinge wie dies bei dem trompe l’œil des Parrhasius der Fall ist, sondern hinter dem Vorhang. Vermeer hat den Innenraum seines Gemäldes durch das Beiseiteziehen der Tapisserie für das Auge des Betrachters geöffnet und zieht diesen dann sogleich mit Hilfe der Diagonalen der Perspektive in das Bild hinein, um ihn zum Nachdenken über den Sinn der Allegorie hinzuführen. Der Blickwinkel, den Vermeer für sein Gemälde gewählt hat, rückt den Betrachter nahe an die Bildebene — 29 — heran und fördert dadurch seine intensive Auseinandersetzung mit der Szene. Vermeer verstärkte dieses Gefühl von Nahsichtigkeit durch die Art, wie er die Formen der Gegenstände im Bildvordergrund modellierte. Er benutzte Höhungen in vielen verschiedenen Farben, um das Licht wiederzugeben, das auf den Rippen im Gewebe der Tapisserie auftrifft, und setzte auch den Messingnägeln des Stuhles Glanzlichter auf. Allerdings versuchte er in diesen Fällen nicht, die Oberfläche der Materialien zu imitieren. Die unscharfe Wiedergabe des grünen und des sandfarbenen Stoffes, der jeweils über die Tischkante herabhängt, ist besonders auffallend und zeigt Vermeers genaues Verständnis der Gesetze des Sehens. Die leicht verschwommenen Formen entsprechen der Unschärfe von Objekten im Vordergrund des menschlichen Blickfeldes. Durch Nachahmung dieses optischen Phänomens nötigte er den Betrachter zudem, sich auf die weiter hinten gelegenen Bereiche des Gemäldes zu konzentrieren, in denen dieses sein thematisches Zentrum hat. Der vor seiner Staffelei sitzende Künstler ist unverhältnismäßig groß wiedergegeben, womit seine zentrale Stellung innerhalb der Allegorie betont wird. Im Stehen würde er sein Modell weit überragen. Diese Größendiskrepanz fällt jedoch nicht sofort auf, und zwar deshalb, weil Vermeer die Punkte der Berührung zwischen dem Körper des Malers und anderen Gegenständen im Raum nicht eindeutig angibt. So ruhen beispielsweise die schwarzen Schuhe des Künstlers auf ebenso schwarzen Fliesen des Marmorbodens auf, so dass ihre Formen weitgehend unklar bleiben. Einen besonders bedeutsamen visuellen Bezug zwischen dem Künstler und seiner Umgebung schafft das Heft, das über die Tischkante herausragt und die schwarzen Pluderhosen des Künstlers berührt. Dieses Heft bildet nicht nur eine sichtbare Verbindung zwischen dem Körper des Malers und dem Tisch im Vordergrund, sondern trägt auch dazu bei, die besondere Form der zwischen ihm und seinem Modell sichtbar werdenden Wand zu definieren. Die so erzeugten räumlichen Spannungen verstärken die dynamische Beziehung zwischen den beiden Figuren und beleben damit die ganze Komposition. Der breite Pinselstrich und die Farben, mit denen Vermeer den Maler modellierte, entsprechen der Kühnheit von dessen Gestalt. Die Muster von schwarzem Wams, roten Strümpfen, weißen Übersocken und schwarzen Schuhen wirken in der lebhaften Wiedergabe von Licht und Schatten beinahe abstrakt. Den Hintergrund des Raumes malte Vermeer mit stärker nuanciertem Pinselstrich und mit genauerer Beachtung von Oberflächenstrukturen und Lichtwirkungen. Das auf Hände, Gesicht und Gewand der Klio fallende Licht vermittelt die Weichheit ihrer Haut, die Glätte des ledergebundenen Folianten, den sie hält, und den Schimmer des blauen Stoffes, in den sie gehüllt ist. In ähnlicher Weise gab Vermeer die abgegriffene Oberfläche der Wandkarte wieder, indem er das Licht ihre Form verdeutlichen und ihr offensichtliches Alter sichtbar machen lässt. Schließlich fing er in einer der eindrucksvollsten Partien seines gesamten Werkes den Glanz des Sonnenlichtes ein, das von der polierten Oberfläche des Messingkronleuchters zurückgeworfen wird. Mit sicheren Strichen, die vom dicken Impasto eines Blei-Zinn-Gelbs in den Glanzlichtern bis zu dunkleren und dünneren Strichen Ockers in den Schatten reichen, schuf Vermeer die Illusion eines Gegenstandes, der beinahe greifbar zu sein scheint. Perspektive und Camera obscura Vermeer hinterließ weder Zeichnungen noch Vorstudien, weshalb wir das, was wir über seine Arbeitsweise wissen wollen, nur den Gemälden selbst entnehmen können. Die Malkunst ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sie einen Künstler bei der Arbeit darstellt. Das Bild zeigt nicht nur, dass holländische Maler eher vor ihrer Staffelei saßen als standen, sondern auch, dass sie Malstöcke verwendeten, um ihre Hand während des Malens zu stabilisieren. Nachdem er seine Leinwand bereits mit einer hellgrauen Grundierung versehen und seine Komposition mit weißen Linien, wahrscheinlich Kreidestrichen, angedeutet hat, trägt Vermeers Maler in flachen, unzusammenhängenden Strichen Farbe als Untergrund für den Lorbeerkranz auf, der Klios Haupt bekrönt. In einem späteren Stadium müssten dann eine Reihe von Lasuren und kleine Glanzlichter die Form modellieren. Technische Untersuchungen von Gemälden Vermeers haben ergeben, dass er dieses Verfahren in seinen eigenen Werken häufig anwendete. Gelegentlich änderte er während des Malvorganges sein Konzept und nahm noch — 30 — Abb. 5: Camera obscura. In: Athanasius Kircher, Ars Magna lucis et umbrae, Rom 1646, Taf. 28. Radierung. Ill. 5: Camera Obscura. Etching from Athanasius Kircher, Ars Magna lucis et umbrae, Rome, 1646, pl. 28. nach der ersten Phase der Bild-Anordnung kompositionelle Veränderungen an Figuren, Landkarten, Stühlen und Musikinstrumenten vor45. In dieser groß angelegten und komplexen Szene konnten mit mikroskopischen Untersuchungen sowie Infrarot-Photographie und Röntgenaufnahmen jedoch erstaunlicherweise lediglich minimale Veränderungen der Komposition festgestellt werden (siehe Beitrag Robert Wald). Eine derartige Sicherheit im Aufbau des Bildes spricht wohl dafür, dass Vermeer diese Komposition im Vorhinein ausgearbeitet hatte, wahrscheinlich mit einer sorgfältigen Vorzeichnung, die er dann auf die große Leinwand übertrug. Vermeer disponierte und gliederte sein Bild unter genauer Beachtung der Gesetze der Linearperspektive. Wie es seine Gewohnheit gewesen sein dürfte, markierte er den Fluchtpunkt mit einer Nadel, die er in die Leinwand steckte46. Dann muss er an dieser Nadel Fäden befestigt haben, um die rechtwinkeligen Fliesen und die Tischkante korrekt wiedergeben zu können. In schöpferischer Weise nutzte Vermeer die Perspektive aber auch zur Steigerung der Dramatik der Szene. So fixierte er beispielsweise seinen Fluchtpunkt unmittelbar vor der Muse Klio, und zwar genau unter dem schwarzen Knauf am Ende des Stabes, der die Karte beschwert; auf diese Weise lenkte er den Blick des Betrachters auf diese Figur, wodurch sie im Rahmen der Komposition mehr Gewicht erhält. Ob sich Vermeer, als er diese Komposition erdachte, durch die optischen und räumlichen Effekte der Camera obscura (wörtlich: dunkle Kammer) anregen ließ oder nicht, ist eine Frage, die in den letzten Jahren zu vielen Vermutungen Anlass gegeben hat47. Dieses Gerät, ein Vorläufer der modernen Kamera, beruht auf dem Prinzip, dass gebündelte Lichtstrahlen, gleichgültig ob direkt oder reflektiert, ein Bild der Quelle erzeugen, von der sie ausgehen. Licht, das durch ein kleines Loch in eine verdunkelte Kammer fällt, egal ob es sich um ein Zimmer handelt oder um eine Schachtel, wirft auf die dem Loch gegenüberliegende Fläche ein umgekehrtes Bild. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurden tragbare, mit Konvexlinsen für die Scharfeinstellung der Bilder von Objekten in unterschiedlichen Entfernungen ausgestattete Camerae obscurae sogar im Freien verwendet (Abb. 5). Vermeer scheint die Möglichkeiten von Abbildungen mittels der Camera obscura ab den späten 1650er Jahren in seinen Arbeiten ausprobiert zu haben. Da jedoch eine Camera obscura auf einem Gemälde keine Spuren hinterlässt, ist die Frage, ob er eine solche verwendete oder nicht, ausschließlich dadurch zu beantworten, dass man seine Gemälde in Hinblick auf ihre optischen Merkmale miteinander vergleicht. So ist zum Beispiel der enge Bildausschnitt vieler seiner Werke, darunter Der Soldat und das lachende Mädchen (Abb. 3), typisch für mit Hilfe der Camera obscura angefertigte Bilder, und es ist möglich, dass dieses optische Hilfsmittel ihn dabei unterstützte, sich die Szene vorzustellen und ihn bei der Wahl seines Kompositionsausschnitts leitete. Mit seinem feinen — 31 — Empfinden für Licht und Farbe hätte Vermeer auch einen weiteren optischen Effekt der Camera obscura nutzen können: deren unterschiedliche Schärfeeinstellungen. Ist eine Camera obscura auf den Mittelgrund fokussiert, so erscheinen Glanzlichter im Vordergrund des Bildes verschwommen, ähnlich wie in unscharfen Photographien Glanzlichter zu Lichtflecken werden. Ohne genau zu wissen, in welchem Umfang Vermeer die Camera obscura benutzte, können wir deren Einfluss auf seinen Stil und seine Maltechnik schwer beurteilen. Hat dieses Gerät bereits vorhandene künstlerische Neigungen verstärkt, oder hat es den Maler in eine neue Richtung gelenkt? Konnte er damit neue optische Phänomene entdecken, durch die sich die von ihm angestrebte illusionistische Wiedergabe der Wirklichkeit noch verstärken ließ, und brachte es ihn auf neue Gedanken, wie sich solche Effekte in seinem Werk wiedergeben ließen? Und nicht zuletzt: Hat er auf die Camera obscura zu verschiedenen Zeiten seiner Laufbahn in unterschiedlicher Weise reagiert? Wie dem auch sein mag: Sowohl praktische als auch konzeptionelle Gründe sprechen dagegen, dass Vermeer mittels dieses Geräts Bilder auf seine Leinwände oder Holztafeln gezeichnet hat48. Er scheint nie in erster Linie an einer exakten Wiedergabe der Wirklichkeit interessiert gewesen zu sein, sondern veränderte und verfeinerte das Gesehene, um seinen Szenen einen Mittelpunkt und entsprechendes Gewicht zu geben. Selbst in dem intimen Bild Mädchen mit rotem Hut (um 1666/67, Abb. 6), das auf den LöwenkopfKnäufen des Stuhles verschwommene Glanzlichter zeigt, die praktisch genau so aussehen wie in einem unscharfen Bild einer Camera obscura, änderte Vermeer die Position der Knäufe aus kompositorischen Gründen49. Welche Rolle dieses optische Gerät im Schaffensprozess des Meisters spielte, ist in Bezug auf Die Malkunst eine besonders interessante Frage, denn das Gemälde weist tatsächlich Merkmale auf, wie sie sich in Bildern einer Camera obscura finden. So erzeugt zum Beispiel die Camera obscura Bilder nur von einem einzigen Blickpunkt aus, wodurch Objekte im Vordergrund – wie in diesem Gemälde – unverhältnismäßig groß erscheinen. Ganz so wie bei den Knäufen im Mädchen mit rotem Hut ähnelt die verschwommene Wiedergabe der über den Tisch hängenden Draperie dem unscharfen Vordergrund von Bildern der Camera obscura. Folgen wir aber dem Augenschein von Vermeers sorgfältiger Abb. 6: Johannes Vermeer, Mädchen mit rotem Hut. Um 1666/67. Washington, D. C., Andrew W. Mellon Collection. (©: Courtesy of the Board of Trustees, National Gallery of Art, Washington.) Ill. 6: Johannes Vermeer, Girl with the Red Hat. C. 1666/67. Washington D.C., Andrew W. Mellon Collection. — 32 — perspektivischer Konstruktion und dem komplexen ikonographischen Aufbau des Gemäldes, so ist es dennoch unwahrscheinlich, dass solch ein Gerät bei der Entstehung des Werks eine bedeutende Rolle spielte. Zudem hatte Vermeer 1666/68, als er Die Malkunst schuf, die Ausdrucksmöglichkeiten der Camera obscura seit mindestens einem Jahrzehnt ausprobiert. Also muss er deren optische Effekte bereits aus Erfahrung gekannt haben und brauchte nicht zu einem solchen Hilfsmittel zu greifen, um die von ihm in diesem Werk angestrebten Effekte zu erzielen. Die weitere Geschichte des Gemäldes Catharina Bolnes’ Bemühungen, Die Malkunst als Teil ihres Erbes zu erhalten und deren Versteigerung zusammen mit anderen Kunstwerken im Nachlass zu verhindern, blieben fast mit Sicherheit erfolglos. Der Nachlassverwalter, der berühmte Delfter Mikrobiologe Anthonie van Leeuwenhoek, entschied zu Recht, dass die Übertragung des Werkes an Maria Thins, die Schwiegermutter des verstorbenen Malers, widerrechtlich erfolgt war. Es ist weder bekannt, was am 15. März 1677 zum Verkauf kam, noch wie der Rechtsstreit ausging; dennoch spricht vieles dafür, dass ab dieser Zeit das Gemälde nicht mehr im Besitz der Familie war50. Wo es sich während des 18. Jahrhunderts befand, ist nicht genauer bekannt – vielleicht weil, wie bei so vielen von Vermeers Gemälden, die Zuschreibung dieses beachtlichen Werkes bald verloren ging. Es ist durchaus möglich, dass es bereits ziemlich früh seinen Weg nach Wien fand, wo es in die Sammlung des kunstliebenden Barons Gerard van Swieten (gest. 1772), Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia, gelangte. 1803 fand sich das Gemälde, damals Vermeers Zeitgenossen Pieter de Hooch zugeschrieben (und mit einer falschen de Hooch-Signatur versehen), im Nachlass von van Swietens Sohn Gottfried van Swieten, Vorsteher der Kaiserlichen Hofbibliothek. 1813 von Graf Johann Rudolf Czernin (1757–1845) erworben, blieb Die Malkunst weiterhin de Hooch zugeschrieben, bis in den 1860er Jahren der Vermeer-Forscher Thoré-Bürger das Gemälde als eines der Hauptwerke von Vermeer erkannte51. Gegen Ende der 1820er Jahre richtete Graf Czernin, zu dessen großem Grundbesitz auch Ländereien in und um Wien und Prag gehörten, in seinem Wiener Stadt- — 33 —