Flexible Arbeitswelt: Immer im Dienst? - AOK

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Flexible Arbeitswelt: Immer im Dienst? - AOK
Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft
Spezial 9/2012
S PEZIAL
FLEXIBLE ARBEITSWELT
Immer im Dienst?
+++ Chancen, Risiken, Lösungen
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang 1
Inhalt
S T A R T SCH U SS
PR ÄVEN TION
Die Grenzen der Entgrenzung
Wandel gelingt nur gemeinsam
von Bernhard Badura . .............................................................................. 3
von Birgit Schauerte, Patricia Lück und Kai Seiler������������������������ 11
ÜB ER B LICK
U M F R AGE
Schöne neue Arbeitswelt
Wann Flexibilität stresst
von Antje Ducki und Markus Meyer . ................................................. 4
von Klaus Zok ��������������������������������������������������������������������������������������������� 12
A U TON OMIE
SEL BSTSOR GE
»Mitarbeiter täuschen Gesundheit vor«
Freiheit mit Schönheitsfehlern
Interview mit Andreas Krause �������������������������������������������������������������� 7
von Cornelia Weiß �����������������������������������������������������������������������������������
M ODER N E A R B EIT S ZE I T E N
STA N DPU N KTE
Flexibilität ohne Verlierer
von Silke Heller-Jung ��������������������������������������������������������������������������������
8
14
Flexibilierung: Gewinn oder Verlust? ������������������������������������ 15
Glosse: Bleib offline, Junge ����������������������������������������������������������� 16
A U S DER P R A XIS
Mit Qualifizierung gewinnen
Lese- und Webtipps
von Herbert Pfaus ����������������������������������������������������������������������������������
10
Vier Tipps für ein gesünderes Pendlerleben
von Katharina Becker ������������������������������������������������������������������������������ 16
Literatur
Internet
Bernhard Badura, Antje Ducki, Helmut
Schröder, Joachim Klose, Markus Meyer
Fehlzeiten-Report 2012. Gesundheit
in der flexiblen Arbeitswelt
Berlin, Heidelberg: Springer Verlag 2012
■
www.wido.de
Website des Wissenschaftlichen Instituts
der AOK (WIdO). Unter –> Prävention
finden Sie die Ergebnisse der FehlzeitenReporte, Arbeitsunfähigkeitsanalysen und
Mitarbeiterbefragungen.
■
www.aok-bv.de
Website des AOK-Bundesverbandes.
Unter –> Mediathek –> G+G –>
G+G-Spezial stehen alle Spezial-Hefte
als Download zur Verfügung.
■
■
Heiner Minssen
Arbeit in der modernen Gesellschaft.
Eine Einführung
Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaft 2012
www.iga-info.de
Auf der Website der Initiative Gesundheit
& Arbeit sind unter –> Themen & Projekte
–> Arbeit im Wandel Informationen zu
unterschiedlichen Aspekten der modernen Arbeitswelt zu finden.
■
Eva Bamberg, Antje Ducki,
Anna-Marie Metz
Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement in der Arbeitswelt. Ein
Handbuch
Göttingen: Hogrefe-Verlag 2011
■
■
Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend
Abschlussbericht Europäischer
Monitor Familienfreundlichkeit
Berlin: BMFSFJ 2010
www.aok.de
Das AOK-Versichertenportal. Hier gibt
es hilfreiche Informationen rund um
das Thema Gesundheit mit vielen indivi­
duellen Angeboten, zum Beispiel „Stress
im Griff“ oder „Fit im Büro“.
www.lia.nrw.de
Unter –> Arbeit gesund gestalten finden
Sie auf der Seite des Landesinstituts für
Arbeitsgestaltung des Landes NordrheinWestfalen Informationen zu Arbeitszeitgestaltung und Gesundheitsförderung.
■
■
www.aok-bgf.de
Das Portal der AOK zur Betrieblichen
Gesundheitsförderung mit wertvollen
Informationen für Beschäftigte und
Unternehmer.
www.dgb-index-gute-arbeit.de
Unter dem Stichwort „Veröffentlichungen“ finden Sie die Ergebnisse der jähr­
lichen Repräsentativ-Umfragen, etwa zum
Thema „Arbeitshetze, Arbeitsintensivierung, Entgrenzung“ aus dem Jahr 2011.
■
■
www.enterprise-for-health.org
Website eines Netzwerks internationaler
Unternehmen, die sich für eine zeitgemäße betriebliche Gesundheitspolitik
engagieren.
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www.aok-business.de
Das AOK-Portal für Unternehmen.
■
Spezial ist eine Verlagsbeilage von G+G
Impressum: Gesundheit und Gesellschaft, Rosenthaler Straße 31, 10178 Berlin. G+G erscheint im KomPart-Verlag (www.kompart.de).
Redaktion: Dr. Silke Heller-Jung, Bettina Nellen (verantwortlich) | Art Direction: Anja Stamer | Grafik: Julia Ebeling
Herausgeber: Geschäftsführungseinheit Politik/Unternehmensentwicklung des AOK-Bundesverbandes | Stand: August 2012
STARTSCHUSS
Die Grenzen
der Entgrenzung
In der modernen, flexiblen Arbeitswelt droht vielen Beschäftigten nicht
mehr der körperliche, sondern der
seelische Verschleiß. Der Soziologe
Bernhard Badura warnt deshalb vor
einer ungezügelten Flexibilisierung.
Titel: Corbis; Foto: Uni Bielefeld
T
echnik stößt weitreichende gesellschaftliche
Veränderungen an, ohne ihren Verlauf bestimmen zu können. Die neuen sozialen
Netzwerke scheinen die Grenzen zwischen
Arbeit und Privatleben aufzuweichen. Daraus ergeben sich neue Herausforderungen, Chancen und
Risiken, die wir genau verstehen lernen müssen.
Das vorliegende Heft versucht, aktuelle Trends
und Problemstellungen besser verständlich zu machen. Auch der diesjährige Fehlzeiten-Report, den
das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO)
erstellt und der in diesen Tagen erscheint, widmet
sich diesem Thema und stellt – wie auch schon seine
Vorgänger – eine breite Evidenzbasis für die präventive Gesundheitspolitik in der Arbeitswelt bereit.
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit werden
immer bedeutsamer, um in der modernen Arbeitswelt
gesund zu bleiben und zum Erfolg der Wirtschaft
beizutragen. Die traditionelle Industriegesellschaft
beanspruchte in erster Linie unsere physische Anpassungsfähigkeit. Die „entgrenzte Arbeitswelt“ fordert
in zunehmendem Maße unsere psychische Anpassungsfähigkeit. Doch nicht nur die physischen Ener-
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang gien des Menschen sind begrenzt, sondern auch
seine psychischen.
Für den Gesundheitswissenschaftler liegen die
Grenzen der Entgrenzung dort, wo sie die sozialen
Bedingungen psychischer Gesundheit inf Frage
stellen: Das ist zum einen eine sinnhafte Arbeit, zum
anderen ein soziales Umfeld, das Unterstützung,
Zuwendung und Anerkennung gewährt, und als
unabdingbare Voraussetzung von beidem die Verwurzelung in einer Denk-, Fühl- und Verhaltensgemeinschaft mit gemeinsamen Überzeugungen,
Werten und Zielen.
Prof. Dr. rer. soc. Bernhard Badura
Soziologe und Emeritus der Fakultät für
Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld
3
ÜBERBLICK
Schöne neue Arbeitswelt
Die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre haben die Arbeitswelt stark
verändert. Mit der zunehmenden Flexibilisierung sind neue Chancen, aber auch neue Risiken für die
Gesundheit der Beschäftigten verbunden. Von Antje Ducki und Markus Meyer
A
rbeitsverhältnisse, wie sie die jetzige Rentnergeneration
in der Mehrzahl noch gekannt hat, sind heute keine
Selbstverständlichkeit mehr. Während früher vor allem
industrienahe Tätigkeiten die Arbeitswelt prägten, sind
es heute dienstleistungsorientierte Beschäftigungen, die in
erster Linie auf Wissen und Information basieren. Neben den
sogenannten Normalbeschäftigten – gemeint sind unbefristet
Vollzeitbeschäftigte –, arbeitet heute schon ein Viertel der 41
Millionen Erwerbstätigen in der Bundesrepublik in „atypischen“
Beschäftigungsverhältnissen, etwa als Alleinselbstständige,
geringfügig Beschäftigte oder Leiharbeitnehmer, viele unter
prekären Bedingungen. Doch nicht nur die Art der Beschäftigung ist der zunehmenden Flexibilisierung unterworfen, auch
Arbeitsorte und -zeiten werden verstärkt individuell und damit
flexibel gestaltet. Eine zunehmende Flexibilisierung kennzeichnet auch die Erwerbsbiografien, wie der Einstieg der „Genera-
tion Praktikum“ in das Berufsleben, die temporären Unterbrechungen (etwa durch Erziehungszeiten) und die sinkende
Verweildauer von Beschäftigten in einem Betrieb verdeutlichen.
Flankiert werden diese Entwicklungen durch permanente organisatorische Restrukturierungen in Unternehmen, überbetriebliche Netzwerkstrukturen und die Auslagerung von Unternehmensteilen.
Mehr Freiheit und ihr Preis. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt
kann mit positiven Entwicklungen für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einhergehen, wenn sie ihnen größere Handlungsspielräume eröffnet. Die Entwicklung der Informations- und
Kommunikationstechniken macht es möglich, von zu Hause,
beim Kunden oder unterwegs zu arbeiten. Bereits 2009 gab es in
knapp 22 Prozent der Unternehmen in Deutschland die Möglichkeit, Telearbeit zu nutzen, so das Bundesfamilienministerium
Uwe Deh ist Geschäftsführender Vorstand des
AOK-Bundesverbandes.
Welche Folgen hat der Wandel in der
Arbeitswelt für die AOK?
Gesellschaft und Arbeitswelt sind im
Umbruch. Alle müssen immer flexibler
sein. Gleichzeitig verändert sich das
Krankheitsspektrum – da liegt ein Zusammenhang nahe. Wir haben es etwa
mit immer mehr Burnout-Fällen zu
tun. Aber das Problem geht über steigende Krankheitskosten hinaus: Der volks-
4
wirtschaftliche Verlust durch psychische
Erkrankungen lag 2010 bei geschätzten
neun Milliarden Euro.
von weniger Fehlzeiten. Sie präsentieren
sich zudem als attraktiver Arbeitgeber
im Wettbewerb um gute Mitarbeiter.
Was kann die Gesundheitskasse tun?
Die AOK ist ein Seismograf für die Veränderungen. Das erleichtert es uns, die
Situation zu analysieren und Lösungen
zu ent wickeln. Immer mehr Unternehmen lassen sich von uns beim
betrieblichen Gesundheitsmanagement
unterstützen. In entsprechende Projekte
haben wir 2011 rund 106 Millionen
Euro investiert. Besonders gefragt sind
AOK-Angebote zum Stressmanagement
für Führungskräfte. Immer häufiger geht
es um bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Die Unternehmen profitieren
Aber die Krankenkassen sind doch nicht
der Reparaturbetrieb der Nation, oder?
Richtig. Der Wandel lässt sich nur erfolgreich meistern, wenn alle Räder ineinander greifen. Deshalb sollte die Politik mit
einem klugen Präventionsgesetz und
modernen gesetzlichen ArbeitsschutzRegelungen den Rahmen abstecken, in
dem Arbeitgeber, Mitarbeitervertretungen, Gewerkschaften und die Akteure
im Gesundheitswesen handeln können.
Aber auch jeder Einzelne ist aufgerufen,
sorgsam mit seiner Gesundheit umzugehen. √
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang
Fotos: Andrea Katheder; getty images
»Die AOK ist ein Seismograf für die Veränderungen«
Feste Arbeitszeiten und -orte
sind längst nicht mehr an der
Tagesordnung. Die Grenze
zwischen Arbeit und Privat­
leben verschwimmt.
in seinem Abschlussbericht „Europäischer Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit“. Die Nutzung mobiler Technolo­gien
erspart Beschäftigten den Weg ins Büro, gleichzeitig gewinnen
sie an Flexibilität, etwa hinsichtlich der Betreuung von Kindern
oder pflegebedürftigen Angehörigen. Gerade jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten aufgewachsen sind (sogenannte „Digital
Natives“), fordern immer mehr autonome Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Arbeit. Aus einer Befragung von Studenten und
jungen Beschäftigten ging hervor, dass 73 Prozent gern mobil
aus dem Homeoffice oder von unterwegs arbeiten möchten.
Neben neuen Freiheiten birgt die Arbeit von zu Hause oder
unterwegs aber auch Risiken: Für den Arbeitnehmer können die
Grenzen von Arbeit und Freizeit verschwimmen, mit negativen
Folgen für die Erholung und damit auch für die Gesundheit.
Besonders gefährdet sind hier Alleinselbstständige, auch „Freelancer“ genannt. Im Jahr 2010 arbeiteten nach Angaben des
Statistischen Bundesamtes rund 55 Prozent aller Selbstständigen
solo – das entspricht 2,4 Millionen Menschen. Den Vorteilen
in solchen Ein-Personen-Unternehmen, etwa einer komplett
autonomen Arbeitsgestaltung und selbst bestimmten Arbeitszeiten, stehen starke gesundheitsgefährdende Belastungen gegenüber. Eine Befragung, die die Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin (BAuA) gemeinsam mit der IG Medien bei
210 deutschen Freelancern der Medienbranche durchführte,
ergab ein besorgniserregendes Bild: Rund die Hälfte aller Befragten wies ein hohes gesundheitliches Beschwerdeniveau auf.
Neben der Unsicherheit, nicht ausreichend viele Projekte zur
Sicherung des eigenen Lebensunterhalts akquirieren zu können,
machte den Freelancern auch ein hoher Zeit- und Termindruck
zu schaffen. Die durchschnittlichen Arbeitszeiten lagen bei den
Befragten zwischen 45 und 55 Stunden pro Woche, etwa sieben
Prozent arbeiteten sogar bis zu 70 Stunden.
Solche Bedingungen führen zu einem neuen Phänomen, der
„interessierten Selbstgefährdung“: Es beschreibt ein gesundheitsgefährdendes Verhalten, das vor allem bei Personen auftritt, die
sich sehr mit ihrer Arbeit identifizieren, dieser daher auch hoch
engagiert nachgehen und dabei in Kauf nehmen, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen (mehr dazu im Interview auf Seite 7).
Auch bei abhängig Beschäftigten kommt es vor, dass sie – ohne
von einem Vorgesetzten dazu aufgefordert oder angewiesen
worden zu sein – Verhaltensweisen zeigen, von denen sie eigentlich wissen, dass sie ungesund sind: Sie kommen krank zur
Arbeit, arbeiten am Wochenende und im Urlaub, vernachlässigen ihre sozialen Kontakte oder verzichten auf Arztbesuche und
Erholungsaktivitäten.
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang Lust und Last der Mobilität. Die zunehmende Flexibilität der
Arbeitswelt zeigt sich auch in steigenden Mobilitätsanforderungen. Heute sind bereits rund 40 Prozent der Berufstätigen zirkulär oder residenziell mobil, das heißt, sie sind entweder Wochenendpendler, pendeln täglich mindestens eine Stunde zur
Arbeit oder haben ihren Wohnort aufgrund beruflicher Anforderungen gewechselt. Mobile Arbeitnehmer haben durch eine
erhöhte Flexibilität einerseits Vorteile, etwa indem Arbeitslosigkeit vermieden wird oder positive Lernerfahrungen an neuen
Orten gemacht werden können. Sie sind andererseits aber insgesamt stärker anfällig für Fehlbelastungen. Eine repräsentative
Befragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO)
ergab, dass mit der Länge der Fahrtzeit zum Arbeitsplatz auch
die Wahrscheinlichkeit negativer Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zunimmt (mehr dazu auf den Seiten 12/13). Das
Risiko einer schlechten allgemeinen Gesundheit und depressiver
Verstimmungen ist bei Fernpendlern deutlich höher als bei
Nicht-Mobilen. Wochenendpendler leiden unter Einsamkeit
und dem Verlust von Heimat.
Bei „Vari-Mobilen“, die an unterschiedlichen Orten arbeiten
oder regelmäßig auf Dienstreisen sind, zeigen sich aber auch
positive Effekte. Eine Online-Umfrage unter Beschäftigten, die
mobil mit Informationstechnologie arbeiten, ergab: Mehr als 75
Prozent der 219 Befragten konnten ihre Arbeitszeit oft oder
immer flexibel einteilen, und 98 Prozent beurteilten dies positiv.
Schreibtisch auf Zeit. Schon jetzt stehen aufgrund von Dienst-
reisen, Krankheit, flexiblen Arbeitszeiten (ohne Berücksichtigung
von Telearbeit oder mobilen Tätigkeiten außerhalb des Firmengebäudes) zwischen zehn und 30 Prozent der Büros in Deutsch5
Flexible Arbeitswelt
Von 41 Millionen Erwerbstätigen in
Deutschland …
… sind 40 % der Arbeitnehmer mobil …
nutzen etwa
12 % der Erwerbstätigen Telearbeit,
22% der Unternehmen bieten Telearbeit an … leisten
20 % zeitweise Rufbereitschaft … erhalten
33 % außerhalb der Arbeitszeiten einen Anruf oder
… sind 4,8 Millionen geringfügig
beschäftigt … sind 4,2 Millionen soloselbstständig … haben rund 11 % einen befristeten
Arbeitsvertrag … arbeiten etwa 14 % regel­mäßig
an Sonn- und Feiertagen … arbeiten
14 % im Schichtbetrieb … sind 910.000 Leiharbeiter
eine Mail
Zusammenstellung: WIdO
land leer. Unternehmen reagieren darauf mit sogenannten
non-territorialen Bürokonzepten: Dabei gibt es weniger Schreibtische als Mitarbeiter. Die Beschäftigten haben keinen eigenen
Arbeitsplatz mehr, sondern belegen nur bei Bedarf einen freien
Tisch aus diesem Pool. Dieses „Desk-sharing“ setzt jedoch die
Digitalisierung vieler Arbeitsmaterialien voraus und verlangt
den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ein starkes Maß an
Disziplin ab, da der Arbeitsort fast täglich gewechselt wird. Als
Konsequenz müssen auch Besprechungen mit physischer Anwesenheit längerfristig geplant oder über neue Medien wie
beispielsweise Videokonferenzen abgewickelt werden.
Immer erreichbar. Immer mehr Beschäftigte geben an, auch
außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit für Kunden, Kollegen oder
Vorgesetzte erreichbar zu sein: 2011 waren das bereits 88 Prozent
aller Berufstätigen. Die ständige Erreichbarkeit per Handy,
Blackberry und Ähnlichem schafft zwar Flexibilität, erhöht aber
die Belastung für Arbeitnehmer und kann zu Stress führen.
Ständige Erreichbarkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, bei dem,
was man gerade tut, unterbrochen zu werden. Unterbrechungen
führen dazu, dass Aufgaben nicht abgeschlossen werden können,
befördern damit „Rumination“, also eine gedankliche Dauerbeschäftigung mit einer Aufgabe oder einem Problem, oder
machen es erforderlich, immer wieder von vorne zu beginnen.
Studien belegen einen Zusammenhang zwischen ständiger
Erreichbarkeit auf der einen und Schlafstörungen sowie Schwierigkeiten, abschalten zu können, auf der anderen Seite. Arbeitgeber und Mitarbeiter müssen gemeinsam lernen, die neuen
Kommunikationsmedien so zu nutzen, dass eine Überforderung
vermieden wird und die Balance zwischen Arbeits- und Erholungszeit stimmt. Immerhin jeder zweite Beschäftigte gibt an,
dass in seinem Unternehmen die Erreichbarkeit außerhalb der
Arbeitszeit klar geregelt ist.
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Chancen und Risiken der Flexibilität. Angesichts des erwarte-
ten Fachkräftemangels werden sich die Unternehmen zunehmend
bemühen müssen, die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen zu berücksichtigen, um so die besten Arbeitskräfte an sich zu binden. Die Auflösung fester arbeitsvertraglicher, arbeitszeitlicher und örtlicher Strukturen geht mit
positiven, aber auch mit negativen Konsequenzen einher: Als
positiv erleben viele Beschäftigte die Erweiterung der Handlungsspielräume, den damit verbundenen Zuwachs an Autonomie und
die Zunahme an Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen. Die
räumliche und zeitliche Flexibilisierung erleichtert zudem häufig
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Andererseits werden
durch die Entgrenzung Lebensentwürfe immer mehr individualisiert. Alles scheint möglich und individuell verhandelbar.
Damit geht auch eine neue Unübersichtlichkeit einher. Gesundheitsförderliche Wahlmöglichkeiten und „Optionsstress“ liegen
heute dicht nebeneinander. Der Einzelne ist zunehmend selbst
gefordert, verlässliche Strukturen aufzubauen, um die entstehenden existenziellen und psychologischen Unsicherheiten abzufedern. Nicht jeder kommt damit zurecht. Die deutliche Zunahme
von Burnout-Erkrankungen und Depressionen wird zum Sinnbild einer überforderten Gesellschaft, der es nicht mehr gelingt,
dem Individuum den Schutz der kollektiven Verantwortung zu
gewähren. Arbeitgeber müssen daher darauf achten, dass die
gesteigerte Autonomie der Beschäftigten durch mehr Flexibilität
und Mobilität nicht zur Gesundheitsgefährdung wird. Die Flexibilisierung in der Arbeitswelt muss von den Unternehmen
entsprechend begleitet werden. So wird beispielsweise die Führungskraft von Mitarbeitern im Homeoffice zwangsläufig anstelle eines anweisenden einen ergebnisorientierten Führungsstil
pflegen müssen. Dies setzt eine Vertrauenskultur voraus, in der
man dem Mitarbeiter zugesteht, seine Aufgaben eigenverantwortlich zu erledigen. Für manch ein Unternehmen bedeutet das
einen Wandel der Unternehmenskultur.
Flexible Angebote zur Gesundheitsförderung. Die flexible
Arbeitswelt bedarf letztlich auch einer Neuorganisation des
betrieblichen Gesundheitsmanagements. Zukünftig müssen
auch Selbstständige und Erwerbstätige mit wechselnden Arbeitgebern und -orten erreicht werden können, denn ihre Zahl
nimmt ständig zu. Geeignet erscheint hier die Schaffung überbetrieblicher regionaler Anlaufstellen oder auch die Entwicklung
virtueller Betreuungs- und Beratungsformen, wenn sie mit den
bisherigen Institutionen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
und der Gesundheitsförderung gekoppelt werden. Nicht zuletzt
müssen den Beschäftigten die notwendigen gesundheitsförderlichen Kompetenzen vermittelt werden, da das persönliche
Gesundheitsmanagement in flexiblen Arbeitsstrukturen an
Bedeutung gewinnt. √
Professorin Dr. phil. Antje Ducki lehrt Arbeits- und Organisationspsycho­logie an der Beuth-Hochschule für Technik Berlin;
Markus Meyer forscht zum Thema Betriebliche Gesundheitsförderung
beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO)
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang
Professor Dr. phil. Andreas Krause
lehrt und forscht am Institut
„Mensch in komplexen Systemen“ der
Hochschule für Angewandte Psychologie
der Fachhochschule Nordwestschweiz
AUTONOMIE
»Mitarbeiter täuschen Gesundheit vor«
Zielvereinbarungen und Eigenverantwortung statt Stechuhr und Anwesenheitspflicht –
neue Steuerungsformen können Beschäftigte zu Höchstleistungen anspornen, aber auch
schnell in die Selbstausbeutungsfalle führen, weiß Andreas Krause.
Wann haben Sie sich zuletzt selbst
ausgebeutet?
Wie bei anderen Wissensarbeitern verschwimmen auch bei mir Arbeit und
Privatleben – und die Arbeit macht ja
meist Freude. Also habe ich am letzten
Wochenende gearbeitet, sobald meine
beiden Kinder eingeschlafen waren. Diese selbst mitbestimmte Entgrenzung oder
auch Selbstausbeutung ist ja durchaus mit
­positiven Gefühlen verbunden.
Positive Gefühle sind also das
Problem?
Sie können zu einem Problem werden,
wenn man nicht mehr in der Lage ist zu
erkennen, dass man zugunsten der Arbeit
beispielsweise auf positive gesundheitsförderliche Aktivitäten verzichtet. Treffen
mit Freunden werden dann abgesagt,
sportliche und kulturelle Aktivitäten finden nicht mehr statt, dringend notwendige Erholungsphasen werden ignoriert.
Foto: Fabio Biasio
Wie kommt es zu diesem Verhalten?
Das zentrale Merkmal der Veränderung
in der Arbeitswelt ist der Wechsel von
einer Führung über Anweisungen und
Verhaltenskontrolle hin zu einer Führung
durch Ziele. Letztere setzt auf die Autonomie der Beschäftigten. Unter Nutzung
eigener Handlungs- und Entscheidungsspielräume agiert der einzelne Beschäftigte dann selbst wie ein Unternehmer.
Wenn Mitarbeiter wie Unternehmer
denken sollen – was bedeutet das für
die Beschäftigten?
Die neue Freiheit ist in der betrieblichen
Realität voller Widersprüche. Da wird
etwa mehr Selbstständigkeit gefordert,
ohne den Mitarbeitern die entsprechenden
Handlungsspielräume einzuräumen.
Dann legt zum Beispiel das Management
im Callcenter fest, wie lange ein Telefonat
dauern darf – auch wenn die Anliegen der
Kunden mehr Zeit erfordern. In einem
anderen Unternehmen springen Kunden
neue Freiheit
»istDiein der
betrieblichen
Realität voller Widersprüche.
«
ab, der Umsatz bricht ein oder die vereinbarten Ziele können nicht erreicht werden.
Dann geht der Beschäftigte phasenweise
über die eigene Leistungsgrenze hinaus.
Langfristig gefährdet er damit seine Gesundheit.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang
„interessierte Selbstgefährdung“?
Von „interessierter Selbstgefährdung“
sprechen wir bei einem Verhalten, bei dem
sich jemand dabei zusieht, wie er für den
Beruf die eigene Gesundheit gefährdet:
Krank zur Arbeit kommen, auf Erholungspausen verzichten, am Wochenende oder
im Urlaub arbeiten, unbezahlte Überstunden machen. Das Neuartige daran ist: Wer
aus Angst vor Misserfolg oder in der Hoffnung auf Erfolg die Risiken für die eigene
Gesundheit ignoriert, will sich dabei nicht
stören lassen. Die Gesundheitsgefährdung
wird verheimlicht. Früher hatten Unternehmen Sorge, dass gesunde Mitarbeiter
krankfeiern. Heute täuschen Mitarbeiter
Gesundheit vor.
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang Wie kann ein betriebliches Gesundheitsmanagement gegensteuern?
Gerade die engagierten Mitarbeiter laufen
ja Gefahr „auszubrennen“. Daher muss die
neue Selbstständigkeit zwingend mit angemessenen Handlungs- und Entschei­dungsspielräumen einhergehen. Zudem besteht
die Aufgabe des betrieblichen Gesundheitsmanagements darin, die ungewollten Nebenwirkungen von mehr Autonomie der
Beschäftigten, also beispielsweise Vereinzelung, Mangel an offener Kommunikation über persönliche Belastungen oder
Mangel an Feedback, im Unternehmen zu
enttabuisieren. Erfolgshindernisse müssen
identifiziert und beseitigt werden. Das
Unternehmen sollte dazu ein zuverlässiges
Frühwarnsystem aufbauen. Auch Krankenkassen bieten hier häufig eine vertrauensvolle Beratung mit dem Ziel gesunder und
leistungsfähiger Mitarbeiter an.
Wie müssen sich Chefs verändern,
damit ihre Mitarbeiter gesund
bleiben?
Beliebte Standardantworten lauten ja:
Wertschätzung vermitteln, Vorbild sein,
Feedback geben und so weiter. Das ist
sicher erstrebenswert – nur stehen ja gerade mittlere Führungskräfte häufig selbst
besonders unter Druck. Wie soll ich als
Führungskraft in einer solchen „Sandwichposition“ besonders engagierte Mitarbeiter daran hindern, sich zu überfordern, wenn ich mich über ihr Engagement
doch freuen muss, weil ich sonst die an
mich gestellten Anforderungen nicht
erfüllen kann? Führungskräfte brauchen
hier Unterstützung, um im kollegialen
Miteinander solche Fragen zu benennen
und neue Lösungen zu erproben. √
7
MODERNE ARBEITSZEITEN
Flexibilität ohne Verlierer
Die Erfordernisse eines global agierenden Produktionsbetriebs und die Bedürfnisse der Mitarbeiter
unter einen Hut zu bringen ist eine echte Herausforderung. Das Wiesbadener Chemieunternehmen
Dow Corning meistert diesen Spagat überraschend gut. Von Silke Heller-Jung
Arbeiten ohne Stechuhr. Mit Ausnahme der Beschäftigten im
Schichtbetrieb gilt im gesamten Unternehmen das Prinzip der
Vertrauensarbeitszeit. „Wir haben hier eine ausgeprägte Leistungs- und keine Präsenzkultur“, erklärt Elisabeth Ganss, bei
Dow Corning die Personalverantwortliche für Europa. „Natür-
»
Von Null auf Hundert. Bei Mitarbeitern, die etwa aus familiä-
ren Gründen in Teilzeit arbeiten möchten, wird in jedem Einzelfall nach individuellen Lösungen gesucht. Das zahlt sich aus:
„Als ich vor zehn Jahren hier im Unternehmen anfing, lag die
Rückkehrquote von Müttern bei Null“, erinnert sich die Personalleiterin. „Wir haben dann individuelle Lösungen für einen
möglichst frühen Wiedereinstieg entwickelt, zum Beispiel
erstmal nur zehn Stunden pro Woche, zum Teil von zu Hause
aus.“ Seitdem kehren fast alle Mütter im Schnitt nach einem
Jahr in das Unternehmen zurück. Maßgeschneiderte Lösungen
gibt es auch für ältere Kollegen, die etwas kürzer treten möchten.
Bei allen Wünschen rund um die Arbeitsgestaltung nimmt
Dow Corning die Mitarbeiter ernst, aber auch in die Pflicht.
„Wer seine Arbeitszeit reduzieren möchte, kommt in der Regel
schon mit konkreten Vorschlägen, wie das funktionieren kann.
»
Natürlich brauchen wir
feste Rahmenbedingungen für die Arbeitszeit.
Innerhalb dieses Rahmens
aber schöpfen wir alle
Flexibilisierungsmöglichkeiten wie Teilzeit, Homeoffice, Arbeitszeitkonten
und moderne Schicht­
modelle aus.
Unser neues Schichtmodell entspricht
mehr dem, was sich die
Mitarbeiter wünschen.
Gleichzeitig ermöglicht
es auch mehr Flexibilität
für das Unternehmen.
Unterm Strich hat es
also Vorteile für beide
Seiten.
Elisabeth Ganss,
Personalleiterin Europa
Andreas Kohl,
Produktionsleiter Silikonkautschuk
«
8
lich haben wir als Unternehmen ein ökonomisches Interesse.
Damit das Geschäft effizient läuft und um damit auch die Arbeitsplätze zu sichern, müssen bestimmte Rahmenbedingungen
gewährleistet sein. Aber innerhalb dieses Rahmens schöpfen wir
alle Flexibilisierungsmöglichkeiten aus.“
«
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang
Fotos: Jürgen Schulzki
E
ine kleine rote Backform steht in der Glasvitrine zwischen
allerlei anderen Gebrauchsgegenständen, die man aus
Silikon so machen kann. Die Vitrine steht im Firmengebäude der Wiesbadener Dow Corning GmbH, der
deutschen Niederlassung der amerikanischen Dow Corning
Corporation, die im Bereich Silikontechnologie weltweit zu den
Marktführern gehört. Am Standort Wiesbaden arbeiten rund
360 Mitarbeiter, weit mehr als die Hälfte von ihnen in Arbeitsverhältnissen, die ähnlich flexibel sind wie die kleine Backform.
Die kann man klein zusammenknautschen oder in die Länge
ziehen – am Ende schnellt sie stets in die Form zurück, die ihrem
Verwendungszweck am besten entspricht. So ähnlich ist es auch
mit den flexiblen Arbeitszeitmodellen der Mitarbeiter. Bei aller
Elastizität gilt stets: Sie müssen ihren Zweck mindestens ebenso gut, idealerweise besser erfüllen als starre Regelungen.
Produktionsleiter Andreas Kohl (li.)
und Mitarbeiter Paolo Vaggio
in einer der Produktionshallen, in
denen die Beschäftigten
im Schichtbetrieb tätig sind.
Das entspricht auch unserem Verständnis: Wenn du an deinem
Job etwas verändern willst, bist du auch für die Umsetzung mit
verantwortlich.“ Das gilt auch für Elisabeth Ganss selbst. Zum
1. Juli reduzierte sie – bisher Geschäftsführerin und Personalleiterin in einer Person – ihre Arbeitszeit auf vier Tage pro Woche.
„Das ging mit dieser Bandbreite an Verantwortung natürlich
nicht.“ Also bereitete sie ihren Rückzug aus der zweiköpfigen
Geschäftsführung vor und organisierte beizeiten ihre Nachfolge.
„Das war mein Beitrag zu meinem eigenen Teilzeitmodell.“
Mitarbeiter als Mitgestalter. Auch im gewerblichen Bereich
setzt Dow Corning in Wiesbaden auf Flexibilisierung. „Hier
haben wir seit einigen Jahren Arbeitszeitkonten, wo die Mitarbeiter Überstunden auf- und wieder abbauen können. Das ist ein
flexibles Element, das wir auf Vorschlag der Mitarbeiter eingeführt
haben, das uns als Unternehmen aber bei Auftragsspitzen auch
nützt“, erklärt Elisabeth Ganss. Derzeit wird am Wiesbadener
Standort ein neues Schichtmodell für den Vollschichtbetrieb
erarbeitet. „Ausschlaggebend dafür waren vor allem arbeitsmedizinische Aspekte“, erklärt Andreas Kohl, als Produktionsleiter
für den Bereich Silikonkautschuk verantwortlich. „Hier hatten
»
Ich gehe sehr gerne
ins Büro. Und ich
musste mich nie verrückt
machen, wenn mein Kind
krank wurde, im Kindergarten die Läuse waren
oder meterhoch Schnee
lag. Es war klar, dass ich
dann einfach von zu
Hause arbeiten kann.
«
Kristin Berta,
Produktionsplanerin
wir im alten Modell an einigen Tagen, zum Beispiel am Sonntag,
sehr lange Schichten. Die haben wir jetzt abgeschafft.“
Die drei Produktionsleiter erarbeiteten gemeinsam mit dem
Betriebsrat und Arbeitsmedizinern ein neues Konzept, das dann
für einige Monate als Pilotprojekt erprobt wurde. „Die Rückmeldungen der Beschäftigten waren gemischt“, erinnert sich
Andreas Kohl. „Also haben wir die Kritikpunkte noch einmal
überarbeitet.“ Elisabeth Ganss ergänzt: „Uns ist immer wichtig,
die Mitarbeiter einzubinden, damit es am Ende eine Lösung
gibt, die für alle passt.“ Seit Juni läuft das modifizierte Schichtmodell nun in einem Produktionsgebäude. „Zum Start haben
wir erstmal zwei Schichten abgesagt und uns einen Vormittag
Zeit genommen, um den Mitarbeitern das Modell zu erklären.“
Feierabend in Eigenregie. Dreimal schon wurde Dow Corning
Wiesbaden unter die hundert besten Arbeitgeber Deutschlands
gewählt. Auch Kristin Berta ist mit ihrem Arbeitsplatz sehr zufrieden. Als Produktionsplanerin sorgt sie dafür, dass zum richtigen Zeitpunkt die nötigen Rohstoffe und genügend entsprechend qualifizierte Mitarbeiter für die Herstellung bestimmter
Produkte bereitstehen. Seit sie vor neun Jahren in Teilzeit anfing,
kann sie ihre Arbeitszeiten auf die Betreuung ihrer heute elfjährigen Tochter abstimmen und bei Bedarf zu Hause arbeiten. „Die
Firma erwartet nur, dass ich meine Arbeit erledige – ziemlich egal,
wann. Hauptsache, sie ist gemacht. Natürlich muss man selbst
aufpassen, dass man nicht rund um die Uhr arbeitet. Aber ich
empfinde es als angenehm, dass ich sagen kann: Ich unterbreche
meine Arbeit jetzt und hole die Zeit dann später am Tag nach.“
Schritt für Schritt stockte die Produktionsplanerin ihre Arbeitszeit bis zur Vollzeitstelle auf. Vor kurzem erst hat sie ein von
ihrem Arbeitgeber finanziertes Seminar zum Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“ besucht, das in Zusammenarbeit
mit der AOK angeboten wurde. Kristin Berta, die mit ihrer
Mutter unter einem Dach wohnt, schaut seitdem noch zuversichtlicher in die Zukunft: „Ich weiß ja: Sollte meine Mutter im
Alter auf meine Hilfe angewiesen sein, lässt sich das organisieren.
Meinen Arbeitsplatz kostet mich das jedenfalls nicht.“ √
Dr. Silke Heller-Jung hat in Frechen bei Köln ein Redaktionsbüro für
Gesundheitsthemen.
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang 9
AUS DER PR A XIS
Mit Qualifizierung gewinnen
Unternehmen müssen schnell auf sich verändernde Märkte reagieren können, um im
Wett­bewerb mithalten zu können. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die Qualifikation der
Mitarbeiter. Dafür nutzen die Firmen auch das Know-how der AOK. Von Herbert Pfaus
D
ie Automobil- und Zulieferindustrie spielt für den
exportabhängigen Industriestandort Deutschland eine
entscheidende Rolle. Die Krise in den Jahren 2008/2009
haben die deutschen Automobilhersteller und ihre
Zulieferpartner als Chance begriffen, um ihre Wettbewerbs­
fähigkeit weiter zu stärken. Mit der konsequenten Internationalisierung, Produktinnovationen, einer Optimierung der
Prozesse und der konsequenten Qualifizierung der Beschäftigten wurden wichtige Grundlagen für die aktuelle Leistungs- und
Lieferfähigkeit der Branche gelegt.
Diesen Ansatz verfolgt auch der Automobilzulieferkonzern
ZF. Das Unternehmen hat knapp 71.500 Mitarbeiter und ist
mit 121 Produktionsgesellschaften in 27 Ländern vertreten. An
einem der Standorte der ZF Friedrichshafen AG in der Region
am Dümmer See spielt für die Mitarbeiterqualifizierung zusätzlich das Gesundheitsprojekt „PROKOM“ (Pro Kompetenz­
entwicklung) und der vom niedersächsischen AOK-Institut für
Gesundheitsconsulting erstellte Gesundheitsbericht eine wichtige Rolle. So wurde unter anderem das „Soll“-Anforderungs­
niveau von Produktionsarbeitsplätzen der aktuellen „Ist“-Mit-
Qualifizierung durch Weiterbildung
Anteil der Mitarbeiter, die ... Arbeitsplätze beherrschen:
... schwierige, sehr anspruchsvolle ...
55 %
49 %
... mittelschwierige bis anspruchsvolle ...
36 %
25 %
... leichte bis wenig anspruchsvolle ...
9%
26 %
Start Qualifizierung
ein Jahr später
Nach Abschluss der Mitarbeiterqualifizierung gab es deutlich mehr
Beschäftigte mit anspruchsvollen Arbeitsplätzen.
10
Quelle: AOK-Institut für Gesundheitsconsulting
arbeiterqualifikation gegenübergestellt. Dadurch fiel eine
Mitarbeitergruppe besonders ins Auge, die sich durch ein relativ
begrenztes Qualifikationsniveau auszeichnete. Auf Basis der
AOK-Daten aus dem Gesundheitsbericht wurden Qualifizierungsinhalte und persönliche Potenziale der Beschäftigten
analysiert und so kombiniert, dass fast zwei Drittel der bis dahin
an weniger anspruchsvollen Arbeitsplätzen tätigen Beschäftigten bei Abschluss der Qualifizierung, die sich über mehrere
Monate erstreckte, komplexere und höherwertige Arbeitsplätze
besetzen und so ihre berufliche Flexibilität deutlich steigern
konnten (siehe Grafik).
Evaluation belegt Erfolg. Das AOK-Institut für Gesundheits-
consulting evaluierte das Gesamtvorhaben in der Vor- und
Nachbereitungsphase. Wichtige Erfolgsfaktoren für das Projekt
waren eine vorausschauende und umfangreiche Planung der
Freistellungsphase für diejenigen Mitarbeiter, die sich in der
Schulung befanden. Dabei mussten Personal- und Produktionsleitung auch die ersatzweise Besetzung dieser Arbeitsplätze sowie
die Anwendungs- und Trainingszeiten für die neu Geschulten
im Blick haben. Schließlich war die Motivation der erfahrenen
Maschinenbediener, die ihre praktische Erfahrung an die neu
weiterqualifizierten Kollegen weitergeben sollten, von großer
Bedeutung. Gerade auch die Vorphase zur Qualifizierung
wurde sehr positiv beurteilt: Ohne ausreichende Information,
Unterstützung und Ermutigung durch Personalreferent, Teamleiter und Kollegen wäre der Erfolg kaum möglich gewesen.
Im Laufe der Zusammenarbeit von AOK-Institut für Gesundheitsconsulting und ZF in Niedersachsen haben die Beteiligten die Erfahrung gemacht, dass mit einer fachlichen Weiterentwicklung häufig auch eine persönliche einhergeht. Dies
wiederum wirkt sich allgemein gesundheitsförder­lich aus,
weshalb die Qualifizierung von Beschäftigten immer auch
solche erfolgreichen Begleitfaktoren hat. Während der aktuellen
hohen Auslastung und guten Auftragslage ernten Werke wie
Beschäftigte durch größere Flexibilität so die Früchte ihrer
Anstrengungen für immer anspruchsvollere Aufgaben. √
Herbert Pfaus, BGM-Berater im niedersächsischen AOK-Institut für
Gesundheitsconsulting
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang
PR ÄVENTION
Wandel gelingt nur gemeinsam
Ständige Veränderungsprozesse sind in Unternehmen zunehmend an der Tagesordnung.
Wie diese so gestaltet werden können, dass die Gesundheit der Beschäftigten nicht darunter
leidet, beschreiben Birgit Schauerte, Patricia Lück und Kai Seiler.
U
m auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen zeitnah
auf sich verändernde Märkte reagieren. Jedes zweite
Unternehmen wählt dafür Umstrukturierungen, wie
zum Beispiel Fusionen, Outsourcing oder Zentralisierung. Das
wirkt sich auch auf die Arbeitsbedingungen und das soziale
Miteinander aus. Fragt man Beschäftigte nach den Folgen
solcher Veränderungsprozesse, so stehen „Überforderung durch
die Arbeitsmenge“, „hoher Zeitdruck“, „überfordernde Verantwortung“ und „Arbeitsplatzunsicherheit“ ganz oben auf der
Liste. Ein Viertel der Beschäftigten hat dies bereits erlebt, so der
aktuelle Fehlzeiten-Report 2012.
Je nach Ausmaß und Gestaltung der Prozesse können sich
solche Veränderungen negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken. Es ist belegt, dass ein umfangreich angelegter
organisatorischer Wandel sogar regelrecht krank machen kann.
Diese negativen Folgen lassen sich abmildern, wenn das Unternehmen die Veränderungen transparent, fair und unterstützend
begleitet. Das zahlt sich auch für die Unternehmen aus. Schon
vor über zwanzig Jahren hieß es in einer großen deutschen Tageszeitung treffend: „Der Faktor ,Mensch‘ ist der wesentliche
Bestandteil aller Veränderungsprozesse und gleichermaßen
kritische Erfolgsfaktor.“
Präventiv handeln. Eine der wichtigsten Stellschrauben für
Foto: iStockphoto
erfolgreiche Veränderungsprozesse ist, die Beschäftigten
„mitzunehmen“, damit diese den Prozess aktiv unterstützen.
Die Arbeitsfähigkeit kann in Zeiten des Wandels aus dem
Gleichgewicht geraten. Auf der einen Seite stehen die gesundheitliche Verfassung der Beschäftigten und deren persönliche
Kompetenzen und Einstellungen im Umgang mit Veränderungen, auf der anderen die veränderten Arbeitsbedingungen.
Diese nehmen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit und damit
auf die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens.
Den Wandel verträglich gestalten. Als Gestaltungsoptionen
für eine mitarbeiterorientierte Gestaltung von Veränderungsprozessen lassen sich dabei folgende Handlungsfelder definieren:
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang Richtig restrukturieren
Die Restrukturierung eines Unternehmens stellt eine gravierende Umbruchsituation dar. Zwei aktuelle Broschüren bieten hier
wertvolle Orientierungshilfe.
Die Initiative Gesundheit & Arbeit (iga) hat die Problematik unter
dem Titel „Restrukturierung: Gesunde und motivierte Mitarbeiter im betrieblichen Wandel“ in einer neuen Broschüre, den igaFakten 4, praxisnah aufbereitet. „Den Wandel gesund gestalten –
langfristig erfolgreich restrukturieren“ heißt eine Handlungshilfe,
die das Landesinstitut für Arbeitsgestaltung NRW entwickelt hat.
Sie enthält neben praktischen Anregungen auch eine Toolbox.
Beide Broschüren sind in Vorbereitung und können auf den Inter­
netseiten der Organisationen (www.iga-info.de und www.lia.
nrw.de) vorbestellt werden.
•Beschäftigte überzeugen und „mitnehmen“: Es muss gelingen,
ein ausreichendes Verständnis für die Sinnhaftigkeit und
Dringlichkeit des Veränderungsprozesses auf allen Mitarbeiterebenen aufzubauen.
•Eine transparente und nachvollziehbare Informations- und
Kommunikationspolitik: Wer sagt wem was, wann und wie?
•Faire und nachvollziehbare Entscheidungsprozesse in allen
Phasen der Veränderung
•Aufbau eines partizipativen Gesundheitsmanagements (PGM),
das Beschäftigte bei arbeitsplatzspezifischen Veränderungsprozessen (Umgebung, Organisation, Führung) als Experten
einbindet, unterstützende Angebote für Beschäftigte im Umgang mit Veränderungsprozessen (Stressmanagement, Resilienz)
umfasst, mit Blick auf zukünftige Herausforderungen Kompetenzentwicklung durch Qualifizierungen betreibt und nicht
zuletzt auch Unterstützung, Training und Coaching für die mit
der Umsetzung beauftragten Vorgesetzten beinhaltet. √
Birgit Schauerte leitet das Team Forschung und Entwicklung beim
BGF-Institut der AOK Rheinland/Hamburg; Patricia Lück ist Referentin
für Betriebliche Gesundheitsförderung im AOK-Bundesverband;
Dr. Kai Seiler ist Fachgruppenleiter beim Landesinstitut für Arbeits­
gestaltung des Landes Nordrhein-Westfalen.
11
UMFR AGE
Wann Flexibilität stresst
Wie flexibel arbeiten die Deutschen eigentlich schon? Und wie kommen die Menschen in den
Betrieben mit den neuen Anforderungen zurecht? Das hat das Wissenschaftliche Institut der
AOK (WIdO) Beschäftigte gefragt – und interessante Antworten bekommen. Von Klaus Zok
D
ass Beschäftigte flexibel sein müssen, ist nichts grundsätzlich Neues: Seit Generationen arrangieren sich
Arbeitnehmer mit Nacht-, Wochenend- und Schichtarbeit oder leisten Überstunden. Doch in den letzten
Jahren sind neue Formen der Flexibilisierung hinzugekommen:
Manche Beschäftigte müssen quasi ständig erreichbar sein, sind
beruflich viel unterwegs, müssen pendeln oder berufsbedingt
umziehen oder sich am Heim- und Telearbeitsplatz selbst organisieren. In einer repräsentativen telefonischen Befragung durch
das Wissenschaftliche Institut der AOK gaben im September
2011 insgesamt 2.002 abhängig Beschäftigte zwischen 16 und
65 Jahren Auskunft über ihre Arbeitsbedingungen und darüber,
welchen Einfluss welche Art von flexibler Arbeit auf ihre Arbeitsbelastung, ihre Zufriedenheit und ihre Gesundheit hat.
Zum Zeitpunkt der Befragung arbeiteten zwei Drittel der
Befragten Vollzeit, ein knappes Viertel war teilzeitbeschäftigt.
Knapp sechs Prozent arbeiteten als geringfügig Beschäftigte und
3,4 Prozent waren noch in der Ausbildung. Etwa jeder dritte
Befragte hatte in den letzten vier Wochen vor der Befragung
seine Arbeitszeit häufig selbst bestimmen können. Etwa jeder
Zehnte hatte in dieser Zeit oft von zu Hause aus gearbeitet,
ebenso viele hatten sich häufig Arbeit mit nach Hause genommen. Gut 13 Prozent der Befragten waren an wechselnden Arbeitsorten tätig. Knapp die Hälfte hatte eine Absprache mit dem
Arbeitgeber, auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar zu sein,
und jeder Dritte war in den zurückliegenden vier Wochen tatsächlich per E-Mail oder Anruf außerhalb der Arbeitszeiten
kontaktiert worden.
Viel zu viel zu tun. Diese verschiedenen Formen der Flexibilität
wirken sich sehr unterschiedlich auf die Beschäftigten aus. Bei
den eher herkömmlichen Formen flexibler Arbeit waren die
Ergebnisse wenig überraschend: Je häufiger jemand nachts, an
Samstagen, Sonn- und Feiertagen sowie Schicht arbeitete, desto häufiger fühlte er sich durch seine Arbeit belastet, klagte über
psychische Beschwerden und war unzufrieden. Auch die (emp-
Wie verbreitet sind die „neuen“ Formen flexibler Arbeit?
In den letzten vier Wochen sehr häufig oder häufig ...
11,5 %
… Arbeit mit nach Hause genommen
12,0 %
… Arbeit zu Hause ausgeübt
13,8 %
33,8 %
36,6 %
… an wechselnden Arbeitsorten gearbeitet
… Anruf oder E-Mail außerhalb der Arbeitszeit erhalten
… Arbeitszeit selbst bestimmt
Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 2.002 Beschäftigten im September 2011 12
Quelle: WIdO 2012
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang
Immer erreichbar, hoch flexibel:
Wenn sich Privat- und Berufsleben nicht
mehr trennen lassen, kommt es auf
Dauer zu gesundheitlichen Problemen.
fundene) Häufigkeit von Überstunden war mit psychischen
Belastungen verknüpft: Mit der Anzahl der Überstunden nahmen bei den Befragten auch die Klagen über psychische Beschwerden und Arbeitsbelastungen zu. Jeder Dritte, der in den
letzten vier Wochen sehr häufig Überstunden gemacht hatte,
gab an, in der Freizeit nicht abschalten zu können. Bei den Befragten ohne Überstunden waren es nur 12,8 Prozent. Auch die
Zufriedenheit der Befragten wurde durch die Anzahl der Überstunden deutlich beeinflusst. Drei von vier Befragten, die keine
Überstunden gemacht hatten, waren mit ihrer Freizeit zufrieden.
Bei den Beschäftigten, die sehr häufig länger arbeiteten, war es
nur knapp jeder Zweite.
Immer im Dienst. Wer häufig auch noch Arbeit mit nach Hause
nimmt, fühlt sich ebenfalls häufiger psychisch belastet als Kollegen, die dies nicht tun. Vor allem Teilzeitbeschäftigten fällt es
dann schwer, in ihrer Freizeit abzuschalten: Das beklagten
47,5 Prozent der Teilzeit- und 40 Prozent der Vollzeitkräfte. Wenn
die Arbeit die Beschäftigten bis nach Hause „verfolgt“, leiden die
psychische Gesundheit und die Zufriedenheit. Das Gefühl, belastet zu sein, nimmt zu. Beschäftigte, die außerhalb ihrer Arbeitszeit von ihrem Arbeitgeber angerufen oder per E-Mail kontaktiert
werden, klagen häufiger über Schlafstörungen und darüber, in
der Freizeit nicht abschalten zu können. Fast jeder zweite Befragte (48,0 Prozent) gab an, eine grundsätzliche Absprache mit seinem
Arbeitgeber zu haben, auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar
zu sein beziehungsweise dass dies von ihm erwartet werde. Wer
eine solche Erreichbarkeitsvereinbarung mit seinem Arbeitgeber
hat, äußerte häufiger, unter Stress und Leistungsdruck zu stehen
(mit Vereinbarung: 40,6 Prozent/ohne: 32,8 Prozent), Zeit- und
Termindruck zu empfinden (46,0/34,9 Prozent) und ungünstige
Arbeitszeiten zu haben (24,2/17,5 Prozent).
Foto: getty images
Entlastung und Belastung. Wer eine flexible Arbeitszeitregelung
hat, klagt seltener über psychische Beschwerden als Beschäftigte, deren Arbeitszeit vom Betrieb festgelegt wird. Letztere fühlen
sich außerdem häufiger durch Vorgesetzte stark kontrolliert,
haben Angst, bei der Arbeit Fehler zu machen und befürchten
bei Krankmeldungen berufliche Nachteile. Am stärksten belastet fühlen sich Beschäftigte mit einer vom Betrieb festgelegten
und wechselnden Arbeitszeit, am wenigsten Personen mit einer
Gleitzeitregelung. Je häufiger ein Befragter in den letzten vier
Wochen vor der Umfrage seine Arbeitszeit selbst bestimmen
konnte, desto seltener berichtete er über psychische Beschwerden
und subjektive Arbeitsbelastungen. Auch die Zufriedenheit war
bei Personen mit einer selbstbestimmten Arbeitszeit höher.
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang Zeit für die Familie. Eine wichtige Rolle spielt die zeitliche
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bietet der Arbeitgeber die
Möglichkeit, für Kindererziehung oder Pflege für eine gewisse
Zeit aus dem Beruf auszusteigen, wirkt sich das positiv auf die
empfundene Arbeitsbelastung und die Zufriedenheit aus. Befragte, die angaben, dass es diese Möglichkeit in ihrem Unternehmen nicht gebe, waren unzufriedener und klagten häufiger
über psychische Beschwerden (insbesondere Erschöpfung) und
eine hohe Arbeitsbelastung.
Gleitzeit tut gut, Pendeln eher nicht. Nicht nur zeitlich, auch
räumlich müssen Beschäftigte heute häufiger flexibel sein. Als
besonders gesundheitsbelastend stellte sich bei der Befragung
das Pendeln heraus: Befragte, die die Anfahrtszeit zur Arbeit als
Belastung empfinden, leiden signifikant häufiger unter psychischen Beschwerden als andere. Dabei gilt: Je länger die Fahrtzeit,
desto höher die subjektive Belastung. Befragte, die ihre Arbeit
auch im Homeoffice ausüben können, klagen weniger über
psychische Beschwerden und Arbeits­belastungen als solche, die
keinen Homeoffice-Arbeitsplatz haben.
Die Auswertung der Befragungsergebnisse zeigt: Vor allem
Überstunden und Anfahrtszeiten zur Arbeit haben einen deutlich negativen Einfluss auf die empfundene Arbeitsbelastung,
die allgemeine Zufriedenheit und das Auftreten psychischer
Beschwerden. Aus den Ergebnissen lassen sich Handlungsempfehlungen ableiten: Im Interesse der Gesundheit ihrer Beschäftigten sollten Unternehmen Strukturen schaffen, die helfen,
allzu viele Überstunden zu verhindern und übermäßiges Pendeln
zu vermeiden (beispielsweise durch Heim- und Tele­a rbeit).
Außerdem sollten sie den Beschäftigten ein Maximum an Selbstbestimmung bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit gewähren. Auf
diese Weise ließe sich ein gesundes Arbeitsumfeld schaffen, in
dem die Arbeitnehmer ihr volles Potenzial entfalten können. √
Klaus Zok ist beim WIdO für Umfragen zuständig.
13
SELBSTSORGE
Freiheit mit Schönheitsfehlern
T
echnik und Ökonomie beherrschen den Alltag in einer neuen
Qualität. Die Privatsphäre, die
bisher neben der Arbeitswelt bestand, löst sich immer weiter auf. Die
Gründe sind vielfältig: Die berufliche
Arbeit dringt mittels E-Mail und Mobiltelefon tief in das private Leben ein, aber
auch die strukturellen Bedingungen von
Arbeit verändern sich infolge von Ökonomisierungsdruck grundlegend. So ist
für viele Erwerbstätige die berufliche
Tätigkeit nicht mehr an feste Zeiten gebunden. Das gilt sowohl kurzfristig, wie
dazu, dass die Beschäftigten für viele
Rahmenbedingungen ihres beruflichen
Handelns selbst verantwortlich sind.
Damit eröffnen sich sowohl neue Chancen als auch Gefährdungen. Die Chancen
bestehen vor allem in den neuen Gestaltungsspielräumen für alltägliches Handeln,
verbunden mit größerer Freiheit und geringerer Fremdbestimmung. Riskant werden solche Arrangements durch mögliche
Überlastungsszenarien. Vor allem besonders ehrgeizige oder leistungsbereite Personen laufen Gefahr, sich selbst auszubeuten.
Und nicht zuletzt führt die Auflösung von
Die berufliche Arbeit dringt mittels E-Mail
und Mobiltelefon tief in das private Leben ein.
bei Vertrauensarbeitszeit, als auch langfristig, etwa im Fall von befristeter oder
Zeitarbeit. Auch der ehemals feste Ort
der Arbeit gerät in Bewegung. Eine zunehmende Zahl von Pendlern steht vor
organisatorischen und praktischen Problemen, um ihren (Arbeits-)Alltag zu
bewältigen. Hinzu kommen spezielle
Anforderungen, etwa bei Projektarbeit in
wechselnden Teams, und die dauerhafte
Notwendigkeit von Weiterbildung oder
fachlicher Neuorientierung bei einem
Arbeitgeberwechsel.
Immer mehr Eigenverantwortung. Gab
früher der Arbeitsprozess klare Strukturen
vor, so müssen die Beschäftigten diese
Aufgabe heute häufig selbst übernehmen.
Gleichzeitig wandelt sich die betriebliche
Steuerung von rigiden Vorgaben zu einer
ergebnisorientierten Führung. Das führt
14
Strukturen und Orientierungspunkten zu
Unsicherheiten, die wahrzunehmen sich
negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken kann.
Gesundheit als Aufgabe. Unsicherheit und
immer mehr Druck sind die Kehrseite der
Flexibilisierung. Verschiedene Studien legen
nahe, dass ein Zusammenhang zwischen
problematischen Arbeitsbedingungen wie
Zeitnot, steigende Komplexität der Auf­
gaben, Überforderung und Arbeitsplatz­
unsicherheit auf der einen sowie gestiegenen
Fallzahlen bei psychischen Erkrankungen
auf der anderen Seite besteht.
Unbestritten ist, dass der individuellen
Selbstsorge unter diesen Bedingungen
besondere Bedeutung zukommt. Die
Selbstsorge, also die Bewahrung der eigenen Gesundheit, muss grundsätzlich als
persönliche Alltagsleistung erbracht wer-
den, unabhängig von Erwerbsarbeit. Aber
unter den Bedingungen flexibilisierter
Arbeit rücken die individuellen Selbstsorgeleistungen näher an den Arbeitskontext
heran: Im privaten Bereich müssen nun
Leistungen erbracht werden, die indirekt
dem beruflichen Alltag zugute kommen.
So müssen sich Beschäftigte etwa für
Ernährung, Bewegung und Entspannung
aktiv Räume und Zeiten im Alltag verschaffen, was sich unter den Bedingungen
ausufernder Arbeitszeiten, wechselnder
Arbeitsorte und komplexer Projektarbeit
als anspruchsvolle Aufgabe erweist, die
weit mehr als nur bloßes Organisationstalent verlangt.
Die Hauptverantwortung für eine gelingende Selbstsorge liegt somit bei den
Beschäftigten selbst. Wie erfolgreich sie
geeignete Kompensationsstrategien einsetzen können, scheint stark von persönlichen Eigenschaften und dem Zugang zu
Ressourcen abzuhängen. Dennoch bleibt
es eine wichtige betriebliche und Führungsaufgabe, Bedingungen für Entlastung und Erholung zu schaffen. Ebenso
wichtig für eine gesundheitsförderliche
Arbeitskultur dürfte die Entwicklung
einer Sensibilität für Gefährdungen und
Überlastung sein, auch wenn Kostendruck und Ökonomisierung dem auf den
ersten Blick eher entgegenstehen. Hier
müssen Unternehmen, Führungskräfte
und Mitarbeiter mit Unterstützung betrieblicher Präventionsangebote der Krankenkassen an einem Strang ziehen. √
Cornelia Weiß ist Arbeitssoziologin und promoviert
derzeit an der Universität Chemnitz zum Thema
„Gesund unter entgrenzten Arbeitsbedingungen“.
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang
Fotos: getty images, DGB, BDA
Die zunehmende Beschleunigung und Verdichtung von Abläufen im beruflichen und
privaten Leben hinterlässt Spuren: In den Betrieben und bei den Arbeitnehmern, die sich
zunehmend selbst um ihr Wohlergehen kümmern müssen. Von Cornelia Weiß
STANDPUNKTE
Flexibilisierung: Gewinn oder Verlust?
»Vielleicht bringt ein Mehr an
Flexibilität kurzfristigen Gewinn,
langfristig ist ein nachhaltiger
Erfolg mehr als unwahrscheinlich.«
»Mehr Flexibilität stellt keineswegs
nur eine Herausforderung dar,
sondern eröffnet auch neue
Freiräume und Perspektiven.«
Seit Jahren dient der Begriff der Flexibilisierung dazu, Anpassungsfähigkeit auf der Arbeitnehmerseite einzufordern. Mit
dem Begriff wurde eine Politik verbunden, die auf einen
umfassenden Zugriff auf den Beschäftigten ausgerichtet war
Die Arbeitswelt unterliegt einem schnellen und grundlegenden Wandel. Wesentliche Determinanten sind hier die Globalisierung, der technologische Fortschritt in immer kürzeren
Zyklen, eine alternde und schrumpfende Gesellschaft und
Dr. Hanns Pauli ist
Referatsleiter für Arbeitsund Gesundheitsschutz
beim Bundesvorstand des
Deutschen Gewerkschaftsbunds.
und auch vor der Prekarisierung von Arbeitsbedingungen nicht
Halt machte. Die langfristigen gesundheitlichen Folgen dieser
falsch verstandenen Flexibilisierung schlagen sich in Krankheiten und in Kosten innerhalb der Sozialversicherungssysteme nieder. Viele Beschäftigte überschreiten seit langem ihr
Limit. Viel dringender als eine weitere Flexibilisierung werden
deswegen effiziente Maßnahmen zur Eindämmung des Präsentismus am Arbeitsplatz und eine Strategie zur Reduzierung
arbeitsbedingter psychischer Belastungen gebraucht.
Die Beschäftigten in Deutschland zählen europaweit zu denen,
die am häufigsten ihre Arbeitszeit überschreiten und sich als
übermäßig flexibel erweisen. Vielfach werden auch Erholungszeiten wie das Wochenende geopfert. Dies wirkt sich auf das
Privatleben aus und führt unter Umständen zu psychovegetativen Beschwerden und Schlafproblemen. Forderungen nach noch
mehr Flexibilität sind daher im Allgemeinen nicht begründbar,
vor allem dürfen sie nicht immer nur die Bedürfnisse des Arbeitgebers bedienen. Aus Flexibilität resultierende Konsequenzen
sind vollständig und langfristig zu bilanzieren. Vielleicht bringt
ein Mehr an „Flexibilität“ kurzfristigen Gewinn, langfristig ist
ein nachhaltiger Erfolg aber mehr als unwahrscheinlich. √
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 9/12, 15. Jahrgang Dr. Alexander Böhne ist
Referent für Betriebliche
Personalpolitik in der
Abteilung Arbeitsmarkt der
Bundesvereinigung deutscher
Arbeitgeberverbände.
nicht zuletzt veränderte gesellschaftliche Wertvorstellungen.
Diese Einflussfaktoren verändern die Arbeitswelt tiefgreifend
und umfassend. Dies führt auch dazu, dass die bisherige
Abfolge von Ausbildung, Arbeit und Ruhestand an Bedeutung
verliert und verlieren muss. Phasen der (Weiter-)Bildung, des
privaten und beruflichen Engagements wechseln sich ab.
Qualifikation, Erfahrung und Lernbereitschaft sichern die
Beschäftigungsfähigkeit des einzelnen über die gesamte Erwerbsbiografie hinweg. Die Mitarbeiter werden zunehmend
zu Unternehmern ihrer eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse.
Sie empfinden dies aber nur dann als wirklich wert- und
sinnvoll, wenn Beruf und Familie in Einklang gebracht werden können.
Mehr Flexibilität im Berufsleben stellt keineswegs nur eine
Herausforderung für Arbeitnehmer dar, sondern eröffnet auch
neue Freiräume und Perspektiven. Gerade die Generation Web
2.0 schätzt fluide Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben
und somit größtmögliche Freiheit bei deren Gestaltung. Für
Unternehmer bedeuten Flexibilisierung und Individualisierung
von Arbeit hohe Anforderungen an die Gestaltung von Organisation und betrieblicher Personalpolitik. √
15
GLOSSE
Bleib offline, Junge
16
Pendeln ist anstrengend, viele Pendler leiden
unter Zeitdruck, Erschöpfung und mangelnder
Freizeit. Doch es gibt Faktoren, die das Pendeln
erträglicher und gesundheitsverträglicher machen.
Die Studie „Job Mobilities and Family Lives in
Europe“, für die rund 7.200 Menschen in sechs
europäischen Ländern befragt wurden, zeigt:
Die Belastungen des Pendelns variieren individuell. Vergleichweise wenig belastet fühlen
sich Pendler, die ihre Mobilität als freiwillige
Entscheidung wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es hilfreich, das Pendeln
als festen Bestandteil in den Alltag zu inte­
grieren, ohne dabei die eigene Gesundheit, die
Familie und die Freizeit aus dem Blick zu verlieren. Diese vier Tipps helfen dabei:
1
Wegzeiten nutzen: zur Entspannung (mit
Musik, einem Buch oder Hörbuch) oder
zum Arbeiten, um so Überstunden zu vermeiden und zu verhindern, dass der ohnehin durch
das Pendeln „verlängerte“ Arbeitstag noch
länger wird.
2
Flexible Arbeitszeiten und Heimarbeit:
Kann die Arbeitszeit flexibel gestaltet
werden, gehen auch eine verpasste Anschlussverbindung oder Staus mit weniger Stress und
damit gesundheitlichen Belastungen einher.
Auch Vereinbarungen über eine gelegentliche
Heimarbeit entlasten Pendler effektiv. Es kann
sich lohnen, mit dem Arbeitgeber über entsprechende Möglichkeiten zu sprechen.
3
Ausgleich im Alltag: Entspannung bietet
die Schaffung von Zeitfenstern, die ganz
für die Familie, Freunde oder die eigene Freizeit
reserviert sind.
4
Nicht alles auf einmal: Aufgaben, die
nicht drängen, können auf einen späteren
Zeitpunkt verschoben werden. √
Foto: iStockphoto
Mein Onkel Heinz hat eine kleine Firma und einen klaren Standpunkt: „Ich
fahre nicht mehr in Urlaub. Vorher zwei Wochen Stress, um alles vorzubereiten. Nachher zwei Wochen Stress, um alles nachzuarbeiten. Durcharbeiten schont die Nerven.“ Da ist was dran, wenn ich an die gefühlt tausend
E-Mails nach den letzten Ferien denke. Aber nur die Gedanken sind frei.
„Du nimmst doch wohl den Laptop nicht mit auf die Insel!“ fragt meine
Frau ohne Fragezeichen. „Natürlich nicht“, nuschele ich und google am
Abend, wo man auf diesem Nordsee-Eiland öffentlich online gehen könnte. Eines der beiden Internet-Terminals steht in einer Rehaklinik.
Ausgerechnet. Da hocken sicher haufenweise Burn-Outis, die unter
Aufsicht zehn Minuten täglich Therapiesurfen dürfen. Nein, so will ich nicht
enden! Diesmal bleibt die E-Fessel zu Hause.
Tag 1: Anreise, kein Problem. Tag 2: Was, wenn doch was ganz Wichtiges…? Tag 3: Vielleicht nur mal schnell die Müll-Mails weglöschen, damit
es am ersten Arbeitstag schneller geht. Tag 4: Oh Gott, hab’ ich eigentlich
die Abwesenheitsmail aktiviert? Tag 5: Die Entzugserscheinungen lassen
nach. Schon ab Tag 8 kann ich ohne nervöses Zucken am Internetcafé
vorbeigehen. Zwei Tage später bekomme ich mein Passwort für den OnlineAccount nicht mehr auf die Reihe. Im Strandkorb nebenan hyperventiliert
ein Papi, dem der Filius mit viel Liebe einen Sandkuchen auf dem MacPowerbook serviert hat. Armes Würstchen. Bleib offline, Junge!
Nach dem Urlaub geht’s frühmorgens von Köln mit dem Flieger nach
Berlin. Wissen Sie, mit wem man um 5.50 Uhr smartphonieren kann? Außer
mit der Börse in Tokio natürlich. Kaum hat die Boeing Berliner Boden berührt, checken nervöse Zeigefinger die Mails der letzten 50 Flugminuten.
Gemessen an den Nachrichten, die ich zwischen sechs und sieben Uhr
morgens bekomme, gehöre ich zur Generation Bleisatz. Vielleicht gibt es
eine Angeber-App, die einen um diese Zeit anruft. Wenig später meldet mir
„Outlook“ 687 ungelesene Mails. Ich fühle mich plötzlich so urlaubsreif und
muss an Onkel Heinz denken. √
Vier Tipps für ein
gesünderes Pendlerleben
Katharina Becker ist Wissenschaftliche
Mitarbeiterin im Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung.