Dämonen, Monster, Fabelwesen

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Dämonen, Monster, Fabelwesen
Dämonen, Monster, Fabelwesen
Eine kleine Einführung in
Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe
Werner Wunderlich (St. Gallen)
Aus all den erfunden und eingebildeten Geschöpfen eine nach welchen Gesichtspunkten
auch immer systematische, repräsentative und methodisch wie historisch begründete
Auswahl für einen Sammelband zu treffen, scheint unmöglich zu sein. Wir haben versucht, solche imaginären Kreaturen zu finden, die über Kulturgrenzen und Epochenschwellen hinweg existieren, wenn auch ihre Bedeutung schwankt und wir der westlichen
Kultur den Vorzug einräumen. Vor allem aber richtet sich unser Sortiment schlichtweg
nach der besonderen Vorliebe, die der eine und der andere Autor für »seine« Kreatur hat.
Will man diese »Kreaturen« planmäßig erfassen und nach typologischen Kriterien
vorstellen, muß man zuvor einräumen, daß begriffliche Unterscheidungen und Differenzierungen nach Herkunft und Überlieferung, nach Erscheinung und Funktion natürlich
möglich und auch hilfreich sind, daß aber eine strikte und unangreifbare Einteilung in
»Dämonen«, »Monster« und »Fabelwesen« wegen der fließenden Übergänge und Überschneidungen nicht in jedem Fall eine zweifelsfreie Zuordnung einzelner Geschöpfe
möglich und auch nicht sinnvoll macht. Unser Buchtitel will deshalb einen thematischen
Bereich umreissen und nicht eine kategoriale Systematik suggerieren. So soll es auch im
folgenden in erster Linie nur darum gehen, Wesensmerkmale mythischer Geschöpfe unter typischen Aspekten vorzustellen, nicht eine systematische Typologie für alle im Band
vertretenen Dämonen, Monster und Fabelwesen vorzugeben.
Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe heute
Der Titelheld der Filmreihe (1987, 1990, 1993) und gleichnamigen TV-Serie Robocop
(1992 ff.) räumt als Ordnungshüter in der Unterwelt von Detroit gründlich auf. Robocop ist ein künstliches Geschöpf. Ein Roboter mit allen elektronischen Finessen der
Kommunikations- und Waffentechnik, gesteuert von einem Computerprogramm und
dem Gehirn eines erschossenen Polizisten, eines Cops. Roboter plus Cop ergibt Robocop. Das Produkt futuristischer Biomechanik und Computertechnologie ähnelt im Aussehen einem mittelalterlichen Ritter mit Harnisch und Helm. Wie dieser kann er von
Feinden verletzt oder sogar fast zerstört werden und benötigt menschliche Fürsorge und
– selbstredend – technisches Knowhow, um wieder hergestellt zu werden. An der Herstellung solcher Maschinenmenschen, Menschenmaschinen übten sich seit dem Barock
Uhrmacher und Feinmechaniker, zugleich tauchten sie seit dieser Zeit als Figuren in der
Literatur und auf der Opernbühne auf. In der Romantik hatten sie Hochkonjunktur und
tummelten sie sich zu Hauf in Romanen und Novellen. Bis heute erfreuen sie sich hoher
Beliebtheit in vielen Fantasy- und Science Fiction-Filmen und -Romanen. Die Perfektion
der modernen special effects bringt immer neue, immer phantastischere Gestalten und
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Mixturen aus menschlichen Lebewesen und elektronisch-mechanischen Apparaten hervor. Androide, Humanoide, Biomechanoide düsen durchs All und übernehmen als Helfer von Menschen die Rolle putziger Märchenwichtel, als Widersacher der Menschen die
Rolle greulicher Sagenungeheuer.
Daneben bedrohen grauenhafte Bestien des Kosmos (z.B. Alien 1979, 1986, 1992)
ahnungslose Astronauten oder bevölkern auf fernen Planeten ganze Menagerien fantastischer Geschöpfe schumrige Kneipen (z.B. Star Wars, 1977 – 97) und machen unerfahrenen Raumfahrern das Leben schwer.
Regisseure und Autoren lassen uns auch auf der Erde gefährliche Begegnungen mit
Vertretern seltsamer und ungewöhlicher Spezien erleben. Sei es mit Besuchern aus dem
All wie den gefräßigen Gremlins (Gremlins, 1984, 1990) oder dem erbarmungslosen
Menschenjäger, dem nur ein Arnold Schwarzenegger Paroli bieten kann (Predator, 1987)
oder den heuschreckenartigen Raubrittern, die beinahe die Feiern um den Independence
Day (1996) verdorben hätten.
Nicht wenige Monster aber sind »menschlichen Ursprungs« und entstammen den
Laboren und Gen-Küchen moderner Wissenschaftler (resp. den Köpfen ausgebuffter
special effects-Spezialisten). Zu dieser Kategorie zählen sicher die durch Genexperimente
wiederbelebten Dinosaurier (Jurassic Park, 1993, 1997), oder das wunderschöne und zugleich grauenhafte Ergebnis der Kreuzung menschlicher und außerirdischer Gene (Species, 1995). Der Schweizer Hans Rudolf Giger (Schöpfer u.a. von Alien und Species) ist
heute weltweit der bekannteste »Master of the Macabre«, dessen bizarre Filmmonster als
Hollywood-Stars eine ständig wachsende Fan-Gemeinde haben, die in der virtuellen Welt
des Internets wie auf Ausstellungen renommierter Galerien den Geschöpfen eines phantastischen Realismus ihre Referenz erweisen kann.
Gewiß starken Einfluß auf die neue Hochkonjunktur unheimlicher Gestalten, magischer Welten und infernalischer Kulte hat das bevorstehende Jahr 2000, das Endzeitängste schürt, okkulte Praktiken in Schwung bringt, übersinnliche Erscheinungen aufkommen läßt – und die Diskussion über die Existenz und den Einfluß dämonischer und
fabelhafter Wesen zum allgegenwärtigen Medienereignis macht.
Niemand kann diese Ausgeburten der Phantasie leibhaftig auftreten lassen, aber dafür
werden sie von ihren Zeugen umso eifriger in allen Einzelheiten einfallsreich geschildert
und in Wort und Bild wiedergegeben. In Originalität und Präzision sind dabei aktuelle
Berichte denen des Altertums in nichts voraus. Schon antike Naturbeobachtungen konnten fremde und unbekannte Kreaturen oft nur beschreiben, indem sie deren einzelne
Körperteile mit denen ihnen bekannter Lebewesen verglichen. Mittelalterliche Reiseberichte ließen deshalb zur Erklärung des Unbekannten ihre Kombinationsgabe und Phantasie ins Kraut schießen. Zeichner und Autoren, die solche Darstellungen beim Wort
nahmen, haben dann die groteskesten Kreaturen daraus geschaffen, wundersame Tiere,
seltsame Menschen, Hybriden aus beiden. Es sind Geschöpfe des Menschen, der sie nach
seinem Bild und seiner Vorstellung formt und verformt. »Alles ist durch das Wort geworden« steht im Prolog des Johannesevangeliums über die Schöpfungsgeschichte. Tatsächlich zeugt das Wort immerfort Welt, daran hat sich seit biblischen Zeiten nichts geändert.
Deshalb auch werden immer wieder immer neue imaginäre Geschöpfe geschaffen. In der
Un-Wahrscheinlichkeit ist unsere Zeit dem Mittelalter auf diesem Gebiet in nichts voraus. Die Nachfahren mittelalterlicher Schöpfungsphantastik sind heute gespenstische
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Technik- oder Genfiktionen, die Panik und Ekel auslösen. Das Paradoxe: Gerade wegen
ihrer Existenz als Hirngespinste sind solche Geschöpfe eben durchaus Realität. Dann,
wenn sie als Projektionen psychischer Zustände und seelischer Verfassungen dienen;
dann, wenn sie – gleichviel ob als triviale Stereotpyen oder originelle Deutungsmodelle –
zum Verständnis von Welt beitragen und menschliche Erfahrung, Angst oder Hoffnung
ausdrücken und verstehbar machen wollen.
Diese Funktion macht imaginäre Geschöpfe zu mythischen Kreaturen. Wovon wir
keine genaue Vorstellung haben, was wir uns nicht erklären können, wovon wir nicht wissen, ob es existiert, nehmen wir dessen ungeachtet ernst, halten es für wahr und fürchten
uns davor, glauben an seine Bedeutsamkeit und Wirksamkeit, wenn uns vorrationale Annahmen über die Welt und unser Selbst in Geschichten und in Gestalten erzählt werden.
Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten. Der Mythos erteilt dazu
das Wort und bringt es in Religion und Philosophie, Kunst und Literatur, Sitte und
Brauchtum als »Wissen« zur Sprache. So vermittelt der Mythos heilige Wahrheiten,
schafft Vorbilder für Schuld oder Unschuld, erklärt die Herkunft von Gott und der Welt,
macht Mensch und Natur begreiflich, berichtet die Geschichte von Institutionen und
Kulten, veranschaulicht gesellschaftliche und politische Zeitläufte. Insofern hat der Mythos nicht nur konstativen, sondern auch performativen Charakter. Immer schon, denn
immer sind bestimmte Dimensionen von Wirklichkeit unserer vorstellbaren Erfahrungswelt und unserer erlebten Geschichte einen Schritt voraus. Was theoretisches Denken,
abstrakte Rationalitätsentwürfe, wissenschaftliches Sprechen noch nicht verbindlich erklären und als Macht des Unergründlichen enttabuisieren, als Geheimnis des Unbegreiflichen entschleiern können, wird durch den Mythos und seinen Verbindlichkeitsanspruch vorstellbar und verständlich gemacht. Deshalb entstehen mit den Vorstößen in
neue Wissensbereiche auch immerzu neue Mythen über das unerklärlich und geheimnisvoll Bleibende. Auch das Medienzeitalter erfindet neue Mythen, die keiner unbewußten
Tätigkeit der Einbildungskraft entspringen, sondern planvollem Handeln, das letzte
Wahrheiten oder massensuggestive Leitbilder in symbolischen, erzählten Wirklichkeiten
verdichtet und diesen Realität unterstellt. Deshalb auch wird von den Kulturwissenschaften auf den drohenden Verlust von Kontingenzbewußtsein, auf den Mangel an Selbstreflexion jener mythischen Realitätskonstruktion hingewiesen, wenn diese für Seinsformen
oder für Sinntransparenz Erklärungskompetenz und Moralansprüche behaupten. So ist
der Mythos stets auch wegen seiner Komplementärfunktion zum Diskurs des Logos, des
vernünftiges Wortes, und nicht etwa allein schon wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Überlegenheit seiner Bilder und Argumente im Gebrauch. Weil das, was Menschen beispielsweise für das Böse halten, rational kaum als Teil unserer Wesenheit erklärt
werden kann, erklärt uns der Mythos vom Satan die Entstehung des Bösen in der Welt
und hilft uns religiöse Werte und moralische Normen für den ethischen und sozialen
Umgang damit – etwa die Abwehr und Bestrafung des Bösen – zu entwickeln.
Auf diese Weise schlägt der Mythos den Bogen vom Einst zum Jetzt und verweist
auf das Künftige, gründet also im Immer. Im Mythos wird das Dazumal, von dem berichtet und erzählt wird, im Derzeitigen erfahren. Deshalb ist der Mythos nicht nur archaische Vergangenheit, sondern auch beständige Gegenwart. Natürlich hängt vom Grade
der Aufklärung und vom Stand des Wissens ab, in welcher Weise Gegenwart den Mythos
erlebt und vergegenwärtigt. Wo rationale Geschichtsauffassung und empirische Naturkenntnisse Mysterien und Magie ersetzt haben, verliert der Mythos seine Überzeugungs-
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kraft. Wo aber Fragen nach Herkunft und Ziel unserer Welt, nach Geburt und Tod zu
immer neuen Rätseln führen, behalten Mythen nach wie vor ihre Funktion für die Weltund Selbstauslegung des Menschen. Und selbst wenn im Alltag Banalitäten für außergewöhnlich, für mysteriös oder wenigstens für ungewöhnlich gehalten werden, bietet der
Mythosbegriff wenigstens die Möglichkeit, das scheinbar in sich selbst Unergründliche
faßbar und befreiflich zu machen: sei’s als Mythos des »Wunders von Bern«, das 1954
Deutschland zum Fußballweltmeister machte, sei’s als Mythos der legendären Blue Jeans
als einer Ikone amerikanischer Lebenskultur mit globalem Modeerfolg, sei’s als Mythos
von Madonna als einer Kultfigur und eines Sexidols mit sagenhaftem Erfolg.
Der Mensch als einziges uns bekanntes Wesen, das über sich selbst nachdenken kann,
nutzt diese Fähigkeit manchmal auf wunderbare Weise und denkt sich Geschichten und
Gestalten aus, um mit deren Hilfe über sich selbst etwas zu erfahren: woher er kommt,
wohin er geht. In einem vorhellenischen Schöpfungsmythos paart sich Eurynome, die
dem Chaos entsteigt, mit dem Nordwind Boreas, der die Gestalt der Schlange angenommen hat. Eurynome legt das Weltei, dem alles entsprungen ist, was unsere Erde trägt. Und
schon bei dieser Weltschöpfung sind auch jene Wesen entstanden, die unsere Welt seither
mit uns zusammen bevölkern. Geschöpfe, die keine erdgeschichtliche Evolution hervorgebracht hat, sondern die menschliche Einbildungskraft. Dämonen, Monster, Fabelwesen: chtonische Wesen, die mit dem Diesseits verhaftet sind; uranische Wesen, die himmlische Sphären bewohnen und von dort aus irdische Kreise ziehen. Geschöpfe, die nie aussterben und die durch immer andere und neue Spezien bereichert werden oder auch Zuwachs und Nachwuchs erhalten. Über Generationen hinweg haben Gesellschaften und
Kulturen mit ihnen gelebt, sie mit symbolhaften Bedeutungen versehen. Freilich, im Vergleich zur unendlichen Artenvielfalt der Natur nimmt sich die phantastische Zoologie
und Ethnologie in bezug auf die Mannigfaltigkeit ihrer imaginären Geschöpfe eher bescheiden aus. Da Phantasie und Imagination immer nur aus der empirischen Realität und
der menschlicher Vorstellungskraft, einem begrenzten Reservoir, schöpfen können, wiederholen sich im Grunde stereotyp relativ wenig Variationstypen: als Puzzle aus menschlichen und tierischen Körperteilen, als übersteigerte Formen und Prinzipien bekannter
Fehlbildungen, als diffuse wesenhafte Verkörperungen schematisierbarer Ängste, als Repräsentanten furchteinflößender, geheimnisvoll wirkender Orte und deren Merkmale.
Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe im Mittelalter
»Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers.« Diese für das Mittelalter charakteristische Auffassung vertritt in Umberto Ecos postmodernem Roman Der Name
der Rose (1980) Benediktinerabt Abbo gegenüber seinem franziskanischen Besucher William von Baskerville. Eco versetzt uns mit der Handlung ins Mittelalter. Er thematisiert
dessen Vorliebe für Fabulöses und demonstriert damit gleichzeitg auch dessen immer
noch fortwährende, nie nachlassende Anziehungskraft imaginierter Welten auch auf die
Neugier unserer Gegenwart.
Gegen das stattliche Aufgebot phantastischer Wesen auf den Rändern bebilderter
Manuskriptseiten in Codices oder auf Mauern und Mobiliar von Kathedralen und Klö-
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Abb. 1
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stern hat Bernhard von Clairvaux in seiner Apologia ad Guillelmum Abbatem von 1125
heftig protestiert. Unflätige Affen und monströse Kentauren würden sich in romanischen
Klöstern breitmachen, und er warnte vor der Macht dieser Bilder, die Mönche zu verwirren und von ihrer Frömmigkeit abzubringen. Aber weder die Einwände Bernhards noch
von irgendjemand anders konnten wenig später die Vermehrung der unzähligen hypbriden Monster (Abb. 1) auf den sogenannten Marginalien gotischer Kirchen (i.e. Fassadenreliefs, Fensterbögen, Wasserspeier, Teile des Chorgestühls, Kragsteine, Dachabschlüsse
oder anderes architektonisches Dekor) und den Seiten gotischer Handschriften von Bestiarien, Fabeln, Sprichwort- und Rätselsammlungen oder Ritterepen verhüten.
Mittelalterliches Bewußtsein wollte wundersame Phantasiegeschöpfe nicht von realen Naturgeschöpfen unterscheiden. Zum einen, weil die Bibel den Unterschied auch
nicht macht; zum anderen, weil nach allgemeiner Anschauung vom Begriff auch auf das
Wesen der Sache geschlossen wird: Worte sind der Dinge Zeichen. Deshalb bezeichnet
»Drache« unbezweifelbar einen existierenden Drachen oder »Kynokephalos« eben einen
wirklichen Hundsköpfigen. Natürlich hat man auch im Mittelalter nach dem Wahrheitsgehalt und dem Wahrscheinlichkeitsgrad von Naturberichten und Tierkunden gefragt,
aber man hat eben auch grundsätzlich in Gottes Schöpfung und als Gottes Geschöpf
nichts für unmöglich gehalten. Deshalb gehören auch Fabelwesen in Gottes Heilsplan.
Von diesem Glauben legen die zahllosen bebilderten Chroniken und Bestiarien mit ihren
absonderlichen Geschöpfen und den exakten Beschreibungen der phantastischen Zoologie ein oft prachtvolles Zeugnis ab. Bestiaren sind gleichsam die schöpferische Fortsetzung der biblischen Genesis durch den Menschen, da es in 1. Mos 2.19, 20 heißt:
»Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter
dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der
Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh
und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen.«
Hinter dieser Darstellung steckt eine Grunderkenntnis naturwissenschaftlichen Denkens. Wie sich das Werden in Entwicklungsperioden vollzogen hat, so hat sich analog das
Lebendige in Arten ausgebildet. Es wird nicht von der Erschaffung beliebiger oder bestimmter einzelner Tiere gesprochen, sondern von der Erschaffung der Tierarten. Die
Grunderkenntnis der in Arten oder Gattungen gegliederten Fauna liegt also schon der biblischen Schöpfungsdarstellung zugrunde. Es ist dem Menschen aufgetragen, das komplexe Ganze der Natur durch Einteilen und Auseinanderhalten zu erfassen, indem die
einzelnen Tiere einen Namen erhalten sollen. Das Schöpfungshandeln Gottes hat eine
Welt von Lebewesen hervorgebracht, die der Mensch nicht zu erfinden, sondern nur zu
finden und zu benennen braucht, damit es sie gibt. Und just deshalb gibt es selbstverständlich auch die phantastischen Lebewesen.
Diese sind immer auch Objekte analogischer Deutungen. Daß beispielsweise wiederkäuende Tiere für rein gehalten wurden, soll die Pflicht, stets Gott zu gedenken, einschärfen,
und Tiere mit gespaltenen Klauen versinnbildlichen die Dichotomie von Recht und Unrecht. So ergibt sich eine unendliche Vielfalt der Ding- und Sinnkombinationen. Um Laster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert und konstruiert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen (Abb. 2). Gerhoh von Reichersberg, Propst des Innviertler Augustiner Chorherrenstifts, läßt in seinem Psalmenkommentar die Stelle »facies peccatorum meorum« durch ein Wesen illu-
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strieren, das sich aus dämonischen Geschöpfen und negativen Symboltieren zusammensetzt: das Wesen hat ein Menschengesicht, Kuhhörner, Pferdehals,
Schweinerücken, Bärenfüße, zwei Schwänze. Dieses Wesen hat die didaktische und
mnemotechnische Funktion, die schrecklichen Laster zu verdeutlichen und stets erinnerlich zu halten. Derartiges Analogiedenken konstruiert bis in die Frühe Neuzeit hinein solche Kreaturen. Berühmt ist
jener Einblattdruck, der um 1500 auftaucht: Er zeigt ein Monster mit kahlem
Kopf und einem nach oben gekrümmten
Abb. 2
Horn. Die Ohren sind flammengestaltig
und statt der Arme hat das Wesen zwei gefiederte Flügel. Über einer männlichen und einer weiblichen Brust sind zwei griechische Kreuze und darunter zwei Flammenzungen,
die nach unten auf kreisförmige Punkte zeigen. Das Geschlecht besteht aus Vulva und
Phallus. Das rechte Bein hat am Knie ein Auge, das linke ist geschuppt und hat einen
Krallenfuß mit Sporn. Es ist eine aus Florenz stammende Allegorie des Bösen und des Lasters, das die schamlose Nacktheit, die diabolische Sündhaftigkeit, die androgyne Wollust darstellt. Prodigienliteratur, Chroniken, Exemplasammlungen, Predigten schildern
in Wort und Bild solche phantastischen und monströsen Allegoresen des schrecklich
Wunderbaren, in dem die Alpträume eines durch den Teufelsglauben und apokalyptischen Endzeiterwartungen erschütterten Zeit Gestalt annahmen.
Wie wichtig dämonisch-monströse Wesen für die Realität allegorischer Deutungen
waren, zeigt besonders die satansartig geflügte figura mundi (Frau Welt) mit Hahnklaue
und drachenköpfigem Schweif als fabulöse Verkörperung der Welt und Gegengestalt zur
religio. Die Figur und ihre Attribute repräsentieren symbolisch die sieben Todsünden als
die verführerischen Laster der Welt, vor deren verderblichen Wirkungen die monströsen
Scheußlichkeiten warnen.
Das Buch ist im Mittelalter das Medium, durch das die Wirklichkeit und die Natur wahrgenommen und gewertet werden. Die empirische Umwelt war kaum der Maßstab für die
Darstellung der Welt in den Büchern. Eher wurde umgekehrt die Welt nach den Büchern
wahrgenommen und beurteilt. Fiktion und Realität waren keine Kategorien für die Wirklichkeitserfahrung. Deshalb galt überliefertes Naturverständnis wie das des Physiologus
und die Weltauffassungen von Autoritäten wie Thomas Cantimpratensis, Jacob van
Maerlant oder Konrad von Megenburg als vielleicht noch wichtiger und zuverlässiger als
die unmittelbare Wirklichkeitsbeobachtung des einzelnen. Infolgedessen wurde zwischen imaginären und natürlichen Geschöpfen kein deutlicher Unterschied gemacht.
Wahr und real waren beide, und die Differenzierung zwischen fictum und factum oder
zwischen erfundener Dichtung und Tatsachenberichten war bis in die Frühe Neuzeit
kein Dilemma, wie die Beispiele der Nachrichtensammlung des Pfarrers Johann Jakob
Wick aus den Jahren 1560 bis 1587 etwa lehren.
Das Mittelalter war die Zeit, in der die erdachten Geschöpfe immer Saison hatten.
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Von den skurrilen, dekorativen Figuren der keltischen Mythologie in den Illuminationen
irischer Evangeliare bis zur Zeit des Teufelsglaubens und der Hexenverfolgungen mit ihren Nachwirkungen bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Dämonen, Monster, Fabelwesen
waren nicht allein exotische Geschöpfe fremder Lebenswelten, sondern sie waren im Lebensraum des mittelalterlichen Menschen allgegenwärtig: in Religion und Recht, Medizin
und Astronomie, Kunst und Literatur. Durch die Übertragung dämonologischer Vorstellungen auf gewisse Arten wie Schafe und Ziegen oder Stiere und Vögel kam es zur rituellen Opferung dieser Tiere oder auch zu kuriosen Tierprozessen, in denen schon mal
ein Esel oder eine Kröte, ein Krebs oder ein Hahn wegen vermeintlicher zauberischer Fähigkeiten und diabolischer Vergehen angeklagt und anschließend hingerichtet wurden.
Dämonen
Begriff und Bedeutung
Das griechische »δαιµον« (daimon) bezeichnet einen Verteiler oder Zuteiler des Schicksals. Im 6. Jahrhundert v. Chr. verstand Thales von Milet unter dem Begriff einen der die
Welt erfüllenden Geister, und Sokrates meinte damit das Gewissen. Die Neuplatoniker
hatten Naturgeister im Sinn, wenn die Rede auf Dämonen kam, und Augustin gab hilfreichen ebenso wie übelwollenden Geistern diesen Namen. In der Bibel steht der Ausdruck im Singular synonym für den unreinen oder bösen Geist sowie im Plural für die Engel des Teufels. Das sind nach animistischer Vorstellung körperlose Wesen, die an wüsten
und unreinen Orten hausen, von wo aus sie von Menschen Besitz ergreifen und ihnen
Schaden zufügen. Ulfilas übersetzte das griechische Wort mit »unhultho«, und Notker
Teutonicus gab in seiner Lukasübersetzung den Begriff mit »holdo« wieder, was aber dem
mittelhochdeutschen »unholt« und dem neuhochdeutschen »Unhold« entspricht. Diese
Bedeutung im Sinne von »jemand nicht hold sein«, »feindlich« oder »böse« wurde mit dämonologischer Bedeutung sinngleich für mächtige, feindselige, schädigende Dämonen
gebraucht; in der Christianisierungsphase vor allem für die heidnischen Gottheiten, antike und germanische Götter, die auf diese Weise als furchterregende und schadenstiftende
Dämonen diabolisiert wurden. Deshalb wird der Begriff heute noch weitgehend negativ
verwendet. Der Begriff überschneidet sich mit anderen Ausdrücken zur Kennzeichnung
imaginärer Wesen wie Monster und Fabelwesen, Gespenst und Geist, Unhold und Ungeheuer oder Bestie und Scheusal.
Wesen, Erscheinungsweise und Funktion
In der Antike waren Dämonen – in den Epen Homers etwa – ursprünglich Götter mit
menschlichen Charakterzügen, die in nachhomerischer Zeit vor allem mit den chthonischen Gottheiten wie Hades, Demeter, Persephone, Moira oder Tyche identifiziert wurden. Hesiod beschreibt dann Dämonen als Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen, die in gutem wie in bösem Sinne auf menschliche Geschicke Einfluß nehmen
konnten. Auch der germanische Mythos kennt mit Loki einen Gott, dessen Unstetigkeit,
Boshaftigkeit, Tücke und Zauberkünste ihm zu einem gelegentlich geradezu dämonischen Charakter gereichen. Andererseits sind in der Sage sowohl historisch bekannte
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Personen wie Dietrich von Bern als auch anonyme Gestalten wie der Rattenfänger von
Hameln dämonisiert. Die Legende wiederum kennt den umgekehrten Vorgang der Entdämonisierung wie im Falle des Christopherus, der von einem hundsköpfigen Riesen
zum christlichen Heiligen, der den Märtyrertod erleidet, umgedeutet wird.
Dämonen sind unsichtbar oder aber können die körperliche Gestalt natürlicher wie
auch phantastischer Wesen annehmen. Sie können aber auch als Geister in übernatürlicher Erscheinung auftreten. Sie verführen und peinigen den Menschen; selten helfen sie
ihm auch. Der Kampf gegen die Dämonen ist eine Hauptaufgabe der Heiligen. Hexen
und Magier schließen häufig einen Pakt mit einzelnen Menschen oder verkehren sogar
geschlechtlich mit ihnen. Der Incubus, der »Daraufliegende«, ist der männliche Dämon,
der mit Hexen schläft. Da er selbst zeugungsunfähig ist, kann er nur solchen Samen weitergeben, den er vorher im Geschlechtsverkehr in weiblicher Gestalt als Succubus, »Darunterliegende«, in sich aufgenommen hat.
Es gibt jeweils nach Kulturkreisen, Ethnien oder Landschaften typische Dämonen.
Sie treten dort hordenweise in Kollektiven wie dem Wilden Heer, der Wilden Jagd, dem
Totenheer, den Venedigern, als Weiße Frauen, Wasserfrauen und Waldleute auf. Die
Oberhäupter solcher Scharen sind auch als Einzeldämonen bekannt, wie beispielsweise
die Precht und Herodias als Anführerinnen dämonischer Haufen, wie Odin bzw. Wotan
als Anführer des Wilden Heeres, wie Dietrich von Bern in der Rolle des Wilden Jägers als
Chef der Wilden Jagd. Familienweise treten Zwerge bzw. Wichte, Heinzelmännchen,
Riesen, Alben, Trolle, Feen, Nymphen, Nixen, Elfen und Hexen auf. Solitäre Gestalten
aus all diesen Gruppen mit einer eigenen Erzähltradition als Kristallisationsfigur sind u.a.
die Riesen Haymon oder Thürse, die Waldgeister Rübezahl, Hehmann, Meister Epp, Salvan oder Schratt, die Berggeister Gangerl oder Ork, der Brunnengeist Frau Holle, der
»Ewige Jude« Ahasver, der untote Vampir Dracula, der künstliche Riese Golem, die Hexen Diana oder Margot, die heidnischen Götzen Appollo oder Trevigant, der auch als
Drache, Greif, Pudel, Mönch oder Feuerkugel herumgeisternde Teufelsdämon Mephistopheles, der Zauberer Krabbat, die Schreckfigur Krampas, der Schiffskobold Klabautermann, die Wasserfrauen Melusine, Undine oder die Raue Else, die Wassergeister Elbst
und Fossegrimm, die Kobolde Butzenmann, Entenwick, Ekke Nekkepenn, Kasermandl,
Puck oder Poppele, die Zwerge Laurin, Fenixmännlein, Goldemar oder Rumpelstilzchen,
der Nachtgeist Mahr in Gestalt eines Haares oder Strohhalms, die Spukgestalt Feuerputz,
der Kinderschreck Langtüttin. Besonders im Mittelmeerraum sind fabulöse Mischwesen
wie Hundsköpfiger, Kentauros, Sirene, Pan oder Sphinx dämonisiert worden, während in
nördlichen Kulturkreisen Dämonen in Gestalt phantastischer Tiere wie Drache oder Basilisk und vor allem in anthropomorphisierter Gestalt vorkommen. Da Dämonen immer
auch menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, Eigenschaften und Verhaltensweisen
verkörpern, sind sie auch nach dem Bild und den Vorstellungen des Menschen geschaffen,
gerade dort, wo sie sich von ihm durch einzelne tierische Körperteile wie Fischschwanz,
Entenfüße oder Pferdeleib unterscheiden. Als Hauchwesen können Geister in menschlicher, tierischer oder phantastischer Statur sichtbar werden. In Geistergestalt können Dämonen gelegentlich auch als Beschützer und Begleiter des Menschen auftreten, aber vor
allem als Polter- und Plagegeister ihr Unwesen treiben, wenn sie in einen Menschen fahren und nur durch Abwehrriten wie dem Exorzismus wieder vertrieben werden können.
Die Macht der Geister ist oft auf einen bestimmten Ort begrenzt. In Gebäuden, auf
Kreuzwegen, an Hinrichtungsstätten spuken zur Geisterstunde die Schreckgespenster,
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die als Totengeister, Gerippe, Ungeheuer, Kobolde, wilde Tiere oder in furchterregender,
monströster Menschengestalt auftreten. Anthropomorphisches Aussehen haben oft
auch die Elementargeister in Wäldern und Bergen, an Gewässern, auf Wiesen, wo sie Naturkräfte und Naturerscheinungen repräsentieren. Im allgemeinen genießen Dämonen
keine kultische Verehrung, aber ihnen werden als Ausdruck eines Abhängigkeitsverhältnisses gelegentlich Opfer zur Begütigung oder auch als Entgelt für erbrachte bzw. erwartete Hilfeleistungen dargebracht. Auch zu Verträgen zwischen Dämon und Mensch
kommt es mitunter. Das wohl bekannteste literarische Beispiel dafür ist der Teufelspakt
zwischen Faust und Mephistopheles, mit dem der Schwarzkünstler und Negromant aus
Knittlingen seine Seele aufs Spiel setzt.
Als mythologische Gestalten sind Dämonen ein Instrument zur Erklärung von Welt.
Denn was der Mensch von seiner Umwelt wahrnimmt und nicht rational versteht, kann
für ihn durch das Wirken von Dämonen verständlich werden. Aitiolische Sagen erzählen
von Erscheinungen wie der Wilden Jagd und erklären damit metereologische Vorgänge
wie Unwetter, Nebel, Regenbogen; sie schreiben Naturkatastrophen dem gewalttätigen
Unmut oder dem Leichtsinn von Riesen zu, bringen bizarre Felsen und Steine mit verzauberten Menschen in Zusammenhang. Als Projektionen von Träumen oder Halluzinationen, als Konfigurationen von Ängsten, Furcht oder schlechtem Gewissen, als Verkörperung von Wunschdenken und des Unbewußten, als gestaltgewordene sexuelle Obsessionen sind Dämonen eine individuelle, höchst subjektive Erfahrung und eine objektive
psychische Realität, ein Teil der Persönlichkeit des Menschen. Schon die Stoiker hatten
Träume und Krankheiten, aber auch Witterungserscheinungen durch die Existenz von
Dämonen erklärt. Heute werden vor allem Märchen gerne als Zeugen psychologischer
Erklärungs- und auch Bewältigungsansätze für Konfliktlösungen, Behauptungsversuche
und Entwicklungsphasen gedeutet. Als Glaubensgestalten konkretisieren Dämonen religiöse Vorstellungen, oft abhängig von den ethischen Werten und den sozialen Normen
einer Gesellschaft oder einer Gruppe. Die Ambivalenz gerade ältester Vorstellungen des
Volksglaubens und seiner Brauchtumstraditionen zeigt dabei besonders der Umgang mit
Totengeistern als verehrungswürdige Ahnen oder als schreckliche Wiedergänger.
Christliche Dämonologie
Als personifizierte Ursachen von Vorgängen, die erst auf der Stufe empirisch-wissenschaftlicher Naturbeobachtung erklärt werden können, finden wir Dämonen, die durch
Zeremonien oder Abbildungen beschworen und magisch gebannt werden können, in der
Frühstufe aller Kulturen, wo der Animismus an eine von Dämonen beseelte Natur
glaubt. Weltreligionen wie das Christentum greifen diese Dämonenvorstellungen auf,
konkretisieren sie immer wieder in neuen Gestalten und Kreaturen und verändern auch
deren faktische, symbolische oder allegorische Bedeutung. Der Glaube an Dämonen war
im Mittelalter ganz selbstverständlich. Die christliche Dämonologie sah und sieht in den
Dämonen nicht die Verkörperung eines bösen Urprinzips, sondern gefallene Engel, die
in ihrem sündigen Hochmut Gott zu gleichen nicht wesensmäßig böse sind, sondern
durch freien Willen schuldig wurden. Ihr oberster Repräsentant Luzifer wurde nach außerbiblischer Überlieferung durch den Erzengel Michael in die Hölle gestürzt. Origines
sah im Sturz der Engel eine übergeschichtliche himmlische Vorsehung, die die Schöpfungs- und Heilsgeschichte bestimmt. Im Engelsturz verbreite sich das Dämonische im
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Abb. 3
Luftraum über der Welt und über der Unterwelt. Als Beherrscher der Lüfte sehen Augustin in De divinatione daemonum (um 410/40) oder Hrabanus Maurus in De magicis artibus (um 850) die Dämonen, denen sie eine ätherische, alles Körperliche durchdringende
Wesenhaftigkeit sowie teuflischen Zauber und Magie zuschreiben.
Analog zur himmlischen Hierarchie nahm man auch eine Teufelshierarchie an. An
der Spitze steht der Höllenfürst mit mancherlei Namen wie Beelzebub, Belial, Gottseibeiuns, Mephistopheles, Luzifer, Satan oder Teufel. Er tritt auf in verschiedenen Erscheinungsweisen wie der des Mischwesens als Gehörnter oder Bocksfüßiger, in Tiergestalt als
Hahn oder Schlange und vor allem als Ungeziefer, in Gestalt von Fabelwesen als Drache.
Sein Vetter Antichrist gehört zu den dämonischen Gestalten der mittelalterlichen Eschatologie. Geboren vor dem Weltuntergang von einer jüdischen Hure zu Babylon ähnelt
sein Lebensweg dem Christi. Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich den Zugang
zum Himmel zu erzwingen, wurde er in die Abgründe des Erdinneren verbannt.
Die christliche Theologie handhabte von Anfang an die Dämonologie in der Auseinandersetzung mit den heidnischen Göttern, die von Tertullian, Ambrosius oder Augustin
zu Dämonen erklärt wurden, an deren Existenz es keinen Zweifel geben konnte und die
den Menschen Angst und Schrecken einjagten (Abb. 3).
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Werner Wunderlich
Der Theologe Maximus Confessor nannte im 7. Jahrhundert als den wichtigsten
Grund, warum Gott den Dämonen erlaube uns anzugreifen, daß wir so über die Versuchung das Laster verabscheuen lernen und die innere Freiheit erlangen, niemals unsere
Schwächen zu vergessen und an Gott und seine Erlösungskraft fest zu glauben. In solcher
Tradition rationalisiert die kirchliche Teufelslehre, die offizielle Satanologie, bis heute den
Mythos und differenziert zwischen dem prinzipiell Bösen und dem personifizierten Bösen. Sie überträgt die Idee der Theodizee, das im freien Willen gründende Erz- und Erbübel, mutatis mutandis auf die bis zum jüngsten Tag allgegenwärtigen Dämonen, die sich
in stetem apokalyptischen Kampf mit den Engeln um die Seele des Menschen befinden.
Dämonen im Mittelalter
Gelehrte Schriften, Kunst und Literatur vermittelten im Mittelalter dämonologische
Vorstellungen. Das 4. Laterankonzil von 1215 formulierte lakonisch: »Diabolus enim et
alii daemones a Deo quidem natura creati sunt boni, sed ipsi per se facti sunt mali.« (Denn
der Teufel und die anderen Dämonen wurden von Gott der Natur nach als gut erschaffen,
doch wurden sie durch sich selbst böse.) Unter Berufung auf Augustins De civitate Dei
(413 – 26) nannte Thomas von Aquin in der Summa Theologica (um 1267/73) die Dämonen einen »genus simulans deos et animas defunctorum«, eine Art, die die Gestalt von
Göttern und die Geister Verstorbener annimmt. Im Dialogus Miraculorum (1219 – 23) des
Caesarius von Heisterbach, in den Erzählwerken von Vincent de Beauvais, Stefan de
Bellevilla oder in den Legenda aurea (um 1260/67?) des Jacobus a Voragine tummeln sich
Dämonen in teuflischer und tierischer Gestalt, als Soldaten, Bauern und immer wieder als
lüsterne Verführerinnen. Oft ist ihr Auftreten von Lärm und Schwefelgestank begleitet.
Es sind Exempla, in denen es um die Auseinandersetzung des Menschen mit Dämonen
und die Überwindung dämonischer Mächte geht. Seit dem 15. Jahrhundert entstand eine
reiche Literatur, die sich wie die Chronologia mystica (1515) des Johannes Trithemius
oder wie die Occulta philosophia (1531) des Agrippa von Nettesheim mit der Beschwörung und Bannung der magia daemonica sowie mit Aussehen und Wirken von Dämonen
befaßte und – auch unter dem Einfluß kabbalistischen Gedankenguts – in Schriften wie
dem berüchtigten Malleus maleficarum, dem Hexenhammer (1487), ein diagnostisches
System zur Identifizierung von Hexen und Schwarzen Magiern entwarf. Die Einteilung
von Geistern nach den vier Elementen versprach dabei eine Pseudo-Systematik, denn ihre
Logik verdankte sich der spekulativen Naturphilosophie beispielsweise eines Theophrastus Paracelsus. Dessen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus (1556) beschrieb Wesen, die als Najaden, Undinen oder in der Figur der Lorelei durch die naturromantische Dichtung des 19. Jahrhunderts dann wieder neu belebt wurden. Da diese
weiblichen Dämonen keine Seele haben, sehnen sie sich nach der Verbindung mit Menschen, um an deren Transzendenz teilzuhaben. Schon im Liber quaestionum (1508) hatte
Trithemius doziert, daß Dämonen zumeist in weiblicher Gestalt erschienen, weshalb die
sexuelle Begierde bei ihnen besonders ausgeprägt sei. Freilich, eindringen in die weiblichen Körper können die sexistischen Dämonen am leichtesten mit männlicher Unterstützung bei der Kopulation.
Die mittelalterliche Ikonographie kennt Dämonen vor allem in der Kirchenplastik:
zum einen in der Gestalt phantastischer zoomorpher Mischwesen; zum anderen als häufig geflügelte, schwarze Teufel. Erstere finden sich zu Hauf an den Kapitellen der West-
Dämonen, Monster, Fabelwesen
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portale, an den sogenannten Bestienpfeilern, sowie an Taufsteinen von Kirchen. Als Feinde der Heiligen besiedelten die Dämonen den Westen, von wo aus sie die Kirchen gewissermassen belagerten und bestürmten, wo sie mit magischen Zeichen gebannt und durch
den Gegenangriff der Engel unter Führung Michaels geschlagen wurden. Mit der Gotik
verschwanden die Dämonen weitgehend aus den Kirchen und fristeten als Wasserspeier
mit teuflischen Fratzen ihr Dasein unter den Dächern, um so den ausfahrenden Dämon
darzustellen. Geflügelte Teufel gehören als fester Personalbestand zu den malerischen
Darstellungen zahlreicher Fresken, Altäre, Buchillustrationen, Gemälde, Holzschnitte
von den Austreibungen Besessener, von den Versuchungen der Heiligen, von Szenarien
der Weltgerichte und Höllendarstellungen. Hieronymus Bosch und seine Nachfolger
entwickelten als Gegenbild zur ikonographischen Heiligenwelt ein regelrechtes Genre
des Dämonischen.
Monster
Begriff und Bedeutung
Abb. 4
Aus dem lateinischen »monstrum« für
Wahrzeichen – bedeutungsähnliche Begriffe sind »miraculum« (Wunderding),
»portentum« (Vorzeichen), »ostentum« (Omen) oder »prodigium« (Vorbedeutung) – ist das im Singular und
Plural verwendete Wort »Monster« abgeleitet. Wir haben uns für diese eingebürgerte neudeutsche Form, die auch
im Englischen gebräuchlich ist, entschieden. Schon in der Antike verstand
die Medizin unter dem Begriff »monstra« Menschen und Tiere mit angeborenen Fehlbildungen, die sogenannten
Mißgeburten, die oft gleich nach der
Geburt getötet wurden. Reisebeschreibungen und Naturschilderungen versetzen ganze Völkerschaften von Monstern zumeist in exotische Länder, weshalb ihre wirkliche Existenz kaum
nachgeprüft werden konnte. Weil angeborene Fehlbildungen oft den Nimbus
von Wunderbildungen, »terata«, besaßen, wurde daraus der Begriff Teratologie für die medizinische Lehre von den
angeborenen Mißbildungen. Der dreiköpfige Höllenhund, der den Hades
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Werner Wunderlich
Abb. 5
bewacht, Kerberos, wird auch als ein Teras bezeichnet, und Platon nennt ein wunderliches, abnormes Wesen Teratolos. Widernatürliche, normabweichende Variationen, Anomalien und Deformationen sind also die Merkmale von tierischen und menschlichen
Monstern von Mißgeburten, Zwittern, Riesen, Zwergen, Doppelbildungen, Vielbrüstigen, Wesen mit über- und unterzähligen oder zusammengewachsenen Extremitäten,
Mischwesen aus verschiedenen Tieren oder aus Mensch und Tier (Abb. 4).
Daß derartige Wesen als reale oder fiktive Erscheinungen unnatürlich, unmenschlich
und aufgrund ihres monströsen Aussehens nicht nur fremdartig, sondern auch unheimlich, wild und fürchterlich wirkten, liegt auf der Hand. Deshalb steht das deutsche Wort
»Ungeheuer« für das, was Schutz, Sicherheit, Vertrautheit vermissen läßt, als Synonym
Dämonen, Monster, Fabelwesen
25
für Monster, das aus der Sicht des Schutzlosen und Schwachen widerwärtig, gräßlich, entsetzlich, grauenvoll und furchterregend ist (Abb. 5). Ein Geschöpf, das auf solche Weise
Abscheu erregt, ist deshalb auch ein schreckeneinjagendes Scheusal; ein Begriff, der von
»Scheuche« im Sinne von Schreckbild abgeleitet ist.
Wesen, Erscheinungsweise und Funktion
Solche Sichtweise identifiziert dann natürlich auch Eigenschaften und Verhaltensweisen
von Monstern in diesem negativen Sinn als feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm,
gierig, schändlich und abscheulich. Monster verschlingen gerne fremde Kinder, schieben
ihre eigenen unförmigen, häßlichen als Wechselbälger den Wöchnerinnen unter, sodaß
eine Familienplage daraus wird. Eine rühmliche Ausnahme unter den Monstern ist Bardewitt, der fünfköpfige wendische Gott des Friedens, des Handels und der fünf Sinne.
Die Dämonisierung der Monster warf auch praktische Fragen des Glaubensvollzugs auf.
Die Unterscheidung von beseelten und unbeseelten Monstern war für die Taufpraxis beispielsweise entscheidend. Nach Konrad von Megenberg (Buch der Natur, vor 1350) waren jene Monster seelenlos, die durch kosmische Einflüsse gezeugt und mit einem Viehhaupt geboren worden waren. Diese sollten nicht getauft werden. Auch für Petrus de
Abano (Conciliator differentiarum philosophorum medicorum, um 1310) war die Kopfform eines Lebewesens ausschlaggebend für die Einstufung als Mensch und damit für die
Taufe.
Entstehung und Verbreitung von natürlichen Monstern
Vergleichsweise nüchterne Theorien für die Entstehungen von Monstern waren in der
Antike verbreitet und gründeten auf medizinischen Beobachtungen und einleuchtenden
Folgerungen. Schläge oder Stöße auf den Leib der Schwangeren, die Enge des Uterus
oder Erkrankungen des Unterleibs wurden als Ursachen für Fehlbildungen gehalten. Daneben aber gab es auch magische Auffassungen wie jene, die Träume und Trugbilder einer
Schwangern für die ursächlichen Faktoren von Mißgeburten hält: der Anblick oder die
Vorstellung von etwas Abscheulichem, Widerwärtigem während der Schwangerschaft
könne teratogene Wirkung haben. Ein Aberglaube, der über viele Jahrhunderte lebendig
blieb und sich im mittelalterlichen Teufels- und Hexenwahn austobte. Allerdings kennt
auch unser Jahrhundert mit der imagologischen Erklärung von Leberflecken und Feuermalen noch derartige volkstümliche Ansichten. Aber Monster entstehen auch durch die
Einnahme verbotener und gefährlicher Mittel. Die Wiener Genesis (um 1060/80?) beispielsweise schreibt Pflanzen letztere Wirkung zu: Adam habe seine Töchter vergeblich
vor dem Verzehr embryotoxischer Kräuter gewarnt, weswegen die Monster in die Welt
gekommen seien.
Vielfältig sind die Ansichten über die Entstehung von Monstern durch oder nach
dem Zeugungsakt. Hildegard von Bingen war überzeugt, daß Monster die Frucht widernatürlicher Verbindungen seien. Sodomie, Geschlechtsverkehr mit Tieren und Sexualkontakte zu Teufeln und Dämonen galten im Mittelalter und gelten in manchen Aberglauben auch heute noch ganz allgemein als eine der möglichen Ursachen für die Entstehung monströser Geschöpfe. Abartiger Verkehr während der Menstruation sollte Mißbildungen beim Neugeborenen hervorrufen, und die Seitenlage beim Koitus sei für
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Werner Wunderlich
Klumpfuß und Schiefwuchs verantwortlich. Durch die Vereinigung mit Dämonen, Fabelwesen oder Tieren während einer bestimmten Planetenkonstellation sollten ebenfalls
diverse Monster wie Hermaphroditen, Albinos oder Kyklopen gezeugt werden. Zwergen- oder Riesenwuchs sei von einer zu geringen oder zu großen Spermamenge abhängig,
und Zwitter- wie Doppelbildung vermutete man als Folge einer Sameneinnistung in der
Scheitelkammer des siebenzelligen Uterus. Für Albertus Magnus waren solche Mißgeburten Störungen in der natürlichen Entwicklung der Individuen, womit er einer der wenigen Gelehrten war, der sich eher auf naturkundliche Beobachtungen denn dämonologische Spekulationen stützte. Indes, nach mittelalterlicher Vorstellung gehörten sie –
ebenso wie die Dämonen – zum erklärten Weltplan des Schöpfers.
Angesichts der medizinisch-rationalen Unzulänglichkeit solcher Erklärungen und
angesichts des erschreckenden Aussehen der Monster lag es nahe, daß reale Monster dämonisiert und daß phantastische Monster vor allem als Fabelwesen eigens zu diesem
Zwecke erfunden wurden. Das Vergnügen an Kuriosem und der Glaube an das Wunderbare verband sich mit dem Bedürfnis, in diesen Geschöpfen existentielle Ängste zu veranschaulichen. In bildlicher wie literarischer Darstellung dienten sie deshalb als Gruselwesen und Unholde. In mittelalterlichen Epen sind sie Widersacher von Helden, so wie
Kundrie von Parzival oder Ydrogant von Apollonius. Auch die Heraldik kannte abnorme
Wappentiere wie den doppelköpfigen Adler (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) oder den zweischwänzigen Löwen (Böhmen). Vor allem Bildzeugnisse und weniger
Textzeugen überliefern uns eine Vielzahl von Monstervorstellungen des Mittelalters und
der Frühen Neuzeit. Dabei bieten illustrierte Flugblätter wie die schon erwähnte Sammlung Wickiana (1560 – 87), Weltchroniken wie Hermann Vincents Liber chronicarum
(1495), polyhistorische Weltbeschreibungen wie Sebastian Münsters Cosmographey
(1544) und zahlreiche Reisebeschreibungen des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine Fülle von Anschauungsmaterial für die Sensationslust an Mirakulösem, Exotischem, Mysteriösem. Oft ist der Realitätsgrad nur sehr schwer zu bestimmen, wenn
Phantasmagorien wichtigste Anregerinnen für die Illustratoren sind. Da bestimmte Fehlbildungen etwa des Vorderkopfes nicht lebensfähig sind, dürften zyklopische oder rüsselköpfige Mißbildungen bei Erwachsenen ins Reich der Phantasie gehören oder nach
Hörensagen entstanden sein.
Im 16. Jahrhundert entstand – auch unter dem Einfluß anatomischer Studien wie
Andreas Vesalius’ berühmtem Werk De humani corporis fabrica (um 1550) – eine regelrechte Monsterliteratur. Jacob Rueffs Hebammenbuch De conceptu et generatione hominis (1554), Conrad Wolfhardts Wunderbuch Prodigiorum ac ostentorum chronicon
(1557) oder Ambroise Parés chirurgisches Werk Des monstres tant terrestres que marins
avec leurs portraits (1573), das im übrigen die Vererbung als ursächlichen Faktor annimmt, sind Beispiele illustrierter teratologischer Darstellungen. Diese enthalten neben
medizinischen Erklärungen auch dämonologisches und abergläubisches Gedankengut
und beeinflußten damit die Schulmeinung der Gelehrten bis weit ins 17. Jahrhundert
hinein. Bekanntes Bespiel dafür ist das Werk De monstris (1616) des Philosophen Licetus von Padua, der nach Obduktionsbefunden als Ursachen für die Terata göttliche (supranaturale), satanische (infranaturale) und physische Gründe nannte. Darstellungen
wie die des italienischen Arztes Ulisse Aldrovandus, Monstrum historia (1642), und des
Jesuiten Caspar Schott, Physica curiosa sive mirabilia naturae et artis (1662), setzten diese Tradition fort.
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Abb. 6
Kurz nach 1560 schuf vermutlich der Florentiner Bartolomeo Ammanati im Auftrag von
Vicino Orsini der Park von Bomarzo bei Viterbo als ein »Schauerarkadien«, in dem Architektur und Plastik als verzerrte Wahnvorstellungen und irreale Kuriositäten als künstliche Natur Gestalt und Form angenommen haben (Abb. 6). Die monströse Entstellung
der Natur durch überdimensionale Abnormalitäten und hypermanieristische Monumentalität erinnern an die zeichnerischen Monster von Leonardo da Vinci oder Michelangelo
und haben surrealistisch-visionären Künstler wie Max Ernst oder Dali immer wieder als
Inspiration gedient.
Seit den Bauernkriegen und der Reformation hatte sich aus den monströsen Darstellungen auch die Stilrichtung der Karikatur entwickelt, mit der die politischen und konfessionellen Protagonisten und Antagonisten durch groteske Körperverzerrungen oder
tierische Attribute monströse Gestalt annahmen, um derart als Scheusal verhöhnt werden zu können. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Papstesel auf weit verbreiteten Flugblättern zur Zeit Luthers und Melanchthons. Diese Zeichen- und Maltechnik, die wir seit
den Flugschriften des Vormärz vor allem auch von politische Karikaturen kennen und in
den surrealistischen Bildern beispielsweise von Max Ernst, Magritte oder Dali sowie in
den skurrilen, an Rabelais’ Gestalten erinnernden Figurenkombinationen aus Körperteilen, geometrischen Figuren oder Zeichenwerkzeugen des polnischen Graphikers Zygmunt Januszewski (Abb. 7 auf der folgenden Seite) entdecken können.
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Abb. 7
Werner Wunderlich
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Fabulöse Monster
Eine ganze Reihe von Fabelwesen haben als fiktive Geschöpfe monströse Merkmale, die
nach dem Vorbild von Mißbildungen ersonnen waren. Namentlich die Naturalis historia
(vor 79 n. Chr., deutsch 1543) von Plinius d. Ä. kennt eine Vielzahl solcher phantastischer Menschen und Tiere, die oft in Äthiopien oder Indien beheimatet sind: Acephalen
sind kopflose Menschen, Ambaren Vierfüßler ohne Ohren und Amphisbaena zweiköpfige Schlangen, Antipoden Menschen mit nach rückwärts gekehrten Füßen. Choromandaren sind behaarte Menschen, die nur brüllen können. Auf allen vieren laufen Artabatiten, und die mundlosen Astomen ernähren sich vom Duft. Außerdem erzählt Plinius von
Menschen ohne Nase, ohne Zunge, mit vier Augen, verwachsenen Mündern, riesiger Unterlippe und sechsfingrigen Händen, von Frauen mit doppelten Pupillen, vom Volk der
schleppbeinigen Himantopoden, vom Volk der Panotier mit überlangen Ohren, vom
Volk der Skiapoden mit riesenhafter, schattenspendender Fußsohle, von den skythischen
Hippopoden mit Pferdehufen (Abb. 8). Als Menschen mit vorstehenden Eckzähnen beschreibt Isiodor von Sevilla die Kynodoten, und die Epistola Premonis (10./11. Jahrhundert) berichtet von kahlköpfigen Frauen mit brustlangen Bärten. In den volkssprachlichen Literaturen kämpfen die Helden mit solchen Monstern in Gestalt von Riesen wie
dem Heiden Fierrabras, von Waldmenschen
oder von Ungeheuern wie dem gierigen und
schrecklich grausamen Grendel, dem Herrscher des Moores. Die Erzählliteratur der
Frühen Neuzeit kennt sie vor allem im Zusammenhang mit wundersamen Begebenheiten oder auch als Mißgeburten wie Berta
mit den großen Füßen, die Tochter von
Flore und Blancheflur.
Fabelwesen
Begriff und Bedeutung
Der Begriff »fabula« bezeichnet in Antike
und Mittelalter eine erfundene Geschichte,
erzählt im epischen Präteritum, und meint
damit auch abwertend die unwahre Erzählung. Für das Mittelalter sind die entwicklungsgeschichtliche Wirklichkeit sowie die
naturwissenschaftliche Richtigkeit der fabula bedeutungslos, weil sich Wahrheit allein durch eine Entsprechung zum Heilsgeschehen erweist. Es ist unwichtig, ob das
Einhorn real existiert, wenn es dank methodischer Bibelhermeneutik vom Physiologus
als typologische Verkörperung Christi ver-
Abb. 8
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Werner Wunderlich
Abb. 9
standen wird. Zum biblischen Typus »Herabkunft des Erlösers und Menschwerdung im
Schoß der Jungfrau« wird gleichsam als Antitypus in einer quasi-naturkundlichen Geschichte das Einhorn als typologische Inkarnation von Passion und Auferstehung Jesu
ersonnen. Die fabula stellt das Einhorn so dar, als ob es eine in der Natur vorgegebene
Eigenschaft durch sein Dasein nur auslege. So werden res naturales durch die bibelexegetische Methode der Typologie fiktiv erschaffen und mit Artmerkmalen ausgestattet, die
den tatsächlichen res naturales gleichen und von diesen faktisch nicht mehr unterschieden werden. Deshalb auch kennt das Mittelalter auch nicht den Terminus »creatura fabulae«. Das Kompositum »Fabelwesen« fügt ja Begriffe aus den uns heute nur konträr vorkommenden Bedeutungsbereichen des Erfundenen und der Natur zusammen, um Geschöpfe als imaginäre, als nicht-existente Kreaturen zu kennzeichnen. Dieses Verständnis aber wurde erst in der Aufklärung auf den Begriff Fabelwesen gebracht, und zwar weil
fiktive Naturerscheinungen empirisch-rational von realen zu unterscheiden begonnen
worden waren. Aus dem von Carl von Linné entwickelten Ordnungssystem von Fauna
und Flora unseres Planeten waren die Fabelwesen verbannt. Im aufgeklärten Verständnis
sind deshalb Fabelwesen real nicht existierende, aber in Antike und Mittelalter für real gehaltene mythische Geschöpfe (Abb. 9), die von den erdichteten und unwahren fabula
ausgedacht worden waren und die in Literatur und Kunst sowie in der Volksüberlieferung
ein Eigenleben zu führen begonnen hatten.
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Wirklichkeit und Wahrheit
Dennoch wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Fabelwesen wirklich existierten. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde eine heftige und kontroverse gelehrte Debatte geführt, ob es das Einhorn, den Greif oder den Phönix tatsächlich gegeben habe oder noch
gebe. Mit dem Aufkommen von Archäologie und Paläontologie gingen Wissenschaftler
der Frage nach, ob es in unserer Fauna nicht doch Lebewesen gegeben haben könnten,
die später fälschlich für Fabelwesen gehalten wurden oder an die die Fabelwesen erinnerten. Viele Drachenbilder ähneln tatsächlich den Rekonstruktionen von Sauriern und
Flugechsen. Indes, zweifelsfreie Beweise hat man bislang nicht gefunden. Bei der Ausgrabung des Ishtar-Tores in Babylon fand der Archäologe Robert Koldeway zu Beginn unseres Jahrhunderts unter den über 500 Tieren, die Nebukadnezar hatte abbilden lassen,
eines mit Schlangenkopf, Vordertatzen und Vogelkrallen an den Hinterläufen. Dieser sogenannte Sirrush wurde analog zu den anderen Tieren für existent gehalten und in Zentralafrika vermutet. Aber weder dort noch in Mesopotamien fanden Paläontologen passende Knochen als Beweis. So wenig wie bislang von Nessie, dem Ungeheuer aus dem
schottischen Loch Ness, eine einwandfreie Spur, die seine biologische Existenz beweisen
könnte, gefunden wurde.
Vielleicht gerade wegen dieser scheinbaren Ungewißheit hat beispielsweise auch das
Einhorn bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt. Nicht nur, daß es in Literatur,
Film und Kunst weiterlebt, sondern es gibt auch immer wieder Anlaß zu naturwissenschaftlichen Studien über seine Natur. Der Pariser Paläontologe Georges Cuvier bewies
1827, daß es Einhörner aus anatomischen Gründen nicht geben könnte. Paarhufer haben
ein zweiteiliges Stirnbein, und genau über der Teilung hätte das Horn wachsen müssen,
was aber statisch unmöglich ist. Das Horn des Rhinozeros im übigen ist kein echtes
Horn, weil es keinen Knochenkern hat. 1933 entfernte Franklin Dove an der University
of Maine einem neugeborenen Kalb die beiden Hornknospen und verpflanzte eine von
ihnen an die Nahtstelle beider Schädelhälften, so daß tatsächlich ein einziges, gerades
Horn wuchs. Daraufhin wollten Ethnologen nicht ausschließen, daß orientalische oder
afrikanische Völker diese simple Operationstechnik zu kultischen Zwecken angewandt
hatten.
Die wichtigsten Nachrichten über Fabelwesen entnehmen wir enzyklopädischen,
kosmographischen, geographischen, chronikalischen, naturkundlichen Werken, Reiseberichten und Weltkarten sowie Epen, Sagen und Märchen. Meist stellte man sich die Fabelwesen in exotischen Ländern voller Wunder und Magie wie Indien, Äthiopien, Libyen
oder Skythien vor. Wir haben uns in unserer Lebenswelt an die Fabelwesen als Sternzeichen und als Haustiere längst gewöhnt: vollbusige Sphinxe stemmen Tischplatten, Drachen flankieren Kamine, Nixen halten Spiegel und Einhörner galoppieren auf Krawatten.
Entstehung, Erscheinungsweise und Verbreitung
Viele Fabelwesen sind antiken Ursprungs. Aus mythologischen Vorstellungen Griechenlands und des Orients schöpften die Berichte des Seefahrers Skylax im 6. Jahrhundert, des
Historiographen Ktesias im 5. Jahrhundert oder des Ethnographen Megasthenes um etwa
300 v. Chr. über fremdartige Völker und Tiere Indiens. Über die Naturalis historia (vor
79 n. Chr.) von Plinius d. Ä. und die Collectanea rerum memorabilium (um 250 n. Chr.)
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Werner Wunderlich
des Cajus Julius Solinus wurden diese Erzählungen dem Mittelalter bekannt. Der wichtigste Vermittler antiker Fabelwesen ist eine im 2. Jahrhundert vielleicht in Alexandria ursprünglich in Griechisch verfaßte Beschreibung und allegorische Deutung wunderbarer
Tiere, Pflanzen und Steine, die in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts ins Lateinische
übersetzt wurde. Unter dem Namen »Physiologus« (der Naturkundige) – zunächst auf
Aristoteles gemünzt – war sie verbreitet, ehe sie seit dem 11./12. Jahrhundert auch in
mehrere Volkssprachen übersetzt wurde. Nach dem Vorbild des Physiologus entstanden
die Bestiarien, illustrierte Bücher, die Tiere und Fabelwesen unterscheidungslos auflisten.
Sie verbinden eine allgemeine pseudonaturkundliche Beschreibung mit einer heilsgeschichtlichen Auslegung der den Kreaturen angedichteten Eigenschaften und Verhaltensweisen. Auf Augustins Erörterung in der Civitas dei (413/26), ob die Monster von
Adams oder Noahs Geschlecht abstammten, beruhen die Bestiarien De monstris et bellius
und Liber monstrorum de diversis generibus (6./7. Jahrhundert), wo Sirenen, Hippokentauren, Kyklopen, Zwitterwesen und andere monströse Fabelwesen behandelt werden.
Der Überlieferer des Ktesias, Photios, Patriarch von Konstantinopel und bedeutender
Vertreter der sogenannten byzantinischen Renaissance, erzählt im 9. Jahrhundert von
Pygmäen, Schattenfüßlern, Hundsköpfigen, langschwänzigen Menschen, vom Manticora mit Menschengesicht, Löwenrumpf und Skorpionschwanz, vom Einhorn und vom
Greifen. Der Katalog der hier überlieferten Fabelwesen wurde im Laufe des Mittelalters
durch eine Gruppe untereinander verwandter Texte wie die Epistola Premonis Regis ad
Trajanum Imperatorem (10./11. Jahrhundert), die Marvels of the East (11. bis 13. Jahrhundert) oder den Liber monstrorum (14. bis 16. Jahrhundert) erweitert.
Auf antiker Alexanderliteratur einerseits, auf naturwissenschaftlichen Werken der
lateinischen Spätantike andererseits beruhen vor allem die Ausführungen der Enzyklopädisten über Fabelwesen. In seinen Etymologiae behandelt Isidor von Sevilla (7. Jahrhundert) ebenso wie Hrabanus Maurus in seiner De rerum naturalis (um 850) menschliche
und tierische Fabelwesen. Eine Trennung, die auch Thomas von Cantimprensis im Liber
de natura rerum (um 1250) als »de monstruosis hominibus« (über menschliche Monster)
und »de animalibus quadrupedibus« (über Vierbeiner) vornimmt und die in den volkssprachlichen Bearbeitungen Jacobs van Maerlant (1267) und Konrads von Megenburg
(um 1350) übernommen wird. Auch De bestiis et aliis rebus (12. Jahrhundert) des PseudoHugos von St. Victor, Gervasius von Tilbury in Otia imperalia (1209/14), De animalibus
(nach 1250) von Albertus Magnus oder der Speculum naturale (um 1256/59) des Vincent
de Beauvais führen Fabeltiere und menschliche Fabelrassen auf, während das fälschlicherweise Hugos von Folieto zugeschriebene De bestiis et aliis rebus (um 1150) und Alexander Neckhams De naturis rerum (um 1200/10) nur tierische Fabelwesen berücksichtigen.
Geographische Handbücher und Erdbeschreibungen wie Imago mundi (um 1100) von
Honorius Augustodunensis, Liber floridus (nach 1100) von Lambert de St-Omer, Apologia (um 1180) von Guido de Bazochis, De rerum proprietatibus (nach 1235) von Bartholomäus Anglicus, Image du monde (1246) von Gossouin de Metz, Li livres dou trésor
(1260 – 66) von Brunetto Latini, Imago mundi (1410) von Petrus de Alliaco, Mirour of the
World (um 1480) von William Caxton, Cosmographey (1544) von Sebastian Münster oder
De principiis astronomiae et cosmographiae (1530) des Löwener Arztes und Kartographen
Rainerus Gemma Frisius erwähnen Fabelwesen. Kosmologische Literatur des Elucidarius
und Prodigiensammlungen widmen sich ebenfalls Fabeltieren und Fabelmenschen. Noch
zu Beginn der Neuzeit befaßten sich selbst zoologische Werke von Edward Wotton,
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Conrad Gesner oder Ulysses Aldrovandi und sogar medizinische Bücher über Mißbildungen von Conradt Wolfhardt, gen. Lycosthenes, von Heinrich Kornmann oder von
Gasparius Schott mit anthropomorphen Fabelwesen.
Weltchroniken wie jene Rudolfs von Ems (um 1250/54), wie Filippo Forestis Supplementum Chronicarum (1483), Hartmann Schedels Buch der Chroniken (1493) oder Sebastian Francks Chronica (1531) glauben, die Fabelrassen seien nach der Zerstreuung der
Menschheit über die Erdteile entstanden. Zahlreiche mittelalterliche Weltkarten wie die
berühmten mappae mundi von Ebstorf und Hereford, die Carta Marina (1530) des Lorenz Fries und auch Martin Behaims Globus von 1491 zeigen einige Fabelwesen. Reiseberichte vermischen authentische Erlebnisse und Beobachtungen mit Überliefertem,
Hörensagen und phantastischen Ausschmückungen. In Marco Polos Aufzeichnungen, in
den franziskanischen Berichten der Giovanni di Pian del Carpine, Benedikt von Polen
und Odoricus de Pordenone aus dem 13. und 14. Jahrhundert vom mongolischen Hof,
im Bericht Fraters Jordanus über seine Indienreise, in dem fingierten Reisebericht De mirabilibus Jeans de Mandeville (um 1350) sowie im Livre nomme les merveilles du monde
(1475 – 76) fallen immer wieder Bemerkungen über Fabelwesen. Auch in Erzählwerken
wie den Gesta Romanorum (um 1280?), in den Artusepen, den Alexanderromanen, der
Heldendichtung um Dietrich von Bern, Ritterepen wie Herzog Ernst (um 1160/70?) und
in zahlreichen frühneuhochdeutschen Prosaromanen oder in der Emblematik spielen Fabelwesen in Gestalt von Drachen, Meeresungeheuern oder Waldmenschen eine wichtige
Rolle. Oft sind auf sie menschliche Fähigkeiten wie Sprache und Denken und Eigenschaften wie Tugenden und Laster übertragen.
Neben den Darstellungen der Buchillustrationen sind Fabelwesen in fast allen
Kunstbereichen verbreitet: Malerei, Tapisserie, Bauskulptur, Mosaik, Möbel, Aquamile,
Fresken, Heraldik usw. Zu rein dekorativen Zwecken verwenden auch Drôlerien, Grillen
und Grotesken Elemente von phantastischen Fabelwesen, ohne ihnen eine sinnhafte Bedeutung geben zu wollen. Den Variations- und Kombinationsmöglichkeiten von
menschlichen und tierischen Mischwesen sind hier kaum Grenzen gesetzt. Vogelmenschen und Meermenschen, Bauchgesichter und Schlangenfüßler, Skorpionmenschen und
Schildkrötenmenschen, Baummenschen und Hirschköpfige, drachenfüßige und mehrköpfige Riesen, Mannweiber und borstige Riesenfrauen mit Eberzähnen und Stierschwänzen, Seepferdchen und Elephantenfische, Schlangenhalslöwen und Ameisentiger,
Vögel mit Eisenkrallen oder Eisenschnäbeln, geflügelte Steinböcke und Schlangenvögel
tummeln sich beispielsweise auf den Holzschnitten in den Ausgaben von François
Rabelais’ Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (1532 – 64, deutsch 1575), wo im Speichel
des Vielfraßes Eusthenes eine Vielzahl von Fabelwesen von Amphisbäen bis zu den Zekken hausen. Eine Sehenswürdigkeit sind heute noch jene Fabelwesen auf den 153 Holztafeln der romanischen Bilderdecke (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts) der Kirche St. Martin
im rätomanischen Zillis an der Via Mala in Graubünden.
Der österreichische Schriftsteller und Literaturkritiker Franz Blei bediente sich zu
satirischen Zwecken der Darstellung- und Illustrationsweise des mittelalterlichen Bestiariums für seine 1920 unter dem Pseudonym Dr. Peregrinus Steinhövel erschienene
Sammlung Bestiarum literaricum. Darin sind karikierende Porträts zeitgenössischer
Dichter enthalten, die witzig und spöttisch literarische und persönliche Charakteristika
der Betroffenen aufs Korn nehmen.
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Werner Wunderlich
Symbolik und Magie
Eine umfassende und eindeutige Sinngebung für all diese Phantasiewesen läßt sich wohl
kaum finden. Wir können aber über alle Kulturgrenzen und über Generationen hinweg
immer gleichbleibende Funktionen der imanginären Kreaturen feststellen. In Fabelwesen
drückt sich die Suche des Menschen nach einer durchschaubaren Ordnung von Welt,
nach Begründung übernatürlicher Erscheinungen, nach Möglichkeiten der Erklärung
und des Umgangs mit dem Unbekannten und Fremden, der stete Wunsch nach Erweiterung des physischen und kognitiven Erfahrungshorizonts, das Bedürfnis nach existentieller Sicherheit durch Kontakt und Bündnis mit göttlichen und übernatürlichen Mächten
aus. Und gewiß spielt auch die Lust am Spiel mit der fiktiven Aufhebung von Naturgesetzen, mit der Absurdität, mit Normverstößen, mit den wundersamen Möglichkeiten
der Verkehrten Welt eine kreative Rolle. Phantastische Literatur, Fantasy-Spiele, Kinderbücher, Comics und Filme schicken immer wieder alte und neue Fabelwesen aus den
Welten der Einbildungskraft zu ihrem Publikum, um dieses auf unterhaltsame Weise den
Spaß an Rollenwechseln, das Vergnügen an der Überwindung von Realitätszwängen oder
auch den Schauer vor greulichen Begegnungen erleben zu lassen.
Ihre magischen Fähigkeiten, ihre gewaltigen Kräfte oder ihr furchteinflößendes Äußeres machen Fabelwesen zu Wächtern von Grenzen, Hütern von heiligen Jenseitsstätten und zu Wärter der Schranken zwischen Leben und Tod. Der Kerberus mit den drei
Hundsköpfen beispielsweise bewacht den Hades, die Sphinx die ägyptischen Nekropolen. Fabelwesen sind auch ein Mittel, um ein duales Weltbild oder die Doppelnatur von
Menschen zu versinnbildlichen. Das Verhältnis dieser Fabelwesen zum Menschen ist
grundsätzlich vom ethischen Prinzip, das sie verkörpern, abhängig. Gilt ein Fabelwesen
wie der Drache als Symbol für das Naturgesetz des Bösen, übernimmt es die Funktion,
als Gegner dem Helden im Kampf um das Gute zu unterliegen. Beispiele dafür sind etwa
der Kampf zwischen Herakles und der Hydra, zwischen Bellerophon und der Chimäre,
zwischen Sigurd und Fafnir oder zwischen St. Georg und dem Drachen. Der Sieg und die
Macht über Fabelwesen beweisen die Stärke des Helden und erhöhen dessen Status. Einmal vom Helden besiegt, wurden manche Fabelwesen wie der Greif Embleme der Kühnheit und Stärke und vom Helden oder von einer Tugend bzw. von einem christlichen
Prinzip in allegorischer Gestalt in Dienst genommen. So zieht in Dantes Purgatorio, dem
zweiten Teil der Divina comedia (1318), ein Greif den Triumphwagen des Himmlischen
Jerusalem. Auf den Schilden der Helden prangten solche Fabelwesen, deren Stärke und
Zauber auf den Helden übergehen sollen, um die Feinde in magischen Bann zu schlagen
und zu besiegen. Agamemnon hatte beispielsweise auf seinem Schild das Gorgonenhaupt
und eine blaue Schlange. Auch Feldzeichen wie Standarten und Banner trugen Fabelwesen. Besonders beliebt waren Drachen oder natürliche Tiere, die in biblischer Überlieferung oder in der Fabeltradition Kraft und Stärke, Mut und Tapferkeit, Macht und Herrschaft verkörperten wie Löwe, Adler, Falke, Eber, Hirsch, Stier oder Hengst, die auf diese Weise mythisiert wurden. Seit dem 14. Jahrundert finden wir Fabelwesen wie das Einhorn, die Nixe oder den Löwenadler als Beschützer und Erkennungszeichen auch auf
Wappen und – wie beispielsweise im englischen Königswappen das Einhorn – als seitlichen Schildhalter. Heute noch werden Fabelwesen von Apotheken, Banken, Versicherungen, Parteien, Verbänden und Vereinen als Symbole und Imageträger verwendet, um
mit ihrer Hilfe Vertrauenswürdigkeit auszustrahlen. Aus lokalen Neckbräuchen entste-
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hen immer wieder mal neue Fabelwesen wie der bayrische Wolpertinger, eine kuriose Mischung aus Hase, Hirsch, Ente oder anderem Wild, mit dem Jägerlatein oder Bauernscherze Ortsfremde foppen.
Dämonen, Monster, Fabelwesen – all diese imaginären Geschöpfe machen die Grenzen
zwischen den phantastischen und den wirklichen Arten deutlich, und sie sind zugleich ein
Ausdruck menschlichen Urstrebens nach göttlicher Schöpferkraft und lebendigem Zeugungswillen.
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