Michael Eggers: Art oder Eigenart. Wissenschaftliche und poetische

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Michael Eggers: Art oder Eigenart. Wissenschaftliche und poetische
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Michael Eggers
Art oder Eigenart.
Wissenschaftliche und poetische
Ordnung in Carl von Linnés
„Lappländischer Reise“ und
H. C. Artmanns „Das suchen nach
dem gestrigen tag oder schnee
auf einem heißen brotwecken“
138
In der literaturwissenschaftlichen Forschung steht die Prosa
H. C. Artmanns, der an prominenter Stelle publizierten
Einschätzung Klaus Reicherts folgend, für eine Poetik des
Einfalls.[1] Eine lineare Handlungsabfolge vermeidend,
[1] Klaus Reichert, Poetik des fragmentieren Artmanns Texte die Kohärenz einer
Einfalls, in: H.C. Artmann,
zeitlich und räumlich abgrenzbaren Fiktion und
Grammatik der Rosen. Gesammelte
Prosa, hg. v. Klaus Reichert, Bd. 3, sind gekennzeichnet durch die zufällige AusSalzburg u. Wien 1979, S. 469-505. wahl und die Heterogenität des erzählten
Materials. Dennoch sind in der jeweiligen Präsentation
ebendiesen Materials einfache und regelmäßige Strukturen
auf den ersten Blick erkennbar. An der Grenze zwischen
formaler Offenheit und Geschlossenheit werden Artmanns
Texte ästhetisch anzusiedeln sein. Behalten wir als
Grundzug der Verfahrensweise der Texte im Kopf, daß ihr
poetisches Material Einfällen jeglicher Art (literarischer,
biographischer usw.) entstammt, deren künstlerische
Bearbeitung durch Wahl eines beliebigen Bezugsrahmens,
eines Rasters, erfolgt, der die Reihung in eine — eher
[2]
[2] Ebd., S. 480. zyklische als lineare — Abfolge leitet. Die in den Texten
erfolgte Zusammenstellung thematischer Bezüge, literarischer Referenzen, popkultureller Zitate oder Pastiches
bricht in der Regel mit geläufigen Erwartungen, die durch
die jeweiligen Anfangspassagen geweckt sein mögen.
Dieses ‚in der Regel‘ trifft den Sachverhalt aber auf doppelte Weise: Die Divergenzen, Brüche und Sprünge im Material
sind nicht beliebig, sondern folgen eben formalen Regeln,
zu deren strikter Umsetzung sie einen scharfen Kontrast
bilden. Für die auch untereinander so unterschiedlichen
Prosatexte Artmanns lassen sich mithin Gestaltungsprinzipien ausmachen, die weniger in als an der Lektüre
ablesbar sind: an ihrem Rhythmus, ihrer Zäsurierung,
den Vor- und Rückverweisen, die man als Leser auf der
Suche nach Wegen durch den Text unternimmt, den Wiederholungen.
TriMt die Feststellung dieser Kennzeichen
der Artmannschen Prosa weiterhin unvermindert zu, so
ist zu überlegen, wie weit sie in der poetologischen Aufschlüsselung der Texte reicht. Einfall und Raster sind
abstrakte Begriffe, die die beobachtbaren Strukturmomente
Michael Eggers: Art oder Eigenart
adäquat bezeichnen, in ihrer Abstraktion aber notgedrungen allgemein bleiben und dem konkreten Angebot
des einzelnen Textes nicht nachzugehen beanspruchen.
Denn dieses Angebot besteht nicht nur in der äußerlichen
Gestalt und dem Assoziationsgeflecht der Motive. Geben
diese strukturellen Aspekte des Textes schon entscheidende
Hinweise, so ist darüber hinaus dem jeweiligen Material
in seiner Verweisfunktion nachzugehen, mit der es über
den reinen Textinhalt hinausweist. Dies gilt vor allem für
die ausgeprägte Intertextualität dieser Prosa, die sich durch
ein dichtes Netz von motivischen Zitaten und Anspielungen
auszeichnet. Der offensichtliche Umstand, dass Artmann
damit literaturgeschichtliche Wahlverwandtschaften
herstellt, so etwa zur Barockliteratur, zur Commedia dell’arte, zur Detektiv-, Schauer- oder zur Comicliteratur, ist zu
ergänzen durch eine weiterführende Untersuchung der
einzelnen poetologischen Bezüge. Wenn Reicherts Urteil,
dass diese Texte nicht eskapistisch seien, sondern einen
Wirklichkeitsentwurf darstellen, der auf bloße Literatur
sich nicht eingrenzen [lässt], weil er in nicht genau
bestimmbarer, und also irritierender, Weise immer ins
Leben hinüberspielt[ ],[3] gelten soll, dann ist auch die [3] Ebd., S. 474f.
literarische Referenz nicht bloß Reminiszenz, sondern Teil
einer besonderen Art der Wirklichkeitsaneignung. Der Text
in der Vielfalt seiner Bezüge ist deshalb nicht als rein
fiktionaler oder imaginärer Kosmos zu betrachten. Das Spiel
der Referenzen ist keine Signifikanzmaskerade, sondern
verweist mit den gemeinten literarischen Texten auch auf
deren Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit, die im
Artmannschen Text wiederum modifiziert werden und so
zur Konstitution eines näher zu bestimmenden Realitätsmodus führen. Im Folgenden soll das so skizzierte Analyseverfahren auf einen intertextuell besonders deutlich markierten Fall angewendet werden, nämlich auf Das suchen
nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen
brotwecken von 1964, das so genannte ‚Schwedische
Tagebuch‘, das unter dem Eindruck der Lektüre von und
der Übersetzungsarbeit an Carl von Linnés Lappländischer
139
140
[4] Vgl. zur Entstehung
H.C. Artmann, Carl von
Linné: Lappländische
Reise, und ‚Ein Gedicht
und sein Autor‘, in:
The Best of H.C.
Artmann, hg. v. Klaus
Reichert, Frankfurt am
Main 1970, S. 371-376.
[5] S. dazu Heinz
Goerke, Carl von Linné.
Arzt - Naturforscher Systematiker 1707-1778,
Stuttgart 1966, S. 150ff.
und Uwe Ebel, Studien
zur skandinavischen
Reisebeschreibung von
Linné bis Andersen,
Frankfurt am Main 1981,
S. 17ff.
Michael Eggers: Art oder Eigenart
Reise entstanden ist.[4] Die zentrale Bedeutung Linnés für
den Tagebuchtext Artmanns vorausgesetzt, erschließt sich
die Art des intertextuellen Anschlusses erst nach einer
Betrachtung und wissenshistorischen Einordnung der
Lappländischen Reise. Im Anschluss daran soll die dem
Artmannschen Text immanente Poetik erläutert werden,
wobei weitere literarische Verweise miteinzubeziehen sind.
Mit der Iter Laponicum oder Lappländischen Reise
beginnt Linné 1732 die Reihe seiner Reiseberichte, die im
Laufe seiner wissenschaftlichen Forschungsexpeditionen
durch verschiedene Regionen Schwedens entstehen.
Obwohl das biologische, mineralogische und ethnologische
Interesse in den Berichten überwiegt, nehmen sie in der
schwedischen Literaturgeschichte einen herausragenden
Platz ein. In ihrer rhetorisch gänzlich unartifiziellen, protokollarischen Form haben sie nicht nur einer unstilisierten
Verwendung der schwedischen Sprache Vorschub geleistet,
bei der bewusst auf barocken ornatus verzichtet und eine
schlichte, direkte Ausdrucksweise bevorzugt wird, sondern
zeitgenössisch zugleich zu einer neuen Qualität in der
Wahrnehmung der Natur und Kultur Schwedens geführt.[5]
Eine wissenschaftliche Öffnung zu einem aufgeklärten
Weltbild verbindet sich hier mit der Besinnung auf die
eigene Herkunft und Kultur, was sich nicht nur thematisch, sondern gerade auch im bewussten Gebrauch der
eigenen Landessprache ausdrückt. Diese doppelte, sowohl
im Gegenstandsinteresse als auch in der Sprache sich
niederschlagende Ablösung von überkommenen Regeln des
wissenschaftlichen Diskurses macht den kulturgeschichtlichen Stellenwert der Reiseberichte aus.
Vor dem
Hintergrund von Artmanns Das suchen nach dem gestrigen
tag und dessen eigenwilliger Bezugnahme auf Linné
interessiert jedoch dieser spezifisch literaturgeschichtliche
Aspekt nur am Rande. Artmann will an die Lappländische
Reise nicht in deren Bedeutung als kanonischer Teil des
schwedischen Kulturerbes anschließen, seine intertextuelle
Bezugnahme ist mithin weder eine Reverenz an das Vorbild
noch gar ein Versuch von dessen Überbietung, wie er sich
141
aus einem Produktionsmuster der Einflussangst ergeben [6] Harold Bloom,
würden.[6] Für seinen Zugriff ist zuallererst der poetische Einflußangst, Frankfurt
am Main. u. Basel 1995.
Eigenwert des sprachlichen Erscheinungsbildes des Linnéschen Textes in den Blick zu nehmen, der durch den
historischen Kontext erklärbar ist, in diesem aber nicht
restlos aufgeht. Bei der Lektüre der Lappländischen Reise
fallen sofort einige strukturelle Eigenschaften ins Auge.
Teilweise sind diese formalen Merkmale den Entstehungsbedingungen und den Formanforderungen des Tagebuchs
geschuldet — so die geographische und chronologische
Gliederung und die abrupten Übergänge zwischen den
Notizen. Zugleich wird in dem nicht für die Öffentlichkeit
geschriebenen Text aber eine spezifische, keinerlei formalen Konventionen oder Erwartungshaltungen verpflichtete
Wahrnehmungsweise erkennbar. In der Lektüre stellt sich
so der Eindruck eines unverstellten Zugangs zur Wirklichkeit ein, auf den Artmann selbst hinweist, wenn er an
Linnés Text die Frische einer erstaunlichen und unmittelbaren Poesie oder die strahlenden Momentaufnahmen
winziger Dinge, seien sie organischer oder anorganischer,
materieller oder sozialer Art hervorhebt.[7] Produktiv
aufgreifbar für Artmanns eigenen poetischen [7] H.C. Artmann, Carl von Linné: LappAnspruch ist dabei weniger die Fähigkeit der ländische Reise, bzw. „Ein Gedicht und
sein Autor“, S. 371 bzw. 373.
historischen Person Carl von Linnés — der mit
dieser Reise im wahrsten Sinne des Wortes wissenschaftliches Neuland betritt — zur genauen Naturbeobachtung,
als vielmehr das durch die unverwechselbare Sprachgestaltung des Linnéschen Reisetagebuchs konstituierte [8] Vgl. zur praktischen,
Wirklichkeitsbild.
Innerhalb der Reiseberichte Linnés utilitaristischen Zielsetzung der Lapplandnimmt die Lappländische Reise eine Sonderstellung ein. reise Astrid Surmatz,
Die späteren Berichte — d.h., ab dem zweiten Bericht, dem ‚Terra incognita’ im
Fokus ethnographischer
Iter Dalekarlicum (Reise durch Dalarne) von 1734 — sind an und botanischer
ökonomischen Maßgaben orientiert, die von vornherein Beschreibungsmuster:
darüber befinden, was der Erwähnung wert ist und was Linnés Reise durch Lappland, in: Erschriebene
nicht. Die Auswahl des Materials erfolgt dort unter dem Natur. Internationale
Gesichtspunkt einer Bestandsaufnahme der natürlichen und Perspektiven auf Texte
des 18. Jahrhunderts,
kulturellen Ressourcen des Landes und deren möglicher hg. v. Michael Scheffel,
späterer Weiterentwicklung.[8] Formal entsprechen die Berlin 2001, S. 241ff.
142
[9] Vgl. Ebel, Studien
zur skandinavischen
Reisebeschreibung,
S. 33ff.
Michael Eggers: Art oder Eigenart
sämtlich als wissenschaftliche Auftragswerke entstandenen
Reiseberichte dieser Intention durch ihre lose Aneinanderreihung von Anmerkungen, deren Gegenstandsbezug vom
je vorherigen durch Textabsatz getrennt ist. Mit diesem
denkbar nüchternen, fast inventarisierenden Stil hält sich
Linné an das im 17. und 18. Jahrhundert verbreitete
Notationsprinzip der unvorgreiflichen Gedanken[9]: Die
gemachten Beobachtungen werden einzeln und ungeordnet
nacheinander aufgeführt, eine abschließende Bewertung
unterbleibt, gedankliche Beurteilungen werden nur ansatzweise ausgeführt. Sie bleiben der späteren Diskussion der
Reiseergebnisse durch die Fachwelt vorbehalten. Auch die
nach der Lapplandreise entstehenden Berichte sind also
nicht thematisch gruppiert oder systematisiert; die innere
Ordnung, der sie folgen, ist die einer durch Absätze
getrennten Serie von Beobachtungen und Anmerkungen.
Gerade so schärft ihre aufgeklärte Zweckrationalität aber
die Aufmerksamkeit für das Beobachtete, das unvorgreiflich
wiedergegeben wird und sich keinem geschlossenen
Gesamtbild zu fügen hat. In der Grundstruktur entspricht
die Lappländische Reise dieser Form: Sie besteht aus einer
losen Reihung dessen, was der naturkundlich geschulte
Reisende auf seinem Weg antrifft, wobei alle Linné vorrangig interessierenden Bereiche auftauchen: Flora, Fauna,
Gesteine, Alltagskultur und Medizin. Im Unterschied zu den
späteren Berichten ist der Text daneben jedoch geprägt von
einer von wissenschaftlichem Zweckdenken unberührten
Offenheit, die es nicht nur erlaubt, Sachverhalte spontan zu
beurteilen, sondern auch subjektive Gedanken einfließen
zu lassen, ja sogar poetische Vergleiche heranzuziehen, um
bestimmte Natureindrücke wiederzugeben. Das Registrieren
der Details in der Natur, das sich einer späteren statistischen
und systematisierenden Auswertung anbietet, steht
unmittelbar neben der Notiz ungewöhnlicher Vorfälle im
Alltagsleben der einheimischen Bevölkerung oder einer
Bemerkung hinsichtlich der Beschwerlichkeit des zurückzulegenden Weges:
Am Ufer findet sich bald Kies, bald
Kieselsteine, bald Sand, lapides im Walde rarissimi.
Der Umeå-Fluß begann jetzt heftig dahinzuströmen, denn
jetzt ist es einige Tage sehr warm gewesen, so daß Eis und
Schnee schmelzen, hierdurch steigt das Wasser im Flusse, so
daß man nur mit Mühe segeln kann. Sonst kommt das
stärkste Hochwasser um die Mittsommerzeit.
Der
Umeå-Fluß, sagen die Lappen, entspringt in den Bergen,
eine Meile vom norwegischen Meere, geht in den UmeåSee, fließt dann hier unten vorbei.
Oberhalb von hier
gibt es keine Neusiedler.
Wir gingen an Land, um
etwas bei einer Hütte auszuruhen. Hier hatte vor einem Jahr
der Vater seine Tochter erschlagen, auf daß der Eidam nicht
sollte erben können.
Heute blies es sehr kalt von
Norden.
In einem Baum bei einer Hütte hingen über
Das in den
zwölf Geweihpaare von Braunrenen.[10]
späteren Berichten maßgebliche, neutralisierende
Wahrnehmungsraster ist hier erst im Hintergrund wirksam.
Beispielhaft macht die Passage die Kontiguität der heterogenen Aufzeichnungen deutlich. Die lapidare Aneinanderreihung der Notate hinsichtlich der Gewässer, des Tochtermordes und der Feststellung der Windverhältnisse bleibt
unvermittelt und lässt etwa einer meteorologischen Notiz
die gleiche Bedeutung zukommen wie einer Gewalttat.
Dieses Fehlen jedes weiteren Kommentars führt zu einer
Emphase des Details, die keine rhetorische Unterstützung
braucht: Der in der Notiz jeweils erfasste Sachverhalt ist der
Aufmerksamkeit und damit der sprachlichen Aufzeichnung
wert, er steht für sich und wird keiner weiteren Logik unterworfen.
Wenn Artmann für diese Beschaffenheit
des Textes eine wertfreie Gleichzeitigkeit des Daseins
konstatiert, so trifft er damit zunächst das von Linné
befolgte Prinzip der Unvorgreiflichkeit, das jedes Notat als
solches stehen lässt und sich der Beurteilung enthält. Die
weitere Beschreibung der Notizen als Details im Strahlenglanz ihrer leuchtenden Faktizität geht aber darüber hinaus
und zeugt von einer poetisierenden Lektüre. Hier erkennt
Artmann bei Linné bereits eine Qualität, die dann auch für
den eigenen Tagebuchtext erreicht werden soll. Mit dem
Strahlenkranz spricht er den Dingen eine säkulare Heiligkeit
143
[10] Carl von Linné,
Lappländische Reise,
aus dem Schwedischen
von H.C. Artmann,
Berlin 2004, S. 65.
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zu, eine Aura, die aber ohne jeden metaphysischen Anstrich
bleibt, der physischen Materialität angehört und dabei in
der Faktizität eines naturbelassenen, noch kaum kultivierten Lebens verbleibt. Damit erkennt er in Linnés Bericht
einen literarischen Wert, der vom Verfasser selbst nicht
angestrebt worden ist. Die Lappländische Reise entspricht
in ihrer Ordnungslosigkeit den typischen Strukturmerkmalen
des Tagebuchs,[11] mutet aber in dieser ausgeprägt fragmen[11] Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Euro- tarischen Form sehr modern an. Während
päische Tagebücher. Eigenart, Formen, sich aber im 18. Jahrhundert die Gattung
Entwicklungen, Darmstadt 1990, S. 2;
s. auch Hargen Thomsen, Das Tagebuch im zu einer autobiographischen Form der
Übergang zur Literarischen Kunstform, in: Introspektion entwickelt, ist der Linnésche
Germanistisch-Romanische Monatsschrift 75
Reisebericht fast ausschließlich eine
(1994), S. 380.
Wiedergabe der Außenwelt. Zudem
[12] Die Lappländische Reise bleibt der
einzige der Reiseberichte Linnés, der nicht handelt es sich gerade nicht um ein
zu Lebzeiten veröffentlicht werden sollte. literarisches Tagebuch, dessen SprachEbel spekuliert, dass es die streng
wissenschaftlichen Ansprüchen nicht verwendung erkennbar ästhetischgenügende Form war, die ihn von der poetischen Gesichtspunkten folgt oder
Veröffentlichung abhielt. Vgl. Ebel, Studien
das gar bereits für ein späteres Publikum
zur skandinavischen Reisebeschreibung,
[12]
S. 33. Die gleiche Überlegung findet sich geschrieben ist. Linné selbst beginnt
bei Staffan Müller-Wille, Joining Lapland nach Abschluss der Reise mit einer
and the Topinambes in Flourishing Holland:
Center and Periphery in Linnaean Botany, systematischen, die Unordnung des
Science in Context 16 (2003), S. 462. Tagebuchs aufhebenden Auswertung der
[13] Carl von Linné, Lappländische Reise, gesammelten Daten, getrennt nach
hier z.B. S. 29f.
Wissensbereichen, die 1737 zur Publikation
der dann nach akademischem Standard durchgängig auf
Der als ein
Latein verfassten Flora Lapponica führt.
solcher dezidiert angelegte poetisch-literarische Gehalt
des Textes bleibt denn auch beschränkt auf stellenweise
einfließende mythologische Assoziationen, die Linné zur
Benennung natürlicher Gegebenheiten ebenso selbstverständlich verwendet wie die lateinische Fachterminologie.[13] Selten lässt er sich hinreißen zu solch schwärmerischen Betrachtungen über die Natur wie die der vielzitierten
Beschreibung der Andromeda, einer auf deutsch heute
als Rosmarinheide bekannten Pflanze, die er mit der
bekannten Figur aus der griechischen Mythologie assoziiert.
Der bis ins Detail reichende und mit einer kommentierten
Michael Eggers: Art oder Eigenart
Zeichnung sowohl der Pflanze als auch der Frauengestalt
Andromedas versehene Vergleich zeigt, wie hier eine
poetische Phantasie der namentlichen und begrifflichen
Erfassung der Natur dienstbar gemacht wird:
Chamaedaphne, Buxb. oder Erica palustris pendula,
flore petiolo purpureo stand nun in ihrer schönsten
Pracht und gab den Mooren einen herrlichen Zierat. […] Ich
bezweifle, daß ein Maler imstande ist, auf das Bild einer
Jungfrau solche Anmut zu übertragen
und ihren Wangen solche Schönheit
als Schmuck zu verleihen. Keine
Schminke hat das je erreicht. Da ich
sie zum ersten Male sah, stellte ich
mir Andromeda vor, wie sie von den
Poeten abgebildet wird. Je mehr ich
an sie dachte, desto mehr wurde sie
mit dieser Pflanze eins. Denn wenn
sich der Poet vorgenommen, sie mystice zu beschreiben,
hätte er sie auf diese Art nicht besser treffen können. […]
Sie steht mitten im Wasser auf einem Grashöcker, auf der
sumpfigen Wiese, gleichsam Andromeda, auf ein Felseneiland gebunden, bis an die Knie im Wasser, nämlich bis
über die Wurzeln. Stets ist sie von vergiftenden Drachen und
Getier umgeben, id est die häßlichen Kröten und Frösche,
die hier im Frühling, wenn sie sich paaren, das Wasser nach
ihr blasen. Da steht sie und läßt voller Traurigkeit ihren Kopf
hängen, ihre rosenwangigen capitula florum. Die Wangen
werden bleich und bleicher, capitula pallescunt magis
magisque: hinc Andromeda dixi, foliis acutis! Sie liegt
Dass
halb am Boden, der Hals ist bloß, hinc carneus.
in der Epoche Linnés die Natur und Geisteswissenschaften
sich als solche noch nicht ausdifferenziert haben, wird
unmittelbar nachvollziehbar, wenn der umfassend
gebildete Naturforscher auf sein literarisches und kunstgeschichtliches Wissen zurückgreift, um den (bis heute
gültigen) Gattungsnamen der beobachteten Pflanze zu
finden. Um dieses Benennen aber geht es: Nicht die an
die barocke Tradition des Emblems angelehnte, bildhafte
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Ausdrucksweise oder die Macht der poetischen Einbildungskraft steht im Vordergrund, sondern das adäquate Erfassen
der natürlichen Dinge, für die ein Name gefunden werden
[14] Zur emblematischen Form dieser muss und die ins System eingeordnet werden
Passage vgl. Ebel, Studien zur
sollen.[14] Dass Linné für ein terminologisches
skandinavischen Reisebeschreibung,
S. 47ff. „Nicht mehr das in der Natur Problem auf die Mythologie zurückgreift, ist
Vorfindliche enthält einen sensus nicht die Regel. Der ästhetischen Empfindung
mysticus, nicht die Schöpfung ist
figura eines solchen Sinns, sondern wird zwar durchaus (hier ausnahmsweise sehr
die Dichtung ist umgekehrt eine mys- ausgiebig) stattgegeben, was aber zählt, ist, das
tice verfahrende Darstellung von
Vorkommen der Pflanze registriert zu haben und
Erscheinungen der Wirklichkeit.“
(S. 49), Müller-Wille, Joining Lapland sie nach den eigenen, neuen Prinzipien der
and the Topinambes, S. 464ff. botanischen Terminologie treffend bezeichnen
zu können.
Was stil- und rezeptionsgeschichtlich eine
nachhaltige Wirkung entfalten sollte — die Verwendung der
schwedischen Sprache für die Tagebücher — ist wohl auch
dadurch bedingt, dass die Reiseberichte nicht als wissenschaftliche Abhandlungen im strengen Sinne konzipiert
worden sind. Linné schreibt ein denkbar schlichtes
Schwedisch, mit dem er sich bewusst von der gekünstelten
Rhetorik der vergangenen Epoche absetzt, das aber erkennbar noch nicht für ein breites Publikum gedacht ist. Dies
zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er spontan auf Latein
zurückgreift, wenn es ihm einfällt, so dass der Wechsel von
der Muttersprache ins akademische Register stellenweise
mehrfach innerhalb eines Satzes erfolgt, was in der Übersetzung Artmanns so klingt:
Gen Gävle zu sah ich
einen Runenstein. Er war aber bereits entziffert, ergo ich
non mich aufhielt.
Wüßte ich, wie viel dentes et
quales und wieviel Zitzen jegliches animal hat, und ubi,
so dünkte ich mich wohl fähig methodum naturalissimam
[15]
[15] von Linné, omnium quadrupedum zu machen.
Die
Lappländische Reise,
Sprachenmischung macht die Materialität des Textes auf
S. 17 u. S. 86.
ganz andere Weise auffällig, als es die regelgeleitete
Rhetorik der zu Ende gehenden Epoche mit ihren aufwändigen Stilkonstruktionen getan hat. Das leitende Prinzip
dieser Aufzeichnungen ist das der direkten und spontanen
Feststellungen, wobei erst der unvermittelte Wechsel von
der Muttersprache ins Latein, der den abrupten Wechseln
Michael Eggers: Art oder Eigenart
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des Gegenstandsbezuges entspricht, das sprachliche
Ausdrucksmittel als solches bei der Lektüre unablässig zu
Bewusstsein bringt. Artmanns eigenes schwedisches Tagebuch wird dieses Gestaltungsprinzip aufgreifen und zu
einem virtuosen Stil und Sprachengemisch steigern.
Im Hinblick auf die Form des Artmannschen Tagebuchs ist
aber auch zu fragen, wie die Textstruktur der Lappländischen Reise in Bezug auf die Linnésche Systematik der Natur
einzuordnen ist. Denn diese verlangt eine rigide Ordnung
der Beobachtungen, eine vergleichende und systematisierende Auswertung von Daten, die zu einer möglichst
lückenlosen, logisch gestaffelten Erfassung der Natur führen
soll. Linné steckt sich für die terminologische Arbeit, deren
epochemachendes Ergebnis die neuartige, binäre Nomenklatur sein wird, das Ziel des natürlichen Systems. Mit
diesem sollen sich alle Arten voneinander durch Merkmale
differenzieren lassen, die ihre natürlichen Grenzen zu
anderen Arten markieren und äußerlich erkennbar sind.
Er unterscheidet es von der künstlichen Klassifikation, die
aufgrund der willkürlichen Wahl von Merkmalen nur die
vorläufige Differenzierung bestimmter Arten untereinander
erlaubt.[16] Im natürlichen System sieht [16] Vgl. dazu Michel Foucault, Die
Linné das in der Natur angelegte, gott- Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der
Humanwissenschaften, Frankfurt am Main.
gegebene Raster der unveränderlichen und 1974, S. 182ff.; sowie jetzt grundlegend
voneinander abgegrenzten Arten. Als und bezüglich Linné Foucault korrigierend
Staffan Müller-Wille, Botanik und weltideales Ziel seiner Arbeit kann es aber nur weiter Handel. Zur Begründung eines
über das Hilfsmittel der künstlichen natürlichen Systems der Pflanzen durch
Klassifizierungen erlangt werden, die durch Carl von Linné (1707-78), Berlin 1999;
s. auch ders., Joining Lapland and the
nach und nach zusammen getragenes Topinambes, S. 462 u. S. 474.
Wissen anzupassen oder aufzulösen sind. [17] Aristoteles, Topik VI 5, 143a15. Dazu
Dies erfolgt durch Anwendung des aristo- Müller-Wille, Botanik und weltweiter
Handel, S. 46ff.
telischen Definitionsprinzips per genus
[18] Vgl. zum komplexen Verhältnis
proximum et differentiam specificam,[17] natürlicher und künstlicher Klassifikation
mit dem sich ein hierarchisches Stufen- Müller-Wille, Botanik und weltweiter
system von Gattung und Art herausbilden Handel, S. 67ff.
lässt: Der fragliche Gegenstand ist der ihm nächsten Gattung
zuzuordnen und dort durch eine Auswahl unterscheidender
Merkmale als Art zu identifizieren.[18] Linnés Vorgehensweise
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Michael Eggers: Art oder Eigenart
ist also sowohl spekulativ als auch empirisch[19]:
Die an den ähnlichen Einzelexemplaren festgestellten Unterschiede werden zunächst als
Artunterschiede angenommen, daraufhin aber
durch fortgesetzte Vergleichung weiteren
Untersuchungsmaterials auf ein Mindestmaß
reduziert. Nur die konstant bleibenden Differenzen kommen
als artspezifische in Frage. So soll sich schließlich das der
Natur inhärente System herausschälen, das dann durch die
Nomenklatur repräsentiert wird.
Das System der Natur
ist demnach ein Zeichensystem, das als eine abstrahierende
Begriffshierarchie aufgebaut ist. Jede Art unterscheidet sich
von anderen durch bestimmte Merkmale und lässt sich mit
anderen zu einer gemeinsamen Gattung zuordnen. Idealerweise kann so jedes in der Natur tatsächlich vorfindliche
Objekt, jedes Exemplar als Beispiel seiner Gattung und Art
verstanden werden. Die Aufzeichnungen der Lappländischen Reise sind nur das Dokument eines ersten Arbeitsschrittes auf dem Weg zu dieser Zeichenordnung. Es ist aber
gerade ihre Eigenart einer offenen, wertfreien Bestandsaufnahme vor der kategorischen Abstraktion, die Artmann
für sein Tagebuch übernimmt. Während Linné die Natur
sichtet, die Daten sammelt, die er später in ein hierarchisches System eingliedern und dabei von allem nicht weiter
verwertbaren Beiwerk befreien wird, stellt die Unordnung
von Artmanns Text dessen erste und letzte Stufe dar. Wie
Linné auch, folgt er dem Prinzip des Aufsammelns all dessen, was der Erwähnung wert erscheint. Wie bei Linné ist
die serielle Reihung der Notate als solche ganz gleichmäßig,
enthält in sich aber übergangslose Gegensätze. Schon bei
Linné erlaubt die Logik der vergleichenden Artbestimmung,
scheinbar weit auseinander liegendes zusammen zu
bringen, falls es sich einer gemeinsamen Gattung zuordnen
lässt, denn um das System zu einem vollständigen zu
machen, müssen auch weit hergeholte Vergleiche zulässig
sein. Auf diese Weise überspannt die Systematik in geographischer Hinsicht den gesamten Globus und kann in
ihrer Stringenz zunächst widerspruchsfrei eine Artidentität
[19] Zum Verhältnis von Empirie und
Spekulation, in dem sich das
Verhältnis von natürlicher und
künstlicher Klassifikation ausdrückt,
vgl. James L. Larson, Reason and
Experience. The Representation of
Natural Order in the Work of Carl von
Linné, Berkeley u.a. 1971.
von Exemplaren in Lappland und dem tropischen Brasilien
erzeugen.[20] Bereits die Widmung des suchens nach dem
gestrigen tag zeigt, auf welche Weise Artmann sich der
Lizenzen dieser formalen Logik bedient. Die Aneinanderreihung der Arten enthält hier nicht mehr nur geographische
Gegensätze (Kanada und Feuerland), sie verselbständigt
sich von ihrer empirisch überprüfbaren Gegenstandsebene
und erzeugt den Reiz der Kontraste aus sich heraus, indem
sie die Existenz exotischer Vögel in einem österreichischen
Alpental imaginiert: Ich widme dieses diarium höflichst
den schmetterlingen Saskatchewans, den papageien der
Tierra del fuego und den colibris des Rauriser tals.[21]
Sollen die von Linné schriftlich festgehaltenen Beobachtungen die ökonomische und rationale Beherrschung der Natur
befördern und eingespeist werden in ein Begriffssystem, in
dem sie auf formalisierte und abstrahierte Zeichen reduziert
sind, so verweigert Artmanns Text diese Weiterverwertung.
Das Linnésche System repräsentiert die Natur und damit die
Schöpfung Gottes, es ist getragen von der Sicherheit, sich
eine von Gott eingerichtete Welt zu erschließen. Artmanns
Aufzeichnungen hingegen sind von einer Gesetzmäßigkeit
des Begriffs und der Repräsentation nicht zu erfassen.
Beeindruckt im Gesamtwerk Linnés dessen strikte Vorgehensweise der fortgesetzten Rationalisierung, so knüpft
Artmann an eine sehr frühe Stufe in diesem logischen
Prozess an, um sich deren offene Wahrnehmungsweise zu
eigen zu machen. Während die Aufmerksamkeit des reisenden Linné aber auf die Umgebung gerichtet ist, verschiebt
sich der Bezug bei Artmann: Zu den Beobachtungen der
Außenwelt kommen imaginierte Szenen, die sich meist
in einem mit dem auktorialen und fiktiven Personal der
Literaturgeschichte und Populärkultur bevölkerten Raum
abspielen. Die Mischung der wie herkömmliche Tagebuchnotizen klingenden Eintragungen mit diesen erkennbar
erfundenen Szenen und Situationen hat zur Folge, dass der
Verdacht der Fiktionalität für alle Notizen gelten muss, auch
für die, die reine Alltagsbegebenheiten wiederzugeben
scheinen:
Heute morgen sahen wir einen clochard,
149
[20] Müller-Wille
erläutert den Fall
einer (falschen)
Zuordnung einer
einzigen Pflanzenart
zu Exemplaren sowohl
in Lappland als auch
auf der brasilianischen
Insel Topinambou.
Vgl. Müller-Wille,
Joining Lapland and
the Topinambes,
S. 481.
[21] Artmann, Das
suchen nach dem
gestrigen tag, S. 8.
150
Michael Eggers: Art oder Eigenart
[22] Artmann, Das
suchen nach dem
gestrigen tag, S. 21.
[23] Ebd., S. 34f.
der, aus einer verlassenen gruftkapelle tretend, in die sonne
blinzelte. Fährt man zu Françoise, so steigt man an der
station Blanche aus.
Im trubel des heutigen mittags
sah ich einen gutgekleideten herrn aus der station Blanche
steigen, welcher neun köpfe hatte. Schreckhafter anblick.
Die passanten starrten einander an, als hätten sie allesamt
den verstand verloren, jeder dachte wohl: vielleicht wächst
auch mir selbst ein solches pluriel zwischen den schultern
heraus. Man liebt gewiß seltene blumen und pflanzen, aber
Die Sinneswahrnehmungen der Lappso etwas…[22]
ländischen Reise werden ersetzt durch all das, was dem
Tagebuchschreiber Artmann in den Sinn kommt. Dabei ist
der Text des suchens nach dem gestrigen tag zugleich
durchsetzt mit Anspielungen auf das Genre des ReisetageJAMES
buchs und das botanische Interesse Linnés:
FENIMORE COOPER sitzt in einem verhältnismäßig hohen
baum, er zeichnet die seltsamen geräusche einer seeinsel
auf, er entdeckt neue arten von riedgras, kieseln und
sternen.
[…]
Findet man unter den vögeln
Delawares welche, die fehlerfrei sätze nachsingen können,
wie etwa: êtes-vous de la famille qui tua les lapins de
WILLIAM PRESCOTT kommt in einem
clapier?
[…]
schnellen dog-cart an. Er scheut keine mühe. Seine vollbeschriebenen reisediarien häufen sich an den wänden
seines freundlichen studierzimmers. Im garten draußen
klettert das immergrün und die nützliche cacaopflanze.[23]
In dem Maße, in dem die Außenwahrnehmung mit
der Ansammlung der imaginierten, bunt gemischten
pflanzlichen, tierischen und menschlichen Kreaturen
angereichert wird, verschiebt sich die Referenz von den
Dingen in der Natur zur Textualität des Tagebuchs selbst,
und damit zu einer Intertextualität, die weder E- und UKultur, noch historische Realität und Fiktion trennt.
Signifikat ist die Welt der Fiktionen, die wiederum aus
Zeichen besteht: aus den Namen der Weltgeschichte und der
zahllosen Weltbevölkerung der fiktiven Gestalten. Jeder
dieser Namen, Ortsbezeichnungen und Zitate ist Teil eines
Systems der Signifikanten, deren Elemente vernetzt sind,
da sie jederzeit miteinander in Beziehung treten können.
Allerdings zeichnet sich dieses System weder durch Vollständigkeit, noch durch innere Hierarchie, noch durch
eindeutige Bestimmung seiner Elemente aus. Gezeigt
werden daraus nur Momentaufnahmen. Der strukturelle
Unterschied zwischen Linnés und Artmanns Projekt lässt sich
durchaus in botanischen Termini ausdrücken: Das Linnésche
Klassifikationssystem ist als hierarchisches angelegt wie ein
Baum, in sich geschlossen und zentralisiert, mit immer
feineren Verzweigungen nach unten. Artmanns Textualität
dagegen ist rhizomatisch,[24] sie stellt unerwartete Verbindungen in zahlreiche Richtungen her und bleibt dabei
auf der ihr eigenen Verweisebene. Sie hat ebenso wenig ein
durch fortgesetzte Abstraktion erreichbares Zentrum wie
einen Anfangsgrund.
So wird etwa auch die Poesie
der Anschauung, die sich Linné bei der Namensgebung der
Andromeda innerhalb wissenschaftlich pragmatischer
Grenzen gestattet, bei Artmann von jeder Zweckbestimmung
befreit und in der Beschreibung der sogenannten Jerichorose zu einem freien Fabulieren. Artmann berichtet nicht
nur eine Reihe anekdotischer Begebenheiten um diese
Pflanze und lässt auch hier ein heterogenes Personal von
Donald Duck bis Fidel Castro auftreten, sondern schmückt
zudem die Herkunft des Pflanzennamens aus (die demnach
aus der Asche des von den Australiern mit Muschelhörnern
zerstörten Jericho herauswuchs und durch einen Kreuzritter
nach Frankreich gelangt ist). So findet das Verfahren der
botanischen Namensgebung eine umgekehrte Anwendung:
Linné betrachtet die Pflanze genau, vergleicht ihr Erscheinungsbild mit dem der mythischen Andromeda und gelangt
so zu einem Gattungsnamen. Artmann wird der (deutsche)
Pflanzenname zur Keimzelle für poetischen Wildwuchs, der
zu einer ganz anderen Form der ‚Naturgeschichte‘ führt:
Die ersten europäischen jerichorosen stammen aus
Albi und kamen um 1500 in den handel.
Czar Ivan der
Fürchterliche besaß einige hunderte in einem glashaus des
Kremls. […]
Edison soll sie in seiner jugend wie salat
gegessen haben.
[…]
Fats Waller hatte bei
151
[24] Zur unterschiedlichen Logik von Baum
und Rhizom vgl. Gilles
Deleuze / Félix Guattari,
Tausend Plateaus.
Kapitalismus und
Schizophrenie,
Berlin 1997, S. 11-43
152
seinen konzerten ständig eine jerichorose, in einem bierglas
schwimmend, vor sich auf dem klavier stehen. Fidelito
Castro aber (während seines nordamerikanischen exils)
hatte sie zur blume des kubanischen freiheitskampfes
erklärt.
Was Südamerika betrifft, so schenkte sie
Perón gelegentlich seinen girl-friends, und endlich sagte
Pablo Neruda von ihr: Buitre entre plantas, azufre entre
aves… Geier unter pflanzen, schwefel unter vögeln. Ein
schöner, wahrer vergleich! Ich habe heute drei stück per
nachnahme bestellt. Ihr lateinischer name ist selaginella
lepidophylla, und ich werde eine, wie Giacomo Puccini,
Der im Zitat Pablo Neruda
am jagdhut tragen.[25]
[25] Artmann, Das suchen nach dem gestrigen tag, zugeschriebene Ausspruch bringt die
S. 63ff. Artmann mischt auch hier gefundenes
Jerichorose metaphorisch mit dem
Wissen und eigene Fantasie. Um die Jerichorose
oder auch ‚Auferstehungspflanze‘ ranken sich Tier- und dem Mineralienreich in
Legenden und Aberglaube, da sie auch noch nach Verbindung, also mit den nach Linnés
ihrem Absterben die Eigenschaft hat, sich bei
Berührung mit Wasser zu öffnen und zu ergrünen. Einteilung übrigen beiden Reichen
Richtig ist, dass sie aus den Wüstengebieten der Natur, neben dem der Pflanzen.
Israels und Jordaniens stammt und zuerst von
Der Vergleich, der eine methodisch
Kreuzrittern und Pilgern nach Europa gebracht
wurde. Der Name ‚Jerichorose‘ war schon vor tragende Rolle für die wissenschaftLinné bekannt. Vgl. zu dieser Textstelle auch Jörg liche Durchsetzung der NaturgeDrews, Ein Herbst in Schweden. Zu Artmanns
‚Das suchen nach dem gestrigen tag‘, in: Über schichte im 18. Jahrhundert spielt und
H.C. Artmann, hg. v. Gerald Bisinger, Frankfurt ein entscheidendes Grundmuster der
am Main. 1972, S. 150.
Linnéschen Arbeitsweise darstellt,[26]
[26] Foucault, Ordnung der Dinge, S. 82ff. und 180ff. findet hier nicht als empirischer statt,
[27] Linnés Gläubigkeit hat ihren Ausdruck in durch den sich artspezifische Untereinem eigenen Buch gefunden, das eine
Sonderstellung in seinem Werk einnimmt, der schiede feststellen ließen, sondern
Nemesis Divina (dt. Ausgabe hg. v. Wolf Lepenies als poetischer, und so ist auch das
und Lars Gustafsson, München und Wien 1981).
Wissen von der Jerichorose, das hier
wiedergegeben wird, kein wissenschaftliches, sondern ein
poetisches. Damit betreibt Artmann eine poetische Gegenaufklärung. Die Linnéschen Naturbeschreibungen stehen im
Zeichen einer schlichten Frömmigkeit, die mit der unvoreingenommenen Erforschung der Schöpfung vereinbar ist.[27]
Bewundert Linné die Naturmedizin der einheimischen
Lappen, so mokiert er sich auch wiederholt über deren
abergläubische Bräuche und überlegt, wie sich ihre Lebensweise durch verbesserte technische und landwirtschaftliche
Michael Eggers: Art oder Eigenart
Maßnahmen erleichtern ließe.[28] Artmanns Text ist frei von
jedem systematischen Glauben, spielt dabei aber mit der
Unordnung eines vormodernen, magischen Denkens:
Linoleum isoliert keineswegs die kräfte, die in eichernen
bohlen schlummern. Vor den eichen sollst du weichen. Blitz
und donner sind der dielen bewohner. Ich darf niemals
einen hammer in unsrer wohnung beherbergen.[29]
Wie eingangs schon bemerkt, ist die Anordnung des Materials in Artmanns Texten nicht vollkommen willkürlich. Die
heterogenen Betrachtungen, Szenen und Fantasien des
suchens nach dem gestrigen tag folgen Ordnungsmustern,
die sich aus der Gattung des Tagebuchs folgerichtig ergeben.
Dessen äußerliche Form, die sich wohlgemerkt im Inhalt
nicht spiegeln muss, ist die der chronologischen Reihung
nach Tagen. Artmann hält dieses Prinzip strikt ein und
ordnet für drei Monate jedem Tag einen Eintrag zu, vom
20. September bis zum 21. Dezember. Dazu kommt das Motiv
der Reise durch Schweden, das, bei Linné noch der eigentliche Anlass für das dabei entstandene Textdokument, bei
Artmann nebensächlich wird: Nachzuvollziehen ist zwar
eine kommentierte Reise durch skandinavisches Gebiet mit
Abstechern nach Paris und Berlin, die Aufzeichnungen
werden aber häufig unterbrochen von Orts- und Zeitwechseln in Form von Erinnerungen und Fiktionen. Die
tägliche Abfolge der Einträge bleibt daher fast vollkommen
äußerlich. Sie entspricht aber einem Grundmuster, von dem
der Text durch und durch geprägt ist: dem der Serie. Dieses
Strukturprinzip erlaubt die Gleichzeitigkeit von Regel und
Variation, denn es verlangt von den aufgelisteten
Elementen nichts weiter als eine formale Gemeinsamkeit.
Wird diese für die Tagebucheinträge bereits durch die
jeweilige Datierung gewährleistet, so spielt Artmann im Text
mit den unterschiedlichsten Serienformaten. Meist deuten
die aufgeführten Dinge auf die Lappländische Reise zurück
und adaptieren deren Form der losen Reihung von
Beobachtungen. Zugleich persiflieren Artmanns Serien aber
das taxonomische System, das individuelle Einzelexemplare
unter einem gemeinsamen Namen zusammenfasst:
153
[28] Zu den ethnographischen Aspekten
vgl. Surmatz, ‚Terra
incognita‘, S. 241-248.
[29] Artmann,
Das suchen nach dem
gestrigen tag, S. 71.
154
Michael Eggers: Art oder Eigenart
[30] Artmann,
Das suchen nach dem
gestrigen tag, S. 16.
[31] Ebd., S. 22.
[32] Ebd., S. 81f.
Der tag begann sonnig. Ich machte folgende aufstellung:
Namen, die von blütenblättern an sich haben: anschovis,
Agneta, Asimisma, Nina, Nagelfloxia, Lilian, Aino, Felipa,
putzi, Linnea, sneewittib, gestochene Tanya, filfil (aus
elfenbein), Gunilla, tango (jedoch sehr dunkel, schmaler
Listen können von
stengel), und andere mehr.[30]
allem und jedem gemacht werden, solange die Grundregel
des gemeinsamen ‚artunterscheidenden‘ Merkmals eingehalten wird. Der Zweck des Ordnungs- und Erkenntnisgewinns entfällt zugunsten der unendlichen Möglichkeiten,
die das neutrale Formprinzip bereithält (und die etwa auch
auf die Autorenart der Tagebuchschreiber angewendet
werden kann):
Möglichkeiten zu sterben: Vom lift
eingeklemmt werden, vergiftete reseden essen, mit
neunköpfigen neunmal um den kopf wetten, die hand an
einen hochspannungsgeladenen mützenschirm legen,
vom dach aus in den nebel springen, sich lila vipern als
Die diarienschreiber
bettgenossinnen halten […][31]
der vorzeit (alphabetisch dargestellt): Assurbanipal mit
einer zedernknospe, Belsazar in der ysopwurzel, Cymbeline
von Xanthen, Dimnah im walfisch, Esau im unkenschatten,
Fierabras im tintenhorn, Golias mit dem säbel, Habakuk der
Die
riecher, Ismahel auf der quendelblüte […][32]
Serien sind potentiell unendlich fortsetzbar, da die ihnen
jeweils vorangestellte ‚Formel’ immer noch weiter produktiv
gemacht werden könnte. Als Baustein einer systematischen
Hierarchie sind sie kaum vorstellbar, sie verbleiben ganz in
der je durch sie selbst konstituierten Verkettungslogik. In
Anlehnung an das Linnésche Verfahren der künstlichen
Klassifikation ließe sich das serielle Prinzip Artmanns als
‚künstlerische Klassifikation‘ bezeichnen: Es geht nicht
mehr darum, Merkmale auszuwählen, die eine botanische
Diagnose von Einzelexemplaren erlauben, vielmehr dient
eine vorab gewählte Definition dazu, die zu ihr passenden
Elemente erst hervorzubringen, wobei der Fantasie keine
Grenzen gesetzt sind. Die bizarren Listen konstituieren je
eigene, eigenartige Kategorien, die sich nicht weiter ordnen
lassen und an Jorge Luis Borges’ chinesische Enzyklopädie
155
erinnern, die Michel Foucault im berühmten Vorwort zu der
Ordnung der Dinge als ortlose, weil nur in der Sprache stattBeginnend mit der
findende Ordnung beschreibt.[33]
Widmung und der dem ersten [33] Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 17ff.: „Dieser
Tagebucheintrag noch voran- Text zitiert ‚eine gewisse chinesische Enzyklopädie‘,
in der es heißt, daß ‚die Tiere sich wie folgt gruppieren:
gestellten Selbstbeschreibung a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte
des Autors (Meine heimat ist Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen,
f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese
Österreich, mein Vaterland Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden,
Europa, mein wohnort Malmö, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar
meine hautfarbe weiß, meine gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug
zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen
augen blau, mein mut aussehen‘.“ Die Rede ist von Borges ‚Die analytische
verschieden, meine laune Sprache John Wilkins’ aus dem Jahr 1952.
launisch meine räusche [34] Artmann, Das suchen nach dem gestrigen tag, S. 9.
richtig, […][34]) ist Artmanns ‚schwedisches Tagebuch‘
seriell, es ist seriell gegliedert in täglich datierte Abschnitte,
die selbst wiederum serielle Listen enthalten. Diese Serienstruktur des Textes spielt mit Sinneffekten. Eine Zusammenstellung von Namen, die nach Blütenblättern klingen, ergibt
keinen unmittelbar erkennbaren Sinn, außer dem, den sie
selbst als solchen setzt. Sie ist an keiner externen Wertordnung orientiert, trägt zu keinem bereits bestehenden
Wissen bei und partizipiert an keinem solchen. Sie ist eine
bloß durch die sprachliche Setzung mögliche Sinnstiftung in
der seriellen Anordnung der Zeichenelemente, die, einmal
begonnen, keinen notwendigen Abschluss findet, sondern
potentiell beliebig fortsetzbar ist. Innerhalb ihrer eigenen
Konstuktion ergibt die Serie einen Sinn, als ganze betrachtet
dagegen einen Unsinn — was nach Gilles Deleuze eine
grundsätzliche Eigenschaft von Sprachserien darstellt:
In den Serien hat jedes Glied Sinn nur dank seiner relativen
Stellung gegenüber allen anderen Gliedern; diese relative
Stellung jedoch hängt ihrerseits von der absoluten Stellung
jedes Glieds in Funktion der Instanz = X ab, die als Unsinn
bestimmt ist und unablässig durch die Serien hindurch
[35] Für die serielle
zirkuliert.[35] Entscheidend ist aber, dass der Text sich trotz Sinn bzw. Unsinnsdieser sprachspielerischen Anordnungen, trotz dem poeti- produktion vgl. Gilles
Deleuze, Logik des
schen Einfallsreichtum und den fantastischen Elementen Sinns, Frankfurt am
nicht von der Wirklichkeit abgrenzt. Kennzeichnend für die Main 1993, hier S. 96.
156
Artmannsche Schreibweise ist nicht die Wirklichkeitsflucht,
sondern die Mischung aus Versatzstücken der Realität mit
der freien Erfindung. Beides steht nicht unverbunden
nebeneinander, sondern geht eine produktive Mischung
ein. So können Alltagsbeobachtungen die Gestalt von
literarischen Figuren annehmen, die zwar fiktional, als
vorgefundenes Zeichenmaterial der Umgebung aber ebenso
Teil der Wirklichkeit sind wie das Wetter: 6 uhr abends.
Es hat nicht aufgehört, es regnet weiter. Der regen ist ein
mann von charakter, er läßt sich nicht unterkriegen, er
beginnt mir eigentlich zu gefallen. Der regen ist wie Frisco
Kid, der auch niemals aufgibt, selbst dann nicht, wenn er
es mit so abnorm gefährlichen schurken wie Mr. Clover zu
tun hat.[36] Weder sind Fiktion und Realität hier getrennte
[36] Artmann, Das suchen nach Bereiche, noch bildet der Text die Außenwelt
dem gestrigen tag, S. 105. ab. Die wahrgenommene Wirklichkeit und die
[37] Vgl. dazu Dieter Hensing, Fiktionen bilden einen gemeinsamen Fundus,
Innovation der Prosa aus tagebuchartigen Schreibformen – eine dessen gleichwertige Bestandteile jederzeit
literarische Entwicklung seit produktive Verbindungen eingehen können.
den sechziger Jahren, in:
In seiner Offenheit fürs Triviale ist Das
Germanistentreffen Belgien –
Niederlande – Luxemburg – suchen nach dem gestrigen tag der vielleicht
Deutschland, Köln 1991. erste deutschsprachige Beweis für die Affinität
Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bonn 1992, S. 157-165. der Popliteratur mit dem Genre des Tagebuchs.
Prominente Beispiele sind ihm gefolgt, von Rolf Dieter
Brinkmann bis Rainald Goetz.[37] Was die besondere poetologische Eignung des Tagebuchs für diese Art der Literatur
ausmacht, ist nicht nur seine offene Form, die es erlaubt,
Bruchstücke und Zitate aus den unterschiedlichsten
Gattungen und Medien einzubeziehen, sondern vor allem
auch die in der chronikalischen Form sich abzeichnende
Zeitlichkeit. Die fortlaufende, keinem vorgängigen Plan
Michael Eggers: Art oder Eigenart
157
gehorchende Reihe der datierten Eintragungen ist wie keine
andere Textgattung der Gegenwart gewidmet. Über die
Art des jeweiligen Eintrags entscheidet der Verlauf des
jeweiligen Tags. Der Vorgang des Aufschreibens ist gegenüber den aufgeschriebenen Ereignissen (ob diese nun in der
Fantasie des Schreibers oder in der Außenwelt sich
abgespielt haben) zeitlich nur minimal verschoben und so
ist das Tagebuch immer zugleich eine Reminiszenz an das
Jetzt und ein Dokument der vergehenden Zeit. Artmanns
Text trägt den Hinweis auf diese Reflexion der Vergänglichkeit bereits im Titel, wobei beide Alternativtitel nicht nur
im eigentlichen Sinn als Bilder des bereits Vergangenen
oder vom Verschwinden Bedrohten gelesen werden können,
sondern ebenso als literarische Anspielungen. Marcel
Prousts À la recherche du temps perdu, das moderne
Schlüsselwerk über die Erinnerung, die in der Sprache
gewonnen oder verloren wird, steht hier genauso Pate wie
Ernest Hemingways Kurzgeschichte The Snows of Kilimanjaro, die von der Unmöglichkeit handelt, im Angesicht des
Todes die eigenen Erinnerungen aufzuschreiben. Zeichnet
sich der Schnee auf Afrikas höchstem Berg gerade dadurch
aus, ewig zu sein (was sich im 21. Jahrhundert durch den
Klimawandel wohl ändern wird), so nimmt Artmann dieses
Motiv in der ihm eigenen seriellen Form auf: Worauf fallen
schneeflocken: Auf entlaubte kirschengärten, ins dunkle
wasser eines brunnenlochs, auf die herunterklappbaren
pelzmützen finnischer sterngucker, […] ganz schnell
zerfließend auf noch heiße brotwecken, auf die stadt
Warschau […].[38] Es ist nur einer von vielen Momenten des
[38] Artmann,
Textes, die flüchtig an die Vergänglichkeit erinnern. Das suchen nach dem
Aber das wäre vielleicht eine eigene Untersuchung wert. gestrigen tag, S. 112.

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