April 2009 Themen und Auswertungskonzepte für den Abschluss
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April 2009 Themen und Auswertungskonzepte für den Abschluss
April 2009 Themen und Auswertungskonzepte für den Abschlussbericht zur 3. Welle des Deutschen Alterssurveys Andreas Motel-Klingebiel, Susanne Wurm & Heribert Engstler (Hrsg.) Deutsches Zentrum für Altersfragen Manfred-von-Richthofen-Straße 2 12101 Berlin Telefon +49 (0)30 – 26 07 400 Telefax +49 (0)30 – 78 54 350 E-Mail [email protected] Internet www.dza.de Inhaltsverzeichnis 1. Wandel von Lebensqualität und Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte ................ 3 2. Familiale Generationenbeziehungen ...................................................................... 32 3. Lebensformen und Partnerschaften ....................................................................... 53 4. Soziale Integration und Partizipation ...................................................................... 66 5. Gesundheit ............................................................................................................ 84 6. Subjektives Wohlbefinden ................................................................................... 101 7. Werte und Altersbilder ........................................................................................ 120 8. Erwerbstätigkeit und Ruhestand .......................................................................... 140 9. Materielle Lagen .................................................................................................. 156 10. Wohnen im Alter ................................................................................................. 175 Lebensqualität und Ungleichheit 1. Wandel von Lebensqualität und Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte Andreas Motel-Klingebiel, Susanne Wurm, Oliver Huxhold & Clemens Tesch-Römer Inhalt 1.1 Einleitung ........................................................................................ 3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 Lebensqualität: Wie leben Menschen in der zweiten Lebenshälfte? .. 5 Gutes Leben im Alter .............................................................................. 5 Gesellschaftliche Voraussetzungen der Lebensqualität im Alter ........... 8 Individuelle Voraussetzungen der Lebensqualität im Alter .................... 9 1.3 Vielfalt und Ungleichheit: Wie unterscheiden sich Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte?............................... 9 1.3.1 Vielfalt ................................................................................................... 10 1.3.2 Soziale Ungleichheit .............................................................................. 11 1.4 Sozialer Wandel: Wie haben sich die Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte gewandelt? .................................................. 13 1.4.1 Der Wandel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ........................... 14 1.4.2 Lebensläufe und sozialer Wandel ......................................................... 19 1.5 Resümee und Ausblick ................................................................... 25 1.5.1 Resümee ............................................................................................... 25 1.5.2 Ausblick ................................................................................................. 26 Literatur ................................................................................................. 28 1.1 Einleitung Die Phase des Alters ist zu einem selbstverständlichen Teil unseres Lebens geworden. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland hat sich im letzten Jahrhundert fast verdoppelt. Von den heute geborenen Kindern hat die Mehrzahl die Chance, 90 Jahre und älter zu werden, wenn sich der Prozess der Lebenserwartung weiter fortsetzt (Schnabel, Kistowski, & Vaupel, 2005). Diese Erhöhung der Lebenserwartung gehört zu den Ursachen des demografischen Wandels und wird – gemeinsam mit der niedrigen Fertilität – häufig als gesellschaftliches Problem behandelt. Dabei wird nicht selten übersehen, dass wir noch wenig darüber wissen, wie die Lebenssituationen von Menschen in der zweiten Lebenshälfte aussehen, wie ähnlich oder unterschiedlich älter werdende -3- Lebensqualität und Ungleichheit und alte Menschen sind und welchen Einfluss die sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen auf unsere Biografien und Lebensläufe haben. Es ist gewiss, dass die Lebensphase Alter von langfristigen gesellschaftlichen Trends, aktuellen politischen Entscheidungen, wirtschaftlichen Entwicklungen und individuellem Handeln geformt wird, und es sind die Prozesse dieser Formung zu untersuchen. Die Lebenssituation älterer Menschen hängt auch von Ereignissen und Entscheidungen ab, die zu früheren Zeitpunkten im Leben eines Menschen stattfinden. Die Phase des höheren Erwachsenenalters ist ein Abschnitt der Biographie. Kindheit, Jugend, frühes und mittleres Erwachsenenalter bestimmen den Verlauf des Alterns mit. Zudem ist es nicht ganz unproblematisch anzugeben, wann die Altersphase im Lebenslauf eigentlich beginnt – eine Bestimmung allein als Ruhestandsphase scheint unzureichend. Wir haben uns daher entschieden, die Lebenssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte zu beschreiben, deren Beginn wir mit dem fünften Lebensjahrzehnt ansetzen. In diesem Bericht möchten wir drei Fragen stellen und diese mithilfe von Daten aus dem Deutschen Alterssurvey (DEAS), einer repräsentativen Studie zur zweiten Lebenshälfte, beantworten. Diese Fragen lauten: Wie leben Menschen in der zweiten Lebenshälfte? Wie unterschiedlich sind die Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte? Wie haben sich die Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte gewandelt? Ziel des Alterssurveys ist es, die Lebenssituationen, Lebensläufe und Lebensplanungen von Menschen in der zweiten Lebenshälfte zu beschreiben und zu analysieren (Motel-Klingebiel & Arber, 2006; Tesch-Römer, Wurm, Hoff, Engstler, & Motel-Klingebiel, 2006). Dieses Ziel des Alterssurveys wird zweifach umgesetzt, und zwar mit Blick auf die Sozialberichterstattung sowie mit Blick auf sozialund verhaltenswissenschaftliche Forschung. In der Sozialberichterstattung leistet der Alterssurvey kontinuierliche Beobachtung der individuellen Wohlfahrt, wobei gesellschaftliche Entwicklung sowie wohlfahrtsstaatliche Institutionen und Interventionen Berücksichtigung finden. Die Ambitionen sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Forschung sind hingegen weiter gesteckt. Hier steht neben der Beschreibung gesellschaftlicher Entwicklungen und Alternsverläufe vor allem die theoriebasierte Hypothesenprüfung im Mittelpunkt (Bengtson, Gans, Putney, & Silverstein, 2009). Im Mittelpunkt des im Rahmen des Projekts vorzulegenden Forschungsberichts bzw. Buchs steht die Sozialberichterstattung. In diesem Einleitungskapitel werden die Konzepte Lebensqualität, Verschiedenheit/Ungleichheit sowie sozialer Wandel, insbesondere mit Blick auf die Aufgabe der Sozialberichterstattung, -4- Lebensqualität und Ungleichheit diskutiert. Der Sozialberichterstattung geht es wesentlich um eine kontinuierliche Beobachtung der individuellen Wohlfahrt in Abhängigkeit von wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Interventionen. 1.2 Lebensqualität: Wie leben Menschen in der zweiten Lebenshälfte? Wenn wir beschreiben wollen, wie Menschen in der zweiten Lebenshälfte leben, so liegt die Frage nahe, wie gut die Lebenssituation in dieser Lebensphase ist. Was aber bedeutet ”gutes Leben‛ oder ”hohe Lebensqualität‛? In diesem Abschnitt geht es um das Konzept der Lebensqualität, um die bei der Messung von Lebensqualität zu berücksichtigenden Facetten, um die Voraussetzungen für Lebensqualität sowie um die Entwicklung von Lebensqualität im Lebenslauf. 1.2.1 Gutes Leben im Alter In den Sozial- und Verhaltenswissenschaften finden sich unterschiedliche theoretische Ansätze, in denen das, was ein gutes Leben ausmacht, anhand sehr verschiedener Kriterien definiert wird (Noll, 2000). Gesellschaftswissenschaftlich wird davon ausgegangen, dass individuelles Wohlergehen auf der Ausstattung mit Ressourcen und dem Zugriff auf kollektive Güter beruht. Mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und kollektiven Gütern kann das Individuum seine Lebensbedingungen beeinflussen und in seinem Sinne steuern. Bei dieser Perspektive stehen die objektiven Lebensbedingungen eines Menschen im Vordergrund. Vor allem in den Verhaltenswissenschaften wird Wohlergehen dagegen aus der Perspektive der Person bestimmt. Lebensqualität wird hier verstanden als die subjektive Bewertung der eigenen Lebensbedingungen. Hohe subjektive Lebensqualität liegt dann vor, wenn eine Person mit ihrem Leben zufrieden ist, häufig Glück empfindet und nur selten unangenehme Emotionen wie Trauer oder Ärger erlebt (Diener, Suh, & Oishi, 1997). Auch im Bereich der Alternsforschung hat die Diskussion eines guten Lebens eine lange Tradition (Baltes & Baltes, 1989; Noll & Schöb, 2002). Neben Ansätzen, in denen materielle Lebenslagen und fördernde sozialpolitische Rahmenbedingungen als notwendige Voraussetzungen für ein aktives Altern genannt werden (Naegele, 2008), stehen theoretische Konzeptionen, in denen die Lebenszufriedenheit und die emotionale Befindlichkeit des älterwerdenden Menschen als Prüfstein für ein gutes Leben genannt werden (z.B. Disengagement-Theorie, Cumming & Henry, 1961). Zudem finden sich gerade in der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne auch Ansätze, die ein gutes Leben im Alter nicht allein anhand objektiver Lebensbedingungen oder subjektiver Lebensbewertung definieren, sondern Normen, Werte, individuelle Ziele und Präferenzen in die Definition miteinbeziehen. Theorien der Entwicklungsregulation verweisen dar- -5- Lebensqualität und Ungleichheit auf, dass Ziele, die Menschen verfolgen, zentral für die Bestimmung eines guten Lebens im Alter sind (Baltes, Lindenberger, & Staudinger, 2006; Brandtstädter, 2007; Schulz, Wrosch, & Heckhausen, 2003). Je nachdem, ob Ziele erreicht oder nicht erreicht worden sind, und ob es möglich war, bedrohte oder unerreichbare Ziele durch neue Ziele zu ersetzen, kann von einem guten, erfüllten Leben gesprochen werden. Schließlich finden sich Ansätze, in denen die Auseinandersetzung mit universal gültigen Entwicklungsaufgaben das Kriterium für ein gutes Alter bilden. Beispiele hierfür sind die Herausforderung der Generativität oder der Lebensintegration (Erikson, 1982/1988). Um einen systematischen Überblick über die unterschiedlichen Definitionen eines guten Lebens im Alter zu geben, ist es sinnvoll, auf die grundlegenden Arbeiten der Moral- und Sozialphilosophie zurückzugreifen (Schramme, 2008). Persönliches Wohlergehen und individuelle Lebensqualität kann grundsätzlich definiert werden als das Vorhandensein all jener Güter und Werte, die für eine Person erstrebenswert sind. Anhand des Gegenstands der Definition (gutes Leben als Zustand der Welt versus gutes Leben als Zustand der Person) bzw. der Perspektive (gutes Leben aus der Innensicht versus gutes Leben aus der Außensicht) lassen sich vier philosophische Ansätze unterscheiden, die in unterschiedlicher Weise festlegen, worin erstrebenswerte Güter und Werte bestehen (s. Tabelle 1-1). Tabelle 1-1: Gutes Leben als Zustand der Welt Gutes Leben als Zustand der Person Übersicht über Definitionen eines guten Lebens Gutes Leben aus der Außensicht Gutes Leben aus der Innensicht (a) Daseinsdefinitionen (d)Wunschdefinitionen (z.B. gute materielle Lebenslage, hohe individuelle Kompetenzen) (z.B. Erreichen von Zielen, Plänen und Absichten) (b) Wesensdefinitionen (c) Erlebnisdefinitionen (z.B. erfolgreiche Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben) (z.B. Lebenszufriedenheit, Glück, Abwesenheit von Trauer und Angst) Berücksichtigt man zunächst die Perspektive der Außensicht, so kann man zwei Gruppen von Definitionen unterscheiden. (a) Daseinsdefinitionen definieren gutes Leben als einen Zustand der Welt, und zwar als das Vorhandensein von äußeren und inneren Ressourcen (z.B. gute materielle Lebenslage, hohe individuel- -6- Lebensqualität und Ungleichheit le Kompetenzen). Ein gutes Leben zeigt sich darin, dass diese Ressourcen in ausreichendem Umfang vorhanden sind. Definitionen dieser Art werden häufig in der Sozialberichterstattung und in den Sozialwissenschaften herangezogen. (b) Wesensdefinitionen richten sich auf den Zustand der Person und bestimmen das Wohlergehen einer Person als gelingende Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des Lebens, die die Natur des Menschen vorgibt (z.B. Leiblichkeit, Sterblichkeit, Generativität, soziale Bezogenheit). Ein gutes Leben besteht in einer der Natur des Menschen gemäßen Auseinandersetzung mit diesen Gegebenheiten und Entwicklungsaufgaben des Lebens. Gutes Leben kann auch aus der Innensicht bestimmt werden. (c) Erlebnisdefinitionen stellen die subjektive Erfahrung des Menschen in den Mittelpunkt. Ein gutes Leben ist, etwa im Ansatz des Hedonismus, durch ein hohes subjektives Wohlbefinden gekennzeichnet. Gerade in psychologischen Ansätzen werden häufig subjektive Definitionen eines guten Lebens verwendet. (d) Bei Wunschoder Zieldefinitionen eines guten Lebens legen individuelle Präferenzen und Wertvorstellungen fest, inwiefern das Wohlergehen einer Person als gut bezeichnet werden kann. Ein gutes Leben ist dann gegeben, wenn zentrale Ziele einer Person erfüllt sind. Die philosophische Diskussion des guten Lebens macht deutlich, dass Lebensqualität sehr unterschiedlich definiert werden kann – und dass Spannungen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen zu konstatieren sind. So ist nur schwer vorstellbar, dass subjektives Wohlergehen allein, ohne Vorhandensein von Handlungsressourcen, als erstrebenswertes Leben anzusehen ist. Aber auch das Vorhandensein von Ressourcen würde nicht ausreichen, ein gutes Leben zu sichern, wenn keine der individuellen Zielvorstellungen einer Person realisiert sind. Selbst die Feststellung, dass Ziele erreicht wurden, reicht für die Beschreibung eines erstrebenswerten Lebens nicht aus, da Menschen ihre Werte, Ziele und Präferenzen häufig ihrer Lebenssituation anpassen. Schließlich kann der Versuch, ein gutes Leben mit der Natur des Menschen und den universalen Entwicklungsaufgaben des Lebenslaufs zu bestimmen, mit dem Verweis darauf kritisiert werden, dass es schwierig ist, die Natur des Menschen und die dafür notwendigen Bedingungen anzugeben. Dennoch kann der Bezug auf universale Entwicklungsaufgaben dabei helfen, die engen, ausschließlich auf Wohlbefinden und Wohlstand zielenden Definitionen eines guten Lebens zu erweitern. Bei der Beschreibung eines guten Lebens im Alter können die vier oben beschriebenen Definitionen verwendet werden. Der Alterssurvey bietet die Möglichkeit, alle genannten Facetten der Lebensqualität im Alter abzubilden. Für die Sozialberichterstattung konzentrieren wir uns allerdings auf objektive und subjektive Definitionen eines guten Lebens (Daseins- und Erlebnisdefinitionen). Gutes Leben im Alter fassen wir zum einen als Vorhandensein von äußeren und inneren Ressourcen auf: Einkommen und Vermögen, Ausstattung der Wohnung, -7- Lebensqualität und Ungleichheit soziale Integration (Partner, Familie, Freunde), gesellschaftliche Partizipation und Gesundheit sind Aspekte eines guten Lebens im Alter. Zum anderen definieren wir gutes Leben im Alter auch anhand subjektiver Bewertungen und subjektiven Erlebens: Wenn Lebenszufriedenheit und positive Gefühle vorhanden sind und negative Gefühle nur selten auftreten, dann sprechen wir von hoher subjektiver Lebensqualität im Alter. Ein gutes Leben im Alter ist von hoher gesellschaftlicher und individueller Bedeutung – und hat gesellschaftliche und individuelle Voraussetzungen. 1.2.2 Gesellschaftliche Voraussetzungen der Lebensqualität im Alter Die Beschreibung der Lebenssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte nimmt die gesellschaftliche Voraussetzung für Lebensqualität im Alter in zweifacher Weise in den Blick. Die Lebenssituationen im Alter hängen von der wirtschaftlichen Situation, gesellschaftlichen Bedingungen und sozialpolitischen Interventionen ab. Gleichzeitig kann die Lebenssituation älter werdender Menschen als Ausdruck gelungener Wohlfahrtsproduktion verstanden werden. Das Niveau und die Verteilung der Lebensqualität im Alter ist ein Kriterium zur Bewertung von Erfolg und Misserfolg gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion und sozialpolitischer Interventionen. Verstehen wir Lebensqualität als Folge auch gesellschaftlicher Bedingungen, so ist neben der Frage der allgemeinen Lebensqualität auch die Unterschiedlichkeit im Zugang zu gesellschaftlichen Gütern oder sozialen Positionen zu betrachtet, durch den die Lebenschancen von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften bestimmt wird (s. dazu die Diskussion in Abschnitt 1.3). Dabei gibt es auch bedeutsame Wechselbeziehungen zwischen politischen Maßnahmen und Lebensqualität im Alter. Eine Triebfeder, die Frage nach Lebensqualität im Alter zu stellen, ist für politische Akteure die Suche nach Möglichkeiten, ältere Menschen zur Aufrechterhaltung von Gesundheit, Mobilität und Autonomie zu befähigen. Dabei steht nicht allein ein gutes Leben im Alter an sich im Mittelpunkt, sondern auch die Verhinderung von kostenintensivem Hilfe- und Unterstützungsbedarf, insbesondere wenn sich die Ziele der Sicherungspolitiken von einer Orientierung an Bedarfen und notwendigen Leistungen hin zu einer vorrangigen Beitragsorientierung verschieben. Auch wenn die Verengung der Frage nach Lebensqualität im Alter auf Kostenaspekte problematisiert werden könnte, eröffnen die neueren politischen Paradigmen, die auf dieser Basis entwickelt wurden und durch die Schlagworte ”Gesellschaft für alle Lebensalter‛ und ”Aktives Altern‛ gekennzeichnet sind, auch gesellschaftliche Potenziale für eine neue positive Perspektive auf Alter und Altern. Diese Ansätze fördern auch eine moderne Gesellschaftspolitik, die auf ein breiteres Verständnis von Lebensqualität setzen muss. -8- Lebensqualität und Ungleichheit 1.2.3 Individuelle Voraussetzungen der Lebensqualität im Alter Aus der Perspektive individueller Biografien ist Lebensqualität im Alter Ausdruck realisierter Lebenschancen. Dies bedeutet, dass Lebensqualität kein unveränderlicher Zustand ist, sondern sich im Verlauf des Lebens verändern kann. Wird Lebensqualität im Sinne von Lebensresultaten als Ausdruck realisierter Lebenschancen verstanden, so verweist dies auch darauf, dass wir es hier mit einem wesentlich längsschnittlichen Konzept zu tun haben. Selbst wenn Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter nicht vollständig determinieren, wie die Entwicklungsverläufe von Personen mit mittleren und höheren Erwachsenenalter aussehen, so stellen doch Bildungs-, Berufs- und Beziehungsverläufe wichtige Bedingungen von Lebensqualität im Alter dar. Zudem ist zu bedenken, dass individuelle Biografien in den Kontext der historischen Zeit eingebettet sind. Dies bedeutet, dass Lebensqualität vor dem Hintergrund der Lebensläufe der jeweiligen Personen sowie im Kohorten- und generationalen Kontext analysiert werden muss (vgl. hierzu Abschnitt 1.4). Der zeitliche, gleichermaßen historisch wie biografisch zu verstehende Kontext beeinflusst die Lebensqualität von Individuen. Die biographisch-längsschnittliche Perspektive geht allerdings über die für diesen Bericht angestrebte Sozialberichterstattung hinaus. Die Ambitionen sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Forschung betreffen neben der Beschreibung von Alternsverläufen im Kontext gesellschaftlichen Wandels vor allem die theoriebasierte Hypothesenprüfung zu Voraussetzungen und Folgen individueller Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext (Backes, 2003; Bengtson, Gans, Putney, & Silverstein, 2009; Rosenmayr, 2003; Salthouse, 2006). 1.3 Vielfalt und Ungleichheit: Wie unterscheiden sich Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte? In der öffentlichen Diskussion werden ältere Menschen häufig als homogene Gruppe angesprochen (”die Alten‛). Dies verkennt die große Vielfalt der individuellen Lagen im höheren Erwachsenenalter. Es gibt auch nicht eine Gruppe der Älteren, auf die sich jedwede politische Maßnahme beziehen kann. Konsequenterweise muss die gerontologische Forschung dieser Vielfalt Rechnung tragen – insbesondere, um die Potenziale und die Wirksamkeit sozialpolitischer Interventionen angemessen aufzeigen zu können. Das Thema ”Alter und Vielfalt“ gehört inzwischen zum Kernrepertoire vor allem des internationalen Alternsforschungsdiskurses. Im Kontext des Alterssurveys lässt sich die Vielfältigkeit der Menschen in der zweiten Lebenshälfte in unterschiedlichen Dimensionen ausdrücken. Als analytischer Oberbegriff kann das differenzielle Altern dienen. Die Variabilität einer -9- Lebensqualität und Ungleichheit Population entsteht durch die Interaktion sozialer Einflüsse, normativer Ereignisse und idiosynkratischer Entwicklungen über die Zeit (Whitbourne, 2001). Dies bedeutet zwar nicht notwendigerweise eine Zunahme interindividueller Unterschiede im Alter. Es bedeutet jedoch, dass eine Betrachtung ”durchschnittlicher‛ oder typischer Lebenssituationen nur ein erster Schritt zu einem umfassenden Verständnis der Situation älterer Menschen sein kann. Aus diesem Grund werden die nachfolgenden Analysen immer auch die Unterschiedlichkeit (und die Veränderungen der Unterschiedlichkeit) der Menschen in der zweiten Lebenshälfte berücksichtigen. Forschungsleitend werden in diesem Zusammenhang zwei Begriffe sein: (a) der Begriff der Vielfalt oder Heterogenität und (b) der Begriff der sozialen Ungleichheit. Die den beiden Begriffen zugrunde liegenden Ansätze lassen sich direkt im Modell der Lebensqualität verorten. 1.3.1 Vielfalt Mit dem Begriff der Vielfalt oder Heterogenität im Kontext des Alterssurveys sind Unterschiede zwischen Personen und ihren Lebenssituationen gemeint, die in der älteren Bevölkerung vorliegen. Der Begriff der ”Vielfalt‛ beschreibt die Vielgestaltigkeit des Alters, ohne damit bereits eine Bewertung einer gesellschaftlich strukturierten Begünstigung oder Benachteiligung zu verbinden. Auch wenn Vielfalt zunächst einmal weder positiv noch negativ zu bewerten ist, kann eine bestehende Heterogenität in einer Gruppe ein Anzeichen für das Potenzial zur Veränderung von Lebenssituationen anzeigen (z.B. Whitbourne, 2001). Aus der Perspektive der sozialpolitischen Intervention stellt sich daher die weitergehende Frage nach der Verteilung von angemessenen Zugängen zur Absicherung von Ressourcenlagen und Versorgung sowie nach den Grundlagen der Aufrechterhaltung von Selbstständigkeit und Autonomie in späten Lebensphasen. Vielfalt und Unterschiedlichkeit kann so als eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Vorbedingung sozialer Ungleichheit verstanden werden. Die empirischen Belege für das Vorliegen großer Heterogenität im Alter sind mittlerweile mannigfaltig. Eine Metaanalyse bestehender Studien zeigte beispielsweise größere Unterschiede innerhalb der Gruppe älterer Erwachsener als innerhalb der Gruppe jüngerer Erwachsener und zwar in den Bereichen Gesundheit, Persönlichkeit und kognitive Fähigkeiten (Nelson & Dannefer, 1992). In der empirischen Literatur sind jedoch nicht nur Belege für eine Zunahme von Heterogenität zu finden. Zu- und Abnahmen von Variabilität im Altersverlauf sind sowohl abhängig vom Untersuchungsbereich als auch vom Lebensabschnitt. So wirkt sich beispielsweise der Abfall von geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit unterschiedlich stark in unterschiedlichen Untersuchungsbereichen aus und entfaltet einen immer stärkeren Einfluss im hohen Alter. Dieser Einfluss wirkt sich im hohen Erwachsenenalter auf alle Älteren aus und kann dafür sorgen, dass die Heterogenität im körperlichen und kognitiven Bereich im hohen - 10 - Lebensqualität und Ungleichheit Alter sinkt. Beispiele für diesen Zusammenhang liefern Studien zur intellektuellen Dedifferenzierung im hohen Erwachsenenalter (Li et al., 2004). Denkbar ist allerdings auch ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang von Alter und Heterogenität: Nach einer zunächst geringen Heterogenität im mittleren Erwachsenenalter nimmt die Vielfalt im ”dritten Lebensalter‛ zunächst zu und im ”vierten Lebensalter‛ wieder ab (Freund & Baltes, 1998). Diese Annahme lässt sich aus Vorstellungen zur aktiven Steuerung der eigenen Entwicklung ableiten. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (Baltes & Baltes, 1990) geht beispielsweise davon aus, dass älter werdende Personen adaptiv auf die Abnahme von bestimmten Ressourcen reagieren, indem sie sich auf weniger Ziele konzentrieren, um die Verfolgung von wenigen, aber persönlich wichtigen Zielen zu optimieren. Da die persönliche Wichtigkeit von konkreten Zielen wie beispielsweise körperliche Fitness oder gesellschaftliches Engagement interindividuell unterschiedlich ist, führt ein solches adaptives Verhalten zu mehr Vielfalt in der Gruppe der Älteren. Jedoch stoßen auch solche Anpassungsstrategien an den körperlichen Alterungsprozess an ihre Grenzen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an führt die Alterung zu einer Reduktion der Heterogenität. In den Analysen der dritten Welle des Alterssurveys wird das Phänomen der Vielfalt im Alter in zweifacher Weise untersucht. Erstens werden hinsichtlich der zentralen Aspekte der Lebensqualität (z.B. materielle Lage, Gesundheit, Wohlbefinden) nicht nur Durchschnittswerte herangezogen, um eine (vermeintlich) homogene Gruppe älterer Personen zu beschreiben. Vielmehr wird ergänzend betrachtet, wie hoch die Vielfalt ist, die sich hinter diesen Werten verbirgt. Mit diesem Vorgehen soll die Heterogenität (oder möglicherweise auch die Homogenität) der Gruppe der älteren und alten Menschen empirisch beschrieben werden. Zweitens wird in einzelnen Themenbereichen ein personenorientierter Ansatz verfolgt, in dem es darum geht, bestimmte Gruppen von Personen (z.B. Personengruppen mit unterschiedlichen Formen sozialer Netzwerke) zu beschreiben. 1.3.2 Soziale Ungleichheit Soziale Ungleichheit wird verstanden als eine sozial strukturierte Benachteiligung oder Bevorzugung hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten zu verfügbaren (und erstrebenswerten) Ressourcen, sozialen Gütern und Positionen. Soziale Ungleichheit bezieht sich darauf, dass für bestimmte Personen, Gruppen von Personen bis hin zu Gesellschaften Einschränkungen oder Begünstigungen erwachsen (Kreckel, 1992). Benachteiligungen entstehen oftmals vor dem Hintergrund von Unterschieden in sozialer und räumlicher Herkunft, Bildungsniveaus, beruflichen Tätigkeiten sowie verfügbaren wirtschaftlichen Ressourcen wie Einkommen und Vermögen. Definitionen sozialer Ungleichheit gründen – im Gegensatz zum Konzept der ”Vielfalt‛ – auf normativen Setzungen. Dies wird daran deut- 11 - Lebensqualität und Ungleichheit lich, dass sich Urteile über die Qualität von Gütern, Positionen und Ergebnissen (Outcomes) an normativen Vergleichskriterien orientieren (müssen). Als soziale Ungleichheiten sind solche Differenzierungen zu bezeichnen, die als gesellschaftlich problematisch gelten und als veränderungswürdig betrachtet werden. In der Sozialberichterstattung steht zunächst die Ungleichheit zwischen älteren Menschen im Hier und Jetzt im Fokus. In einer Studie wie dem Alterssurvey stellt sich aber auch die Frage, ob sich Ungleichheiten in verschiedenen Altersgruppen bzw. Kohorten unterschiedlich darstellen. Schließlich stellt sich die Frage nach Entwicklungsverläufen sozialer Ungleichheit über den Lebenslauf von Kohorten und Generationen. In der sozialen Gerontologie werden vier Hypothesen diskutiert, die sich mit der Entwicklung sozialer Ungleichheit über den Lebenslauf befassen (s. Abbildung 1-1): Kontinuität, Angleichung, Differenzierung und Altersbedingtheit sozialer Ungleichheit im späten Lebenslauf (MotelKlingebiel, Kondratowitz, & Tesch-Roemer, 2004). Abbildung 1-1: Hypothesen zur Entwicklung sozialer Ungleichheit über den Lebenslauf (b) Angleichungshypothese (c) Differenzierungshypothese (d) Hypothese der Altersbedingtheit Funktion Funktion (a) Kontinuitätshypothese Soziale Faktoren Alter Altersfaktoren Alter (a) Die Kontinuitätshypothese nimmt an, dass die Ungleichheit innerhalb einer bestimmten Geburtskohorte über den späten Lebenslauf stabil bleibt. Üblicherweise wird dies aufgrund einer erwerbsorientierten Definition sozialer Ungleichheit angenommen. Das Vorhandensein individueller Dynamiken von Ungleichheitspositionen im späten Lebenslauf ist durch die Alterns-, Lebenslauf- und Ungleichheitsforschung wohldokumentiert (Motel-Klingebiel & Engstler, 2008; Huinink, Strohmeier, & Wagner, 2001; Zaidi, Frick, & Büchel, 2005; vgl. aber die Kritik von Elwert, Kohli, & Müller, 1990). - 12 - Lebensqualität und Ungleichheit (b) Die Angleichungshypothese nimmt an, dass mit dem Alter eine Homogenisierung oder Destrukturierung stattfindet. Begründet wird dies mit der Standardisierung sozialer Positionen, die aufgrund der zunehmenden Bedeutung institutioneller Regelungen in späten Lebensphasen auftreten kann. Bei einer solchen Standardisierung werden häufig jene Personen bevorteilt, die sich in niedrigeren Ungleichheitspositionen befinden. Solche Regulierungen bieten soziale Absicherung gegen Lebens- und Altersrisiken und können – bis zu einem gewissen Grad – die Ungleichheiten ausgleichen, die das Erwerbsleben erzeugt. Von diesem Prozess kann angenommen werden, dass er in der Lage ist, ursprüngliche soziale Zugehörigkeiten und Differenzierungen zu überschreiben. (c) Die Differenzierungshypothese postuliert eine Verstärkung von Ungleichheit im Alter. Dabei wird angenommen, dass sich Ungleichheiten aufgrund der fortwährenden Wirkungen vorlaufender Begünstigungen und Benachteiligungen und ihres Zusammenspiels im späten Lebenslauf weiter verschärfen (Dannefer, 2003; Ferraro, Shippee, & Schafer, 2009; O'Rand, 2003). Frühere materielle und gesellschaftliche Bedingungen bestimmen den Alternsprozess – oder beeinflussen ihn zumindest nachhaltig. Gewinne oder Verluste im Alter, z.B. hinsichtlich wirtschaftlicher Ressourcen korrelieren mit vorhergehenden Ungleichheiten und verstärken diese. Es kommt hinzu, dass institutionelle Regulationen nicht allein gegen Abstiege im Alter schützen. Sie verhindern teilweise auch die aktive Verbesserung materieller Lebensbedingungen im höheren Alter und stabilisieren so grundlegende Ungleichheiten. Obwohl dies vorrangig für die Einkommenslagen im Alter gelten sollte, kann diese Annahme auch für andere Bereiche wie z.B. Gesundheit oder gesellschaftliche Beteiligung relevant sein. (d) Die Hypothese der Altersbedingtheit nimmt einen Wechsel der Ursachen für Ungleichheiten im Lebenslauf an (und ist keine Alternativhypothese zu den zuvor genannten Hypothesen, sondern ergänzt diese). Der Hypothese der Altersbedingtheit zufolge wird soziale Ungleichheit bis zum mittleren Erwachsenenalter durch Zugehörigkeit zu sozialen Klassen oder sozioökonomischen Statusgruppen erzeugt (gemessen über berufliche Stellungen, Bildungsniveaus, oder Einkommens- bzw. Vermögenspositionen). Im Alternsverlauf werden diese Faktoren sozialer Ungleichheit sukzessive durch altersspezifische, d.h. beispielsweise gesundheitsbezogene Differenzierungen ersetzt. 1.4 Sozialer Wandel: Wie haben sich die Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte gewandelt? Mit dem Begriff des sozialen Wandels werden die qualitativen wie quantitativen Veränderungen von Gesellschaften, von gesellschaftlichen Teilgruppen und von individuellen Verhaltensweisen und Wertorientierungen über die historische Zeit bezeichnet. Auch wenn die Soziologie nicht über eine paradigmatische Theorie - 13 - Lebensqualität und Ungleichheit sozialen Wandels verfügt, ”die unangefochten den Anspruch auf Erklärung der Dynamik moderner Gegenwartsgesellschaften stellen könnte‛ (Weymann, 1998: 18), wird doch einhellig festgestellt, dass sozialer Wandel als strukturelle Veränderung eines sozialen Systems verstanden werden kann. Die dabei ablaufenden Wandlungsprozesse betreffen die Makroebene (Sozialstruktur, Kultur, Wirtschaft), die Mesoebene (Institutionen, korporative Akteure, Gemeinschaften) und die Mikroebene (Personen, Lebensläufe). Theorien des sozialen Wandels beziehen sich auf den Verlauf des Wandels, auf seine Ursachen sowie auf seine Wirkungen mit Blick auf Sozialstruktur und individuelle Lebenssituationen. Für die Mikroperspektive des Deutschen Alterssurveys sind zwei Aspekte des sozialen Wandels von Interesse. Zum einen geht es darum, die Auswirkungen des Wandels gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf individuelle Lebenssituationen zu untersuchen. Wir wollen fragen, wie gesellschaftliche Entwicklungen und politische Maßnahmen die Situation und das Wohlbefinden von älter werdenden und alten Menschen beeinflusst haben. Hierbei geht es um die Beobachtung der Lebenssituationen von Gesellschaftsmitgliedern im Verlauf der historischen Zeit. Zum anderen ist von Interesse, wie der Wandel der Lebensweisen als eine treibende Kraft einen Wandel sozialer Systeme bewirkt. In diesem Sinne kommt dem Wandel der Generationen als Antrieb für sozialen Wandel eine erhebliche Bedeutung bei. Verschiedene Geburtskohorten sind in unterschiedliche gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Kontexte eingebettet. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die Analyse sozialen Wandels mit der Lebenslaufund Generationenforschung zu verknüpfen und die gesellschaftliche Dynamik des vergangenen Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. In ähnlicher Weise unterscheiden Baltes und Kollegen (Baltes, Cornelius, & Nesselroade, 1979) zwei Trends des sozialen Wandels: Trends, die sich direkt auf die institutionellen Rahmenbedingungen des Älterwerdens auswirken (z.B. sozialpolitische Interventionen), sowie Trends, die aufgrund der Veränderungen in der Bevölkerung entstehen (z.B. Veränderungen in der Verteilung von Ressourcen oder Veränderungen in Werthaltungen). 1.4.1 Der Wandel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen In der Untersuchung sozialen Wandels aufgrund der Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sind drei Fragen zu stellen: (1) die deskriptive Frage ”Was wandelt sich?‛, (2) die explanatorische Frage ”Warum vollzieht sich der Wandel?‛ und (3) die evaluative Frage ”Was bedeutet der Wandel?‛ (Müller & Schmid, 1995). Empirisch wird im Alterssurvey vor allem die erste Frage untersucht: Wie wandeln sich die Lebenssituationen von Menschen in der zweiten Lebenshälfte? Hierbei wird untersucht, ob (und inwiefern) gesellschaftliche Trends ihren Niederschlag in der Lebensqualität von älter werdenden und alten Menschen finden. Mit Blick auf gesellschaftliche Ereignisse und sozialpolitische - 14 - Lebensqualität und Ungleichheit Maßnahmen wird der zweiten Frage zu den Ursachen für diesen Wandel nachgegangen. Schließlich ist es auch eine Aufgabe der Sozialberichterstattung, die dritte hier gestellte Frage zu beantworten und den beobachteten Wandel zu interpretieren und zu bewerten. Im Rahmen des Alterssurveys (DEAS) wird die Frage, wie gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen die Situation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte beeinflussen, mit Blick auf den Zeitraum zwischen 1996 (Zeitpunkt der ersten Welle von DEAS) und 2008 (Zeitpunkt der dritten Welle von DEAS) gestellt. Gerade um Fragen nach Ursachen und Bewertungen von Veränderung in Lebensbedingungen zu beantworten, ist es unabdingbar, bedeutsame gesellschaftliche und politischen Entwicklungen nachzuzeichnen, die die Lebenssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte beeinflussen. In Abbildung 1-2 sind ausgewählte gesellschaftliche Ereignisse und sozialpolitische Maßnahmen dargestellt, die sich zwischen 1996 und 2008 vollzogen haben. Insbesondere Veränderungen in der Sozialpolitik (Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Sozialhilfe sowie Grundsicherung für Arbeitsuchende) sind von Bedeutung für die Lebenssituationen von Menschen in der zweiten Lebenshälfte. (a) Gesellschaft: Der gesellschaftliche Wandel in den letzten zwölf Jahren war durch das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten gekennzeichnet. Im Jahr 1996 lag die Vereinigung gerade sechs Jahre zurück, demnächst wird der 20. Jahrestag des Falls der Mauer begangen. Seit Beginn der 1990’er Jahre haben sich die Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland angenähert. Politisch ist der Zeitraum zwischen 1996 und 2008 durch den zweifachen Wechsel einer Regierungskoalition zu charakterisieren. Im Jahr 1998 wurde die schwarz-gelbe Koalition des Kanzlers Kohl durch die rot-grüne Koalition von Kanzler Schröder abgelöst. Dieser folgte dann im Jahr 2005 die schwarz-rote Koalition von Kanzlerin Merkel. Die wirtschaftliche Entwicklung war in den letzten zwölf Jahren durch eine Abfolge von konjunkturellen Auf- und Abschwüngen gekennzeichnet. Nach der Rezession des Jahres 1993, Folge der im vorhergehenden Wiedervereinigungsboom aufgetretenen Übersteigerungen und der daraufhin einsetzenden restriktiven Geldpolitik, trat ein Aufschwung ein, der im Jahr 2001 endete (Ende des Booms in der IT- und Kommunikationsbranche). Nach einer wirtschaftlichen Schwächephase begann im Jahr 2005 ein relativ starkes Wirtschaftswachstum, das in die weltweite Finanzkrise des Jahres 2008 mündete. Trotz dieser wirtschaftlichen Fluktuation war das Wachstum des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts und des durchschnittlichen preisbereinigten Einkommens in den letzten zwölf Jahren positiv. Allerdings waren in derselben Zeit auch weniger positive Entwicklungen zu konstatieren. Beispielsweise stiegen in dieser Zeit die Arbeitslosenquote sowie das Risiko der Privatinsolvenz. - 15 - Lebensqualität und Ungleichheit (b) Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung: Im Jahr 2000 wurden die europäischen Richtlinien über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge in Deutschland umgesetzt, mit dem Ziel, die Akzeptanz für Teilzeitarbeit zu erhöhen. Im Jahr 2002 wurde das Job-AQTIV-Gesetz wirksam, das eine effizientere Arbeitsvermittlung zum Ziel hatte. Im Jahr 2003 traten die beiden ersten Teile der Hartz-Gesetze in Kraft (Hartz I: Erleichterung von neuen Formen der Arbeit, Förderung der beruflichen Weiterbildung durch die Arbeitsagentur, Einführung des Bildungsgutscheins, Zeitarbeit mit Personal-Service-Agenturen; Hartz II: Regelung der Beschäftigungsarten Minijob und Midijob, Ich-AG, Einrichtung von Jobcentern). Im Jahr 2004 trat das dritte Hartz-Gesetz in Kraft (Hartz III: Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit). Im Jahr 2005 trat das vierte Hartz-Gesetz in Kraft (Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, Reduzierung des Bezugs von Arbeitslosengeld auf 18 Monate). Alle Maßnahmen kombinieren eine Reduzierung der Sozialleistungen mit verstärkten Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit, die zum Ziel haben, dass arbeitslose Menschen rasch wieder Erwerbsarbeit finden. (c) Rentenpolitik: Im Jahr 1997 hatte die schwarz-gelbe Koalition das Rentenreformgesetz 1999 (RRG 1999) verabschiedet. Schwerpunkte des Gesetzes waren Abschaffung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Altersteilzeitarbeit, die Einführung einer früher beginnenden Altersrente für Frauen, die Neuordnung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die Anhebung der Altersgrenzen für Schwerbehinderte sowie die Einführung eines Faktors in die Rentenformel, der den Anstieg der Lebenserwartung berücksichtigt (Demographiefaktor). Teile dieses Reformgesetzes wurden im Jahr 1999 rückgängig gemacht. Im Jahr 2001 trat das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Kraft (zweistufige Erwerbsminderungsrente, Anhebung der Altersgrenze bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen). Im Jahr 2002 wurde die Riesterrente eingeführt, die es Arbeitnehmer/innen ermöglichen soll, privat für die Alterssicherung vorzusorgen. Im Jahr 2003 trat das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Kraft. Hierbei handelt es sich um eine eigenständige, bedürftigkeitsabhängige Leistung. Im Jahr 2006 wurde die Altersgrenze für den frühesten Bezug der vorzeitigen Altersrente stufenweise vom 60. auf das 63. Lebensjahr angehoben, um Frühverrentungen zu verhindern. Im Jahr 2008 trat das Gesetz zur Altersrente mit 67 in Kraft (Anhebung der Regelaltersgrenze für die Rente ab 2012 von 65 auf 67 Jahre; Geburtsjahrgänge ab 1964 werden erst mit 67 Jahren ohne Abzüge in Rente gehen können). Insgesamt bezwecken die Rentenreformen seit Mitte der 1990’er Jahre eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sowie eine Senkung der Renteneinkünfte, insbesondere zukünftiger Rentenempfänger, mit dem Ziel der Sicherung des gesetzlichen Rentensystems. - 16 - Abbildung 1-2: Zeitachse ausgewählter Ereignisse im Zeitraum 1996 bis 2008 (bisheriger Erhebungszeitraum von DEAS) 1 RRG = Rentenreformgesetz Lebensqualität und Ungleichheit (d) Gesundheitspolitik: Mit dem "Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung" trat im Jahr 2004 eine Reihe von Änderungen in Kraft (Wettbewerb im Gesundheitssystem, mehr Eigenverantwortung der Versicherten). Im Jahr 2006 trat das "Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung" in Kraft (keine Zuzahlung nur für Arzneimittel, die 30 Prozent oder mehr unterhalb eines festgesetzten Festbetrags liegen). Im Jahr 2007 trat das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft (schrittweise Einführung der Krankenversicherungspflicht, Ausbau der integrierten Versorgung, erweiterte Wahlmöglichkeiten für die Versicherten). Insgesamt hatten die Reformen in der Gesundheitspolitik das Ziel, die Kosten des Gesundheitssystems zu senken, insbesondere durch Eigenbeteiligung der Versicherten sowie durch stärkere Regulierung. (e) Pflegepolitik: Bereits im Jahr 1995 trat die Pflegeversicherung (SGB XI) als Pflichtversicherung in Kraft. Da es sich bei der Pflegeversicherung um einen neuen Zweig der Sozialversicherung handelte, veränderte sich in den folgenden Jahren die Infrastruktur, insbesondere durch eine Vielzahl neu gegründeter Anbieter im ambulanten Sektor. Auch die Inanspruchnahme von Leistungen veränderte sich in den ersten Jahren der Pflegeversicherung (leichte Absenkung der Zahl von Pflegegeldempfängern, Anstieg der Zahl von Pflegeheimbewohnern). Im Jahr 2005 wurde ein Zusatzbeitrag für kinderlose Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung eingeführt. Im Jahr 2008 trat die erste größere Reform der Pflegeversicherung in Kraft (schrittweise Anhebung der Pflegesätze bis 2012, Leistungen für die Betreuung demenzkranker Menschen, finanzielle Förderung von Selbsthilfeorganisationen, Pflegeurlaub von zehn Tagen und Pflegefreistellung bis zu sechs Monate). Insgesamt bezweckt die Pflegeversicherung eine Stärkung der Unterstützung der Familien und weiteren sozialen Netzwerke bei der Betreuung und Pflege von Familienangehörigen. (f) Sozialhilfepolitik und Grundsicherung: Im Jahr 2003 wurde die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eingeführt. Hierbei handelt es sich um eine bedarfsorientierte Sozialleistung zur Sicherstellung des notwendigen Lebensunterhalts. Der Zweck der Grundsicherung ist es, sogenannter versteckter oder verschämter Altersarmut vorzubeugen. Von Bedeutung hierbei ist, dass – entgegen der sonst üblichen Unterhaltspflicht aufgrund des Subsidiaritätsprinzips – die Kinder der betroffenen Personen nicht vom Sozialhilfeträger in die Pflicht genommen werden. Insgesamt zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen in der Sozialpolitik. Zum einen ist eine deutliche Begrenzung und sogar Zurücknahme sozialpolitischer Leistungen zu konstatieren (Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung). Zum anderen gibt es neue Formen der sozialpolitischen Unterstützung (Grundsicherung, Pflegeversicherung). Obwohl viele dieser Maßnahmen eine allgemeine Reduzierung sozialpolitischer Leistungen mit sich brach- - 18 - Lebensqualität und Ungleichheit te (z.B. durch Zuzahlungen für Gesundheitsleistungen, private Vorsorge für die Alterssicherung), sind die Wirkungen differenziert (z.B. gelten Änderungen des Rentenrechts, etwa mit Blick auf eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters, in unterschiedlicher Weise für Angehörige unterschiedlicher Geburtskohorten). Zudem muss davon ausgegangen werden, dass sich die gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen der Sozialpolitik auf Menschen unterschiedlichen Alters, auf Männer und Frauen, auf Menschen in Ost- und Westdeutschland sowie auf Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten unterschiedlich ausgewirkt haben. 1.4.2 Lebensläufe und sozialer Wandel Eine Veränderung der Lebenssituation älterer Menschen und der Ausgestaltung der Altersphase sollte nicht allein vor dem Hintergrund von Veränderungen der aktuellen gesellschaftlichen Kontexte diskutiert werden, wie sie im vorangegangenen Abschnitt vorgestellt wurden. Vielmehr sind spätere Lebensphasen erheblich durch frühere Lebensabschnitte (mit)geprägt, denn der gesamte bisherige Lebenslauf stellt materielle wie immaterielle Ressourcen für das höhere Alter bereit und beeinflusst die Lebensformen und Wünsche im Alter. Gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen treffen auf Menschen unterschiedlichen Alters, die in je unterschiedlicher Weise davon betroffen sind. In Abbildung 1-3 sind einige fiktive (aber nicht untypische) Lebensläufe von Personen abgebildet, die am Alterssurvey teilgenommen haben (oder teilgenommen haben könnten). An diesen exemplarischen Lebensläufen sieht man sehr deutlich, wie Biographien in geschichtliche Abläufe eingebettet sind. Um dies zu veranschaulichen, sind (fiktive) Lebensläufe dreier Geburtsjahrgänge in Abbildung 1-3 dargestellt. Die ältesten Teilnehmer/innen der ersten Welle des Alterssurveys wurden im Jahr 1911 geboren (unterster waagerechter Balken in Abbildung 1-3); die jüngsten Teilnehmer/innen der dritten Welle im Jahr 1968 (oberster waagerechter Balken in Abbildung 1-3). Der Jahrgang 1940 repräsentiert Personen, die zwischen den jüngsten und ältesten Teilnehmer/innen geboren wurden (die vier waagerechten Balken in der Mitte der Abbildung 1-3). Der gesellschaftliche Wandel lässt sich sehr deutlich an den Biographien von Frauen verdeutlichen. Eine im Jahr 1911 geborene Frau (unterster Balken in Abbildung 1-3) verfügt häufig nur über geringe Bildung, hat in der Regel mehrere Kinder und ist nicht selten gar nicht oder nur kurz erwerbstätig gewesen. Eine im Jahr 1968 geborene Frau (oberster Balken) hat dagegen nicht selten einen hohen Bildungsabschluss, ist berufstätig und hat wenige (oder keine) Kinder. An diesem Kontrast zeigt sich sehr deutlich, wie stark sich Lebensläufe im 20. Jahrhundert verändert haben. - 19 - Abbildung 1-3: Fiktive Lebensläufe in unterschiedlichen historischen Kontexten Lebensqualität und Ungleichheit Im Mittelteil von Abbildung 1-3 werden Unterschiede in den Lebensläufen von Männern und Frauen sowie von Ost- und Westdeutschen deutlich. Die Erwerbskarrieren von ostdeutschen Frauen und Männern des Geburtsjahrgangs 1940 ähneln einander stärker als jene von westdeutschen Frauen und Männern desselben Geburtsjahrgangs. In Westdeutschland haben Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen, wenn Kinder geboren wurden. In Ostdeutschland war dies nicht der Fall; dort waren Frauen bei Geburt des ersten Kindes auch jünger als in Westdeutschland. Arbeitslosigkeit als Phase vor dem Übergang in den Ruhestand haben insbesondere Männer in Ostdeutschland nach der Wende und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten erleben müssen. Lebensläufe vollziehen sich in Abhängigkeit von ihrer historischen Einbettung unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Von hoher Bedeutung ist aber auch die Tatsache, dass die Struktur des Lebenslaufs als zeitliche Abfolge unterschiedlicher Lebensphasen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesellschaft steht. Sozialer Wandel wird durch die Abfolge von Generationen vorangetrieben. Die historische Lagerung bestimmter Geburtskohorten und ihrer Lebensläufe kann im Sinne Karl Mannheims (1928) zur Ausbildung von Generationen führen, die sich durch spezifische Lebensweisen, Einstellungen, Planungen und Ressourcen ausweisen. Mannheim führt zur Beschreibung des Sachverhalts die Hierarchie von Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit ein. Generationslagerung bezeichnet Geburtskohorten, die einem ähnlichen historischem Kontext entstammen, Generationszusammenhang meint die Teilhabe an der gemeinsamen Geschichte und kulturellen Strömungen, und Generationseinheiten meint eine identitätsstiftende Verarbeitung der gemeinsamen Geschichte sowie einheitliche Reaktionen der zu einer Generationseinheit gehörenden Mitglieder. Zu fragen ist, welche gesellschaftlichen Entwicklungen das Alter und Altern von Generationen prägen, und ob sich im 20. Jahrhundert Veränderungen nachzeichnen lassen, die einen Wandel des Alters implizieren. Nachfolgend sollen drei Generationen skizziert werden, deren Lebensläufe sehr unterschiedlich sind (s. Abbildung 1-4). Es handelt sich hierbei um jene Generationen, die die heutige Altersphase prägen: Erstens die 45er- und Aufbaugeneration, zweitens die 68erund integrierte Generation sowie drittens die Babyboomer-Generation in Ostund Westdeutschland. Der Wandel des höheren Lebensalters zeigt sich derzeit vor allem als Übergang zwischen den beiden ersten Generationengruppen. Die Babyboomer-Generation stellt hingegen derzeit die älteren Erwerbstätigen und die ”Alten der Zukunft‛. - 21 - Abbildung 1-4: Modell der Generationenabfolge in Deutschland vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen Lebensqualität und Ungleichheit (a) 45er- und Aufbaugeneration Die Mitglieder der 45er- und Aufbau-Generation (Jahrgänge 1918-1930) erlebten als Kinder nicht mehr den Ersten Weltkrieg und nur teilweise die Weimarer Republik mit ihrer politischen Instabilität und ihren Wirtschaftskrisen. Ihre Mitglieder wurden im Nationalsozialismus sozialisiert und wuchsen unter den Bedingungen der NS-Zeit und des zweiten Weltkrieges heran. Sie erlebten Beginn und Ende des zweiten Weltkrieges, in den sie teilweise mehr oder weniger aktiv involviert waren. Anschließend integrierten sie sich in die konkurrierenden Systeme der beiden deutschen Staaten und profitierten als junge Erwachsene jeweils in unterschiedlicher Weise vom Aufbau zweier deutscher Gesellschaften und der hiermit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Biografisch war der (häufigere) Wechsel von Ost nach West und der (seltenere) Wechsel von West nach Ost eine Lebensoption, die im Jahr 1961 ein plötzliches Ende fand und erst ab 1990 wieder offen stand und damit für die meisten Personen dieser Generation in einem Alter, in dem sie bereits im Ruhestand waren. Beide Generationen waren durch das alte Gesellschaftssystem geformt und gleichzeitig Träger eines neuen bzw. grundlegend renovierten Gesellschaftssystems. Diese Generation ist für die Analysen des Deutschen Alterssurveys von besonderem Interesse, da sie die älteste, vom Design des Alterssurveys vollständig abgedeckte Generationenformation darstellt. (b) 68er-Generation und integrierte Generation Die 68er-Generation und die integrierte Generation (Geburtskohorten der späten 1930er bis mittleren 1940er Jahre) wurden zumeist in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg geboren, erlebten die Staatsgründungen als Kinder und wuchsen unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders (West) und des Aufbaus (Ost) auf. Sie profitierten zunächst in großem Umfang von beiden Entwicklungen, reagierten aber in je unterschiedlicher Art und Weise auf die als junge Erwachsene vorgefundenen Gesellschaften. Sie wurden zunächst zu Gewinnern der Systeme. Während die 68er sowohl von der Bildungsexpansion und als auch von der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre betroffen waren, anschließend aber weithin erfolgreiche Karrieren erfuhren, erlebte die integrierte Generation des Ostens ihre Krise mit dem Zusammenbruch der DDR, der sie am Ende ihrer Erwerbsphase traf und aus dem Erwerbsleben drängte. Die materiellen Folgen hielten sich allerdings aufgrund von Übergangsregelungen insbesondere für die Älteren dieser Generation in Grenzen. Die Jüngeren dieser Generation stellen hingegen aufgrund vielfach abgebrochener Erwerbskarrieren in Teilen die ”Wendeverlierer‛ dar. Während die 68er in Westdeutschland die Liberalisierung der Gesellschaft vorantrieben und so den Weg für die Babyboomer bereiteten, ihnen aber auch gleichzeitig Karrierewege verstellten, steht die integrierte Generation Ostdeutschlands für die ideologische und kulturelle Verhärtung der Gesellschaft. 23 Lebensqualität und Ungleichheit In Westdeutschland konfrontierte die 68er-Generation die 45er- und AufbauGeneration mit erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen. Die 45er- und Aufbau-Generation erlebte damit im mittleren Lebensalter eine Liberalisierung der Gesellschaft, die sich ausdrücklich auch gegen ihre eigene Lebensweise wendete. ”Trau keinem über 30‛ schloss die Aufbau-Generation von der Lebensweise der nachfolgenden Generation aus. Es ist zu erwarten, dass dieser Gegensatz auch im höheren Alter als Differenz der Lebensweisen und -formen seinen Niederschlag findet. In Ostdeutschland folgte analog zur 68er-Generation die ”integrierte Generation‛, die die Aufbaugeneration ablöste. Ein entscheidender Unterschied war jedoch, dass die integrierte Generation der DDR der 45erund Aufbau-Generation kulturell wie ideologisch weithin folgte. Diese Generation hat die sozialistische Ideologie oftmals stark verinnerlicht und eine starke Bindung an die DDR aufgebaut. Mit ihrer Konformität steht sie im Gegensatz zu aufbegehrenden, systemkritischen westdeutschen 68er-Generation. (c) Babyboomer-Generation Die zwischen 1950 und der ersten Hälfte der 1960er Jahre geborenen Generationen sind besonders geburtenstarke Jahrgänge, denen sehr viel schwächer besetzte Kohorten folgen. Die Babyboomer in West- und Ostdeutschland fanden weitgehend etablierte wirtschaftliche und politische Systeme vor. Während in Westdeutschland vor allem aufgrund der schieren Masse, der Besetzung von Führungspositionen nach Ausbau des öffentlichen und Bildungssektor sowie der deutlichen Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung einschließlich schrumpfender (Um-)Verteilungsspielräume nur bedingt weiterer Spielraum für Aufstiege vorhanden war, galt dies zwar in Ostdeutschland ähnlich, aber aus anderen Gründen. Hier hatte der bis in der 1970er Jahre hinein durchaus erfolgreiche Aufbau des Systems und insbesondere der Erfolg der integrierten Generation zu einem beschränkten Zugang zur sozialistischen Dienstklasse geführt und vielfach Aufstiege erschwert oder unmöglich gemacht. Die Babyboomer Ostdeutschlands verschärften so die Legitimitätskrise der DDR und können letztlich als eine treibende Generation des Systemwechsels angesehen werden. Während die Babyboomer des Westens auf eine sich bereits liberalisierende Gesellschaft trafen, sahen sich die ostdeutschen Babyboomer auch außerhalb der Erwerbssphäre einem verfestigten Gesellschaftssystem gegenüber, das wenig Spielraum zur Entfaltung ließ. Die deutsche Vereinigung erlebten die Babyboomer im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 30 – also in frühen Phasen ihrer Erwerbskarrieren. Seitdem sind ihre Erwerbskarrieren unter einigermaßen günstigen wirtschaftlichen Bedingungen verlaufen. Im Allgemeinen ist bei ihnen eine zunehmende Pluralisierung von Lebensformen und Lebensläufen bis zum Renteneintritt zu konstatieren, deren Auswirkungen auf die Alterssicherung offen ist. Die Babyboomer werden die erste Generation sein, die voll von den in den letzten Jahren beschlossenen 24 Lebensqualität und Ungleichheit Leistungsabsenkungen des Systems sozialer Sicherung, insbesondere der öffentlichen Alterssicherung und den Folgen der Privatisierung sozialer Sicherung betroffen sind und künftig sein werden. Diese Generation ist mit einer deutlich veränderten Struktur der gesetzlichen Alterssicherung konfrontiert. Und allein schon aufgrund ihrer Kohortenstärke sinkt nach dem reformierten Rentenrecht ihre individuelle Altersrente. 1.5 1.5.1 Resümee und Ausblick Resümee Die individuelle Lebensqualität der Menschen in der zweiten Lebenshälfte ist der zentrale Gegenstand der Analysen zur dritten Welle des Deutschen Alterssurveys. Lebensqualität ist ein wesentliches Kriterium zur Bewertung von Erfolg und Misserfolg gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion und sozialpolitischer Interventionen (Wahl, Becker, Schilling, Burmedi, & Himmelsbach, 2005; Veenhoven & Hagerty, 2006; Hajiran, 2006; Schulz-Nieswandt, 2006; Stroup, 2007). Lebensqualität wird hierbei sowohl als objektive Lebenslagen als auch subjektive Lebensbewertungen gefasst. Eine reine Erfassung der durchschnittlichen objektiven und subjektiven Lebenslagen ist jedoch zu diesem Zweck nicht ausreichend. Um ein besseres Verständnis der Lebenssituationen zu erreichen, muss die zweite Lebenshälfte auch in seiner Vielfalt beschrieben werden. Der Deutsche Alterssurvey leistet deshalb Beiträge zur Sozialberichterstattung mit Blick auf die objektiven Lebenslagen und das subjektive Wohlbefinden von Menschen in der zweiten Lebenshälfte zum einen im Hinblick auf das Niveau zentraler Aspekte, zum anderen in Bezug auf Verteilungen und Häufigkeiten. Um dem Konzept der sozialen Ungleichheit gerecht zu werden, werden Differenzierungen nach Alter, Geschlecht, Region (Ost/West) und Bildungsstand vorgenommen. In einer vertiefenden sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Perspektive wird es im Rahmen von weiterführenden Publikationen darum gehen, welche intraindividuellen Veränderungen zu beobachten sind und welche Bedingungen diesen Entwicklungsprozessen zugrunde liegen. Schließlich kann mit dem Deutschen Alterssurvey sozialer Wandel beschrieben werden. Dabei geht es um die Frage, wie gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen die Situation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte beeinflussen. Hierbei ist es sinnvoll, je nach Fragestellung verschiedene Geburtskohorten zusammenfassen. Durch Vergleiche verschiedener Generationeneinheiten (z.B. der 45er- oder Aufbau-Generation, der 68er-Generation bzw. der integrierten Generation sowie der Babyboomer-Generation) kann vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Prägungen untersucht werden, inwieweit sich die Lebensphase Alter wandelt und welchen je spezifischen Heraus 25 Lebensqualität und Ungleichheit forderungen die verschiedenen Generationen Älterer heute und in Zukunft gegenüberstehen. 1.5.2 Ausblick Alle Beiträge des geplanten Abschlussberichtes und des daraus entstehenden Buchbandes rücken im jeweiligen Themengebiet die Frage der Lebensqualität ins Zentrum ihrer Analysen. In diesem Sinne steht der Deutsche Alterssurvey in der Tradition klassischer alternswissenschaftlicher Ansätze, die das ”gute Leben‛ ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, beispielsweise unter den Überschriften des ”erfolgreichen Alterns‛ (Baltes & Baltes, 1989; Havighurst, 1962; Litwin, 2005; Sánchez Palacios, Trianes Torres, & Blanca Mena, in press), des ”produktiven Alterns‛ (Bearon, 1996; Victor, Scambler, Bowling, & Bond, 2005; Butler & Gleason, 1985; Estes & Mahakian, 2001; Estes, Mahakian, & Weitz, 2001; Taylor & Bengtson, 2001) oder auch des ”Alters als sozialem Problem‛ (Dieck & Naegele, 1993). Abbildung 1-5: Lebensqualität im Alter – Konzeptionelles Modell des Deutschen Alterssurveys Wie bereits ausgeführt spiegelt der Begriff der Lebensqualität sowohl das ”gute Leben‛ als auch seine Bedingungen wieder (vgl. Veenhoven, 2000). Lebensqua- 26 Lebensqualität und Ungleichheit lität kann als Ausdruck und Resultat ungleich verteilter Lebensbedingungen und Lebenschancen von Personen verstanden werden, die sich in verschiedenen Lebensphasen befinden, zu verschiedenen historischen Zeitpunkten geboren wurden und in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Umwelten leben. Lebensqualität beinhaltet materielle und nicht-materielle, objektive und subjektive, individuelle und kollektive Aspekte (Motel-Klingebiel, Tesch-Römer, & von Kondratowitz, 2003; Katz, Lowenstein, Phillips, & Daatland, 2005; Rapley, 2003). Im Kontext des Deutschen Alterssurveys wird Lebensqualität als ein multidimensionales Konstrukt verstanden. Die Formulierung eines Modells der Lebensqualität dient damit im Deutschen Alterssurvey vor allem der konzeptionellen Gestaltung der Analysestruktur und dem inhaltlichen Bezug der Teilanalysen aufeinander (vgl. Abbildung 1-5). Um die Komplexität zu reduzieren, beschränken sich die empirischen Analysen im vorliegenden Band auf die differenzierte Betrachtung einzelner Aspekte. Die Kapitel des geplanten Endberichts des Projekts werden den folgenden Themen gewidmet sein, wobei sowohl die Vielfalt und Ungleichheit der relevanten Lebenssituationen sowie der Wandel in den Lebenssituationen berücksichtigt werden. Zunächst wird das Thema Erwerbsarbeit und Übergang in den Ruhestand behandelt. Daran schließt sich die Untersuchung der materiellen Lage und der Wirtschaftskraft von Menschen in der zweiten Lebenshälfte an. Dem Thema Wohnen wird ein eigenes Kapitel gewidmet. In drei Kapiteln wird die soziale Integration älterer Menschen behandelt. Die Beziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern sowie Großeltern und Enkeln werden in einem Kapitel zu intergenerationalen Beziehungen dargestellt. Dem Thema der Lebensformen und Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Schließlich wird der Blick erweitert auf private Netzwerke und die gesellschaftliche Partizipation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Dem wichtigen Thema Gesundheit widmen sich weitere Analysen. Die empirischen Analysen schließen mit einer Darstellung des subjektiven Wohlbefindens sowie der Werte und Altersbilder von Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Das letzte Kapitel des Berichts- bzw. Buchbandes wird sich den gesellschaftsrelevanten Folgerungen und politischen Implikationen der Analysen widmen. Dabei sind – für den Deutschen Alterssurvey – zwei überschneidende Fragestellungen wesentlich: Erstens die Frage nach der Maximierung bzw. Ausweitung von Lebensqualität (vgl. Walker, 2004). Zweitens die Frage nach ihrer ”optimalen‛, d.h. den jeweiligen Distributionszielen entsprechende) Verteilung. Dies ist vor dem Hintergrund sich wandelnder ökonomischer Bedingungen und Systeme sozialer Sicherung von großer Bedeutung (Wahl, Becker, Schilling, Burmedi, & Himmelsbach, 2005; Motel-Klingebiel & Arber, 2006; Navarro, 2002; Tesch- 27 Lebensqualität und Ungleichheit Römer, Motel-Klingebiel, & Tomasik, 2008; Walker, 2006). Die empirischen Antworten stellen eine zentrale Grundlage der Alterssozialpolitikberatung dar. Literatur Backes, G. M. (2003). Soziologische und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie. In F. Karl (Ed.), Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie (pp. 45-57). Weinheim: Juventa. Baltes, P. B., & Baltes, M. M. (1989). Erfolgreiches Altern - Mehr Jahre und mehr Leben. In M. M. Baltes, M. Kohli & S. Karl (Eds.), Erfolgreiches Altern (pp. 5-10). Bern: Huber. Baltes, P. B., & Baltes, M. M. (1990). Psychological perspectives on successful aging: The model of selective optimization with compensation. In P. B. Baltes & M. M. 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Familiale Generationenbeziehungen Katharina Mahne & Andreas Motel-Klingebiel Inhalt 2.1 Familiale Generationenbeziehungen im Alter .................................. 32 2.2 Familiale Generationenbeziehungen im Lebenslauf ......................... 34 2.3 Institution Familie in modernen Gesellschaften............................... 36 2.4 Konzeptionelle Ansätze zu familialen Generationenbeziehungen ..... 37 2.5 Die Bedeutung von Generationenbeziehungen für die Lebensqualität im Alter .................................................................. 40 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 Analyseperspektiven, Wissensbestände und Forschungsfragen ....... 41 Analyseperspektiven ............................................................................. 41 Wissensbestände .................................................................................. 42 Forschungsfragen .................................................................................. 44 2.7 Zusammenfassung.......................................................................... 48 Literatur .................................................................................................. 49 2.1 Familiale Generationenbeziehungen im Alter Vor dem Hintergrund der gewichtigen demografischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und in Anbetracht des Altersstrukturwandels ist aus soziologischer Perspektive die Untersuchung der Beziehungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Generationen innerhalb der Familie von herausragender Bedeutung. Bekannt ist, dass der relative wie absolute Anteil älterer Menschen kontinuierlich ansteigt und auch zunehmend ein sehr hohes Lebensalter erreicht wird (Grünheid, 2000). Auch die Generationenstrukturen und -konstellationen in Familien haben sich in modernen Gesellschaften gewandelt. Verursacht durch die erhöhte Lebenserwartung vergrößert sich die gemeinsame Lebensspanne familialer Generationen (Lauterbach, 1995). Über einen längeren Zeitraum gelebte, aktive Großelternschaft ist hier als eine relativ neue, sich entwickelnde Beziehungsform und Altersrolle zu sehen. Ein Großteil der Menschen in der zweiten Lebenshälfte hat heute Enkelkinder und die Zeitspanne der gemeinsamen Lebenszeit von Großeltern und Enkeln erstreckt sich im Durchschnitt auf zehn bis 30 Jahre (Wilk, 1993). Selbst Vier-Generationen-Konstellationen innerhalb einer Familie nehmen zu, über 6% der 40- bis 85-Jährigen haben bereits Urenkel (Hoff, 2007b). Gleichzeitig, und diesem Trend entgegenwirkend, verlagert sich 32 Familiale Generationenbeziehungen der Zeitpunkt der ersten Geburt nach hinten, europaweit sind stagnierende oder sinkende Geburtenraten zu beobachten1. Somit steigt auch der Anteil Kinderund Enkelloser (Engstler & Menning, 2005). Dennoch wird für die zukünftige Entwicklung eine ‚Bohnenstangen-Struktur’ der Familie angenommen, die sich durch eine Abnahme der Anzahl der intra-generationalen verwandtschaftlichen Beziehungen und einer zunehmenden Anzahl der intergenerationalen Beziehungen auszeichnet. Die Analyse von Generationenbeziehungen kann sich daher in der Zukunft nicht mehr allein auf die dyadischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beschränken, sondern muss an Bedeutung gewinnende Beziehungen wie die zwischen Großeltern und Enkelkindern theoretisch wie empirisch fassen. Da diese beiden Beziehungsformen nicht unabhängig voneinander existieren und gestaltet werden, ist es besonders ertragreich, eine 3-GenerationenPerspektive einzunehmen (Arrondel & Masson, 2001; Hagestad, 2006). Neben diesen demografischen Umwälzungen kommen soziale Trends zum Tragen, die Auswirkungen auf familiale Strukturen und schließlich deren Funktionalität haben. Zunehmende Scheidungsraten, Ein-Eltern-Familien und sich verändernde Muster der Familien(neu)gründung führen zu heterogeneren und komplexeren Familienzusammenhängen, die nicht mehr ausschließlich auf Verwandtschaft beruhen und weniger lang gemeinsam gewachsen sind (Peuckert, 2008). Als Folge wird vermutet, dass ”die faktisch gepflegten und dementsprechend ‚gelebten‘ Beziehungen von persönlichen Zuneigungen und Übereinstimmungen abhängig werden‛ (Lüscher, 1993). Trennung und Scheidung haben dabei nicht nur Auswirkungen auf die jeweils betroffene Generation, sondern beeinflussen auch die Beziehungsgestaltung innerhalb der erweiterten Familie. Frauen fungieren innerhalb der Familie häufig als ‚kin-keeper’ und zeichnen sich durch engere und intensivere Verwandtschaftsbeziehungen aus (Monserud, 2008; Pollet, Nettle, & Nelissen, 2007; Suitor, Pillemer, Keeton, & Robison, 1995). Die Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen (Bothfeld, 2005), was unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsaufgaben mit teils konfligierenden Rollenanforderungen einhergeht. Arbeitsweltliche Mobilitätsanforderungen wirken sich auf die geografische Nähe bzw. Ferne zwischen familialen Generationen aus, und damit auch auf quantitative wie qualitative Merkmale der Familienbeziehungen (Szydlik, 1995). Familiale Netze zeichnen sich heute folglich durch Multilokalität aus. Die Wohnentfernung etwa zwischen Eltern und Kindern stellt eine Gelegenheitsstruktur für (persönlichen) Kontakt und insbesondere für die Möglichkeiten zum Austausch gegenseitiger Hilfe und Unterstützung dar. Bislang wird beispielsweise 1 In Deutschland ist gegenüber dem ersten Halbjahr 2007 im ersten Halbjahr 2008 die Geburtenrate allerdings leicht angestiegen (vgl. Pressemitteilung Nr.418 des Statistischen Bundesamtes vom 11.11.2008). 33 Familiale Generationenbeziehungen die Pflege älterer Familienmitglieder zum Großteil von Verwandten, namentlich den Töchtern und Schwiegertöchtern, geleistet (Pfau-Effinger, 2005). Zwar lebt ein Großteil der Älteren in Deutschland in räumlicher Nähe zu mindestens einem ihrer Kinder. Dennoch kann über die Zeit eine Vergrößerung der Wohndistanz zwischen Eltern und Kindern beobachtet werden (Engstler & Huxhold, 2009; Hoff, 2006). Bezogen auf die Generationenstrukturen ist eine Heterogenisierung zu vermuten. Familie zeichnet sich auch heute noch überwiegend durch Verheiratung und die Geburt von Kindern und Enkelkindern aus. Die oben beschriebenen Prozesse führen allerdings zu einer Ausbildung unterschiedlichster Familienformen und familiärer Lebenssituationen im Alter. Patchwork-Arrangements in der Kindergeneration stellen Verknüpfungspunkte zu anderen Linienverwandtschaftsverhältnissen dar und resultieren womöglich in spezifisch unterschiedlichen Bedürfnissen, Erwartungen und Rollenanforderungen von und an einzelne Familienmitglieder. Im Gegensatz zu solch eher größer und komplexer werdenden Generationennetzen dürfte sich ein zunehmender Teil der Älteren entweder durch eigene oder Kinderlosigkeit in der nächsten Generation mit einer stärker entfamiliarisierten Lebenssituation konfrontiert sehen. 2.2 Familiale Generationenbeziehungen im Lebenslauf Die Perspektive auf den Lebenslauf hat die Analyse menschlichen Lebens enorm befruchtet. Zu den Kernprinzipien gehört die Erkenntnis, dass die Lebenssituation im Alter nicht isoliert von früheren Lebensphasen betrachtet werden kann. Außerdem sind die Lebensverläufe einzelner Menschen untereinander verknüpft. Beziehungen zu Familienmitgliedern bestehen meist lebenslang. Lebenszyklische Wandelprozesse fordern die Familienmitglieder jedoch heraus, ihre Beziehungsgestaltung den Anforderungen und Bedingungen unterschiedlicher Lebensphasen immer wieder anzupassen. Je nachdem, welcher Umgang hiermit gefunden wird, kann die Integration von Individuen in die Familie und schließlich in die Gesellschaft gut gelingen oder gefährdet sein. Der Verlauf der zweiten Lebenshälfte im familialen Kontext ist geprägt von strukturellen wie funktionalen Veränderungen. Subjektive Generationenpositionen verschieben sich und durch die länger werdende gemeinsame Lebensspanne können vielfältige Generationenbeziehungen gleichzeitig unterhalten werden. Da vor allem für jüngere Kohorten eine Pluralisierung und Dynamisierung der Lebensformen zu beobachten ist (siehe Kapitel 3), kann gefolgert werden, dass sich dadurch familiale Lebenssituationen auch für ältere Familienmitglieder heterogenisieren. Differenzielles Altern zeigt sich womöglich auch im Vorhandensein und in der Ausgestaltung der Beziehungen zu Enkelkindern. Der Übergang zur Großelternschaft liegt außerhalb der unmittelbar selbst steuerbaren Familienplanung und ist abhängig von Entscheidungen und Verhalten der Kinder. Ob und inwiefern Eltern etwa günstige Rahmenbedingungen für eine gewünschte Groß 34 Familiale Generationenbeziehungen elternschaft schaffen und diese somit teils steuern können, ist eine offene Frage. Sind Enkelkinder vorhanden, kann Großelternschaft eher struktureller Art sein, wenn die Beziehungen wenig eng und kontaktarm sind oder durch die Beziehungen zur mittleren Generation behindert werden. Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass die Großeltern-Enkel-Beziehungen sehr vielfältig sind und von eher distanzierten bis hin zu hochengagierten Formen reichen. Durch die Geburt von Enkeln verändern sich die Beziehungen zu den eigenen Kindern und diese sind wiederum eine wichtige Vermittlungsinstanz zwischen Enkeln und Kindern. Die Beziehung zu den eigenen Eltern erfährt in der zweiten Lebenshälfte eine qualitative Veränderung - Hilfe, Unterstützung und Pflege rücken in den Vordergrund. Aus Sicht der älteren Familienmitglieder stellen Generationenbeziehungen also eine Auffang- und Sicherungsinstanz dar, die in Zeiten der Bedürftigkeit im Sinne dieser Aufgaben aktiviert werden kann. Der Kontakt zu Kindern und Enkeln kann, insbesondere nach dem Wegfall arbeitsweltlicher Beziehungen oder bei Verwitwung, sinnstiftend und integrierend wirken und somit weiterhin Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherstellen. Womöglich werden Generationenbeziehungen im Alter, wenn Informations- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse nachlassen, spezifisch wichtig und bilden einen Rahmen für die persönliche Entwicklung bis ins hohe Alter (Carstensen, 1992). Über soziale Beziehungen und Rollenübernahmen werden Identitäten konstituiert. Für das primär vergesellschaftende Subsystem der Erwerbsarbeit ist die ‚Institutionalisierung des Lebenslaufes‘ (Kohli, 1985) beschrieben worden. Das Individuum übernimmt als erwerbstätige Person eine sozialfunktional bedeutsame Rolle, aus der es mit dem Übergang in den Ruhestand herausfällt. Alterssoziologische Theorien (‚disengagement‘ und ‚activity‘) verankern ihre Diskussionsstränge sämtlich an einem arbeitsweltlich vermittelten ‚systematischen Statusverlust‘ (Schroeter, 2006) im Alter und gehen von einem starren, heute nicht mehr brauchbaren Gesellschaftsmodell aus (Rosenmayr, 2003). Auch für das familiale gesellschaftliche Subsystem lassen sich entsprechend aufeinander folgende Rollen beschreiben. Bei Betrachtung aller altersvermittelten Rollen oder Funktionen zu einem Zeitpunkt innerhalb verschiedener Systeme wird deutlich, dass in komplexen Gesellschaften zunehmend eine ‚Asynchronisation‘ (Bengtson & Dowd, 1980) zu finden ist. Denkbar ist hier beispielsweise die Situation einer Großmutter, die mit familialen Aufgaben - etwa der Betreuung ihrer Enkelkinder – konfrontiert ist, aber selbst noch einer Berufstätigkeit nachgeht. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung bleibt über den gesamten Lebenslauf hinweg eine wesentliche Funktion von Familie, allerdings wechseln die Familienmitglieder im Laufe ihres Lebens die Positionen von Geber und Empfänger. Wir wissen, dass Ältere in erheblichem Maße ihre Kinder und Enkel finanziell unterstützen (Motel & Szydlik, 1999). Instrumentelle Hilfen fließen allerdings stärker in die Gegenrichtung (Kohli, Künemund, Motel-Klingebiel, & Szydlik, 2005). Welche Mechanismen hier greifen, ob es sich beispielsweise um reziproke Verhaltens- 35 Familiale Generationenbeziehungen weisen handelt, ob Familiale Netze eher als Notfall-Instanz in spezifischen Situationen einspringen oder ob hier schlicht soziale Ungleichheit reproduziert wird, ist Gegenstand aktueller Debatten und Untersuchungen. 2.3 Institution Familie in modernen Gesellschaften Das Verständnis dessen, was mit dem Begriff ‚Familie‘ gefasst wird, unterliegt einem Wandel. Dies drückt sich auch im Bemühen der politischen Semantik um eine Definition aus, die den aktuellen Lebensrealitäten nahe kommen soll. ‚Familie ist da, wo Eltern und Kinder für einander sorgen‘ lautete ein Slogan der sozialdemokratischen Familienministerin Renate Schmidt (Schmidt, 2003). Unter Familie ist heute also mehr zu begreifen, als die Verbindung zweier gegengeschlechtlicher, verheirateter Partner, die gemeinsam mit ihren leiblichen Kindern in einem Haushalt leben. Verschiedene Autoren (Bertram, 2000; Kohli, Künemund, Motel, & Szydlik, 1997) weisen darauf hin, dass bei Untersuchungen die Haushalts- und Familienstrukturen analytisch zu trennen sind, da sonst die Gefahr besteht, Entwicklungen falsch zu interpretieren. Die Veränderung von Wohn- und Haushaltsformen muss nicht zwangsläufig mit einem Wandel in den gelebten familialen Beziehungen einhergehen. So wird oftmals der Anstieg von 1-Personen-Haushalten als Phänomen der zunehmenden Individualisierung überinterpretiert und eine Single-Gesellschaft angenommen. Es sind dabei für die Gruppe der Älteren vielmehr demografische Effekte (Witwen) verantwortlich. Lebensphasenspezifische Wohnformen (Studierende) und Prozesse der Modernisierung von Paarbeziehungen (‚living apart together‘) führen ebenso zur Herausbildung solcher Wohn- und Haushaltskonstellationen, sagen aber zunächst nichts über das familiäre Eingebundensein aus. Parsons begründete die Entwicklung zur ‚isolierten‘ Kleinfamilie mit den Anforderungen einer industriellen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Es wurde ein Krisenszenario entworfen, das sich empirisch bislang nicht bestätigt, wenn die tatsächlich gelebten Beziehungen zwischen Familienmitgliedern berücksichtigt werden. Als Reaktion auf Parsons begann eine theoretische wie empirische Auseinandersetzung mit dem Zusammenwirken von gesellschaftlichem Wandel und familialen Handelns (Becker, 1974; Cox, 1987; Cox & Jakubson, 1995; Künemund & Rein, 1999). Im Hinblick auf das Verhältnis von Staat, Individuum und Familie werden im Rahmen der Wohlfahrtsproduktion unterschiedliche Szenarien entworfen: Die ‚Substitutionshypothese’ geht davon aus, dass ein Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen in einer Verdrängung von individueller Verantwortung und familial erbrachten Hilfe- und Unterstützungsleistungen resultiert. Befürchtet wird ein Bedeutungs- und Funktionsverlust familialer Bindungen und Verpflichtungen. Die ‚Entlastungshypothese’ sieht in der Ergänzung familialer um staatliche Leistungen die Möglichkeit zur Stabilisierung von Generationenbeziehungen. Leistungsdruck und Konfliktpotenzial werden vermindert, indem die 36 Familiale Generationenbeziehungen Familie sich ihrer zentralen Aufgabe als Bereitsteller enger emotionaler Bindungen widmen kann. Die ‚Hypothese der Verstärkung’ geht von einer Stimulation des familialen Unterstützungssystems durch eine großzügige wohlfahrtsstaatliche Versorgung aus. Empirisch lässt sich eine funktional differenzierte Mischung formeller und informeller Arrangements erkennen. Der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen hat die Familie in ihrer Sicherungsfunktion demnach eher entlastet und modifiziert denn verdrängt (Kohli, 1999; Motel-Klingebiel, TeschRömer, & von Kondratowitz, 2005). Auch im Diskurs über die ‚Grenzen des Sozialstaats’ gerät sowohl das öffentliche als auch das private Verhältnis der Generationen ins Blickfeld. In der aktuellen Diskussion um die Reform des Sozialstaats werden gesellschaftliche und familiale Verantwortlichkeiten für die Absicherung gegenüber sozialen Risiken neu verhandelt. Hierbei lassen sich unterschiedliche Tendenzen feststellen. Zum einen übernimmt der Staat beispielsweise mit der Einführung der Pflegeversicherung oder der Verbesserung der öffentlichen Kinderbetreuung neue Zuständigkeiten. Zum anderen kann hinsichtlich der Risiken Arbeitslosigkeit und Alter von einem teilweisen Rückzug des Staates gesprochen werden. Reformen verändern so die Bedeutung individueller Vorsorge und familialer Unterstützung und resultieren in spezifischen neuen (Un)Sicherheiten auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene. Für die Beschreibung der modernen Familie hat sich der Begriff der ‚multilokalen Mehrgenerationenfamilie‘ etabliert (Bertram, 2000). Familiale Netze sind also räumlich distanter geworden, aber es werden heute auch Personen außerhalb der Klein- oder Kernfamilie als Familienmitglieder bezeichnet. Untersuchungen von Rosenmayr ergaben, dass ein gemeinsamer Haushalt von beiden Generationen zwar übereinstimmend abgelehnt wird, jedoch der Wunsch nach räumlicher Nähe besteht. Er formulierte aufgrund seiner Befunde den Begriff ‚Intimität auf Abstand’ (Rosenmayr, 1976). Tartler (1961) charakterisiert die Bedürfnisse der Älteren ähnlich als ‚innere Nähe durch äußere Distanz’. Der Niedergang der Familie, wie von der Modernisierungs- und Individualisierungstheorie erwartet, wird somit in der Regel als widerlegt bezeichnet. Die Familie leistet weiterhin einen entscheidenden Beitrag zur Alltagsbewältigung im Alter und somit auch zur Lebensqualität. 2.4 Konzeptionelle Ansätze zu familialen Generationenbeziehungen Alter und Altern spielen sich in zunehmend unterschiedlichen und veränderbaren familialen Kontexten ab. Aufgabe der soziologischen Alter(n)sforschung ist es in diesem Zusammenhang, die Auswirkungen der beschriebenen demografischen und sozialen Wandlungsprozesse auf die Ausgestaltung intergenerationaler Familienbeziehungen im Alter zu untersuchen. Im Folgenden werden der Ansatz von Bengtson et al. zur Generationensolidarität und Lüscher’s Konzept der Generationenambivalenz vorgestellt und diskutiert. 37 Familiale Generationenbeziehungen Bengtson et al. haben 1976 erstmals das Modell der ‚Intergenerational Solidarity‘ vorgestellt, welches seither in der Untersuchung von Generationenbeziehungen rege Verwendung gefunden hat. In einer überarbeiteten Version (Bengston & Schrader, 1982) werden intergenerationale Beziehungen anhand von sechs Komponenten skizziert, die allesamt als spezifische Formen von Solidarität zwischen Familienmitgliedern bezeichnet werden: (1) affect: Gefühle gegenüber und Bewertungen der Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern. (2) association: Art und Häufigkeit der Interaktion zwischen den Generationen. (3) consensus: der Grad der Übereinstimmung von Meinungen, Werten und Orientierungen. (4) functional support: das Geben, Nehmen und der Austausch von konkreter Hilfe und Unterstützung. (5) normative obligations: Erwartungen bezüglich Unterstützung, familialistischen Werten und Verpflichtungen. (6) opportunity structure: Anzahl, Geschlecht und geografische Entfernung der Mitglieder des intergenerationalen familiären Netzwerkes. Negative, konflikthafte und schwächende (‚nonaffirming‘) Aspekte von Generationenbeziehungen werden unter den Terminus ‚intergenerational conflict‘ gefasst, stehen aber (sowohl konzeptionell wie auch empirisch) relativ unverbunden zum beschriebenen Modell der Intergenerationalen Solidarität. Die Autoren selbst postulieren sowohl die Anwendbarkeit als auch die Anwendung ihres Modells auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Großeltern und Enkeln. Bislang wurde dies für letztere nur implizit, nicht jedoch explizit und systematisch verfolgt. Weitergehende Untersuchungen im Rahmen der Bildung einer Typologie von Eltern-KindBeziehungen (Silverstein, Lawton, & Bengtson, 1994) haben gezeigt, dass die sechs Solidaritäts-Komponenten faktorenanalytisch auf die drei Dimensionen ‚opportunity‘ (distance, contact), ‚closeness‘ (emotional, consensus) und ‚helping behavior‘ (giving, receiving) reduziert werden können. Das Bemühen, die Diversität heutiger Familienbeziehungen abzubilden (Bengtson, 2001) ist positiv zu bewerten, jedoch wird hiermit gleichzeitig die ursprüngliche Konzeptionalisierung in Frage gestellt. Kritik am Modell der intergenerationalen Solidarität wurde - vorrangig in europäischen Arbeiten - immer wieder vor allem im Bezug auf eine Konzentration auf gelingende Generationenbeziehungen laut. Auch wenn man über die – vieldeutige und vielgedeutete – Bezeichnung ‚Solidarität‘ hinwegsieht, bleibt ein Mangel bestehen, was die Erfassung von Beziehungskonstellationen angeht, die nicht auf räumlicher und emotionaler Nähe, Übereinstimmung in Werten und Normen und gegenseitiger Unterstützung basieren. Das ‚Intergenerational Solidarity Model‘ ist also letztlich als das zu begreifen, als was es sich selbst bezeichnet: als Modell; ein Muster und eine vereinfachte Beschreibung dessen, was sich empirisch verallgemeinert auf eine bestimmte Weise zueinander verhält. Ein Modell erlaubt keine Erklärung im Sinne des intellektuellen Prozesses, die Frage nach dem ‚Wie‘ bleibt hinter dem ‚Was‘ zurück. Als Reaktion auf die Betrachtung von Generationenbeziehungen als idealisierte Beziehungsformen einerseits oder unter dem Gesichtspunkt von Problemen, 38 Familiale Generationenbeziehungen Konflikten und Gewalt andererseits (Marshall, Metthews, & Rosenthal, 1993) entwickelten Lüscher und Pillemer den Ansatz der Intergenerationalen Ambivalenz (Lüscher & Pillemer, 1998). Das Konzept der intergenerationalen Ambivalenz hat den Anspruch, die Analyse von Generationenbeziehungen stärker theoretisch zu fundieren. Die Autoren schlagen vor, Generationenbeziehungen unter der allgemeinen heuristischen Hypothese zu analysieren, dass sie notwendigerweise Ambivalenzen implizieren und generieren. Es herrscht ein systematisches Spannungsfeld zwischen der Individualität des einzelnen Familienmitgliedes und der familialen Kohäsion: zwischen Enge und Distanz, familialer Solidarität und individueller Autonomie, zwischen der Unauflösbarkeit der Beziehung und dem lebenszyklischen Wandel. Die Autoren unterscheiden zwei Ansatzpunkte der Ambivalenz in Generationenbeziehungen: soziologisch betrachtet handelt es sich um Zwiespältigkeiten struktureller Art, die sich in Status-, Rollen- und Normkonflikten zeigen. Aus psychologischer Perspektive wird Ambivalenz im gleichzeitigen Erleben widersprüchlicher Gefühle gegenüber einer anderen Person sichtbar. Die Analyse intergenerationaler Beziehungen muss folglich darauf angelegt sein, Ausdrucksformen von Ambivalenz zu ermitteln und zu untersuchen, wie die Betroffenen damit umgehen. Ambivalenzen familialer Beziehungen sind im Alltag häufig hinter Routinen verborgen, sie treten aber in kritischen Lebenssituationen oder Wendepunkten forciert auf (Lüscher & Pajung-Bilger, 1998). Lüscher‘s Verständnis von Ambivalenz stellt eine Verbindung von Soziologie und Entwicklungspsychologie mit Anleihen aus der Psychoanalyse dar und er stellt folgende Definition auf: ”Von Ambivalenzen soll in sozialwissenschaftlichen Analysen die Rede sein, wenn Polarisierungen des Fühlens, des Denkens, des Handelns, ferner Polarisierungen in sozialen Beziehungen, Strukturen und Prozessen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder für eine bestimmte bzw. offene Zeitspanne als prinzipiell unauflösbar interpretiert werden.‛ (Lüscher, 2000). Ausgehend von dieser Grundidee und in Verbindung mit den Dimensionen, die dem Konzept der Generation eigen sind, wird ein Modell entwickelt, das intergenerationale Ambivalenzen auf und zwischen zwei Achsen beschreibt: die institutionelle Dimension trägt dem Eingebettetsein von Generationenbeziehungen in das System ‚Familie‘ Rechnung. Der Gegensatz zwischen den Polen ‚Reproduktion‘ und ‚Innovation‘ wird als strukturelle Ambivalenz bezeichnet. Auf der personalen Dimension spielen sich Ambivalenzen zwischen den Polen ‚Konvergenz‘ und ‚Divergenz‘ ab. Gemeint sind hier Ähnlich- und Unterschiedlichkeiten in der Persönlichkeit oder in Einstellungen der Generationen. Durch die Verknüpfung beider Dimensionen entsteht ein Diagramm, dessen vier Felder sich als Modi des Umgangs mit Ambivalenzen bezeichnen lassen. Diesen werden bestimmte Beziehungslogiken attribuiert: Solidarität (Reproduktion, Konvergenz: übereinstimmend bewahren), Emanzipation (Konvergenz, Innovation: einvernehmlich entwickeln), Kaptivation (Reproduktion, Divergenz: uneinig ausharren) und Atomisierung (Divergenz, Innovation: unversöhnlich lossagen). Die Autoren 39 Familiale Generationenbeziehungen (Lettke & Lüscher, 2002) betonen die Vorläufigkeit dieser Strategien im Umgang mit Ambivalenzen und den prozessualen Charakter familialen Handelns. Für die Erforschung von Generationenambivalenzen fordern die Autoren drei inhaltliche Bereiche: die Beziehungseinschätzung, das Bewusstsein von Ambivalenzen und den Umgang mit Ambivalenzen. Während die ersten beiden Bereiche sich besser qualitativ erfassen lassen, stellt das Modell der Generationenambivalenz ein theoretisch fundiertes Instrument dar, anhand dessen Beziehungsformen zwischen familialen Generationen auch in ihrer Dynamik dargestellt werden können und welches auch mittels großer Datensätze wie dem Alterssurvey überprüft werden kann. Für die Analyse der Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln liegt eine konzeptionelle Ableitung vor (Lüscher, 2008), die zwar in ihrer begrifflichen Rahmung leicht vom ursprünglichen Modell abweicht, aber dennoch als Referenzpunkt gut geeignet scheint. Die beschriebenen Ansätze zielen stärker auf die konkrete Beziehungsgestaltung zwischen familialen Generationen im Alter und bilden somit eher eine MikroPerspektive ab - auch wenn im Modell der Generationenambivalenz mit der institutionellen Dimension eine Struktur-Komponente angelegt ist. 2.5 Die Bedeutung von Generationenbeziehungen für die Lebensqualität im Alter Die Untersuchungen sollen sich der übergreifenden Fragestellung widmen, inwieweit ein Zusammenhang zwischen Generationenbeziehungen in der Familie, Ungleichheit und Lebensqualität besteht. Es geht also um die Beschäftigung damit, ob Ungleichheitspositionen im Alter auch über Generationenbeziehungen bestimmt werden können. Betrachtet werden soll hierbei zunächst weniger die Verteilung von Realisierungschancen (also das Vorhandensein bestimmter Generationenstrukturen und familialer Beziehungen - siehe hierzu näher Abschnitt 2.7), sondern vielmehr die Ausgestaltung dieser Beziehungen. Diese sollen im Hinblick auf die Lebensqualität und Integration älterer Menschen untersucht werden. Lebensqualität ist ein mehrdimensionales Konstrukt, welches diese – zunächst hierarchisch gedacht - als Ausdruck realisierter Lebenschancen und ihren Voraussetzungen versteht. Vor dem Hintergrund soziodemografischer und struktureller Voraussetzungen wie Alter, Geschlecht, Region und sozialer oder ethnischer Herkunft etc. können unterschiedliche Lebenssituationen vorliegen. Neben psychischen Ressourcen (die hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein werden) sind für den hier behandelten Bereich Generationenkonstellationen und Familienstrukturen als spezifische Lebenssituationen anzusehen, die individuelle Lebenschancen generieren. Über Positionen innerhalb der Familie und Interaktionen mit Familienmitgliedern werden Generationenbeziehungen gestaltet. Ge- 40 Familiale Generationenbeziehungen meinsam mit der individuellen Bewertung der Familienbeziehungen und Aspekten des subjektiven Wohlbefindens (etwa Einsamkeit) können diese als individuelle Lebensresultate bezeichnet werden. Die Verteilung von Lebensqualität kann demnach als Ausdruck sozialer Ungleichheit verstanden werden. Hierbei bezieht sich die Dimension der Lebenschancen auf grundlegende Strukturen sozialer Ungleichheit, während Verteilungen von Lebensresultaten stärker auf die Wirkungsseite sozialer Ungleichheit abzielen. 2.6 Analyseperspektiven, Wissensbestände und Forschungsfragen Im Folgenden werden zunächst unterschiedliche Analyseperspektiven aufgefächert, die zur Analyse von Generationenbeziehungen in der zweiten Lebenshälfte verfolgt werden sollen. Nach einer kritischen Durchsicht des Forschungsstandes zum Thema werden Fragen formuliert, die im Rahmen der Sozialberichterstattung von Interesse sind und darüber hinaus Gedanken zu weiteren Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Generationenbeziehungen aufgeworfen (siehe Kapitel 2.7). 2.6.1 Analyseperspektiven Aus dem Blickwinkel einer interdisziplinären, an soziologischen und verhaltenswissenschaftlichen Fragestellungen orientierten Gerontologie ergeben sich unterschiedliche und gleichsam notwendige Analyseperspektiven. Zunächst geht es um die Überprüfung und Darstellung von Prozessen des sozialen Wandels. Querschnittvergleiche können aufschlussreich sein, wenn das Interesse an Periodeneffekten im Vordergrund steht, über Vorbedingungen oder Resultate von gesellschaftlichen Prozessen geben sie jedoch keine Auskunft. Die zusätzliche Perspektive auf individuelle Lebens- und Entwicklungsverläufe ist also unverzichtbar. Eine umfassende wissenschaftliche Ergründung muss darüber hinaus die Kombination von quer- und längsschnittlicher Perspektive leisten. Es geht hier also um das Ineinandergreifen von persönlicher Biographie und sozialem Wandel, einer gleichzeitigen Berücksichtigung von makro- und mikrosozialen Prozessen. Die Daten des Deutschen Alterssurveys bieten in ihrer zunehmend komplexen Struktur die Möglichkeit zur Umsetzung dieser Perspektiven. Im Rahmen der Sozialberichterstattung steht eine umfassende Beschreibung der aktuellen Situation im Vordergrund. Um diese adäquat beurteilen zu können, müssen Generationenkonstellationen und –beziehungen im sozialen Wandel betrachtet werden. 41 Familiale Generationenbeziehungen 2.6.2 Wissensbestände Die Befunde zu familialen Generationenbeziehungen zeigen, dass eine meist enge und verlässliche Verbindung zwischen Eltern und Kindern besteht, die sich auch und vor allem in den gegenseitigen Unterstützungsleistungen zeigt. Eltern und Kinder wohnen in der Regel nicht allzu weit voneinander entfernt, sie haben häufig Kontakt und fühlen sich einander eng verbunden (Brandt & Szydlik, 2008; Buber & Hank, 2007; Hank, 2007; Hank & Buber, 2007; Hoff, 2007a; Kohli, Künemund, Motel-Klingebiel, & Szydlik, 2005; Kohli, Künemund, Motel, & Szydlik, 1997; Motel & Szydlik, 1999; Saraceno, 2008). Die Ergebnisse der ersten beiden Alterssurvey-Wellen (Hoff, 2006) bestätigen, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen ab 40 in Deutschland in räumlicher Nähe zu ihren Kindern oder Eltern lebt. Allerdings hat der Anteil derjenigen mit vor Ort lebenden Kindern zwischen 1996 und 2002 abgenommen. Insgesamt hat mehr als die Hälfte der Befragten des Alterssurvey täglich Kontakt zu einem der Kinder, zu den Eltern mindestens einmal wöchentlich. Diese insgesamt hohe Kontaktdichte hat sich im Querschnittsvergleich von 1996 bis 2002 allerdings leicht verringert, und auch bei den individuellen Entwicklungen ist eine leichte Abnahme der Kontakthäufigkeit festzustellen (Engstler & Huxhold, 2009). Im Bereich der sozialen Unterstützung (kognitiv, emotional, instrumentell, finanziell) sind im Vergleich zwischen den beiden Alterssurvey-Wellen einige Veränderungen zu beobachten. So finden sich geschlechtsspezifische Muster der Unterstützung und es ist auch hier ein leichter Rückgang des Erhalts bzw. der Inanspruchnahme informeller Unterstützung zu verzeichnen. Die Gründe hierfür können unterschiedlich sein; entweder es mangelt an Unterstützungsressourcen (hier auch in Form von räumlicher Nähe gedacht) oder eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen führt zu einer geringeren Bedürftigkeit. Im Bereich der instrumentellen Hilfen bzw. der Geld- und Sachtransfers zwischen den Generationen zeichnet sich ein Muster gemäß der These des ‚intergenerational stake’ ab: die Befragten berichten häufiger die Leistung denn den Erhalt solcher Unterstützungsformen (Hoff, 2007b). Analysen zu Bedingungen und Voraussetzungen finanzieller Transfers konnten zeigen, dass das familiale Austauschgeschehen als Funktion von Ressourcen der Geber, Bedarfslagen der Empfänger, sowie der Beziehungsqualität beschrieben werden kann (Motel & Szydlik, 1999). Diese Ergebnisse wurden mittels Alterssurvey-Daten im Kohortenvergleich als stabil berichtet und es liegen erste Untersuchungsergebnisse zum Transfergeschehen im individuellen Längsschnitt vor (Motel-Klingebiel & Mahne, 2009). In verschiedenen Studien wurde versucht, bestimmte ‚Stile‘ oder Typen von Beziehungen zwischen Eltern und Kindern (Bengtson, 2001; Lüscher, 2002; Silverstein, Lawton, & Bengtson, 1994) und Großeltern und Enkeln (Cherlin & Furstenberg, 1985; Herlyn & Lehmann, 1998; Kivnick, 1982; Lüscher, 2008; Neugarten & Weinstein, 1964; Robertson, 1977) herauszuarbeiten. Diesen Ver- 42 Familiale Generationenbeziehungen suchen liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass einzelne Beziehungsindikatoren untereinander teils hoch korreliert sind und eine getrennte Betrachtung wenig aussagt. Neben Opportunitätsstrukturen wie Wohnentfernung und Kontakthäufigkeit haben Bedürfnis- und Familienstrukturen sowie kulturell-kontextuelle Faktoren einen durchaus verschiedenartigen Einfluss auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern (Szydlik, 1995). So berichten überraschenderweise Eltern mit geringeren Zeitressourcen überwiegend sehr enge Beziehungen zu ihren Kindern. Eine größere räumliche Distanz geht jedoch mit weniger engen Generationenbeziehungen einher. Ein geringerer Lebensstandard und ein schlechterer Gesundheitszustand (Bedürfnisstrukturen) führen sowohl für Eltern als auch für Kinder zu weniger engen Generationenbeziehungen. Frauen unterhalten insgesamt stabilere und engere Familienbeziehungen als Männer. Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern sind selten flüchtig, was für Vater-Sohn-Beziehungen häufiger zutrifft (Szydlik & Schupp, 1998). Die angesprochenen Typologisierungsversuche konnten allesamt eine große Vielfalt in der Ausgestaltung der Generationenbeziehungen veranschaulichen. Trotz einer gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber familialen Generationenbeziehungen bleibt die Untersuchung der Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln von alterswissenschaftlicher Seite besonders in der Bundesrepublik noch weitestgehend unbehandelt. Großelternschaft ist heute eine Altersrolle, die auf den Großteil der Menschen im Verlauf ihres Lebens zukommt und die gemeinsame Beziehung wird in der Regel übereinstimmend als wichtig erachtet (Höpflinger, Hummel, & Hugentobler, 2006). Die Studien zum Thema zeigen, dass für Großeltern die Beziehung zu den Enkeln generell eine große Bedeutung hat (Herlyn & Lehmann, 1998) und dass sie zum größten Teil als wichtig bzw. sehr wichtig eingestuft wird (Höpflinger, Hummel, & Hugentobler, 2006; Neugarten & Weinstein, 1964). Die Häufigkeit des persönlichen Kontaktes ist ähnlich wie bei der Eltern-Kind-Beziehung abhängig von der Wohnortentfernung. Das Geschlecht der Großeltern spielt für das Ausmaß an Kontakten keine Rolle, wohl aber die Abstammungslinie (Herlyn & Lehmann, 1998; Hoff, 2007a; Höpflinger, Hummel, & Hugentobler, 2006; Michalski & Shackelford, 2005; Pollet, Nettle, & Nelissen, 2007). So sind die Beziehungen zwischen matrilinearen Generationen enger. Bisher sind Großeltern – meist die Großmütter – häufig in ihrer Rolle als (zusätzliche) Betreuungspersonen thematisiert worden. Gerade in Westdeutschland, wo die Versorgungsquote an Krippenplätzen weiterhin nicht bedarfsdeckend ist, leisten betreuende Großmütter nicht nur für ihre (Enkel)Kinder, sondern auch gesellschaftlich einen großen Beitrag. Angesichts der besseren Ausbildung von Frauen, zunehmenden beruflichen Mobilitätsanforderungen und sich ausdehnenden Lebensarbeitszeiten ist in Zukunft allerdings mit einer Abnahme des Unterstützungspotenzials durch die Großmütter zu rechnen (Spieß & Wrohlich, 2005). Die Phase, in der Enkelkinder auf Betreuung angewiesen sind, ist zeitlich begrenzt und es ist zu erwarten, dass sich die Beziehungsgestaltung 43 Familiale Generationenbeziehungen zwischen Großeltern und Enkeln mit dem Alter (beider Generationen) verändert. Die gemeinsame Lebenszeit dieser beiden familialen Generationen ist mittlerweile so ausgedehnt, dass zunehmend Erwachsene interagieren. Die Frage, ob diese Beziehungen mit denen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern vergleichbar sind, oder ob hier andere Beziehungsdimensionen von Bedeutung sind, ist bislang wenig untersucht worden. Für die Schweiz zeigen Ergebnisse einer regionalen Untersuchung zu Teenagern und ihren Großeltern, dass hier kameradschaftliche Freizeit-Beziehungen bevorzugt werden und beispielsweise Erziehungsaufgaben stark im Hintergrund stehen (Höpflinger, Hummel, & Hugentobler, 2006). Transfers von Älteren gehen zunehmend auch an die Enkelgeneration (Hoff, 2007b), ob sich hier ähnliche Reziprozitätsregeln wie für Eltern-KindBeziehungen entwickeln, ist noch unbekannt. 2.6.3 Forschungsfragen Eine wesentliche Erweiterung im Rahmen der dritten Welle des Alterssurvey für den Bereich der Generationenbeziehungen besteht in der Erfassung der Beziehungen zu Enkelkindern der Befragten. Hier wurden nicht nur grundlegende Angaben (wie etwa Geburtsjahr und Geschlecht) für alle Enkelkinder erhoben, sondern darüber hinaus auch für einzelne (zufällig ausgewählte) Enkel weitergehende Informationen erfragt. Entsprechend den Angaben zu Kindern liegen nun auch für Enkel Informationen zur Wohnentfernung, Kontakthäufigkeit und Beziehungsenge vor. Damit ist es erstmals möglich, direkte Vergleiche dieser beiden Beziehungsformen innerhalb und zwischen Familien anzustellen. Ein Schwerpunkt der querschnittlichen Analysen soll folglich auf den Großeltern-EnkelBeziehungen liegen. Die kohortensequenziellen Analysen sollen sich vorrangig der Frage nach einer Pluralisierung familialer Kontexte im Alter widmen und Transferflüsse zwischen familialen Generationen im sozialen Wandel in den Blick nehmen. Analysen im Querschnitt 2008 Die geplanten Analysen für den Querschnitt 2008 werden im Folgenden anhand verschiedener Fragen dargestellt. Wenn möglich, werden entsprechend Hypothesen formuliert oder erste Ergebnisse beschrieben. Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln und worin unterschieden sie sich von Eltern-Kind-Beziehungen? Hauptaugenmerk soll auf dem Vergleich zwischen Eltern-Kind- und GroßelternEnkel-Beziehungen liegen. Für die Beziehungen zu den Enkelkindern ist aufgrund des Forschungsstandes zu vermuten, dass sie insgesamt als eng berichtet wer- 44 Familiale Generationenbeziehungen den, jedoch mit dem Alter der Enkel (u-förmiger Verlauf) und auch mit der Enkelzahl variieren. Einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Beziehungen zu den Enkeln stellt die Kindergeneration dar. Als wie wichtig wird (zukünftige) Großelternschaft empfunden? Neu in das Erhebungsprogramm des Alterssurveys aufgenommen wurde auch eine Frage zur Wichtigkeit der Großelternschaft2. Erste Analysen zeigen hier Unterschiede sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen Altersgruppen. So berichten (Groß-)Mütter und ältere Befragte eine größere Wichtigkeit der (zukünftigen) Großelternschaft, was zum einen auf bereits bekannte Befunde zu weiblichen ‚kin-keepern‘ hinweist und zum anderen vermuten lässt, dass der Übergang zur Großelternschaft als ‚on-time event‘ eher positiv erlebt wird (Kaufman & Elder, 2003). Die Information zur Wichtigkeit der Großelternschaft kann auch herangezogen werden, um mögliche Diskrepanzen zwischen subjektiver Bedeutung und tatsächlich gelebter Großelternschaft aufzudecken. Möglicherweise wird diese Rolle als sehr wichtig empfunden, kann aber aufgrund struktureller oder persönlicher Hindernisse nicht im gewünschten Maße gestaltet werden. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar: vielleicht spielt Großelternschaft für die Person selbst eine eher nachrangige Rolle, wird aber aktiv – etwa von Seiten der Kinder im Rahmen der Betreuung – eingefordert oder benötigt. In welchem Umfang und von wem werden welche Enkelkinder betreut? Im Vergleich zu vorhergehenden Alterssurvey-Wellen wurde auch in 2008 erneut nach der Betreuung der Enkelkinder gefragt. Da diese Enkelkinder nun über einen individualisierten Personencode zu identifizieren sind, lassen sich in die Analyse der Häufigkeit und Verteilung von durch Großeltern geleistete Kinderbetreuung auch Merkmale der Enkel und der Eltern einbeziehen. Zu vermuten ist, dass vor allem Enkel im Krippenalter betreut werden, dass diese Betreuung zu einem größeren Teil durch Großmütter erfolgt und dass vor allem allein erziehende und berufstätige Kinder in diesem Sinne unterstützt werden(Hank & Buber, 2009). Aufgrund der weiterhin ungleichen Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen zwischen den beiden deutschen Landesteilen soll die Analyse zum auf Unterschiede zwischen West und Ost eingehen. Darüber hinaus bietet der Alterssurvey eine Reihe von Kontextdaten, über die Merkmale wie Versorgungsquoten an Kinderbetreuungsplätzen hinzugefügt werden können. Für den Einfluss einer eigenen Berufstätigkeit der Großeltern auf deren Engagement in der Betreuung der Enkelkinder liegen unterschiedliche Ergebnisse 2 für bislang enkellose Zielpersonen entsprechend zur Wichtigkeit einer zukünftigen Großelternschaft 45 Familiale Generationenbeziehungen vor (Guzman, 2004; Herlyn & Lehmann, 1998), daher sollen die Analysen differenzieren zwischen berufstätigen, nicht berufstätigen und verrenteten Zielpersonen. Wie werden die Beziehungen zur Familie insgesamt bewertet? Zeigen sich Unterschiede zwischen Eltern und Kinderlosen? Schließlich soll die subjektive Bewertung der Beziehung zur Familie insgesamt im Sinne eines individuellen Lebensresultates und als Aspekt der Lebensqualität betrachtet werden. Da es sich hierbei um eine relativ globale Einschätzung durch die Zielperson handelt, werden die Analysen auf Unterschiede zwischen Kinderlosen, Eltern ohne Enkel und Eltern mit Enkelkindern fokussieren. Darüber hinaus soll die Situation Kinderloser unter dem Aspekt der Einsamkeit untersucht werden. Zu vermuten ist, dass die Bewertung der Familienbeziehungen bei Kinderlosen weniger positiv ausfällt. Ob diese auch einsamer und insgesamt weniger integriert sind, oder ob sich Hinweise auf funktionale Äquivalente zur Familie zeigen, wird Gegenstand der Analyse sein (siehe auch Abschnitt 2.7 und Kapitel 4). Analysen zum sozialen Wandel Für die Entwicklung von strukturellen Merkmalen von Familien wird häufig die Entwicklung hin zu einer Bohnenstangen-Struktur angenommen. Die Generationentiefe nimmt zu, intra-generationale familiale Netze werden allerdings schmaler. Wie eingangs beschrieben, kommen auch soziale Trends zum tragen. Werden familiale Netze heterogener? Im Rahmen der Untersuchung des Kohortenwandels ist daher zu vermuten, dass familiale Netze und Verwandtschaftsstrukturen sich stärker ausdifferenzieren. Alter und Altern spielt sich folglich in über die Zeit veränderbaren familialen Kontexten ab. Die zunehmende Vielfältigkeit familialer Kontexte im Alter soll anhand der Merkmale Generationentiefe und Verwandtschaftsgrad analysiert werden. Vermutet wird eine Heterogenisierung der Generationentiefe. Einerseits leben in manchen Familien zunehmend mehrere Generationen gleichzeitig, in anderen wiederum kommt es zu einer Vergrößerung des Generationenabstandes oder – durch eigene oder Kinderlosigkeit in der Kindergeneration - zum Abbruch der Familienlinie. Ebenso sollten die Anzahl von Kindern und Enkeln zunehmend stärker streuen. Zu vermuten ist darüber hinaus auch ein wachsender Anteil an nicht verwandten Familienmitgliedern – also beispielsweise Stiefkindern oder Stiefenkeln. 46 Familiale Generationenbeziehungen Steigt der Anteil Kinderloser? Zunächst soll der Anteil von Kinderlosen über die drei Befragungswellen hinweg identifiziert werden. Zu vermuten ist, dass dieser im Vergleich zu 1996 (und 2002) angewachsen ist. Da erste Geburten heute zunehmend lebenszeitlich nach hinten verlagert werden und sich die (hier v.a. weibliche) Untersuchungspopulation des Alterssurveys im Alter von 40 bis 45 Jahren durchaus noch in der reproduktiven Phase befindet, muss hier besonders auf Altersgruppendifferenzen geachtet werden. Möglicherweise ist also ein Anstieg des Anteils der Kinderlosen zum Teil auf veränderte Familiengründungsmuster zurückzuführen (siehe auch Kapitel 3). Sinken die Transferquoten? Analysen des Transfergeschehens zwischen familialen Generationen konnten im Rahmen der ersten Welle des Alterssurveys anschaulich darstellen, dass Geldund Sachtransfers sehr häufig und vorrangig von der älteren Generation an die jüngere fließen(Kohli, Künemund, Motel-Klingebiel, & Szydlik, 2005). Im Rahmen der zweiten Welle der Studie wurde allerdings ein Rückgang in den Transferquoten insgesamt festgestellt (Hoff, 2006). Unabhängig davon zeigen sich im Vergleich der beiden Wellen erstaunlich stabile Muster in Bezug auf Prädiktoren intergenerationaler Leistungsströme (Motel-Klingebiel & Mahne, 2009). Im Rahmen der aktuellen Arbeiten soll folglich zum einen untersucht werden, ob sich ein Trend in Richtung weiter abnehmender Transferhäufigkeiten oder – bei finanziellen Hilfen - auch der Transfersummen abzeichnet. Die Analysen müssen dann Bezug nehmen auf Ergebnisse zur veränderten materiellen Lage der Älteren (siehe Kapitel 9), um einschätzen zu können, ob hier eine schlechtere Ressourcenausstattung eine Rolle spielt. In den Blick genommen werden sollen hier auch Transfers an und von (erwachsenen) Enkelkindern. Werden zwischen Großeltern und Enkeln andere Ressourcen vergeben als zwischen Eltern und Kindern? Steigt der Anteil der Enkel als Geber oder Empfänger von Hilfs- und Unterstützungsleistungen über die Zeit an? Wer gibt an welche Kinder? Zum anderen soll überprüft werden, ob die Prädiktorenstrukturen weiterhin stabil bleiben. Sollte dies der Fall sein, so ist bei gleichzeitig abnehmenden Transferquoten anzunehmen, dass sich auch bei veränderte Rahmenbedingungen an den grundsätzlichen Mechanismen der innerfamilialen Leistungsvergabe nichts ändert und diese als relativ feste, universelle Beziehungslogiken verstanden werden können. Allerdings wirken dann Einflüsse veränderter Ressourcen- und Bedarfslagen auf die Prävalenz familialer Unterstützung. Wirkmechanismen kön- 47 Familiale Generationenbeziehungen nen adäquat nur im individuellen Längsschnitt überprüft werden. Mit nun drei zur Verfügung stehenden Wellen des Alterssurveys wird es möglich, entsprechend geeignete statistische Verfahren anzuwenden und bereits bestehende empirische längsschnittliche Analysen auszubauen. 2.7 Zusammenfassung Für die Analyse von Generationenbeziehungen im Alter lassen sich folgende Probleme bzw. Herausforderungen darstellen. Die alternssoziologische Theorie ist in ihren Aussagen zu Generationenbeziehungen relativ schwach. Insbesondere in Bezug auf die wichtiger werdenden Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln sind die Theorieentwicklung sowie die empirische Analyse bislang wenig ausgereift. Bislang wird meist erstaunlich unkritisch an bestehenden Konzepten zu Generationenbeziehungen festgehalten und diese werden in Analysen wenig hinterfragt reproduziert. Darüber hinaus findet sich kaum Empirie zur Vielgestaltigkeit und Komplexität der Generationenbeziehungen, zu Alternsverläufen im familialen Kontext und zu dynamischen Wechselbeziehungen. Ziel der anstehenden Analysen ist es, Generationenbeziehungen über Eltern und Kinder hinaus zu untersuchen, dabei deren Komplexität besser gerecht zu werden und positive wie negative Aspekte des (Nicht) Vorhandenseins von Generationenbeziehungen mit einzubeziehen. Desweiteren soll die Bedeutung von Familienmitgliedern im persönlichen Netzwerk untersucht werden. Wenn, wie von Lüscher (1993) konstatiert, die Ausgestaltung und damit auch der persönliche ‚Nutzen‘ von Generationenbeziehungen stärker von emotionalen Bindungen und Sympathien abhängig wird, stellt sich die Frage des jeweiligen Umgangs mit und der Folgen von komplexeren oder eingeschränkteren familialen Netzwerken (”Wahlverwandtschaften‛). Stellen heterogene Verwandtschaftsnetze eher eine Belastung dar (z.B. Konkurrenz um Enkelkinder, unklare Rollenerwartungen), oder sind sie der Integration Älterer gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit und dadurch womöglich flexiblen Aktivierung eher zuträglich? Können selbstgewählte Netzwerke aus Freunden familienähnliche Funktionen erfüllen? Möglicherweise haben sich auch die Erwartungen an Kinder in Bezug auf Hilfe und Unterstützung im Alter verändert und freundschaftliche Netzwerke gewinnen ohnehin für die Funktionalität und Lebensqualität im Alter an Bedeutung (vgl. auch Kapitel 4). 48 Familiale Generationenbeziehungen Literatur Arrondel, L., & Masson, A. (2001). Family transfers involving three generations. Scandinavian Journal of Economics, 103(3), 415-443. Becker, G. (1974). A theory of social interactions. Journal of Political Economy, 82(6), 1063-1093. Bengston, V. L., & Schrader, S. (1982). Parent-child relations. In D. Mangen & W. Peterson (Eds.), Handbook of research instruments in social gerontology (Vol. 2, pp. 115-185). Minneapolis: University of Minnesota Press. Bengtson, V. L. (2001). Beyond the nuclear family: The increasing importance of multigenerational bonds. Journal of Marriage and Family, 63(1), 1-16. Bengtson, V. L., & Dowd, J. J. (1980). 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Lebensformen und Partnerschaften Heribert Engstler Inhalt 3.1 Pluralisierung und Dynamisierung der Lebensformen ..................... 53 3.2 Auswertungsplanung ..................................................................... 56 3.2.1 Wachsende Vielfalt der Lebensformen und -verläufe in der zweiten Lebenshälfte? ........................................................................................ 57 3.2.2 Verbreitung und Qualität der Folgeehen und nachehelichen Partnerschaften im mittleren und höheren Alter ................................. 59 3.3 Ausblick ........................................................................................ 63 Literatur ................................................................................................. 64 3.1 Pluralisierung und Dynamisierung der Lebensformen In Deutschland und vielen anderen westlichen Gesellschaften kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu markanten Veränderungen der privaten Lebensformen und -verläufe. Es wandelten sich sowohl die Strukturen des Zusammenlebens der Geschlechter und Generationen als auch die Organisation des Alltags von Paaren und Familien. Ein hervorstechendes Merkmal ist die abnehmende Dominanz der Lebensform des erstverheirateten, zusammenwohnenden Paars mit Kindern bei ausgeprägter geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung (‚Haupternährer-Ehe‘). Andere partnerschaftliche Formen und Alltagsorganisationen haben an Bedeutung gewonnen, Trennungen, Scheidungen und Zweitehen bzw. Folgebeziehungen haben zugenommen, und auch das Ausbleiben einer Partnerschaft und/oder Elternschaft ist häufiger geworden. Der Anteil Alleinerziehender an allen Lebensformen hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten hingegen kaum verändert (Wagner, 2008), innerhalb der Familienhaushalte haben sie jedoch – zusammen mit den unverheirateten Elternpaaren – an Gewicht gewonnen (Engstler & Menning, 2003). Diskutiert wird in der Familiensoziologie, ob diese Entwicklungen zu einer wachsenden Vielfalt der Lebensformen und -verläufe geführt haben (Peuckert, 2007; Peuckert, 2008) und ob sie Zeichen einer Umstrukturierung mit Herausbildung neuer vorherrschender Biographiemuster sind (Klein, 1999). Denkbar wäre z.B. die allmähliche Durchsetzung eines Biographiemusters mit vorehelichem Zusammenleben, abgeschwächter Arbeitsteilung der Geschlechter (‚dual earner couple‘) und Trennungserfahrungen. Die empirische Forschung hat zumindest 53 Lebensformen und Partnerschaften für das Jugend-, junge und mittlere Erwachsenenalter Hinweise auf eine Pluralisierung der Lebensformen und Beziehungsbiographien finden können, wenn auch mehr in Bezug auf Partnerschafts- als auf Familienformen und -verläufe (vgl. Wagner, 2008; Schmidt, Matthiesen, Dekker, & Starke, 2006; Schmidt & von Stritzky, 2004; Brüderl, 2004; Brüderl & Klein, 2003; Wagner, Franzmann, & Stauder, 2001; Wagner & Franzmann, 2000). Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Forschung noch kein einheitliches Lebensformenkonzept verwendet wird und die Ergebnisse somit auch von der jeweiligen Auswahl und Differenziertheit der verwendeten Kategorien beeinflusst sind. Auch unterscheiden sich die vorliegenden Arbeiten in den betrachteten Untersuchungszeiträumen und Methoden (für einen Überblick siehe Wagner, 2008 und Huinink & Konietzka, 2007). Familiensoziologisch lassen sich die Pluralisierungstendenzen auf verschiedene Aspekte des Wandels ‚herunterbrechen‘. Ein wesentlicher Aspekt sind Veränderungen in der Bildung und Institutionalisierung von Partnerschaften. Feste Partnerschaften mit gemeinsamer Haushaltsführung werden zusehends später eingegangen (Lengerer & Klein, 2007) und es steigt der Anteil derer, die zeitweise, wiederholt oder z.T. auch längerfristig ohne einen Partner leben (Brüderl & Klein, 2003; Schmidt, Matthiesen, Dekker, & Starke, 2006; Geißler, 2008). Zwar ermittelten Prskawetz, Vikat, Philipov, & Engelhardt (2003) im europäischen Vergleich einen auffällig erhöhten Anteil der bis zum 35. Lebensjahr noch niemals mit einem Partner zusammengezogenen westdeutschen Frauen, insgesamt dürfte es sich bei der wachsenden Häufigkeit partnerloser Lebensformen bis zum mittleren Alter dennoch eher um Zwischenphasen (und weniger um dauerhaftes Alleinsein) handeln. Im höheren Alter betrifft dieser Wandel hierzulande gegenwärtig hauptsächlich Männer. Denn durch das mortalitätsbedingte Herauswachsen der geschlechtermäßig sehr ungleich besetzten Kriegsgenerationen aus dem Bevölkerungsbestand und dem Nachrücken eher ausgeglichen besetzter Kohorten in das höhere Alter, hat sich der Anteil verwitweter Frauen verringert, der Anteil verheirateter Frauen erhöht (Menning, 2007; Lengerer & Klein, 2007). Der kriegsbedingte Männermangel, der zu einer vergleichsweise hohen Verheiratungsrate der Männer in den ersten Nachkriegsjahrzehnten beigetragen hatte, ist längst vorüber und hat seinen Einfluss auf die Familienstandsstruktur Älterer nahezu verloren. Die Normalisierung der Geschlechterproportionen führte zu einem Rückgang des Anteils alleinstehender älterer Frauen. Im jüngeren und mittleren Alter steigt hingegen bei beiden Geschlechtern der Anteil Alleinstehender und Alleinlebender (Engstler & Menning, 2003). Die Ehe hat ihren Monopolanspruch als einzig legitime Form des Zusammenlebens von Mann und Frau eingebüßt. Es steigt die Zahl unverheirateter Paare (Lengerer & Klein, 2007), und zwar nicht mehr nur als voreheliche Form der Paarbeziehung. Unverheiratetes Zusammenleben hat sich zu einer verbreiteten 54 Lebensformen und Partnerschaften und akzeptierten Partnerschaftsform entwickelt, die zusehends auch im Falle der Elternschaft fortgesetzt wird. Paare mit jüngeren Kindern sind häufiger unverheiratet. Das Zusammenleben ohne Trauschein entwickelte sich auch zu einer typischen Partnerschaftsform bei Folgebeziehungen nach einer Scheidung (de Jong Gierveld, 2004; Xu, Hudspeth, & Bartkowski, 2006). Drittens hat die Zahl der Paare mit getrennten Haushalten zugenommen, wofür sowohl Arbeitsmarktbedingungen als auch der gestiegene Wohlstand und individuelle Ansprüche und Möglichkeiten verantwortlich gemacht werden (Asendorpf, 2008; Schneider & Ruckdeschel, 2003). Ein weiterer wichtiger Aspekt des Wandels privater Lebensformen und –verläufe ist die gestiegene Instabilität und Serialität der Paarbeziehungen. Die Scheidungshäufigkeit hat über Jahrzehnte zugenommen. Mittlerweile wird in Deutschland etwa jede dritte Ehe geschieden (Emmerling, 2007). Das durchschnittliche Scheidungsalter der Männer liegt gegenwärtig bei 43 Jahren, das der Frauen bei knapp 41 Jahren (Gude, 2008). In steigendem Maße werden auch langjährige Ehen geschieden (Lind, 2001; Rapp, 2008). Die Scheidungsziffer der 15- bis 19-jährigen Ehen hat sich seit 1990 nahezu verdoppelt (Grünheid, 2006). Die durchschnittliche Ehedauer geschiedener Ehen in Deutschland beträgt derzeit knapp 14 Jahre (Gude, 2008). Dies zeigt, dass Scheidung kein Phänomen (mehr) ist, das typischerweise im jüngeren Erwachsenenalter und nach kürzerer Ehe auftritt, sondern ein Ereignis, dem in zunehmendem Maße Menschen zu Beginn und im Verlauf der zweiten Lebenshälfte ausgesetzt sind. Hinzu kommt, dass das Scheitern von Paarbeziehungen häufiger vorkommt als es bei der bloßen Betrachtung des Scheidungsgeschehens erscheint. Denn auch von der wachsenden Zahl der nichtehelichen Partnerschaften enden viele mit Trennung. Sie sind sogar einem weitaus höheren Trennungsrisiko als Ehen ausgesetzt. Nach Berechnungen von Rupp (1996) ist die Trennungsrate nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den ersten sechs Jahren etwa dreimal so hoch wie bei Ehepaaren. Kommt es nach dem Scheitern einer Ehe oder nichtehelichen Lebensgemeinschaft zur erneuten Paarbildung, entstehen Folgeehen und -beziehungen, sofern Kinder aus einer früheren Partnerschaft eingebracht werden, auch Stieffamilien (de Jong Gierveld & Peeters, 2003; Prskawetz, Vikat, Philipov, & Engelhardt, 2003). Aufgrund dieser Dynamiken in den Partnerschaftsverläufen wird in der Familiensoziologie von einer Zunahme serieller Monogamien, d.h. dem Aufeinanderfolgen fester monogamer Beziehungen, gesprochen (vgl. Peuckert, 2008). Zu Ausmaß und Struktur dieser Entwicklung gibt es jedoch für Deutschland erst wenig belastbare Informationen, da die amtliche Haushaltsstatistik nahezu keine Merkmale und die größeren nationalen Surveys mit wenigen Ausnahmen (z.B. DJI-Familiensurvey) keine ausreichend differenzierten Merkmale zu den Partnerschaftsbiografien enthalten. Besonders groß war die Informationslü- 55 Lebensformen und Partnerschaften cke bislang in Bezug auf die Partnerschaftshistorie älterer Menschen in Deutschland. Die beiden großen nationalen Surveys zur Lebenssituation Älterer (SHARE, Alterssurvey) begnügten sich bis vor kurzem weitgehend mit der Erhebung des Familienstands und – bei nicht mehr Verheirateten – dem Lösungsjahr der letzten Ehe. Weitere Differenzierungen waren nicht möglich, nicht einmal die Unterscheidung zwischen Erst- und Folgeehen. Damit waren Analysen zu Ursachen und Auswirkungen verschiedener Partnerschaftsverläufe bis ins höhere Alter kaum möglich und auch der Erfassung möglicher Vielfalt innerhalb der Ehen Grenzen gesetzt. Mittlerweile verbessert sich die Datenlage, zum einen durch die prospektive Längsschnittbeobachtung im Rahmen dieser Surveys, zum anderen durch die Erhebung retrospektiver Lebensverlaufsmerkmale, insbesondere im Projekt SHARE (SHARELIFE-Erhebung) und dem Generations and Gender Survey (Vikat et al., 2007). Auch im Alterssurvey werden die Partnerschaftsformen ab Welle 3 differenzierter erhoben, indem zwischen Erst- und Folgeehen unterschieden, Institutionalisierungsschritte erfasst und hetero- von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften unterschieden werden. Die Verbesserung der Datenlage ermöglicht nun differenziertere Analysen zu Entwicklung, Faktoren und Auswirkungen unterschiedlicher Partnerschaftsverläufe vom mittleren bis ins höhere Alter. Mit dem kurzen Verweis auf Stieffamilien wurde bereits ein weiterer Aspekt des Wandels und der Pluralisierung privater Lebensformen angesprochen: die Veränderung der Familienstrukturen mit einer abnehmenden Dominanz des verheirateten Elternpaars mit nur gemeinsamen leiblichen Kindern. Der temporäre oder dauerhafte Verzicht auf die Eheschließung und die Dynamik der Partnerschaftsverläufe haben zu einer Zunahme der unverheirateten Elternpaare, Alleinerziehenden und Stieffamilien geführt (Bien, Hartl, & Teubner, 2002; Hullen, 2006). Von einer wachsenden Vielfalt familialer Lebensformen kann allerdings nur gesprochen werden, wenn als Referenzzeitraum das ‚goldene Zeitalter‘ der Ehe von ca. Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre gewählt wird. In früheren Zeiten, auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Familienformen – notgedrungen – vielfältiger (Nave-Herz, 2004). Insofern könnte man die neuere Entwicklung auch als eine Repluralisierung bezeichnen, allerdings in anderer Form und durch andere Ursachen bedingt als die Heterogenität früherer Zeiten (Trennung und Scheidung statt Verwitwung, freiwilliger Verzicht auf die Ehe). 3.2 Auswertungsplanung Es fällt auf, dass sich viele Arbeiten zum Wandel der Lebens- und Familienformen auf das jüngere und mittlere Alter konzentrieren. Noch wenig untersucht ist die Frage, ob auch die Bevölkerung im fortgeschrittenen Alter Träger einer zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen und –verläufe ist. Daher gilt es, die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Pluralisierung und Individualisierung 56 Lebensformen und Partnerschaften der Lebensformen und –verläufe von ihrer oft feststellbaren Konzentration auf die erste Lebenshälfte zu befreien und auch Veränderungen in den Mustern der privaten Lebensführung der Menschen jenseits des 40. Lebensjahres in den Blick zu nehmen. Im Rahmen des Projekts ”Deutscher Alterssurvey, 3. Welle‛ soll dies durch eine differenzierte Deskription der Struktur und Entwicklung der Lebensformen der über 40-Jährigen im Sinne einer Sozialberichterstattung erfolgen. Mittelpunkt des Beitrags für den Projektbericht wird die differenzierte Darstellung der Lebens- und Partnerschaftsformen in der zweiten Lebenshälfte und ihrer kohortenspezifischen Entwicklung sein. Im Vordergrund steht die Frage nach Kontinuität und Wandel. Es soll geprüft werden, ob die Entwicklung Anzeichen einer Pluralisierung enthält und ob sie sozial strukturiert ist (vgl. Abschnitt 3.2.1). Zwei Hauptkomponenten des Wandels der Lebens- und Partnerschaftsformen bilden das Beenden und die Neuetablierung von Partnerschaften. Im Projektbericht soll ein Überblick zur Entwicklung der Verbreitung und den Formen partnerschaftlicher Folgebeziehungen im mittleren und höheren Alter gegeben werden. Ergänzend soll untersucht werden, ob sich die Beziehungsqualität von Folgeehen und nichtehelichen Partnerschaften in mittleren und späteren Lebensphasen von der der Erstehen unterscheidet (Abschnitt 3.2.2). 3.2.1 Wachsende Vielfalt der Lebensformen und -verläufe in der zweiten Lebenshälfte? Zur Frage, ob die Pluralisierung der Lebensformen und –verläufe altersspezifisch begrenzt ist, lassen sich zwei unterschiedliche Annahmen formulieren. Die eine geht davon aus, dass sich die Veränderungen und Dynamisierungen weitgehend auf das jüngere Alter konzentrieren und es ab dem mittleren Erwachsenenalter zu einer Stabilisierung und Traditionalisierung der Lebensformen und –verläufe kommt (Stabilisierungsthese). Nach dieser Annahme gelangen die Menschen nach der Dynamik und Heterogenität des jüngeren Erwachsenenalters spätestens zu Beginn der zweiten Lebenshälfte (d.h. zu Beginn des fünften Lebensjahrzehnts) in ‚ruhigeres Fahrwasser‘ mit sich annähernden stabileren und ähnlichen Lebensweisen. Begründen ließe sich diese Erwartung mit rollen- und austauschtheoretischen sowie familienökonomischen Annahmen. So kann z.B. erwartet werden, dass das ‚Mismatch‘-Risiko bei längerer Partnersuche oder wiederholter Partnerwahl abnimmt (Becker, 1993) und mit wachsendem Investment in die Paarbeziehung, wozu auch der Nachwuchs zählt, deren Stabilität steigt und Vorteile der eheverbundenen Familie zum Tragen kommen. Die Gegenposition lässt erwarten, dass auch das mittlere und höhere Alter von den Veränderungen und Dynamiken der Lebensformen und –verläufe erfasst wird bzw. sich diese bis ins höhere Alter hinein erhalten (Dynamisierungsthese). Gründe hierfür lassen sich vor allem aus individualisierungstheoretischen Überlegungen ableiten (Beck & Beck-Gernsheim, 1990; Beck, 1994). So ist davon auszugehen, dass 57 Lebensformen und Partnerschaften die Freisetzung aus traditionellen normativen Verbindlichkeiten alle Altersgruppen erfasst. Anzunehmen ist, dass auch mittelalte und ältere Arbeitskräfte den Flexibilitätsanforderungen des Arbeitsmarktes ausgesetzt sind, die durchaus ihr Privatleben tangieren. Zudem ist – in westlichen Gesellschaften – insbesondere das Leben im Alter gesellschaftlich eher schwach normiert (Rollenarmut des Alters). Dies eröffnet Handlungsspielräume und damit zumindest das Potenzial für mehr Heterogenität im Alter. Ob und in welcher Weise dieses Potenzial genutzt wird, ist eine offene Frage. Forschungsleitende Annahmen Richtschnur der geplanten – vornehmlich deskriptiven – Auswertungen der Daten des Deutschen Alterssurveys (DEAS) sind folgende Annahmen: (1) Im Vergleich der Jahre 1996, 2002 und 2008 werden die Lebensformen der über 40-Jährigen heterogener. (2) Der Anteil verheiratet zusammenlebender Paare sinkt zugunsten unverheirateter Paare und partnerloser Lebensformen. (3) Kinderlose Lebensformen nehmen zu. (4) Der Wandel betrifft nicht nur die Lebensformen ohne Kinder, sondern auch den Familiensektor, innerhalb dessen die Dominanz der Familienform ‚Zusammenlebendes Ehepaar mit nur gemeinsamen leiblichen Kindern‘ abnimmt. (5) Die Pluralisierung speist sich sowohl aus einer wachsenden Vielfalt der Lebensformen beim Eintritt in die zweite Lebenshälfte als auch aus einer steigenden Dynamik der Lebensverläufe in der zweiten Lebenshälfte. Geplante Methodik Das komplexe Stichprobendesign des Alterssurveys ermöglicht mehrere Vergleichsperspektiven: (1) Analysen im Querschnitt einer einzelnen Basisstichprobe, (2) den Kohortenvergleich durch die vergleichende Analyse der bislang drei vorhandenen Basisstichproben (Zeitreihenanalyse), (3) die Analyse individueller Entwicklungen im prospektiven Längsschnitt (Panelanalyse), (4) individuelle prospektive Längsschnittanalysen im Kohortenvergleich (Kohortensequenzanalyse). Hinzu kommt die Möglichkeit der Analyse retrospektiv erhobener Merkmale des Lebensverlaufs. Für den Abschlussbericht ist eine Untersuchung des Wandels der Lebensformen unter Anwendung der Vergleichsperspektiven (2) und (4) vorgesehen, ergänzt durch einen Kohortenvergleich retrospektiv erhobener Lebensverlaufsaspekte. 58 Lebensformen und Partnerschaften Den Einstieg bilden soll die Untersuchung des sozialen Wandels der Lebensformen anhand eines Vergleichs der Lebensformenverteilung in den Basisstichproben 1996, 2002 und 2008 insgesamt und in jeder einzelnen 6-JahresAltersgruppe. Grundlage hierfür ist die Bildung einer Typologie der Lebensformen. Geplant ist eine Typlogie anhand der folgenden Dimensionen und Kategorien: Partnerschaftsexistenz (ohne/mit) und Familienstand (ledig/verheiratet zusammenlebend/getrenntlebend od. geschieden/verwitwet), Elternschaftsexistenz (ohne/mit Kindern) und Elternschaftsform bzw. –phase (mit nur eigenen Kindern im Haushalt/nur oder auch mit anderen Kindern im Haushalt/keines der Kinder (mehr) im Haushalt). Daraus ergeben sich 28 Lebensformen, von denen einige wegen geringer Besetzung und ähnlicher Struktur voraussichtlich zusammengefasst werden können. Untersucht werden soll, welche Lebensformen zwischen 1996 und 2008 zu- und abgenommen haben und ob die Verteilung heterogener geworden ist. Dabei sollen geschlechts- und altersspezifische Besonderheiten betrachtet und die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland verglichen werden. Geprüft werden soll auch, ob es sich um eine sozialschichtübergreifende Entwicklung handelt oder schichtspezifische Unterschiede existieren. So könnte etwa die erwartete Zunahme kinderloser Lebensformen eine Spezifika der Höhergebildeten sein, die der Alleinerziehenden eher der unteren Schichten. Mittels der differenzierten Darstellung der Entwicklung der Lebensformen zwischen 1996 und 2008 sollen die forschungsleitenden Annahmen (1) bis (4) auf ihre empirische Gültigkeit überprüft werden. Um nicht nur die Verteilung der Lebensformen, sondern auch die Entwicklung biographischer Verläufe zu untersuchen, sollen in einem zweiten Schritt mit den Längsschnittinformationen des Alterssurveys Ausschnitte der individuellen Biographien im Hinblick auf Umbrüche in den Lebensformen verglichen werden. Geplant ist, hierfür die Möglichkeiten des kohortensequenziellen Designs des Alterssurveys zu nutzen, indem die individuellen Veränderungen der Lebensformen (Lebensformwechsel) in den sechs Jahren zwischen der jeweils ersten und zweiten Befragung bei den erstmals 1996 und erstmals 2002 interviewten Panelteilnehmern verglichen werden. Dadurch lassen sich die individuellen Verläufe unterschiedlicher Geburtskohorten im jeweils selben 6-Jahres-Altersabschnitt miteinander vergleichen. Erwartet wird – entsprechend der Hypothes (5) – eine Zunahme von Lebensformwechseln im Kohortenvergleich als Zeichen einer wachsenden Dynamik der Lebensverläufe. Die längsschnittliche Untersuchung dient der Überprüfung dieser Annahme. 3.2.2 Verbreitung und Qualität der Folgeehen und nachehelichen Partnerschaften im mittleren und höheren Alter In der Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen, dass neben der steigenden Scheidungshäufigkeit auch die erneute Paarbildung nach dem Ende einer Ehe zur 59 Lebensformen und Partnerschaften wachsenden Dynamik und Heterogenität von Partnerschaftsbiographien und Lebensformen beiträgt. Gesprochen wird von einer Zunahme sukzessiver bzw. serieller Monogamien, d.h. der Abfolge fester monogamer Beziehungen (exemplarisch schon Furstenberg, 1987). Dies können, müssen aber nicht immer eheliche Beziehungen sein. Es steigt die Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften, bei denen mindestens einer der Partner zuvor schon einmal verheiratet war. Empirische Daten liegen für Deutschland jedoch in erster Linie zum Wiederheiratsgeschehen bzw. der ehelichen Form von Folgebeziehungen vor. Während Folgeehen in früheren Zeiten hauptsächlich nach dem Tod eines Ehegatten eingegangen wurden, folgen sie gegenwärtig zum größeren Teil nach einer Scheidung (Heekerens, 1987; Heekerens, 1988; Engstler & Menning, 2003). Nur wenig belastbare Informationen liegen zur Häufigkeit vor, mit der in Deutschland nach dem Ende einer Ehe erneut eine feste Paarbeziehung mit oder ohne Eheschließung etabliert wird. Die amtliche Statistik der Eheschließungen richtet sich nur auf das Heiratsgeschehen und kann dabei nur grobe Schätzungen liefern, da bei den Eheschließungen Geschiedener und Verwitweter nicht festgehalten wird, wann die vorherige Ehe endete. Dadurch können die Wiederheiraten nicht zur passenden Bezugsgröße der Scheidungen des entsprechenden Jahres ins Verhältnis gesetzt werden. Unter Zuhilfenahme der zusammengefassten Heiratsziffern nimmt Grünheid (2006) an, dass in Deutschland etwas mehr als die Hälfte der Geschiedenen erneut heiratet, wobei überraschenderweise die zusammengefasste Wiederheiratsziffer der Frauen (56 je 100) über der der Männer liegt (52 je 100). Dies verwundert, da andere Studien für Deutschland zum Ergebnis kommen, dass entweder mehr Männer als Frauen nochmals heiraten (Klein, 1990) oder kein geschlechtsspezifischer Unterschied besteht (Lankuttis & Blossfeld, 2003).3 Internationale Studien legen nahe, dass geschiedene Männer rascher und häufiger nochmals heiraten als geschiedene Frauen (Ganong & Coleman, 2006; Wu & Schimmele, 2005; de Jong Gierveld, 2004; de Graaf & Kalmijn, 2003; Engstler, 1998). Völlig ausgeblendet bleiben Folgeehen in der amtlichen Statistik über die Haushaltsformen Erwachsener. Der Mikrozensus trifft keine Unterscheidung zwischen Erst- und Folgeehen. Auch in der deutschen Sozialberichterstattung wird gewöhnlich auf diese Differenzierung verzichtet. Daher erscheint es lohnend, das Informationspotenzial des Alterssurveys zu nutzen, der ab Welle 3 eine Unterscheidung in Erst- und Folgeehen ermöglicht, bei unverheirateten Partnerschaften nacheheliche Beziehungen von denen der Ledigen unterscheidet und dabei auch Paare mit getrennten Haushalten erfasst. 3 Der geschlechtsneutrale Befund könnte jedoch damit zusammenhängen, dass in der Studie von Lankuttis/Blossfeld nur Personen unter 40 Jahren einbezogen waren. 60 Lebensformen und Partnerschaften Fragestellung Da die deutsche Datenlage zur Verbreitung und Struktur von Folgeehen und nachehelichen Partnerschaften im mittleren und höheren Alter noch spärlich ist, soll für den Projektbericht im Sinne einer Sozialberichterstattung beschrieben werden, wie verbreitet die verschiedenen Formen partnerschaftlicher Lebensformen nach einer ersten Ehe in der zweiten Lebenshälfte sind und ob es in der Kohortenabfolge zu einer Zunahme solcher Partnerschaften gekommen ist. Dabei soll auch untersucht werden, ob die Entwicklung Anzeichen einer funktionalen Differenzierung der Privatheit (Meyer, 1992) in der Weise enthält, dass die nichteheliche Form der Partnerschaft wachsende Bedeutung für Folgebeziehungen im mittleren und höheren Alter erlangt. Anschließend soll untersucht werden, ob nach dem 40. Lebensjahr gegründete Folgeehen und nacheheliche Partnerschaften ohne Trauschein eine andere Beziehungsqualität aufweisen als fortbestehende Erstehen. Hier lassen sich verschiedene Erwartungen formulieren. Eine Annahme ist die einer vergleichsweise schlechteren Beziehungsqualität nachehelicher Partnerschaften, wofür verschiedene Gründe angeführt werden. Sie reichen von Persönlichkeitsmerkmalen bis zu beeinträchtigenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass die Persönlichkeitsstruktur einen Einfluss auf das Scheidungsrisiko und die Bewertung der Beziehungsqualität hat (Johnson & Booth, 1998; Jockin, McGue, & Lykken, 1996). Johnson & Booth weisen darauf hin, dass Persönlichkeitsmerkmale, die zum Scheitern der vorhergehenden Ehe beigetragen haben, meist auch in der nachfolgenden Partnerschaft bestehen bleiben. Unter dieser Annahme wäre zu erwarten, dass Folgebeziehungen eine geringere Qualität aufweisen, da sich in ihnen häufiger Personen mit für die Beziehungsqualität ungünstigen Persönlichkeitsmerkmalen finden. Aus soziologischer Perspektive resultiert die Erwartung schlechterer Beziehungsqualität hingegen vorrangig aus familiären und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Mit seiner These der unvollständigen gesellschaftlichen Institutionalisierung der Wiederheirat hat Cherlin (1978) auf die höhere Fragilität von Folgeehen geschiedener Mütter und Väter aufgrund mangelnder gesellschaftlicher Unterstützung bei der Lösung spezifischer Probleme dieser Lebensform hingewiesen. Es fehle an gesellschaftlichen Normen und institutionalisierter Hilfe, wodurch in Folgeehen mangels ausreichend orientierender Vorgaben die Wahrscheinlichkeit von Dissens, Spannung und Belastung höher sei. Als drittes Argument für die Erwartung einer schlechteren Beziehungsqualität könnte man die größere soziodemografische Heterogenität der Paare in Folgeehen gegenüber erstverheirateten Paaren anführen. Am auffälligsten ist dies in Bezug auf die Alterskonstellation. In Folgebeziehungen ist der durchschnittliche Altersunterschied zwischen Mann und Frau größer als bei Erstehen, und es kommt häufiger vor, dass die Frau älter als der Mann ist (Engstler, 1998), denn die neuen Partner sind oft 61 Lebensformen und Partnerschaften jünger als der vorherige Partner. Folgeehen sind auch häufiger binational als Erstehen (ebd.). Für die Vereinigten Staaten haben Amato, Johnson, Booth, & Rogers (2003) einen Zusammenhang zwischen steigender Heterogamität der Ehen und abnehmender Beziehungsqualität von Ehen festgestellt. Da Folgeehen heterogamer als Erstehen sind, ließe sich im Vergleich eine geringere eheliche Qualität Ersterer erwarten. Der Erwartung einer im Durchschnitt schlechteren Beziehungsqualität von Folgeehen und anderen nachehelichen Partnerschaftsformen lässt sich mit guten Argumenten aber auch die Annahme einer vergleichsweise besseren oder gleich guten Qualität der Paarbeziehung entgegenhalten. So könnte aus familienökonomischer Perspektive angenommen werden, dass die Suche und Auswahl eines neuen Partners sorgfältiger erfolgt als in der ersten Ehe, wodurch das ‚Mismatch‘-Risiko sinkt. Beispielsweise wird bei Zweitehen die Heiratsentscheidung viel seltener durch die bevorstehende Geburt eines Kindes forciert als bei Erstehen. Anzunehmen ist auch, dass sich im Zuge der Zunahme von Folgeehen Geschiedener und des nichtehelichen Zusammenlebens das von Cherlin vor dreißig Jahren formulierte Problem der mangelnden gesellschaftlichen Institutionalisierung der Wiederheirat verringert hat und die Folgeehe Geschiedener mittlerweile eine sozial anerkannte Lebens- und Familienform ist, für die durchaus Orientierung vermittelnde Rollen- und Gestaltungserwartungen bestehen. Daher erscheint es angebracht und vertretbar, die vergleichende Untersuchung der Beziehungsqualität unterschiedlicher Partnerschaftsformen ohne spezifische Ergebniserwartungen zu starten. Geplante Methodik Begonnen werden soll mit einer Darstellung der aktuellen Strukturen partnerschaftsbezogener Lebensformen im mittleren und höheren Alter. Diese stützt sich auf die Daten der DEAS-Basisstichprobe 2008, in der erstmals bei Verheirateten erhoben wurde, um die wievielte Ehe es sich handelt und seit wann unverheiratete Paare zusammen sind. Geplant ist die Bildung und Anwendung folgender Klassifikation: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) Nichteheliche Lebensgemeinschaft Lediger Erstehe Nichteheliche Lebensgemeinschaft nach erster Ehe Folgeehe Nichteheliche Lebensgemeinschaft nach einer Folgeehe Partnerlose nach beendeter (verheirateter oder unverh.) Folgebeziehung Partnerlose ohne Folgebeziehungserfahrung (ledig od. nach Erstehe) 62 Lebensformen und Partnerschaften Die Lebensformen (3) bis (6) sind Indikatoren der Verbreitung neuer Partnerschaften nach einer ersten Ehe.4 Die deskriptive Darstellung konzentriert sich auf die Untersuchung altersspezifischer, geschlechtsspezifischer, sozialstruktureller und regionaler Unterschiede der Verbreitung dieser partnerschaftsbezogenen Lebensformen. Um mit den Querschnittsdaten auch Aussagen zur zeitgenössischen Entwicklung machen zu können, ist geplant, nicht nur die aktuellen Lebensformen zu vergleichen. Vielmehr sollen – aus den Retrospektivangaben zur Dauer der gegenwärtigen Partnerschaft und der vorangegangenen Ehe – die Daten so aufbereitet werden, dass jeweils Informationen zur Existenz und Form einer Folgebeziehung in einem bestimmten, zurückliegenden Alter der Befragten vorliegen. Erst dies ermöglicht den Wechsel vom Altersgruppen- zum Geburtskohortenvergleich. Gedacht ist an den Kohortenvergleich der partnerschaftsbezogenen Lebensformen im Alter 40 und 50 der im Jahr 2008 erstmals Befragten. Die vergleichende Untersuchung der Beziehungsqualität von Erstehen, Folgeehen und unverheirateten nachehelichen Partnerschaften wird sich ebenfalls auf die Basisstichprobe 2008 stützen. Indikatoren der Beziehungsqualität sollen die subjektive Bewertung der Partnerschaft, die Zufriedenheit mit der Aufgabenteilung im Haushalt und die subjektive Einschätzung der Trennungswahrscheinlichkeit sein. 3.3 Ausblick Das Forschungsprogramm zur Auswertung der Daten des Alterssurveys geht inhaltlich über die Arbeiten für den Projektbericht und die Kurzberichte und zeitlich über den geförderten Projektzeitraum der dritten DEAS-Welle hinaus. Als weitergehende Forschung vorgesehen ist die Analyse sozialer und wirtschaftlicher Faktoren der Gründung neuer Partnerschaften nach Trennung, Scheidung und Verwitwung sowie ihrer Institutionalisierung. Hierbei richtet sich das Interesse besonders auf die Gelegenheitsstrukturen, finanziellen Anreize und Hemmnisse sowie familiären Einflüsse. Untersucht werden soll unter anderem, welchen Einfluss die Ausgestaltung des nachehelichen Unterhalts und der Hinterbliebenenversorgung darauf haben, ob Paare erneut heiraten. 4 Sollten es die Fallzahlen erlauben, könnten Folgeehen weiter nach der Zahl bisheriger Ehen differenziert werden. 63 Lebensformen und Partnerschaften Literatur Amato, P. R., Johnson, D. R., Booth, A., & Rogers, S. J. (2003). Continuity and Change in Marital Quality Between 1980 and 2000. Journal of Marriage & Family, 65(1), 1-22. Asendorpf, J. B. (2008). Living apart together: Alters- und Kohortenabhängigkeit einer heterogenen Lebensform. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 60(4), 749-764. Beck, U. (1994). Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, U., & Beck-Gernsheim, E. (1990). 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Soziale Integration und Partizipation Oliver Huxhold & Katharina Mahne Inhalt 4.1 Vorbemerkung ............................................................................... 66 4.2 Soziale Netzwerke in der zweiten Lebenshälfte ............................... 67 4.2.1 Aspekte sozialer Netzwerke .................................................................. 68 4.2.2 Entwicklung sozialer Netzwerke ........................................................... 68 4.3 Partizipation in der zweiten Lebenshälfte ....................................... 69 4.3.1 Formen gesellschaftlicher Partizipation................................................ 70 4.3.2 Empirische Untersuchungen im Bereich Partizipation ......................... 71 4.4 Der Einfluss des sozialen Wandels auf Integration und Partizipation .................................................................................. 71 4.5 Resümee ........................................................................................ 73 4.6 Analyseperspektiven des Berichts ................................................... 73 4.6.1 Welche Formen sozialer Netzwerke gibt es? ........................................ 75 4.6.2 Wie integriert fühlen sich die Menschen in der zweiten Lebenshälfte? ........................................................................................ 76 4.6.3 Wer ist ehrenamtlich engagiert? .......................................................... 77 4.6.4 Zeigt sich in den letzten 6 Jahren eine zunehmende Pluralisierung von Netzwerken? .................................................................................. 77 4.6.5 Sind nachfolgende Generationen im Alter besser sozial integriert? .... 78 4.6.6 Haben Mitgliedschaften und ehrenamtliches Engagement zugenommen?....................................................................................... 78 4.7 Vertiefende Analyseperspektiven des Berichts ................................ 78 4.7.1 Dynamische Analysen ........................................................................... 79 4.7.2 Die Interaktion verschiedener Netzwerkaspekte mit multiplen adaptiven Outcomes ............................................................................. 80 4.7.3 Einflüsse von Werthaltungen auf die Entwicklung sozialer Integration............................................................................................. 81 Literatur .................................................................................................. 81 4.1 Vorbemerkung Das Thema der sozialen Integration Älterer ist aus verschiedenen Gründen in den Blickwinkel des politischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses 66 Soziale Integration und Partizipation geraten. Die Älteren sind die am stärksten absolut und relativ anwachsende Bevölkerungsgruppe. Dieses Faktum führt in der öffentlichen Diskussion häufig zu Befürchtungen hinsichtlich einer Überalterung der Gesellschaft. Hierbei darf jedoch nicht vergessen werden, dass nicht nur die Anzahl der Älteren zunimmt, sondern dass sich die nachkommenden Kohorten älterer Menschen in ihren Lebenssituationen von den früheren Kohorten unterscheiden. Die heutigen Älteren sind gesünder, sie verfügen über eine bessere Ausbildung und sind besser mit materiellen Ressourcen ausgestattet – die Voraussetzungen für ein aktives Leben bis ins hohe Alter sind also gegeben. Die Integration und die Mobilisierung der Potenziale älterer Menschen stellt demnach eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte dar. Unter die Überschrift ”produktives Altern‛ lässt sich ein spezifisches und neues, proklamiertes Alter(n)sbild fassen, welches den alternden Menschen jenseits der Erwerbsphase eher in dessen Potenzialen betont, denn ihn als passiven Konsumenten und Nutznießer zu verstehen. Gerade im Bereich des Ehrenamtes und des bürgerlichen Engagements wird deutlich, welchen Beitrag die Älteren heute schon für die Gesellschaft leisten. Aus diesen Gründen werden die Untersuchungen im Kontext des Alterssurveys zur sozialen Integration Älterer zwei Schwerpunkte haben. Zum einen wird die unterschiedliche individuelle Einbindung der Menschen in der zweiten Lebenshälfte in soziale Netzwerke betrachtet, zum anderen auch ein Blick auf die gesellschaftliche Partizipation älterer Menschen geworfen. 4.2 Soziale Netzwerke in der zweiten Lebenshälfte Viele Sozialwissenschaftler betonen, dass soziale Netzwerke ein entscheidender Vermittler zwischen dem Individuum und der Gesellschaft sind (z.B. Krause, 2001). Hierbei ist zu beachten, dass soziale Netzwerke sowohl Quelle und Bedingung, als auch Resultat individuellen Verhaltens sind (Stokman, 2001). Auf der einen Seite eröffnen und begrenzen soziale Netzwerke individuelle Gelegenheitsstrukturen und wirken auf Eigenschaften des Individuums. Auf der anderen Seite erschaffen, erhalten und beenden Individuen soziale Beziehungen. Eine weitere Besonderheit sozialer Netzwerke ist, dass ihre Auswirkungen kontextabhängig sind. Mit anderen Worten: Der Nutzen sozialer Netzwerke ist abhängig von der betrachteten Funktion. Weiterhin ist die Effektivität sozialer Netzwerke abhängig von den Ressourcen des beobachteten Individuums. Aus diesen Annahmen lässt sich schlussfolgern, dass die Betrachtung der Entwicklung von sozialen Netzwerken im höheren Erwachsenenalter notwendigerweise gleichzeitig gesellschaftliche Rahmenbedingen und altersabhängige individuelle Prozesse berücksichtigen muss, die zusätzlich miteinander und untereinander dynamisch im Lebensverlauf interagieren können. Aus psychologischer Sicht wird häufig die Bedeutung sozialer Netzwerke für die individuelle Lebensqualität betont. Eine zentrale Annahme der gerontologischen 67 Soziale Integration und Partizipation Forschung ist, dass viele Aspekte sozialer Netzwerke grundlegende Bedingungen für ein erfolgreiches Altern darstellen (Row & Kahn, 1998). Empirische Studien haben beispielsweise belegt, dass altersbedingte interindividuelle Unterschiede in verschiedenen Netzwerkaspekten assoziiert sind mit interindividuellen Unterschieden in mentaler und körperlicher Gesundheit, subjektivem Wohlbefinden und kognitiven Fähigkeiten. (e.g., Antonucci, 1985; Keller-Cohen, Fiori, Toler, & Bybee, 2006; Krause, 2001; Lovden, Ghisletta, & Lindenberger, 2005; Litwin & Shiovitz-Ezra, 2006; Russel & Cutrona, 1991). Soziale Netzwerke können also Ressourcen zur Verfügung stellen, welche sowohl die Lebensqualität im Allgemeinen verbessern, als auch die Anpassung an die Prozesse des Älterwerdens im Spezifischen erleichtern können (Antonucci, 1985). 4.2.1 Aspekte sozialer Netzwerke Grundsätzlich kann man – wie von Antonucci (1985) vorgeschlagen – Aspekte sozialer Netzwerke in strukturelle, funktionale und evaluative Charakteristika unterscheiden (e.g., Fiori, Antonucci, & Cortina, 2006; Fiori, Smith, & Antonucci, 2007). Die Struktur sozialer Netzwerke besteht aus relativ objektiven Kriterien wie zum Beispiel der Anzahl der Netzwerkmitglieder, deren relative Wohnentfernungen und Kontakthäufigkeiten, aber auch die Partizipation in sozialen Organisationen und soziale Aktivitäten sind angesprochen. In der empirischen Forschung werden funktionale Aspekte häufig als unterschiedliche Formen sozialer Unterstützung operationalisiert (z.B. emotionale und instrumentelle Unterstützung). Diese pragmatische Reduzierung führt jedoch häufig dazu, dass andere wichtige Funktionen, wie beispielsweise Opportunitätsaspekte für ein aktives Leben, in Theorien der sozialen Beziehungen im Alter nicht berücksichtigt werden. Evaluative Netzwerkaspekte beinhalten die subjektiven Beurteilungen verschiedener sozialer Beziehungen. Diese verfügen über eine hierarchische Struktur, die von sehr speziellen Beurteilungen wie der Evaluation der Beziehung zum Partner, über die Zufriedenheit mit dem gesamten sozialen Netzwerk bis hin zum Empfinden von Einsamkeit reichen kann. 4.2.2 Entwicklung sozialer Netzwerke Frühe Forschungsarbeiten bezüglich der Entwicklung sozialer Beziehungen konzentrierten sich hauptsächlich auf die negativen Einflüsse der gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen auf die sozialen Netzwerke älterer Menschen (Cummings & Henri, 1961; Havighurst, 1957). In Bezug auf diese Theorien (z.B., disengagement, activity und continuity Theorie), wurde der Übergang in den Ruhestand hauptsächlich mit Verlusten in sozialen Rollen und eingeschränkten Opportunitätsstrukturen für Aktivitäten und soziale Interaktionen in Verbindung gebracht (Maddox, 1963; Rosow, 1974). Im Gegensatz hier 68 Soziale Integration und Partizipation zu betonten neuere Ansätze – wie die sozio-emotionale Selektivitätstheorie – die aktive Rolle des Individuums in der Gestaltung der eigenen Entwicklung (Carstensen, 1992). Die sozio-emotionale Selektivitätstheorie nimmt an, dass ältere Erwachsene über eine eingeschränktere Zukunftsperspektive verfügen. Diese führt dazu, dass die Älteren stärker als jüngere Erwachsene dazu neigen, emotional bedeutsame soziale Interaktionen anzustreben und periphere soziale Kontakte zu Gunsten von engeren sozialen Beziehungen aufzugeben. Die Älteren neigen also dazu, strukturelle Aspekte von Netzwerken (z.B. Größe des Netzwerks) zu opfern, um bestimmte funktionale Aspekte – insbesondere emotionale Unterstützung – aufrechtzuerhalten oder zu optimieren. Es ist mehrfach querschnittlich und längsschnittlich empirisch belegt, dass die Entwicklung sozialer Netzwerke im Alter geprägt ist von einer Reduzierung peripherer Kontakte unter Beibehaltung der engen, insbesondere familiären Bindungen (z.B., Carstensen, 1992; Lang & Carstensen, 1994; Lang, Staudinger, & Carstensen, 1998). Ob diese Reduzierung jedoch als eine aktiv angestrebte und vor allem adaptive Entwicklung zu verstehen ist, ist viel weniger eindeutig. Schon Lang und Kollegen (Lang 2001; Lang, Rieckmann, & Baltes, 2002, Shaw, Krause, Liang, & Bennett, 2007) haben die Perspektive der sozio-emotionalen Selektivität erweitert, in dem sie postulierten, dass sich verringernde Netzwerkgrößen im hohen Alter auch durch altersbedingte Verluste in individuellen Ressourcen – wie körperlicher und geistiger Fitness – bedingt sein könnten. 4.3 Partizipation in der zweiten Lebenshälfte Das in der Einleitung angesprochene Bild der/s produktiven Alten entspricht zwar tatsächlich der sich heute anders oder besser darstellenden Ausgangssituation im Alter, andererseits sind mit diesem Leitbild von politischer Seite Erwartungshaltungen formuliert und spezifische Hoffnungen verknüpft. Im Ausbau von informeller Arbeit (= unentgeltliche Tätigkeiten wie Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe oder Hilfe und Pflege innerhalb der Familie; Definition bei Erlinghagen, 2008) wird die Möglichkeit gesehen, die durch den demografischen Wandel verursachten ‚Alterslasten‘ zu reduzieren. Aus informeller Arbeit kann und soll zum einen ein direkter gesellschaftlicher Nutzen entstehen insofern, dass Dienstleistungen und Güter produziert werden, die von Seiten des Marktes und Staates nicht (mehr) zur Verfügung gestellt werden können. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass informelle Arbeit den Bürgersinn fördert, vor allem auf kommunaler Ebene die Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme vergrößert, somit die Demokratie stärkt und schlussendlich einen Beitrag zum Bürokratieabbau leistet. Aus politischer Sicht gilt es also, die Potenziale, die durch die Verbesserung der Ressourcen der älteren Bevölkerung in den letzten Jahren entstanden sind, zu aktivieren. Aus diesem Grund hat das Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ab dem Jahr 2009 ein Programm mit dem 69 Soziale Integration und Partizipation Namen ”Aktiv im Alter‛ aufgelegt, dessen Ziel es ist, die Rolle von ehrenamtlich engagierten Seniorinnen und Senioren auch als Mitgestalter und Mitentscheider in den Kommunen zu stärken. Zusätzlich soll das ebenfalls vom BMFSFJ geförderte Programm ”Freiwilligendienste aller Generationen‛ auch für eine verstärkte Teilnahme älterer Menschen am sozialen Engagement sorgen (BMFSFJ, 02.04.2008). Aber nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene werden informeller Arbeit spezifische Nutzenzuwächse zugeschrieben, sondern auch für das aktive Individuum lassen sich positive Effekte und Potenziale finden. So kann informelle Arbeit als sinnstiftende Aktivität empfunden werden, wenn Erwerbsarbeit diese nicht oder nicht mehr erfüllen kann. Informelle Arbeit kann Sozial- und Humankapital akkumulieren, welche bei Arbeitslosigkeit Übergange zurück in die Erwerbsarbeit erleichtern können. Schließlich kann informelle Arbeit schlicht Freude und Spaß bereiten und sozialer Isolation entgegenwirken. Empirisch zeichnen sich Engagierte durch eine höhere Lebenserwartung, weniger gesundheitliche Beschwerden (körperliche wie psychische) und ein höheres Wohlbefinden aus. Aktivitäten haben direkte mentale und körperliche Trainingseffekte. Wirkmechanismen sind in diesem Bereich bislang allerdings wenig erforscht. Es lässt sich aber zusammenfassend festhalten, dass zwischen individuellen und gesellschaftlichen Nutzen von Engagement eine Vermittlung insofern stattfinden könnte, dass Engagierte sich durch bessere Ressourcen auszeichnen und diese wiederum – in diesem Falle indirekt – die öffentlichen Kassen zur Gesundheitsversorgung entlasten. 4.3.1 Formen gesellschaftlicher Partizipation Um das Potenzial gesellschaftlicher Teilnahme älterer Menschen in einem angemessenen Umfang abzubilden, folgt der Alterssurvey einer relativ breiten Definition des Begriffs. Partizipation bildet sich zum einen in Form informeller Arbeit ab. Unter diese Definition fallen unentgeltliche Tätigkeiten wie die Übernahme von Funktionen und Ämtern innerhalb von Organisationen – sprich als Engagement im engeren Sinne. Zum anderen werden Netzwerkhilfen und informelle Unterstützungs- und Hilfeleistungen im familialen Bereich (Enkelkinderbetreuung, Pflege von Angehörigen und Freunden) unter diesen Begriff subsummiert. Auch die Beteiligung an sozialen Freizeitaktivitäten stellt eine Form von Partizipation dar. Wie oben bereits angesprochen, stellt auch der Bereich des politischen Interesses – sei es in Form von allgemeinem Interesse oder in Form von Interessenvertretung – einen wichtigen Aspekt der Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern dar (vgl. Künemund, 2006). Eine relativ neu von wissenschaftlicher Seite entdeckte Variante der sozialen Partizipation stellt die Geldspende an karitative oder gemeinnützige Organisationen dar. Spenden können auch als Form zivilgesellschaftlichen Handelns bezeichnet werden. Deutschland ist ‚Spenden 70 Soziale Integration und Partizipation Weltmeister‘ und es lässt sich zeigen, dass Ältere zu größeren Anteilen spenden als Jüngere. Hierbei ist zu beachten, dass die Geldspende keineswegs – wie zunächst zu vermuten wäre – als Ersatz zur Zeitspende in Form des ehrenamtlichen Engagements zu sehen ist, sondern dass diese Formen der Partizipation besonders häufig gemeinsam auftreten (Priller & Sommerfeld, 2005). 4.3.2 Empirische Untersuchungen im Bereich Partizipation Ehrenamtliches Engagement nimmt zunächst mit dem Alter zu, erreicht im Alter von 35-55 Jahren seinen Höhepunkt und geht dann wieder zurück. Die Beteiligung Älterer hat allerdings in den letzten Jahren insgesamt zugenommen, in der BRD stellen die Älteren sogar die größte Wachstumsgruppe beim freiwilligen Engagement dar. Ein Viertel bis ein Drittel der Älteren ist ehrenamtlich engagiert und mehr als die Hälfte dieser Personengruppe übt ihr Ehrenamt mindestens ein Mal pro Monat aus. Zählt man Engagementformen wie Nachbarschaftshilfe, Kinderbetreuung oder Pflegetätigkeiten hinzu, so leisten ältere Menschen ca. 15-20 Stunden pro Monat an informeller Arbeit (Künemund, 2006). Diese Befunde sind zunächst erstaunlich, im europäischen Vergleich zeigt sich allerdings, dass die BRD im Mittelfeld agiert. Es lässt sich ein Nord-Süd-Gefälle feststellen. In skandinavischen Ländern finden sich die höchsten Engagementquoten, wohingegen in südeuropäischen Ländern nur etwa 6% der Älteren (50+) engagiert sind. Im Vergleich zwischen 1996 und 2002 lässt sich eine Verlagerung weg von eher ‚traditionellen‘ Tätigkeiten in Institutionen, Vereinen, Organisationen und Verbänden, die als ‚Tätigkeiten für andere‘ bezeichnet werden können, hin zu Formen des Engagements außerhalb oder am Rande von Organisationen feststellen. Diese ‚Tätigkeiten für sich und andere‘ zeichnen sich eher aus durch Selbstorganisation, eine Abkehr vom Prinzip der Unentgeltlichkeit und eine zunehmende Professionalisierung. Dennoch zeigt sich wenig altersspezifisches Engagement im Sinne von Interessenvertretung; die Partizipation an altersspezifischen Angeboten ist geringer als an altersunspezifischen, bei Frauen ist sie aber häufiger als bei Männern zu finden (Künemund, 2001, 2006). 4.4 Der Einfluss des sozialen Wandels auf Integration und Partizipation Drei zentrale Veränderungen in den letzten Jahrzehnten liefern entscheidende Ansatzpunkte, um den sozialen Wandel in der Integration und der Partizipation der Menschen in der zweiten Lebenshälfte zu betrachten. Diese Veränderungen betreffen sowohl die Zusammensetzung der älteren Bevölkerung und deren Netzwerke, als auch die Zunahme an individuellen Ressourcen und Änderungen in den Werthaltungen in diesem Teil der Bevölkerung. 71 Soziale Integration und Partizipation Zunächst ist die gewachsene Lebenserwartung beziehungsweise die verringerte Mortalität der Menschen eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass sich die sozialen Netzwerke der Älteren zumindest bei den jungen Alten (um 75 Jahre) weniger stark mit dem Alter verringert haben dürften, als in vorangegangenen Jahrzehnten. Dies bedeutet, dass sich nicht nur die Anzahl der Personen im persönlichen Netzwerk erhöhen sollte, sondern auch dass diese größeren persönlichen Netzwerke einen stärkeren Einfluss auf soziale Aktivitäten und Engagement durch die Bereitstellung sozialer Anreize und Opportunitätsstrukturen leisten können. Zusätzlich wird dieser Trend durch die Zuwächse an funktionaler Gesundheit in der älteren Bevölkerung verstärkt, die den heutigen Älteren mehr als bisher die Möglichkeit eröffnen, ihr Leben aktiver zu gestalten und mehr soziale Kontakte als bisher zu halten. Des Weiteren sollten sich die Änderungen in den individuellen Vorstellungen vom Älterwerden positiv auf die Ausgestaltung der sozialen Netzwerke im höheren Erwachsenenalter ausgewirkt haben. Während das allgemeine Altersbild früher überwiegend passive und rückwärtsgerichtete Elemente aufwies und insbesondere die altersbedingten Verluste thematisierte, weisen einige Untersuchungen darauf hin, dass sich dieses Bild wandelt. Viele Menschen sehen heute das Alter als eine selbstständig gestaltbare Phase des Lebens und dieses Bild wird zunehmend von Seiten der Politik und in den Medien unterstützt. Auch im Ruhestand verspüren viele Menschen den Wunsch, aktiv und produktiv zu sein und mit jedem Jahr gibt es mehr Rollenmodelle aktiver, älterer Menschen, an denen sie sich orientieren können. Dies mag dazu beitragen, dass der Übergang in den Ruhestand nicht mehr so stark wie bisher als Verlust – man fühlt sich weniger als früher zum alten Eisen gehörig – sondern als späte Freiheit wahrgenommen werden kann (Rosenmayer, 1983). Es erscheint plausibel zu sein, davon auszugehen, dass der oben beschriebene Wandel in den Anschauungen sowohl mit einer stärkeren Pflege des sozialen Netzes einhergeht, als auch eine stärkere Partizipation der Älteren begünstigt. Die dritte Komponente, die einen entscheidenden Einfluss auf den sozialen Wandel in der sozialen Integration ausübt, kann man grob unter den Begriffen der Pluralisierung oder Destandardisierung der Lebensformen zusammenfassen. Wie in den Kapiteln zu Lebensformen und intergenerationalen Generationenbeziehungen (siehe Kapitel 2 und 3) behandelt, hat sich insbesondere die Struktur und Zusammensetzung der Familie in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Aus Sicht der sozialen Integration stellt sich also insbesondere die Frage, ob die abnehmende Dominanz des verheirateten Elternpaars mit nur gemeinsamen leiblichen Kindern, die stagnierenden Geburtenraten und der daraus resultierenden Zunahme Kinderloser, zu einer Beeinträchtigung der sozialen Integration Älterer führt. Die Betonung der Wichtigkeit der Familie in diesem Kontext lässt einen solchen Zusammenhang erahnen. Jedoch haben neuere empirische Arbeiten 72 Soziale Integration und Partizipation gezeigt, dass der Einfluss nicht-familiärer Kontakte auf das mentale Wohlbefinden im Alter bisher unterschätzt wurde (z.B. Fiori et al, 2008). Dies bedeutet, dass die allgemein zu erwartenden positiven Entwicklungen in den sozialen Netzwerken den Verlust an familiären Kontakten kompensieren könnten. 4.5 Resümee Die Untersuchung sozialer Integration und Partizipation älterer Menschen ist aus zwei Blickwinkeln bedeutsam. Zum einen ist die soziale Integration – vermittelt über die persönlichen Netzwerke – ein zentraler Bestandteil der Lebensqualität in der zweiten Lebenshälfte. Zum anderen erfordern es die demografischen Entwicklungen, ein Augenmerk auf den produktiven Beitrag, den die Älteren heute schon leisten, zu richten und gegebenenfalls Umstände zu identifizieren, die die Partizipation und das Engagement der älteren Mitbürger behindern oder fördern. Um diesem Ziel nachzukommen, wird sowohl soziale Integration als auch gesellschaftliche Partizipation relativ breit definiert. Soziale Integration enthält strukturelle, funktionelle und evaluative Merkmale. Unter den Bereich Partizipation fallen sowohl soziales Engagement im engeren Sinne als auch informelle Unterstützungsleistungen. Die empirische Literatur ist sich einig, dass Integration und Partizipation sowohl im Alter nachlassen, als auch sozial ungleich verteilt sind. Insbesondere höhere Bildungsschichten sind im Alter besser integriert und zeigen auch höhere Engagementquoten. Es ist eine Aufgabe des DEAS, zu überprüfen, ob sich die oben geschilderten Zusammenhänge im Verlauf der letzten Jahre gewandelt haben, z.B. ob auch untere Bildungsschichten eine bessere Integration im Alter aufweisen. Sowohl die steigende Lebenserwartung und funktionale Gesundheit, als auch die Veränderungen in den Altersstereotypen lassen vermuten, dass die Integration Älterer zugenommen hat. Es ist jedoch eine offene empirische Frage, ob sich die Bedeutung der Familie als Vermittler von Integration im Laufe der Zeit gewandelt hat. 4.6 Analyseperspektiven des Berichts Die Ziele, die im Bereich der sozialen Netzwerke und Partizipation verfolgt werden, kann man grob zum einen in die Berichtsanalysen zu Netzwerkgestaltung und Partizipation und zum anderen in die vertiefenden Analysen unterteilen. Die Analysen für den Bericht werden einen breiten Ansatz nutzen, um 1.) ein möglichst umfassendes Bild über die Situation der sozialen Integration der Bevölkerung über 40 im Jahr 2008 zu liefern und um 2.) zu überprüfen, in wie weit sich 73 Soziale Integration und Partizipation diese im sozialen Wandel verändert hat. Im ersten Teil des Berichts werden daher zunächst folgende Fragen beantwortet. 1. Welche Formen sozialer Netze gibt es? 2. Wie integriert fühlen sich die Menschen in der zweiten Lebenshälfte? 3. Wer ist ehrenamtlich engagiert? Im zweiten Teil des Berichts werden Fragen zum sozialen Wandel beantwortet. 1. Zeigt sich in den letzten 12 Jahren eine zunehmende Pluralisierung von Netzwerken? 2. Sind nachfolgenden Generationen im Alter besser sozial integriert? 3. Hat die Partizipation zugenommen und wenn ja in welchen Bereichen? Alle Analysen werden durch die Perspektive des differentiellen Alterns bestimmt. Vereinfacht ausgedrückt besagt diese Perspektive, dass die Heterogenität einer Population durch die Kumulation lebensgeschichtlicher Prozesse zunimmt (Whitbourne, 2001). Praktisch bedeutet dies, dass empirische Analysen immer auch die große Heterogenität in der älteren Bevölkerung berücksichtigen müssen und diese Varianz letztlich die zu erklärende Größe darstellt. Um die Voraussetzungen für gesellschaftliche Partizipation und soziales Engagement angemessen theoretisch einzuordnen, werden die Analysen in diesem Kontext auf den Begriff der sozialen Ungleichheit zurückgreifen. Die Möglichkeiten zur Integration älterer Menschen sind ungleich verteilt und bedingt durch materielle, physische und psychische Ressourcen und individuelle Werthaltungen auf der einen Seite, als auch durch Kontextfaktoren und gesellschaftliche Barrieren auf der anderen Seite. Die Analysen werden daher differenziert nach soziökonomischen Status, Geschlecht, Alter und Region (Ost/West) durchgeführt und liefern deshalb schon erste Hinweise auf potentielle Vorrausetzungen für eine gelungene Integration älterer Menschen. So zeigen beispielsweise Unterschiede in den Netzwerkgrößen und im Engagement zwischen Gruppen mit unterschiedlichem Bildungsgrad soziale Ungleichheit auf Grund unterschiedlicher Ressourcen direkt an, wenn man berücksichtigt, dass es auch im Alter vielen Menschen wichtig erscheint, sozial integriert zu sein (Row & Kahn, 1998) und produktiv für die Gemeinschaft zu wirken (Luoh & Herzog, 2002). Unterschiede zwischen den Geschlechtern können sich zum einen in der Häufigkeit und der Art sozialer Aktivitäten ausdrücken, zum anderen haben verschiedene Studien gezeigt, dass Frauen eher als Männer dazu neigen, sich zu viel zu engagieren und dadurch unter einer Überbelastung zu leiden (Harway & Nutt, 2005). Altersunterschiede könnten Folge sich verringernder Ressourcen im Alter sein, aber auch mit Kohortenunterschieden in den Altersstereotypen zusammenhängen (vgl. Maddox, 1965). Regionale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland könnten auf Kontextfaktoren wie die Verfügbarkeit von Gelegenheiten zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben hinweisen. 74 Soziale Integration und Partizipation 4.6.1 Welche Formen sozialer Netzwerke gibt es? Ein Vorteil der Typenbildung mit Hilfe der latenten Klassenanalyse in diesem Bereich stellt die Möglichkeit dar, kategoriale Merkmalsaspekte, wie beispielsweise die Abgrenzung von Freundesclustern gegenüber Familienclustern, zu integrieren und komplexe Merkmalszusammenhänge vereinfacht darzustellen. Die empirische Forschung legt nämlich die Vermutung nahe, dass bestimmte Merkmalskombinationen kompensatorisch interagieren können (Antonucci, 2001). Die Vorteile eines solchen Verfahrens für die Sozialberichterstattung liegen auf der Hand, denn die Beschreibung von Merkmalstypen ist hochgradig illustrativ und ermöglicht eine holistischere Erfassung der Unterschiede in den persönlichen Netzwerken in der zweiten Lebenshälfte. Die Klassifizierung unterschiedlicher Netzwerktypen erlaubt also die Darstellung der Heterogenität in der Population der Älteren ohne unnötig komplex zu sein. Die Tragfähigkeit eines solchen Ansatzes wird an dem folgenden Beispiel erläutert. Eine latente Klassenanalyse über die erhobenen strukturellen und funktionalen Netzwerkmerkmale5 von 2002 ergab fünf prototypische Klassen, die gemeinsam 96,4% der Zusammenhänge zwischen den Merkmalen erklärten. Die folgenden Klassen sind hinsichtlich der Größe Ihrer Netzwerke geordnet und lassen sich wie folgt beschreiben: 1. Hochintegrierte (25,8% der Stichprobe): Personen in dieser Klasse haben die größten Netzwerke, die sowohl aus Familienangehörigen als auch aus Freunden bestehen. Häufig haben diese Personen mehrere Kinder. Sie leben meistens nicht allein. 2. Familienorientierte (35,4% der Stichprobe) Personen in dieser Klasse haben auch große Netzwerke, die jedoch nahezu ausschließlich aus Familienmitgliedern bestehen. Sie sind verheiratet und haben häufig mehrere Kinder. Sie leben nicht allein. 3. Aktive Alleinlebende (18,5% der Stichprobe) Personen in dieser Klasse haben keinen Partner, aber dennoch mittelgroße Netzwerke und pflegen den Kontakt zu Familienmitgliedern und zu Freunden. Einige haben Kinder. Sie leben jedoch allein. 4. Aktive Paare (11,4% der Stichprobe) Personen in dieser Klasse haben überwiegend keine oder höchstens ein einziges Kind. Sie haben jedoch meistens einen Partner und wohnen über- 5 Die analysierten Merkmale umfassten als Strukturmerkmale Partnerschaftsstatus, Netzwerkgröße, Kinderanzahl, Anzahl von nicht-familiären Kontakten, Haushaltsgröße, Wohnentfernung, Kontakthäufigkeit zur Familie, Kontakthäufigkeit zu Anderen, Vereinsmitgliedschaften und soziale Aktivitäten. Als funktionale Merkmale wurden emotionaler und instrumenteller Support und die Anzahl nahestehender Personen betrachtet. 75 Soziale Integration und Partizipation wiegend mit wenigen Personen zusammen. Sie haben kleine Netzwerke und wenige enge Beziehungen. Sie sind jedoch sozial aktiv und haben relativ viele Freunde in ihrem sozialen Netz. 5. Isolierte (8,9% der Stichprobe) Personen in dieser Klasse haben oft keinen Partner, keine Kinder und keine Freunde. Sie haben die kleinsten sozialen Netzwerke und sehr wenige enge Bindungen. Aus den Prozentangaben hinter den Klassenbeschreibungen wird ersichtlich, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in der zweiten Lebenshälfte gut sozial integriert war. Abbildung 4-1 veranschaulicht die prozentualen Anteile der Netzwerkprototypen in drei Altersgruppen. Abbildung 4-1: Netzwerktypen in drei verschiedenen Altersklassen Abbildung 4-1 zeigt, dass sich die Anzahl der Hochintegrierten – vermutlich bedingt durch Mortalität und Verlust individueller Ressourcen (z.B. Gesundheit) – über die Altersgruppen verringert, während sich der Anteil der Isolierten im Alter erhöht. Bei den Gruppen der Familienorientierten zeigt sich nur eine geringe Abnahme und bei den Aktiven Paaren gibt es kaum nennenswerte Altersunterschiede. Der Anteil der Aktiven Alleinlebenden erhöht sich vermutlich durch Verwitwung im höchsten Erwachsenenalter. 4.6.2 Wie integriert fühlen sich die Menschen in der zweiten Lebenshälfte? Aus der psychologischen Forschung ist hinlänglich bekannt, dass nicht allein die objektiven Vorrausetzungen für den Grad der erlebten sozialen Integration verantwortlich sind. In die subjektive Beurteilung fließen auch Persönlichkeitsunterschiede und Unterschiede in den Zielen und Werthaltungen mit ein. Aus diesem Grund werden in Anlehnung an das im Kapitel 1 vorgestellte Konzept der Le- 76 Soziale Integration und Partizipation bensqualität sowohl die bereichsspezifischen Evaluationen untersucht als auch der Grad der Einsamkeit differenziert betrachtet. Ein weiterer Schwerpunkt wird darin liegen zu untersuchen, ob unterschiedliche Formen sozialer Netzwerke mit unterschiedlichen Bewertungen assoziiert sind. Dabei wird besonderen Wert darauf gelegt zu eruieren, ob sich stärker familial ausgerichtete Netzwerke und andere Netzwerke in Bezug auf die erlebte Einsamkeit unterscheiden. 4.6.3 Wer ist ehrenamtlich engagiert? Es wurde bereits mehrfach ausgeführt, wie wichtig die Partizipation der Älteren im Allgemeinen und das ehrenamtliche Engagement im Besonderen sind. Aus diesen Gründen ist es unerlässlich, auch für das Jahr 2008 zu untersuchen, wie viele Menschen sich in der zweiten Lebenshälfte engagieren und ob das Engagement sozial ungleich verteilt ist. Aus der individuellen Perspektive des älter werdenden Menschen stellt sich jedoch vermutlich weniger die Frage nach den Determinanten einer aktiven Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, sondern es treten vielmehr Aspekte von Motivlagen und, damit verbunden, von spezifischen individuellen Erträgen in den Vordergrund. Jedoch sind gerade diese Motivlagen im Bereich des Engagements noch wenig untersucht, obwohl sie sicherlich einen starken Anteil an der persönlichen Entscheidung haben, sich zu engagieren. Aus diesen Gründen werden wir im Bereich des Engagements untersuchen, welche Gründe es gibt, sich nicht zu engagieren, ob hier strukturelle oder persönliche Faktoren entscheidend sind und in welchen Bereichen sich Personen gerne mehr engagieren würden. 4.6.4 Zeigt sich in den letzten 6 Jahren eine zunehmende Pluralisierung von Netzwerken? Auch diese Analysen werden auf der Klassifizierung der Netzwerktypen fußen. Zunächst muss überprüft werden, ob sich die gleiche Anzahl und die gleichen Arten von Netzwerktypen 2002 und 2008 finden lassen oder ob es zur Herausbildung neuer Prototypen gekommen ist. Doch selbst wenn die Netzwerktypen über die Zeit stabil geblieben sein sollten, ist anzunehmen, dass sich die prozentuale Verteilung der Typen in der älteren Bevölkerung verändert hat. Man kann davon ausgehen, dass sowohl die Anzahl von Menschen, die objektiv gut integriert sind, als auch die Anzahl von nicht primär familiär geprägten Netzwerken zugenommen hat. 77 Soziale Integration und Partizipation 4.6.5 Sind nachfolgende Generationen im Alter besser sozial integriert? Letztlich lässt sich mit der Analyse der Veränderungen in den Netzwerktypen im sozialen Wandel auch ein Teil der Frage beantworten, ob nachfolgende Generationen im Alter besser sozial integriert sind. Doch schlussendlich muss diese Frage vom persönlichen Erleben der Befragten her evaluiert werden, denn es ist durchaus möglich, dass sich zwar die objektive Vernetzung der Menschen in der zweiten Lebenshälfte verbessert hat, dass aber im gleichen Zeitraum die individuellen Ansprüche an ein soziales Netz gestiegen sind. Der Vergleich der erfahrenen Einsamkeit in den Jahren 2002 und 2008 kann hierüber Auskunft geben. 4.6.6 Haben Mitgliedschaften und ehrenamtliches Engagement zugenommen? Die Analysen sollen sich in diesem Bereich auf Mitgliedschaften und ehrenamtliche Funktionen in Organisationen oder Vereinen beschränken, da informelle Hilfe- und Unterstützungsleistungen, wie etwa Transfers innerhalb der Familie oder die Betreuung von Enkelkindern, im Kapitel 2 zum Thema Generationenbeziehungen ausführlich behandelt werden. Ausgehend von den Befunden zu Prädiktoren ehrenamtlichen Engagements sollten angesichts der besseren Ressourcenlage der heutigen Älteren die Anzahl von Mitgliedschaften und die Quoten des ehrenamtlichen Engagements insgesamt zunehmen. Eine Veränderung ist darüber hinaus in den Bereichen des Engagements anzunehmen. So wird häufig ein Wandel weg von klassischen Tätigkeiten für andere (also ein Engagement im Rahmen traditioneller Institutionen, z.B. Wohlfahrtsverbände), hin zu stärker am eigenen Nutzen orientierten Tätigkeiten konstatiert (z.B. Sportvereine). Nachdem in der zweiten Welle des Alterssurveys der Anteil der Engagierten in spezifisch an Ältere oder Ruheständler gerichteten Gruppen überraschend klein war, wäre zu vermuten, dass – im Sinne einer zunehmenden Interessenvertretung – die Anteile in diesem Bereich ansteigen. 4.7 Vertiefende Analyseperspektiven des Berichts Die Sichtung der Literatur zum Thema Integration und Partizipation älterer Menschen weist trotz intensiver Forschung in diesem Bereich einige Lücken auf. Es ist die breite wissenschaftliche Überzeugung in diesem Themenbereich, dass die Periode des Alters, meistens definiert als Zeitspanne des Lebens nach dem Übergang in den Ruhestand, hauptsächlich durch zunehmende Verluste in der sozialen Integration gekennzeichnet ist, die letztlich in einer Konzentration auf wenige enge Beziehungen, insbesondere Familienbeziehungen, münden. Die Disengagement und sozio-emotionale Selektivitätstheorie implizieren beide, dass diese generelle Entwicklung adaptiv sei, und zwar in dem Sinne, dass sie einer Aufrechterhaltung des subjektiven Wohlbefindens Vorschub leistet. Diese bei- 78 Soziale Integration und Partizipation den Annahmen sind von verschiedenen Blickwinkeln her kritisierbar. Denn zum einen verstellen solche pauschalisierten, mittelwertbezogenen Annahmen den Blick auf die Heterogenität von sozialen Netzwerken und Partizipationsformen älterer Menschen und wiedersprechen somit der Realität des differentiellen Alters. Zum anderen erhöhen sie die Gefahr einer normativen Überfrachtung durch eine Überbetonung familiärer Bindungen. Aus diesem Grunde werden die vertiefenden Analysen im Kontext des Deutschen Alterssurveys (DEAS) einem breiteren Ansatz folgen. 4.7.1 Dynamische Analysen Längsschnittliche altersabhängige Veränderungen können in verschiedenen Netzwerkaspekten verschieden stark ausfallen (siehe Huxhold & Fiori, in Vorbereitung). Im Bereich des Engagements können solche Veränderungen entweder über die Aufnahme oder Aufgabe von Tätigkeiten oder über steigende oder nachlassende zeitliche Intensitäten bei verschiedenen Tätigkeiten definiert werden. Zur Zeit wird zumindest die psychologische Diskussion von Alterseffekten in sozialen Netzen immer noch von theoretischen Überlegungen dominiert, die sich entweder aus der Disengagement- oder Aktivitätstheorie herleiten oder durch Vorstellungen der sozio-emotionalen Selektivität bestimmt sind (z.B., Wahl, Diehl, Kruse, Lang, & Martin, 2008). Aber auch im Bereich der Altersentwicklung des sozialen Engagements spielen diese Theorien international eine überraschend große Rolle (vgl. Okun & Schulz, 2003; Windsor, Anstey, & Rodgers, 2008). Sowohl die Disengagement als auch die Aktivitätstheorie sehen im Übergang in den Ruhestand ein einschneidendes Ereignis, dass sich direkt negativ auf die gesellschaftliche Teilhabe Älterer auswirkt. Jedoch besagt die Disengagementthese, dass der Rückzug aus der Gesellschaft der adaptive Weg zu Altern sei, wohingegen die Aktivitätstheorie vorhersagt, dass dem Rollenverlust durch den Übergang in den Ruhestand durch Intensivierung anderer Aktivitäten begegnet werden müsse. Die sozio-emotionale Selektivitätstheorie wiederum besagt, dass erfolgreiches Altern in der Konzentrierung auf emotional bedeutsame, zeitlich naheliegende Ziele bestünde. In ähnlicher Weise argumentierten Windsor und Kollegen (2008), dass die Aufnahme ehrenamtlichen Engagements gerade diesen Zielen dienlich sein dürfte und verwiesen auf eine Studie von Hendricks und Cutler (2004), die zeigte, dass sich die Anzahl der Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen bis zu einem Alter von 80 Jahren kontinuierlich verringere, sich jedoch die aufgewandte Zeit im Engagement im gleichen Zeitraum kontinuierlich erhöhe. Den Ansätzen des Disengagements, der Aktivität und der sozio-emotionalen Selektivität ist gemein, dass sie die Integration im Alter primär unter der Perspektive sich verringernder Ressourcen betrachten. Der Gewinn an Ressourcen – zumindest der Gewinn an freier Zeit – den der Übergang in den Ruhestand mit sich bringt und der unter dem Begriff 79 Soziale Integration und Partizipation ”späte Freiheit‛ von Rosenmayr (1983) thematisiert wird, findet hier keine Berücksichtigung. Innerhalb der Betrachtung kann nicht a priori von einer linearen Verringerung der sozialen Integration ausgegangen werden. Es wird vielmehr postuliert, dass große interindividuelle Unterschiede in den Verläufen existieren. Hierbei erscheint es wahrscheinlich, dass zumindest eine Teilgruppe einen invertierten U-förmigen Verlauf aufweisen wird. Bei dieser Gruppe wird der Ausstieg aus dem Berufsleben als Freisetzung von Ressourcen (Freizeit) erlebt, der positiv für die Entwicklung der eigenen sozialen Eingebundenheit genutzt wird. Doch auch bei diesen Personen wird die einsetzende Seneszenz im späteren Altersverlauf zu einer Verringerung struktureller Netzwerkaspekte und dem Grad des Engagements führen. Auf der anderen Seite jedoch erzeugen soziale Netze und Aktivitäten Ressourcen, die wiederum für die Aufrechterhaltung der Integration genutzt werden können. Sie stellen also möglicherweise gerade die Mittel dar, um sich den altersbedingten Veränderungen anzupassen. Wie aus der Argumentation deutlich wird, ist die Entwicklung sozialer Integration im höheren Erwachsenenalter am besten als eine dynamische Interaktion von Ressourcen und verschiedenen Integrations- und Partizipationsaspekten zu konzeptionalisieren. Mit der dritten Welle des DEAS steht die Datengrundlage zur Verfügung, die relativen Einflussstärken dieser Wechselwirkungen zu untersuchen. 4.7.2 Die Interaktion verschiedener Netzwerkaspekte mit multiplen adaptiven Outcomes Unter dieser Perspektive werden die Konsequenzen von altersbedingten Veränderungen in verschiedenen Aspekten sozialer Beziehungen und des Engagements in Bezug auf verschiedene Aspekte der Lebensqualität untersucht. In einer ersten Studie (Huxhold & Fiori, in Vorbereitung) wurden hierzu 1048 Erwerbstätige (Alter: M = 49,43 Jahre) mit 1421 Menschen im Ruhestand (Alter: M = 71,98 Jahre) verglichen. Im Einklang mit der bestehenden Literatur war der Übergang in den Ruhestand stärker mit Verlusten in den Netzwerkgrößen und der Anzahl der Aktivitäten assoziiert als mit Verlusten in der qualitativen Unterstützung. Strukturgleichungsmodelle zeigten, dass qualitative Unterstützung stärker das soziale Wohlbefinden beeinflusste als Aktivitäten, diese hingegen stärker als qualitative Unterstützung die geistige Fitness beeinflussten. Auch nach Kontrolle des Alters war der Einfluss der qualitativen Unterstützung stärker in der Gruppe der Ruheständler als in der Gruppe der Erwerbstätigen. Diese ersten Ergebnisse betonen die Wichtigkeit, alle Facetten sozialer Netzwerke zu betrachten und den Einfluss des individuellen Kontextes zu berücksichtigen, um ein umfassendes Verständnis für den Einfluss sozialer Integration auf die Prozesse des Älterwerdens zu verstehen, denn aus diesen Ergebnissen wird 80 Soziale Integration und Partizipation ersichtlich, dass unterschiedliche Netzwerkaspekte selektive Einflüsse auf unterschiedliche Entwicklungsziele haben. 4.7.3 Einflüsse von Werthaltungen auf die Entwicklung sozialer Integration Da in der psychologischen Altersforschung bislang die Annahme vorherrschte, dass die graduelle Entwicklung von einer allmählichen Aufgabe peripherer Beziehungen und einer Konzentration auf die emotional bedeutsamen sozialen Beziehungen ein allgemein gültiges adaptives Modell der Entwicklung sozialer Integration im Alter darstellt, sind differenzielle Analysen, die Unterschiede in den Motivlagen und oder Werthaltungen der Älteren berücksichtigen, im Gesamtdiskurs eher die Ausnahme. Im Kontext des DEAS wird versucht werden, diese Lücke ein Stück weit zu schließen. In diesem Zusammenhang wird sich ein Analyseprojekt auf die Einflüsse der individuellen Vorstellungen vom eigenen Älterwerden auf die Entwicklung sozialer Netze konzentrieren. Es hat sich gezeigt, dass ein positives Bild vom eigenen Älterwerden positive Effekte auf die Gesundheit hat, welche über ein besseres Gesundheitsverhalten vermittelt werden (Wurm, Tesch-Römer & Tomasik, 2007). In ähnlicher Form kann man davon ausgehen, dass ein positiveres Bild der Entwicklung sozialer Beziehungen im Alter dazu führt, sich häufiger auf soziale Interaktionen einzulassen, die wiederum in einer Verbesserung der sozialen Integration münden. Erste Analysen mit den Daten der ersten beiden Wellen deuten einen solchen Zusammenhang an. Ein anderes Projekt wird sich in eher explorativer Form dem Einfluss von allgemeinen Werthaltungen – so wie beispielsweise einer humanistischen Wertorientierung – auf die Übernahme von Ehrenämtern im Ruhestand widmen. Eine besondere Schwierigkeit bei diesen Verfahren ist, dass die Gruppe der Engagierten positiv selektiert ist und in dieser Analyse insbesondere der Bildungsgrad und andere Merkmale des sozio-ökonomische Status konfundierende Variablen darstellen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, wird eine zweite Gruppe, die der Gruppe der Engagierten auf den relevanten Statusvariablen gleicht, mit Hilfe von Matchingverfahren als Kontrastgruppe ausgewählt werden, um zu eruieren, ob sich Engagierte und Nichtengagierte hinsichtlich ihrer Werthaltungen unterscheiden. In diesem Kontext werden auch die Gründe für ein fehlendes Engagement untersucht werden. Literatur Antonucci, T. C. (2001). Social relations: An examination of social networks and social support, and sense of control. 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Gesundheit Susanne Wurm, Ina Schöllgen, Maja Wiest & Clemens Tesch-Römer Inhalt 5.1 Einleitung ....................................................................................... 84 5.2 Gesundheitliche Veränderungen in der zweiten Lebenshälfte .......... 87 5.3 Gesundheitsförderliche und -schädigende Faktoren in der zweiten Lebenshälfte .................................................................................. 89 Sozioökonomischer Status .................................................................... 89 Gesundheitsverhalten und Vorsorgemaßnahmen................................ 90 Psychische Ressourcen.......................................................................... 91 Individuelle Altersbilder und Gesundheit ............................................. 92 Die Wechselwirkung verschiedener Faktoren ...................................... 93 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 Gesundheit im sozialen Wandel: Morbiditätsexpansion vs. Morbiditätskompression ................................................................ 94 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 Auswertungsplanungen .................................................................. 95 Wie ist die Gesundheit von Menschen in der zweiten Lebenshälfte? .. 95 Kommen nachfolgende Geburtskohorten gesünder ins Alter? ............ 97 Artikelplanungen im Themenbereich Gesundheit ................................ 98 Literatur .................................................................................................. 98 5.1 Einleitung Wird über ”Gesundheit‛ gesprochen, weiß zunächst jeder, was damit gemeint ist. Welche unterschiedlichen Gesundheitsaspekte lassen sich hierbei unterscheiden und welche Rolle spielen diese in der zweiten Lebenshälfte? Dies wird einleitend kurz skizziert, um die Vielfalt und Breite des Konzeptes aufzuzeigen. Zur Definition dessen, was unter Gesundheit zu verstehen ist, wurden lange Zeit ausschließlich medizinisch-naturwissenschaftliche Gesundheitsmodelle herangezogen. Im Mittelpunkt dieser Modelle stehen Krankheiten. Deren Ursachen werden auf Störungen biochemischer und neurophysiologischer Prozesse zurückgeführt. Entsprechend werden hierbei mehrere Gesundheitskriterien unterschieden: Morbidität (Vorliegen körperlicher oder psychischer Erkrankungen) Funktionelle Einschränkungen (Vorliegen einer Beeinträchtigung infolge von körperlicher, mentaler oder Sinnesschädigung) 84 Gesundheit Behinderungen Lebenserwartung und Mortalität Diese medizinische Sichtweise wurde von der Weltgesundheitsorganisation durch ein interdisziplinär orientiertes Gesundheitskonzept erweitert (WHO, 1986). Dieses enthält ergänzend die Konzepte der subjektiven Gesundheit (Bewertung der eigenen Gesundheit) sowie der aktiven (behinderungsfreien) Lebenserwartung. Letzterem liegt die Annahme zugrunde, dass sich Erfolge von Prävention und Behandlung im Hinausschieben von Behinderungen widerspiegeln, Erkrankungen also nicht notwendigerweise zu Behinderungen führen. Während herkömmlichen medizinischen Modellen eine eindimensionale Vorstellung von ”gesund‛ versus ”krank‛ zugrunde liegt, gehen neuere Modelle von einem mehrdimensionalen Konzept von Gesundheit aus, das neben der Krankheit selbst auch das subjektive Erleben sowie die soziale Teilhabe einbezieht. Wo sich eine Person auf diesem mehrdimensionalen Gesundheitskontinuum befindet, hängt hierbei nicht allein vom medizinisch messbaren Gesundheitszustand, sondern zugleich von den Kontextfaktoren ab, das heißt, von den fördernden oder beeinträchtigenden Merkmalen der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Welt. Ein solcher Ansatz findet sich im aktuellen Gesundheitsmodell der Weltgesundheitsorganisation, der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; WHO, 2002). Im Gegensatz zu älteren Gesundheitsmodellen wie der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH), oder dem Modell des Behinderungsprozesses (Verbrugge & Jette, 1994) beschreibt es nicht den Entstehungsprozess von Behinderung, sondern die dynamische und komplexe Wechselwirkung zwischen verschiedenen Gesundheitskomponenten. Wie aus Abbildung 5-1 ersichtlich ist, wird angenommen, dass die Funktionsfähigkeit nicht allein vom Ausmaß eines Gesundheitsproblems (z.B. Krankheit, Gesundheitsstörung, Verletzung, Trauma) abhängt, sondern von der Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem und den jeweiligen Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personalen Faktoren). Drei Ebenen der Funktionsfähigkeit werden hierbei unterschieden: (1) ”Struktur und Funktion von Körperteilen‛ bezieht sich auf die Funktionsfähigkeit des Körpers, beispielsweise der Atemorgane, der Sinnesorgane und der Extremitäten. (2) ”Aktivität‛ bezieht sich auf die Fähigkeit, Aufgaben oder Handlungen durchzuführen. (3) ”Partizipation‛ meint schließlich die soziale Teilhabe an Lebenssituationen. 85 Gesundheit Als Behinderung wird hierbei jede Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit verstanden. Der Behinderungsbegriff ist damit umfassender als jener des SGB IX. Hierbei gilt als Behinderung, wenn eine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und die soziale Teilhabe beeinträchtigen (§2 I SGB IX). Abbildung 5-1: Das Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; WHO, 2002) Die subjektive Gesundheit ist im ICF-Modell nicht explizit mit dargestellt, sollte jedoch in ihrer Wichtigkeit nicht unterschätzt werden. Die subjektive Gesundheit, d. h. die Bewertung des eigenen Gesundheitszustands, hat gegenüber objektiven, medizinischen Gesundheitsinformationen einen eigenständigen Erklärungswert. Deutlich wird dies daran, dass subjektive Gesundheitseinschätzungen nur mittlere Zusammenhänge zu Morbidität, funktionaler Gesundheit und Depressivität aufweisen (Pinquart, 2001). Dabei sinkt der Zusammenhang zwischen subjektiver Gesundheit und objektiven Gesundheitsindikatoren mit steigendem Lebensalter. Die große Bedeutung der subjektiven Gesundheit wird besonders anhand zahlreicher Studien deutlich, die zeigen konnten, dass die subjektive Gesundheit besser Mortalität bzw. Langlebigkeit vorhersagen kann als der objektive Gesundheitszustand (für einen Überblick: DeSalvo, Bloser, Reynolds, He, & Muntner, 2006; Idler & Benyamini, 1997). Die subjektive Gesundheitseinschätzung und der objektive Gesundheitszustand sind zentrale Bestandteile guten Lebens. Altern wird jedoch oftmals mit Krankheiten und Behinderungen gleichgesetzt. Dies macht deutlich, dass die gesund- 86 Gesundheit heitsbezogene Lebensqualität mit steigendem Alter als zunehmend gefährdet angesehen wird. 5.2 Gesundheitliche Veränderungen in der zweiten Lebenshälfte In der ersten Lebenshälfte ist eine gute Gesundheit oftmals selbstverständlich, und Krankheiten sind überwiegend temporärer Art. Ab einem Alter von rund 40 Jahren verändert sich das Krankheitsgeschehen: die Dauer und Schwere von Erkrankungen nimmt zu. Damit zusammenhängend steigt ab dem mittleren Erwachsenenalter auch die Anzahl gleichzeitig bestehender Erkrankungen (Multimorbidität), die Medikamenteneinnahme sowie die Mortalität merkbar an. Für die Veränderung des Krankheitsgeschehens sind mehrere Faktoren verantwortlich (vgl. Schwartz, Bandura, Leidl, Raspe, & Siegrist, 1998): Altersphysiologische Veränderungen von Organen und Organsystemen Lange Latenzzeit (symptomlose Zeit) mancher Krankheiten (z.B. einiger Krebserkrankungen) Mitalternde Krankheiten, die bereits im jüngeren Alter bestanden, zu dieser Zeit aber vergleichsweise geringfügige Beschwerden verursachten (z.B. Arthrosen) Jahre- oder jahrzehntelange Exposition verschiedener Risikofaktoren (z.B. Lärm, Gifte, Rauchen). Altersphysiologische Veränderungen finden in zahlreichen Organen und Organsystemen statt (z.B. Aldwin & Levenson, 2001; Merrill & Verbrugge, 1999) und erhöhen als Risikofaktoren die Vulnerabilität gegenüber Krankheiten. So geht beispielsweise eine Abnahme von Muskelkraft und Knochendichte mit erhöhtem Risiko von Knochenbrüchen und Osteoporose einher, während die Verringerung von Herzschlagvolumen und Arterienelastizität das Risiko von kardiovaskulären Erkrankungen (Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall) erhöht. Hormonelle Veränderungen (u.a. Abnahme von Sexualhormonen, Insulin) erhöhen beispielsweise das Risiko, an Diabetes Typ II zu erkranken; bei Frauen steigt das Risiko von Brust- und Gebärmutterkrebs. In Übereinstimmung mit den beschriebenen Veränderungen zeigen Daten der Todesursachen- und Krankenhausstatistik, dass besonders Herz-Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen sowie Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems ab dem mittleren Erwachsenenalter zunehmend verbreitet sind. Hinsichtlich psychischer Erkrankungen stehen in der zweiten Lebenshälfte Depressionen und demenzielle Erkrankungen im Vordergrund. Depressionen bilden ein Kontinuum von leichten Verstimmungen bis hin zu schweren Störungen. Epidemiologische Daten geben keinen Hinweis darauf, dass mit steigendem Al- 87 Gesundheit ter schwere Depressionen zunehmen, vielmehr liegt die höchste Prävalenzrate (9,8%) im Alter zwischen 40 und 49 Jahren (Wittchen & Jacobi, 2006). Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass zumindest leichte depressive Symptome im höheren Lebensalter mit einer Prävalenz von etwa 20 Prozent recht verbreitet sind (Helmchen, Baltes, Geiselmann, & Kanowski, 1996). Demenzielle Erkrankungen beginnen erst im hohen Alter eine zunehmend größere Rolle zu spielen. Während die Prävalenzrate von Demenzerkrankungen bei 65- bis 69Jährigen noch bei 1,2 Prozent liegt, steigt sie ab einem Alter von 80 Jahren auf über 10 Prozent an (Bickel, 2002). Mit dem Alter wächst zudem die Wahrscheinlichkeit, dass sich gesundheitliche Veränderungen nicht nur zu Krankheiten entwickeln, sondern auch die körperliche Funktionsfähigkeit beeinträchtigen und schließlich zu Behinderungen führen können. Der Hilfe- und Pflegebedarf steigt jedoch erst im hohen Alter deutlich an. Von den 85-Jährigen und Älteren sind 37 Prozent pflegebedürftig (Statistisches Bundesamt, 2008). In Deutschland ist die bevölkerungsrepräsentative Datenlage zum Gesundheitszustand älterer Menschen insgesamt weiterhin noch recht dünn. Neben den Daten des Bundes-Gesundheitssurveys aus dem Jahr 1998 (Altersgruppen 18 bis 79 Jahre) gibt es aktuelle, bundesweit repräsentative Surveys wie den Mikrozensus und das Sozio-ökonomische Panel. Diese erfassen den Gesundheitszustand allerdings nur sehr knapp. Aus diesem Grund werden oftmals weiterhin die Prävalenzdaten der Berliner Altersstudie herangezogen, obwohl diese Daten bereits Anfang der 1990er Jahre erhoben wurden und auf einer regionalen Westberliner Stichprobe beruhen. Erste Daten der geplanten Helmholtz-Kohorte sind erst in etlichen Jahren zu erwarten (voraussichtlicher Beginn der Datenerhebung ist 2012) und werden den bisherigen Planungen zufolge auf Personen bis 69 Jahre begrenzt sein. Daten des Ende 2008 neu angelaufenen BundesGesundheitssurveys 2008 werden ebenfalls erst in einigen Jahren vorliegen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, eine ergänzende Alters-Gesundheitsberichterstattung auf der Grundlage des Deutschen Alterssurveys vornehmen zu können. Die Datenlage zur Analyse von individuellen Gesundheitsveränderungen ist ebenfalls sehr begrenzt. Hier sind ergänzend die Daten der europäischen SHARE-Studie zu nennen, die derzeit über zwei Wellen hinweg (2004 und 2006/07) für rund 1500 deutsche Personen (ab 50 Jahren) Längsschnittdaten zur Gesundheit liefert. Vor diesem Hintergrund stellt der Alterssurvey eine wichtige Datengrundlage dar, mittels derer drei Analyseperspektiven verfolgt werden können: (1) die Beschreibung des Gesundheitszustandes älterer und alter Personen, (2) die Analyse des sozialen Wandels und damit der Frage, ob nachfolgende Geburtskohorten mit einer besseren oder schlechteren Gesundheit ins Alter kommen sowie (3) die Untersuchung von Faktoren, die zu einem Altern in mög- 88 Gesundheit lichst guter Gesundheit und hoher Selbstständigkeit beitragen. Anhand der Längsschnittdaten über 6 bzw. 12 Jahre können hierbei längerfristige Entwicklungen nachgezeichnet werden. 5.3 Gesundheitsförderliche und -schädigende Faktoren in der zweiten Lebenshälfte Genetische Faktoren können Schätzungen zufolge weniger als die Hälfte der Varianz in Krankheiten und Mortalität erklären (McClearn & Heller, 2000). Damit entscheiden die äußeren Lebensbedingungen und der individuelle Lebensstil wesentlich mit darüber, wann und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beeinträchtigungen auftreten und zu Behinderungen führen. Dies macht deutlich, dass erhebliche Präventionspotenziale bestehen und zwar sowohl im Sinne der Verhältnis- als auch der Verhaltensprävention. Das im Abschnitt 5.1 dargestellte ICF–Modell berücksichtigt verschiedene Kontextfaktoren, welche die Gesundheit beeinflussen. Diese werden grob in Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren unterteilt. Umweltfaktoren schließen dabei Aspekte der physischen Umwelt (z. B. bauliche Umgebung, Infrastruktur) und der sozialen Umwelt (z. B. soziale Unterstützung, gesetzliche Regelungen) ein. Eine Beschreibung einiger Umweltfaktoren findet sich in den Kapiteln 10 und 4 zu den Themen ”Wohnen‛ und ”Soziale Integration und Partizipation‛. Zu den personbezogenen Faktoren werden sozioökonomische Faktoren (Bildung, Beruf, Einkommen), psychische Faktoren und das Gesundheitsverhalten gezählt. Diese personbezogenen Faktoren werden im Folgenden näher beschrieben. 5.3.1 Sozioökonomischer Status Ein konsistenter Befund der epidemiologischen und medizinsoziologischen Forschung ist, dass ein niedriger sozioökonomischer Status (Bildung, Einkommen, Vermögen, Beruf) mit einer schlechteren Gesundheit einhergeht (z.B. Adler et al., 1994; Mackenbach & Kunst, 1997; Marmot, Ryff, Bumpass, Shipley, & Marks, 1997). Es gibt unterschiedliche Annahmen dazu, wie sich der Zusammenhang zwischen SÖS und Gesundheit im Laufe des Lebens verändert (vgl. Kpaitel 1 ”Wandel von Lebensqualität und Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte‛). Vertreter der Kumulationsthese (z.B. Dannefer, 1987; Ross & Wu, 1996) gehen davon aus, dass dieser Zusammenhang mit steigendem Alter zunimmt und führen dies auf die ungleich verteilte Kumulation von Risiken und Ressourcen über die Lebensspanne zurück. Konträr dazu steht die Destrukturierungsthese, welche von einem abnehmenden Einfluss des SÖS auf die Gesundheit im Alter ausgeht. Faktoren wie die Beendigung ungleicher Arbeitsbedingungen durch den Übergang in den Ruhestand und der mit steigendem Alter zu- 89 Gesundheit nehmende Einfluss biologischer Faktoren spielen hierbei eine Rolle (Herd, 2006). Auch der Einfluss selektiver Mortalität wird zunehmend diskutiert. Wenn nur jene Personen niedriger Statusgruppen ein hohes Alter erreichen, welche eine besonders hohe Widerstandsfähigkeit aufweisen, kann dies zum Befund einer abnehmenden Ungleichheit im Alter führen (Lynch, 2003). Schließlich gibt es auch die Annahme, dass der Zusammenhang zwischen SÖS und Gesundheit in der zweiten Lebenshälfte durch Kontinuität gekennzeichnet ist, welche durch äußere Umstände (Erhalt der Einkommensposition durch Alterssicherung) und eine fortdauernde innere Wirksamkeit von Ungleichheitserfahrungen bedingt wird (O'Rand & Henretta, 1999). Bisherige Studien hierzu erbrachten inkonsistente Befunde (z.B. Beckett, 2000; Herd, 2006; Kim & Durden, 2007). Teilweise liegt dies vermutlich in der Nutzung unterschiedlicher Indikatoren. Des weiteren spielen Länderunterschiede im Gesundheitssystem und im Ausmaß sozialer Ungleichheit eine Rolle. Viele Befunde stammen aus den USA und Großbritannien. Es ist offen, ob sich diese auch auf Deutschland übertragen lassen, da hier diese Frage kaum untersucht wurde (siehe jedoch Knesebeck, Lüschen, Cockerham, & Siegrist, 2003; Lampert, 2000). 5.3.2 Gesundheitsverhalten und Vorsorgemaßnahmen Über die gesamte Lebensspanne bis ins hohe Alter sind verschiedene gesundheitsförderliche und –schädigende Verhaltensweisen für das Auftreten und die Ausprägung von Erkrankungen wichtig. Dies soll im Folgenden anhand der Faktoren Rauchverhalten und körperliche Aktivität veranschaulicht werden. Zugleich spielt die Krankheitsfrüherkennung eine wichtige Rolle für den Verlauf und die Schwere von Erkrankungen. Rauchen verkürzt die allgemeine und behinderungsfreie Lebenserwartung. Dies liegt unter anderem daran, dass Rauchen die Wahrscheinlichkeit von HerzKreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen erhöht. Je früher eine Person mit dem Rauchen aufhört, desto höher sind die Gewinne in der Lebenserwartung. Aber auch Personen, die erst im Alter von 65 Jahren mit dem Rauchen aufhören, haben eine bis zu vier Jahre höhere Lebenserwartung als jene, die weiterhin rauchen (Taylor, Hasselblad, Henley, Thun, & Sloan, 2002). Ebenso hat körperliche Aktivität bis ins hohe Alter ein erhebliches Präventionspotenzial, da sie unter anderem vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und demenziellen Erkrankungen schützen kann. Sie wirkt dem altersabhängigen Rückgang von Muskelmasse entgegen und beugt damit sturzbedingten Verletzungen vor; diese sind im Alter oftmals der Beginn von Behinderung und damit einhergehender dauerhafter Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit. Personen, die mit 65 Jahren regelmäßig körperlich aktiv sind, haben eine bis zu sechs Jahre höhere Le- 90 Gesundheit benserwartung als körperlich inaktive Personen (Ferrucci et al., 1999). Bei älteren Personen ist körperliche Aktivität jedoch wenig verbreitet (Wurm & TeschRömer, 2005). Fast 85 Prozent aller Schlaganfälle und rund drei Viertel aller Krebserkrankungen treten nach dem 60. Lebensjahr auf. Daher nimmt mit steigendem Lebensalter die Bedeutung von Früherkennung und krankheitsspezifischer Prävention zu. Eine Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen und Diabetes mellitus erfolgt im Rahmen von Gesundheitsuntersuchungen. Diese werden allerdings bisher nur von 21 Prozent der 65- bis 69-Jährigen in Anspruch genommen. Krebsfrüherkennungsuntersuchungen erfolgen mit steigendem Alter zunehmend seltener (Saß, Wurm, & Ziese, im Druck). Die Daten des Alterssurveys ermöglichen neben einer Deskription des Gesundheitsverhaltens älterer Menschen auch die Betrachtung von Faktoren, die zu einem günstigen Gesundheits- und Vorsorgeverhalten beitragen. Zu solchen Faktoren zählen neben dem sozioökonomischen Status verschiedene psychische Ressourcen sowie individuelle Altersbilder. 5.3.3 Psychische Ressourcen Der Begriff ”psychische Ressourcen‛ ist sehr breit, und es liegen viele unterschiedliche Konzeptualisierungen vor. Nach Hobfoll (2002) stellen Kontrollüberzeugungen bzw. Selbstwirksamkeit, Optimismus und Selbstwert zentrale psychische Ressourcen dar, wobei zunehmend hinterfragt wird, inwiefern diese voneinander unabhängig sind. Was die Wirkmechanismen psychischer Ressourcen auf die Gesundheit betrifft, wird angenommen, dass einerseits physiologische Prozesse eine Rolle spielen, andererseits psychische Ressourcen vermittelt über das Gesundheitsverhalten auf die Gesundheit wirken. Kontrollüberzeugungen, d.h. die Möglichkeiten bzw. Fähigkeiten, sein Leben selbst zu beeinflussen, weisen positive Zusammenhänge zu Gesundheitsindikatoren auf, darunter funktionale Gesundheit, subjektive Gesundheit und Mortalität (McKean Skaff, 2007; Ross, Mirowsky, & Delamater, 2003; Seeman & Seeman, 1983). Auch Optimismus, d.h. die Erwartung positiver Ergebnisse, hat nachweislich eine positive Wirkung auf die körperliche Funktionsfähigkeit und subjektive Gesundheit älterer Menschen (z.B. Steptoe, Wright, Kunz-Erbrecht, & Iliffe, 2006). Während bekannt ist, dass ein hohes Selbstwertgefühl mit einer besseren psychischen Gesundheit einhergeht, ist die Auswirkung auf die körperliche Gesundheit weniger gut erforscht (Baumeister, Campbell, Krueger, & Vohs, 2003). Auch Bewältigungsmechanismen sind wichtig für die Gesundheit, wobei Bewältigung ganz allgemein als Umgang mit Ist-Soll-Diskrepanzen verstanden werden 91 Gesundheit kann. Hierbei lassen sich Mechanismen, die eine aktive Veränderung des IstZustandes herbeiführen (primäre Kontrolle, Assimilation) von solchen Mechanismen unterscheiden, die auf eine Anpassung des Soll-Zustandes im Sinne einer Veränderung von Ansprüchen und Zielen fokussieren (sekundäre Kontrolle, Akkommodation; Brandtstädter & Renner, 1990; Heckhausen & Schulz, 1995). Mit steigendem Alter nehmen aufgrund irreversibler Verluste und einer limitierten Zeitperspektive oftmals akkommodative Prozesse zu. Subjektives Wohlbefinden und persönliche Zufriedenheit werden von der Gesundheit und den Lebensumständen einer Person beeinflusst. Lange wurde Wohlbefinden vor allem als Ergebnis guter Lebensumstände betrachtet (vgl. Diener & Lucas, 1999). In der neueren Wohlbefindens-Forschung wird ergänzend betrachtet, inwieweit das subjektive Wohlbefinden selbst als psychische Ressource verschiedene Lebensumstände, z.B. den Gesundheitszustand, beeinflusst. Im Rahmen dieser Betrachtungsweise wird angenommen, dass sich ein geringes Wohlbefinden negativ auf die Gesundheitseinschätzung und physiologische Prozesse auswirken kann (Cuijpers & Smit, 2002). Einem hohen Maß an Zufriedenheit wird hingegen eine positive Auswirkung auf Gesundheit und Langlebigkeit zugeschrieben (Iwasa, Kawaai, Gondo, Inagaki, & Suzuki, 2006). 5.3.4 Individuelle Altersbilder und Gesundheit In den letzten Jahren konnte anhand von Längsschnittstudien gezeigt werden, dass eine positive Sicht auf das Älterwerden dazu beiträgt, wie lange Menschen leben und wie gesund sie im Alter sind (Levy & Myers, 2005; Levy, Slade, Kasl, & Kunkel, 2002; Maier & Smith, 1999). Die meisten dieser Studien verwendeten hierbei ein eindimensionales Maß zur sogenannten Alterszufriedenheit. Im Gegensatz hierzu wurde im Alterssurvey ein mehrdimensionales Konzept zur Messung individueller Vorstellungen vom Älterwerden eingesetzt (DittmannKohli et al., 1997), bei dem mehrere gewinn- und verlustorientierte Sichtweisen auf das Älterwerden unterschieden werden. Basierend auf den ersten beiden Wellen des Alterssurveys zeigte sich, dass eine gewinnorientierte Sicht auf das Älterwerden und zwar die Sicht, dass das Älterwerden mit persönlicher Weiterentwicklung einhergeht, über den Sechsjahreszeitraum hinweg eine bessere Gesundheit vorhersagen konnte, während eine verlustorientierte Sicht (Älterwerden als Zunahme körperliche Verluste) mit schlechterer Gesundheit einherging (Wurm, Tesch-Römer, & Tomasik, 2007). Die möglichen Wirkmechanismen, über die gewinn- oder verlustorientierte Vorstellungen vom Älterwerden die Gesundheit beeinflussen können, sind noch weitgehend ungeklärt. Ergebnisse des Alterssurveys weisen darauf hin, dass Personen, die das Älterwerden als Weiterentwicklung erleben, körperlich deutlich aktiver sind (Querschnitt) und über 92 Gesundheit die Zeit bleiben (Längsschnitt) als jene mit einer weniger positiven Sicht auf das Älterwerden (Wurm, Tomasik, & Tesch-Römer, in press). 5.3.5 Die Wechselwirkung verschiedener Faktoren Nach der Betrachtung einzelner Faktoren, die zu guter bzw. schlechter Gesundheit beitragen, soll im Folgenden versucht werden, generellen Forschungsbedarf im Themenfeld ”Gesundheitsförderliche und -schädigende Faktoren‛ aufzuzeigen. Zum einen betrifft dies das Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Viele Studien untersuchen den Erklärungsbeitrag eines einzelnen Faktors nach Kontrolle einer Vielzahl anderer Faktoren. Zu wenig beachtet wird dabei, dass sich die Faktoren in der Direktheit ihres Einflusses unterscheiden. So gibt es eher proximale Faktoren wie das Gesundheitsverhalten, es gibt aber auch distale Faktoren, wie z. B. den sozioökonomischen Status. Distale Faktoren wirken sich eher indirekt über eine Reihe von Pfaden auf die Gesundheit aus, weswegen es wichtig ist, ergänzend die vermittelnden Pfade (Mediation) zu berücksichtigen. Diese nicht zu beachten, kann dazu führen, dass die Effekte distaler Faktoren unterschätzt werden (Gallo & Matthews, 2003). Zudem können mehrere Faktoren in Form einer Interaktion (Moderation) zusammenwirken; dies meint, dass sich die Wirkung des einen Faktors auf verschiedenen Stufen des anderen Faktors unterscheidet. Aus der Lebensspannen-Perspektive ist hierbei besonders die Untersuchung des moderierenden Einflusses des Alters auf die Wirksamkeit verschiedener Prädiktoren bedeutsam. Ein zweiter Forschungsbedarf ergibt sich daraus, dass viele Studien zu diesem Themenfeld auf Querschnittdaten beruhen. Dadurch gibt es noch immer Zweifel an der Wirkung psychischer Faktoren auf die Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Annahme einfacher Wirkpfade in den seltensten Fällen gerechtfertigt ist. Vielmehr gibt es meist eine Wechselwirkung, so dass z.B. auch umgekehrt eine Wirkung des Gesundheitszustandes auf psychische Ressourcen angenommen werden muss. All dies unterstreicht die Wichtigkeit längsschnittlicher Daten. Längsschnittstudien (mit mindestens drei Wellen) ermöglichen zudem zu betrachten, wie sich bestimmte Veränderungen auf die Gesundheit auswirken; der Theorie von Hobfoll (Hobfoll, 2002) zufolge wirken sich beispielsweise vor allem Ressourcenverluste negativ auf die Gesundheit aus. Schließlich kann die Bedeutsamkeit bestimmter Prädiktoren davon abhängig sein, welche Phase eines Krankheitsprozesses betrachtet wird. Im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter steht vor allem die Entstehung (oder Vermeidung) von Krankheit und Behinderung im Mittelpunkt, im Alter hingegen der Verlauf bestehender Erkrankungen. 93 Gesundheit 5.4 Gesundheit im sozialen Wandel: Morbiditätsexpansion vs. Morbiditätskompression In den vergangenen Jahrzehnten ist die Lebenserwartung deutlich angestiegen und bisher gibt es auch keine Hinweise darauf, dass sich diese Entwicklung einem Endpunkt nähert oder abflacht (Vaupel & von Kistowski, 2005). Die steigende Lebenserwartung könnte dadurch bedingt sein, dass mehr Personen schwere Krankheiten oder Unfälle überleben. Dies würde implizieren, dass der Anteil von Personen mit körperlichen Einschränkungen, Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit über die nachfolgenden Kohorten hinweg zunimmt (These der Morbiditätsexpansion, Gruenberg, 1977). Die gegenteilige These der Morbiditätskompression geht davon aus, dass mittels Prävention zeitlich hinausgeschoben werden kann, wann Krankheiten und Behinderungen auftreten (Fries, 1980). Zudem beinhaltet diese These, dass die Dauer gesundheitsbedingter Beeinträchtigungen auf eine kurze Zeit vor dem Tod komprimiert werden kann. Hierbei kann eine Reihe von Gründen genannt werden, die nicht nur die angestiegene Lebenserwartung, sondern auch die Erwartung einer abnehmenden Morbidität bei nachfolgenden Kohorten stützen können. Hierzu zählen Verbesserungen in der medizinischen Versorgung und Medikation sowie höhere Bildung und Einkommen und ein gesünderer Lebensstil (für einen Überblick: Costa, 2005). Eine dritte These integriert schließlich beide Ansätze. Die These eines dynamischen Äquilibriums geht davon aus, dass es zu einer Zunahme chronischer Krankheiten kommt, während hingegen der Schweregrad dieser Erkrankungen abnimmt (Manton, 1980). Zahlreiche Studien sprechen dafür, dass sich trotz längerer Lebenszeit eine von Krankheiten und Beeinträchtigungen begleitete Lebensphase nicht verlängert, sondern gleich bleibt oder sogar verkürzt. Mehrere amerikanische Studien verweisen beispielsweise darauf, dass die Prävalenz von dauerhaften körperlichen Einschränkungen und Behinderungen in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen hat (für eine Übersicht: Freedman et al., 2004; Freedman, Martin, & Schoeni, 2002). Ebenso kommen mehrere deutsche Studien zu dem Ergebnis, dass die Gesundheit nachfolgender Kohorten besser ist. Analysen auf Grundlage des Mikrozensus und des Alterssurveys ergaben, dass nachfolgende Geburtskohorten eine geringere Krankheitsprävalenz und eine bessere Gesundheitseinschätzung haben als früher geborene Kohorten (Dinkel, 1999; Doblhammer & Kytir, 2001; Wurm & Tesch-Römer, 2006). Befunde des Sozio-oekonomischen Panels zeigen zudem, dass in nachfolgenden Kohorten das Pflegerisiko niedriger ist (Ziegler & Doblhammer, 2005). Dennoch verweist die Datenlage nicht konsistent auf eine Morbiditätskompression. Einige europäische Länder berichten über einen Anstieg chronischer Erkrankungen und eine Zunahme funktionaler Einschränkungen (Robine & Michel, 2004). Die Heterogenität der Befunde kann teilweise durch Länderunterschiede 94 Gesundheit bedingt sein. Teilweise entstehen Unterschiede jedoch auch in Abhängigkeit vom betrachteten historischen Zeitraum, von den betrachteten Altersgruppen und den berücksichtigen Gesundheitsaspekten. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich auch innerhalb einer Population unterschiedliche Entwicklungen finden lassen. Demnach zeigt sich in den USA für Personen mit höherer Bildung eine Morbiditätskompression, bei Personen mit geringerer Bildung hingegen eher eine Morbiditätsexpansion (Crimmins & Saito, 2001). Es bleibt deshalb eine wichtige Frage, wie sich die Gesundheit im Kohortenvergleich entwickelt. Dabei gilt es, verschiedene Gesundheitsaspekte vergleichend zu betrachten. Zudem sollte berücksichtigt werden, ob sich innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen und hierbei insbesondere Personen mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Status, gegenläufige Entwicklungen finden. 5.5 Auswertungsplanungen Der Alterssurvey dient der Alterssozialberichterstattung und Altersforschung. Für den Abschlussbericht des Alterssurveys ist geplant, anhand der Daten des Jahres 2008 die Gesundheit von Menschen in der zweiten Lebenshälfte aufzuzeigen und zusätzlich der Frage nachzugehen, ob nachfolgende Geburtskohorten gesünder alt werden als vor ihnen geborene Kohorten. Diese Auswertungsplanungen werden im Folgenden näher beschrieben. Im Themenfeld Gesundheit ist zudem eine Reihe von weiteren Publikationen geplant, die auf der Analyse der individuellen Längsschnittdaten beruhen. Diese über den Abschlussbericht hinausgehenden Publikationsplanungen werden im nachfolgenden Abschnitt 5.5.3 skizziert. 5.5.1 Wie ist die Gesundheit von Menschen in der zweiten Lebenshälfte? Die nun vorliegende dritte Welle des Alterssurveys erlaubt die Darstellung aktueller Daten zum Gesundheitszustand 40- bis 85-jähriger Personen. Mit den Ergebnissen des Alterssurveys kann damit ein wichtiger Beitrag zur (Alters-) Gesundheitsberichterstattung geleistet werden. Dieser Berichterstattung wird ein umfassendes, interdisziplinäres Gesundheitskonzept zugrunde gelegt, bei dem auch die subjektive Gesundheitsbeurteilung berücksichtigt wird. Bei der deskriptiven Analyse der Gesundheit von Menschen in der zweiten Lebenshälfte kann zunächst der (a) Gesundheitszustand älterer Personen betrachtet werden. Zusätzlich liefert der Alterssurvey Informationen zum gesundheitsbezogenen Verhalten, das sich grob in (b) individuelle Gesundheits- und Risikofaktoren und (c) die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems unterscheiden lässt. Die zu diesen drei Gesundheitsaspekten vorliegenden Indikatoren sind in Tabelle 5-1 dargestellt. 95 Gesundheit Tabelle 5-1: Gesundheitsindikatoren der 3. Welle des Alterssurveys Gesundheitszustand Krankheiten: Anwesenheit und Beschwerden Psychische Gesundheit: Depressivität Funktionale Gesundheit: Mobilität, Hör- und Sehfähigkeit Subjektive Gesundheit Schmerzen Lungenfunktion (Spirometer-Daten) Gesundheits- und Risikofaktoren Rauchverhalten Gewicht (Body Mass Index) Körperliche Aktivität Schlaf Inanspruchnahme des Gesundheitssystems Grippeschutzimpfung Vorsorgeuntersuchungen Arztbesuche Medikamenteneinnahme Folgende Perspektiven sollen bei der Darstellung der Gesundheit von Menschen in der zweiten Lebenshälfte Berücksichtigung finden: Wiederholt konnte gezeigt werden, dass es vor allem im Alter eine beträchtliche Heterogenität gibt, sich also Personen deutlich hinsichtlich ihres Gesundheitszustands voneinander unterscheiden (Nelson & Dannefer, 1992). Dem wird hier Rechnung getragen, indem neben mittleren Ausprägungen auf den Gesundheitsindikatoren auch Verteilungen betrachtet werden. Eine potenziell negative Seite von Heterogenität betrifft die Rolle von sozialer Ungleichheit, d.h. die systematische, sozial strukturierte Verteilung von Gesundheit und Krankheit in der zweiten Lebenshälfte. Klassische Ungleichheitsdimensionen sind dabei sozioökonomischer Status (Bildung, Beruf, Einkommen) und Geschlecht. So zeigt sich in vielen Studien ein negativer Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Gesundheit (vgl. Abschnitt 5.3.1). Zudem sind ältere Frauen oft stärker von körperlichen Einschränkungen betroffen als gleichaltrige Männer. Auch das Alter selbst kann als Ungleichheitsdimension betrachtet werden. Schließlich macht die spezifisch deutsche Situation eine Unterteilung nach Regionen (Ost/West) notwendig. Es ist daher vorgesehen, Gesundheit differenziert nach Geschlecht, Altersgruppe, Region (Ost/West) und Bildung zu betrachten. 96 Gesundheit Schließlich ist eine inhaltliche Rahmung des Kapitels die Frage nach Präventionspotenzialen im Alter. Wie in Abschnitt 5.3.2 erläutert wurde, spielen Gesundheitsverhalten und Vorsorgemaßnahmen hierbei auch und gerade in der zweiten Lebenshälfte eine wichtige Rolle. Lange Zeit wurden die Präventionspotenziale, die bis ins Alter hinein bestehen, unterschätzt, da Alter mit Krankheit gleichgesetzt wurde und Prävention ausschließlich als Vorbeugung von Erkrankungen (primäre Prävention) verstanden wurde. Mittlerweile steigt das Wissen und das Bewusstsein darüber, dass bis ins Alter Prävention sinnvoll möglich ist und hierbei die auch die Vorbeugung von Folgeerkrankungen, funktionalen Einschränkungen sowie von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit mit einschließt. Die medizinische Versorgung und medikamentöse Behandlung spielt damit auch mit Blick auf Prävention eine wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und damit einhergehender steigender Gesundheitskosten ist die Frage nach Präventionsmöglichkeiten im Alter von hohem sozialpolitischen Interesse. 5.5.2 Kommen nachfolgende Geburtskohorten gesünder ins Alter? Ausgangspunkt der Frage, ob nachfolgende Geburtskohorten gesünder ins Alter kommen als vor ihnen geborene Kohorten ist die im Abschnitt 5.4 dargestellte Diskussion zur Morbiditätsexpansion vs. -kompression. Erste Analysen zu dieser Frage erfolgten auf der Grundlage der ersten und zweiten Welle des Alterssurveys (Wurm & Tesch-Römer, 2006). Diese Analysen können nun durch die Daten der dritten Welle zeitlich ergänzt und inhaltlich erweitert werden. Die zeitliche Ergänzung bezieht sich hierbei auf jene Gesundheitsdaten, die erstmals 1996 erhoben wurden und nun im Kohortenvergleich der Jahre 1996, 2002 und 2008 betrachtet werden können. Dies betrifft die Indikatoren zur Anzahl der Erkrankungen und Beschwerden sowie zur subjektiven Gesundheit. Anhand der neuen Daten kann nun untersucht werden, ob sich über die drei Wellen hinweg Entwicklungen als konsistenter Trend darstellen oder nicht. Beispielsweise ist die Frage, ob die Abnahme der Krankheitsprävalenz, die sich im Vergleich zwischen der ersten und zweiten Welle zeigte, auch für die dritte Welle zu finden ist. Die Kohortenvergleiche können zudem inhaltlich um zwei Aspekte erweitert werden: Auf der Grundlage der Basisstichproben 2002 und 2008 kann ein Vergleich für die funktionale Gesundheit vorgenommen werden. Zudem ist eine Überlegung, Kohortenunterschiede im Gesundheitsverhalten zu betrachten, um der Frage nachzugehen, ob sich bei nachfolgenden Geburtskohorten ein besseres oder schlechteres Gesundheitsverhalten abzeichnet. Hierbei könnte beispielsweise die körperliche Aktivität betrachtet werden. 97 Gesundheit 5.5.3 Artikelplanungen im Themenbereich Gesundheit Auf der Grundlage der Panelstichproben sowie der neu hinzukommenden Mortalitätsdaten des Alterssurveys ist eine Reihe von Publikationen zum Thema Gesundheit und Langlebigkeit in Vorbereitung. Diese Publikationen werden nicht Bestandteil des Abschlussberichts des Alterssurveys sein, sondern sind als englischsprachige Artikel für Zeitschriften mit Peer Review – Verfahren geplant. Diese Artikelplanungen sind schwerpunktmäßig drei Themenbereichen zuzuordnen: Der Bedeutung individueller Altersbilder für die Gesundheit, dem Themengebiet soziale Ungleichheit und Gesundheit sowie den differenziellen Effekten von subjektivem Wohlbefinden für die Mortalität. Es handelt sich hierbei unter anderem um die publikationsorientierten Dissertationsvorhaben von Dipl.-Psych. Ina Schöllgen und Dipl.-Psych. Maja Wiest. Literatur Adler, N. E., Boyce, T., Chesney, M. 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Subjektives Wohlbefinden Maja Wiest, Susanne Wurm & Clemens Tesch-Römer Inhalt 6.1 Vorbemerkung ............................................................................. 101 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 Bedeutung, Facetten, Determinanten und Folgen subjektiven Wohlbefindens ............................................................................. 102 Bedeutung subjektiven Wohlbefindens.............................................. 102 Facetten subjektiven Wohlbefindens ................................................. 103 Determinanten subjektiven Wohlbefindens....................................... 104 Folgen subjektiven Wohlbefindens..................................................... 107 Resümee ............................................................................................. 107 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 Gesellschaftliche Perspektive: Wandel subjektiven Wohlbefindens 108 Sozialer Wandel und subjektives Wohlbefinden ................................ 108 Hat sich das subjektive Wohlbefinden im Durchschnitt gewandelt? . 110 Hat sich die Verteilung des subjektiven Wohlbefindens gewandelt? 111 6.4 Ausblick auf weitere Analysen ...................................................... 111 6.4.1 Veränderungen des subjektiven Wohlbefindens mit dem Alter ........ 111 6.4.2 Veränderungen der Verteilung subjektiven Wohlbefindens mit dem Alter..................................................................................................... 112 6.4.3 Wandel von Altersveränderungen im Lauf der historischen Zeit ....... 112 6.4.4 Wirkungen subjektiven Wohlbefindens.............................................. 113 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 Methodik ..................................................................................... 113 Datenbasis........................................................................................... 113 Instrumente ........................................................................................ 113 Auswertungsstrategien ....................................................................... 114 Literatur ................................................................................................ 114 6.1 Vorbemerkung Subjektives Wohlbefinden (SWB) bzw. subjektive Lebensqualität6 sind zentrale Konzepte der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung und der Alterssozialberichterstattung. Zufriedenheit, Freude oder Glück, aber auch Niedergeschlagenheit oder Angst sind Begriffe, mit denen Menschen ihre Befind6 Die Begriffe ”subjektives Wohlbefinden‛ und ”subjektive Lebensqualität‛ weisen eine so hohe konzeptuelle Ähnlichkeit auf, dass sie im folgenden synonym verwendet werden. 101 Subjektives Wohlbefinden lichkeit beschreiben und ihre Lebenssituation bewerten. Für die Sozialberichterstattung sind subjektives Wohlbefinden und subjektive Lebensqualität bedeutsame Indikatoren für die Bewertung gesellschaftlichen Wandels, die neben objektive Indikatoren wie materieller Lebenslage, Gesundheitszustand und soziale Integration treten. Subjektives Wohlbefinden und Lebensqualität können auch als Kriterien für die Effizienz gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion verstanden werden. Damit ist die kontinuierliche Beobachtung subjektiver Indikatoren im zeitlichen Verlauf eine der wichtigen Aufgaben der Sozialberichterstattung. Das vorliegende Kapitel fokussiert auf die Beschreibung des individuellen Wohlbefindens im Verlauf gesellschaftlicher Veränderungen. Mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel wird danach gefragt, wie wohl sich Menschen in der zweiten Lebenshälfte gegenwärtig fühlen, und ob sich das subjektive Wohlbefinden in dieser Altersgruppe in den letzten zwölf Jahren gewandelt hat. Dieser Beitrag gliedert sich in fünf Abschnitte. Nach einer kurzen Vorbemerkung (erster Abschnitt) werden Bedeutung, Facetten, Determinanten und Folgen subjektiven Wohlbefindens skizziert (zweiter Abschnitt). Danach werden theoretische Überlegungen zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel und subjektivem Wohlbefinden in der zweiten Lebenshälfte, der Hauptfrage des vorliegenden Beitrags, angestellt (dritter Abschnitt). Daran schließt sich ein Ausblick auf weiterführende Analysen an (vierter Abschnitt). Abschließend wird das methodische Vorgehen – Variablen, Datenbasis und Auswertungsstrategien – beschrieben (fünfter Abschnitt). 6.2 6.2.1 Bedeutung, Facetten, Determinanten und Folgen subjektiven Wohlbefindens Bedeutung subjektiven Wohlbefindens In der Sozialberichterstattung steht die Wohlfahrtsproduktion von Gesellschaften im Mittelpunkt des Interesses. Zentrale Aufgabe der Sozialberichterstattung ist die Bereitstellung von Informationen über Niveau, Verteilung und Verlauf individueller Wohlfahrt für Sozial- und Gesellschaftspolitik sowie für den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs (Noll, 1997; Zapf, 1977). Subjektive Reaktionen von Menschen auf ihre Lebenssituation werden als ein Bestandteil von Wohlfahrt angesehen, und zwar entweder als Komplement zu den objektiven Lebensbedingungen (Schupp, Habich, & Zapf, 1996; Zapf, 1984) oder als Indikator für die in der Biografie realisierten Lebensergebnisse (Butzer & Campbell, 2008). Befunde zum subjektiven Wohlergehen der Bevölkerung liefern damit einen wichtigen Beitrag zur Bewertung des Zustandes und der Entwicklung einer Gesellschaft (Diener & Seligman, 2004). 102 Subjektives Wohlbefinden Auch in den Verhaltens- und Sozialwissenschaften sind die Fragen nach Struktur, Ursachen und Konsequenzen subjektiven Wohlbefindens relevant (Eid & Larsen, 2008). Die Frage nach subjektivem Wohlbefinden und Lebensqualität gewinnt insbesondere mit Blick auf Altwerden und Altsein hohe Bedeutung. Ob die zweite Lebenshälfte als erfüllte Phase des Lebenslaufs zu charakterisieren ist, bestimmt sich auch durch das individuelle Wohlbefinden älter werdender Menschen. Subjektives Wohlbefinden und Lebensqualität gehören zu den Indikatoren erfolgreichen Alterns (Baltes & Baltes, 1990; Rowe & Kahn, 1987). Mit Blick auf den demografischen Wandel und einer hohen (und in Zukunft weiter steigenden) Lebenserwartung ist zu fragen, wie Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens ihre Lebensqualität beurteilen. 6.2.2 Facetten subjektiven Wohlbefindens Innerhalb der Sozial- und Verhaltenswissenschaften wird das Konstrukt ”subjektives Wohlbefinden‛ multidimensional erfasst: Es werden Lebenszufriedenheit, positiver Affekt und negativer Affekt unterschieden (Diener, 2000). Lebenszufriedenheit ist die kognitive Bewertung der eigenen Lebenssituation, die mit Blick auf bestimmte Maßstäbe oder Zielvorstellungen evaluiert wird. Neben globalen Maßen des allgemeinen subjektiven Wohlbefindens werden in der Sozialberichterstattung auch spezifische subjektive Indikatoren zu zentralen Lebensbereichen verwendet, etwa Zufriedenheit mit Gesundheit, Einkommen, Familie oder Freunden (Veenhoven, 1999). Emotionale Bestandteile des Wohlbefindens sind Gefühlszustände und Affekte, die einerseits als direkte Reaktionen auf Erfahrungen und Erlebnisse vorübergehende Stimmungen der Person widerspiegeln, aber auch als stabile Grundgestimmtheiten Nähe zu Persönlichkeitseigenschaften aufweisen können (R. E. Lucas, 2008). Positiver Affekt umfasst Gefühle wie Glück, Begeisterung oder Stolz; Beispiele für negativen Affekt sind Emotionen wie Niedergeschlagenheit, Angst oder Feindseligkeit. Auch wenn positive und negative Affekte nur selten gleichzeitig erlebt werden, zeigt sich doch eine statistische Unabhängigkeit positiven und negativen Affekts, wenn man rückblickend längere Zeiträume bewertetet (Watson, Clark, & Tellegen, 1988). Aus psychologischer Sicht wird häufig ein besonderes Augenmerk auf negativen Affekt als Bestandteil der seelischen Gesundheit gelegt. Das Kontinuum negativen Affekts reicht von Niedergeschlagenheit und depressive Symptomatik bis hin zu klinisch relevanten, behandlungsbedürftigen Formen der Depression (affektive Störung nach ICD 10). Während im Kapitel 5 ”Gesundheit‛ über die gesundheitlich relevanten Formen negativen Affekts berichtet wird, werden im vorliegenden Zusammenhang depressive Symptome als Bestandteil des (negativen) subjektiven Wohlbefindens betrachtet (Hautzinger, 1988). 103 Subjektives Wohlbefinden Im vorliegenden Kapitel wird die derzeit gebräuchliche Definition subjektiven Wohlbefindens (SWB) verwendet: ”a person is said to have high SWB if she or he experiences life satisfaction and frequent joy, and only infrequently experience unpleasant emotions such as sadness and anger. Contrariwise, a person is said to have low SWB if he or she is dissatisfied with life, experiences little joy and affection, and frequently feels negative emotions such as anger or anxiety‛ (Diener, Suh, & Oishi, 1997). In empirischen Untersuchungen zeigt sich, dass kognitive und emotionale Bestandteile des subjektiven Wohlbefindens in der Regel in mittlerer Höhe miteinander korrelieren (Westerhof, 2001), so dass es auch aus empirischer Sicht sinnvoll ist, diese drei Aspekte bei der Beschreibung subjektiven Wohlbefindens getrennt zu betrachten. 6.2.3 Determinanten subjektiven Wohlbefindens Bei der Frage, ob der soziale Wandel das subjektive Wohlbefinden (SWB) beeinflusst, geht man von der Annahme aus, dass Veränderungen in der Gesellschaft die individuelle Befindlichkeit von Personen beeinflusst. Veränderungen auf der gesellschaftlichen Ebene könnten Veränderungen des gesellschaftlichen Wohlstandes, historische Ereignisse oder auch kulturelle Phänomene sein. In jedem Fall wird davon ausgegangen, dass das individuelle subjektiven Wohlbefinden auch von externen Faktoren beeinflusst wird. In den letzten 40 Jahren wurde eine Vielzahl von Untersuchungen zur Frage, welche Bedingungen subjektives Wohlbefinden beeinflussen, durchgeführt (zusammenfassend siehe etwa Diener, 1984; Diener, Suh, Lucas, & Smith, 1999; Lown & Dolan, 1988; Sirgy et al., 2006). Einerseits zeigt sich, dass eine Vielzahl von Merkmalen der Lebenssituation das SWB einer Person beeinflusst. Dies sind insbesondere Gesundheit, soziale Integration, Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit sowie Einkommen und Vermögen (Diener & Seligman, 2004; Lown & Dolan, 1988). Andererseits muss aber festgestellt werden, dass die Einflusskraft einzelner Faktoren in der Regel nur von geringer bis mittlerer Größe ist. Vier Erklärungen werden für die relativ geringen Effekte von externen Determinanten des subjektiven Wohlbefindens genannt: Einfluss der Persönlichkeit, Adaptationsprozesse, Veränderung der Vergleichsmaßstäbe (”response shift‛) sowie Wirksamkeit von Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen (Entwicklungsregulation). (a) Persönlichkeit und subjektives Wohlbefinden Top-down-Modelle des subjektiven Wohlbefindens nehmen an, dass Persönlichkeitseigenschaften wie Extraversion oder Neurotizismus die Höhe und Stabilität des subjektiven Wohlbefindens mit beeinflussen (Richard E Lucas & Donnellan, 2007). Eine Reihe von Studien zeigt zwar, dass subjektives Wohlbefinden auch 104 Subjektives Wohlbefinden von kritischen Lebensereignissen und vom Stresserleben abhängt (Diener & Seligman, 2004). Aber da allgemeine Lebenszufriedenheit und bereichsspezifische Lebenszufriedenheit in der Regel hoch miteinander korrelieren, liegt es nahe, dass die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation auch von der Persönlichkeit beeinflusst wird. Dies bedeutet, dass eine vollständige Theorie subjektiven Wohlbefindens sowohl Bottom-up-Prozesse (Merkmale der Lebenssituation, Alltagsstress bzw. -freuden, kritische Lebensereignisse) sowie Top-down-Prozesse (Persönlichkeit, Temperament) umfassen muss und dass nicht erwartet werden kann, dass Merkmale der objektiven Lebenssituation in direkter Weise das subjektive Wohlbefinden einer Person beeinflussen (Schimmack, 2008). (b) Adaptation des subjektiven Wohlbefindens Die Adaptationstheorie des subjektiven Wohlbefindens geht davon aus, dass Erfahrungen und Lebensereignisse das subjektive Wohlbefinden einer Person nur kurzfristig beeinflusst. Personen passen sich nach einer Phase der Reaktion auf positive oder negative Ereignisse an die jeweiligen Lebensumstände an und kehren zum Ausgangsniveau ihres subjektiven Wohlbefindens zurück (Diener, Lucas, & Scollon, 2006). Bekannt geworden ist eine Studie, in der gezeigt wurde, dass sowohl Lotteriegewinner als auch Unfallopfer, deren Schädigung zu Querschnittslähmung geführt hatte, nach eine Phase der Reaktion auf diese tiefgreifende Ereignisse zu den ursprünglichen Niveaus von Zufriedenheit und emotionaler Befindlichkeit zurückkehrten (Brickman, Coates, & Janoff-Bulman, 1978). Allerdings gibt es inter-individuelle Unterschiede in den jeweiligen ”set points‛, also dem habituellen Niveau des individuellen Wohlbefindens. In den Worten von Proponenten dieses Ansatzes: ”Despite circumstances, some individuals seem to be happy people, some unhappy people‛ (Costa, McCrae, & Norris, 1981, p. 79). Eine Reihe von Befunden spricht für die Adaptationstheorie des subjektiven Wohlbefindens: Die zeitliche Stabilität subjektiven Wohlbefindens über die Zeit ist hoch (Eid & Diener, 2004), die Bewertung verschiedener Lebensbereiche durch dieselbe Person ist in der Regel sehr ähnlich (bereichsübergreifend hoch oder niedrig) und die Korrelationen von subjektivem Wohlbefinden mit Persönlichkeitseigenschaften oft größer als mit Merkmalen der Situation (Diener, 1996). Allerdings hat eine Reihe von längsschnittlichen Studien zu kritischen Lebensereignissen wie Heirat, Scheidung, Verwitwung und Arbeitslosigkeit gezeigt (zusammenfassend Diener, Lucas, & Scollon, 2006), dass es zwar zu einer Annäherung an das Ausgangsniveau des subjektiven Wohlbefindens (hier: Lebenszufriedenheit) kommt, aber die Ereignisse oft jahrelange Auswirkungen hatten und zudem das Niveau des früheren Wohlbefindens nicht wieder erreicht wurde. Offensichtlich ist es notwendig, individuelle Verläufe des subjektiven Wohlbefindens über längere Zeiträume zu untersuchen, um die Frage zu klären, 105 Subjektives Wohlbefinden wie stabil oder veränderlich subjektives Wohlbefinden ist und welche Faktoren die Stabilität beeinflussen. (c) Response Shift und subjektives Wohlbefinden Bei medizinischen und gesundheitspsychologischen Interventionen geht es um den Einfluss einer Maßnahme auf die (gesundheitsbezogene) Lebensqualität einer Person. Häufig ändern sich aufgrund von medizinischen Interventionen zwar die objektiv messbare Funktionen (etwa Mobilität), nicht aber die Zufriedenheit mit der Gesundheit (oder dem Leben im Allgemeinen), so dass angenommen wird, dass es im Verlauf der Zeit zu einer Anpassung des individuellen Bewertungsmaßstabs (”response shift‛) gekommen ist. Die häufig recht hohe Stabilität in der Lebensqualität lässt also nicht notwendigerweise auf die Wirksamkeit (oder Unwirksamkeit) von Interventionen schließen, wenn man davon ausgeht, dass den beobachteten Ergebnissen Response Shifts zugrunde liegen (Güthlin, 2004). Drei Formen des Response Shifts werden unterschieden: Änderung interner Vergleichsstandards (recalibration), Änderung von Gewichtungen (repriorization) und Änderung von verwendeten Konzepten wie Gesundheit (redefinition, Schwartz, Andresen, Nosek, & Krahn, 2007). Die Forschung zur empirischen Identifikation von Response Shifts, etwa durch den Vergleich des Befindens vor der Intervention mit dem retrospektiv erinnerten Befinden (”ThenTest‛), hat allerdings noch keine durchgängig überzeugenden Befunde vorgelegt (Schwartz et al., 2006). (d) Entwicklungsregulation und subjektives Wohlbefinden In der alternspsychologischen Forschung sind verschiedene Modelle zur Bewältigung bzw. Entwicklungsregulation vorgestellt worden (Baltes, 2003; Brandtstädter & Rothermund, 2002; Schulz, Wrosch, & Heckhausen, 2003; vgl. auch die Literatur zur ”hedonic treadmill‛ Bonomi et al., 2007). In vielen querschnittlichen Studien wurden nur geringe Altersunterschiede im subjektiven Wohlbefinden gefunden (stellvertretend siehe, Smith, Fleeson, Geiselmann, Settersten, & Kunzmann, 1996). Diese Befundlage hat dazu geführt, von einem ”Paradox des subjektiven Wohlbefindens im Alter‛ zu sprechen. Auch wenn es viele Gründe dafür gäbe, dass Menschen im Alter Einbußen im subjektiven Wohlbefinden erleben müssten, zeigt sich doch, dass es vielen alten Menschen recht gut geht (Staudinger, 2000). Auch im Alter zeigen Menschen eine hohe Widerstandsfähigkeit (Resilienz) im Umgang mit Verlusterfahrungen. Durch das Anpassen von Zielen und Anspruchsniveaus oder durch soziale Abwärtsvergleiche wird es möglich, dass Menschen auch angesichts von Verlustereignissen Zufriedenheit bewahren können. Die auf diesen theoretischen Modellen basierende empirische Literatur zeigt, dass Menschen sich an recht unterschiedliche 106 Subjektives Wohlbefinden Lebensbedingungen in einer Weise anpassen können, dass ihr subjektives Wohlbefinden hoch bleibt (zusammenfassend siehe etwa Brandtstädter, 2007; Freund, 2007). Das sehr hohe Alter scheint dieser Widerstandfähigkeit jedoch Grenzen zu setzen (Baltes & Smith, 2003). Die positiven Forschungsergebnisse für die Altersgruppe der jungen Alten bis 85 Jahre (z.B. gute geistige und körperliche Gesundheit, geringe funktionelle Einschränkungen) lassen sich für sehr alte Menschen nicht konstatieren. Die Abnahme geistiger Fähigkeiten und körperlicher Gesundheit führt im sehr hohen Alter zu erheblichen Einschränkungen im Leben. 6.2.4 Folgen subjektiven Wohlbefindens In den letzten Jahren hat sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit nicht mehr allein auf die Bedingungen subjektiven Wohlbefindens gerichtet, sondern auch auf die Wirkungen, die Lebenszufriedenheit und Glück in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Gesundheit, soziale Integration und Erwerbstätigkeit haben (vgl. bereits Veenhoven, 1999). Gesundheit und soziale Integration können subjektives Wohlbefinden beeinflussen, subjektives Wohlbefinden aber auch Gesundheit und soziale Integration. Beispielhaft für diesen Ansatz ist die ”Broadenand-Build‛-Theorie (Fredrickson, 1998). Diese Theorie postuliert aus einer evolutionären Perspektive, dass negative Emotionen wie Angst das Handlungsrepertoire einer Person verengen (z.B. Kampf, Flucht), während positive Emotionen wie Glück das Handlungsrepertoire einer Person erweitern (z.B. Spiel, Erkundung). Dies bedeutet, dass positives Wohlbefinden nicht allein einen Wert in sich selbst hat (weil es sich gut anfühlt, glücklich zu sein), sondern auch, dass positives Wohlbefinden eine Grundlage für die Weiterentwicklung einer Person bildet. Glückliche Menschen sind eher in der Lage als unglückliche Menschen, Freundschaften zuknüpfen, gesundheitlich förderndes Verhalten auszuüben und Neues zu lernen (Fredrickson, 2008). Für die Sozialberichterstattung bedeutet dies, subjektives Wohlbefinden nicht allein als ein Indikator für ”gutes Leben‛ (oder ”gute Gesellschaften‛) zu interpretieren, sondern auch als einen wichtigen Faktor für gesellschaftliche Produktivität zu sehen (Diener & Seligman, 2004). 6.2.5 Resümee Die kurze Darstellung der Facetten, Determinanten und Folgen des subjektiven Wohlbefindens hat die Bedeutung dieses Konzepts gerade für die Beschreibung der Lebenssituation älter werdender und alter Menschen deutlich gemacht. Allerdings ist – angesichts der Einflüsse von Persönlichkeitsmerkmalen und der Anpassungsleistungen von Menschen – nicht zu erwarten, dass die Effekte sozialen Wandels auf das subjektive Wohlbefinden groß sind. Offensichtlich sorgen eine Reihe psychischer Prozesse dafür, dass Menschen ihre Lebenssituation 107 Subjektives Wohlbefinden eher positiv einschätzen und dass diese Einschätzung relativ stabil ist. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass selbst kleine negative Veränderungen im subjektiven Wohlbefinden Beachtung finden müssen, da in solchen Fällen sonst offensichtlich wirksame Anpassungsmechanismen nicht in der Lage sind, die Einflüsse der betreffenden Faktoren abzupuffern. Zudem könnte sozialer Wandel weniger die mittlere Höhe als vielmehr die Verteilung des subjektiven Wandels beeinflussen: Die (eher) Zufriedenen könnten über die Zeit zufriedener, die (eher) Unzufriedenen unzufriedener werden. Beide möglichen Wirkungen sozialen Wandels sollen im folgenden diskutiert werden. 6.3 Gesellschaftliche Perspektive: Wandel subjektiven Wohlbefindens Es ist von Interesse, ob (und inwiefern) der soziale Wandel Niederschlag im subjektiven Wohlbefinden von Gesellschaftsmitgliedern findet. Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen und geplanten Analysen. 6.3.1 Sozialer Wandel und subjektives Wohlbefinden Die Frage danach, welche Faktoren das Glück (oder die Zufriedenheit) von Nationen beeinflusst, hat eine lange Geschichte, die insbesondere mit Blick auf die materiellen Grundlagen von Gesellschaften beantwortet wurde. Die ”Livability Theory‛ Ruut Veenhovens besagt, dass Menschen ihre Zufriedenheit mit Blick auf absolute Standards bestimmen und dabei berücksichtigen, welche ihrer (universalen) Bedürfnisse befriedigt werden. Mit Blick auf den sozialen Wandel würde dies bedeuten, dass Gesellschaften mit einem höheren Niveau der materiellen Lage sich durch eine höhere durchschnittliche Lebenszufriedenheit auszeichnen und dass ein sozialer Wandel hin zu einem steigenden Wohlstand mit einer wachsenden durchschnittlichen Zufriedenheit einhergehen müsste. Die Befundlage zur ersten Annahme ist deutlich: Die Bevölkerungen wohlhabenderer Gesellschaften sind im Durchschnitt zufriedener und glücklicher als die Bevölkerungen ärmerer Gesellschaften (Diener & Biswas-Diener, 2002; Diener, Diener, & Diener, 1995). Im Vergleich zu den (wohlhabenden) entwickelten Ländern ist in Schwellenländern wie Brasilien, Indien, Korea und Nigeria das subjektive Wohlbefinden in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen (Hagerty, 1999). Allerdings zeigt sich, dass der Zusammenhang zwischen materiellen Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden in ärmeren Entwicklungsländern höher ist als in (relativ) reicheren Entwicklungsländern (Howell & Howell, 2008). Zudem steigt im Vergleich zwischen Gesellschaften die durchschnittliche Zufriedenheit mit zunehmendem Wohlstand immer weniger an, je wohlhabender eine Gesellschaft ist, umso weniger findet sich ein Zusammenhang mit durchschnittlicher Zufriedenheit, so dass andere Faktoren wie Demokratie oder soziale Kohä- 108 Subjektives Wohlbefinden sion von Gesellschaften für Unterschiede in der durchschnittlichen Zufriedenheit verantwortlich gemacht werden (Diener & Seligman, 2004). Während die soziologische Livability-Theorie die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse als Grundlage für Zufriedenheitsurteile ansieht, spielen in einer ökonomischen Betrachtung der Entwicklung des subjektiven Wohlbefindens Anpassungsmechanismen eine zentrale Rolle. Vor mehr als 30 Jahren argumentierte der Ökonom Richard A. Easterlin (1974), dass die Zufriedenheit von Menschen in wohlhabenden Industriestaaten seit Ende des zweiten Weltkrieges trotz des seitdem zunehmenden materiellen Wohlstandes stagnierte. Denn mit dem steigenden Wohlstand seien auch die Ansprüche in den jeweiligen Gesellschaften gestiegen, so dass nicht mehr die Befriedigung notwendiger Bedürfnisse, sondern andere Faktoren die Lebenszufriedenheit beeinflusse (Easterlin, 1974; Easterlin & Schaeffer, 1999). Allerdings zeigt sich, dass Veränderungen im Einkommen für einen begrenzten Zeitraum einen Einfluss auf die wahrgenommene Lebensqualität haben (Hagerty, 1999). Neuere Auswertungen belegen zudem, dass in den USA und in Westeuropa das subjektive Wohlbefinden – bereits seit den 1950’er Jahren auf recht hohem Niveau – in den letzten Jahrzehnten weiter leicht gestiegen ist (Stevenson & Wolfers, 2008; Veenhoven, 1999). In einer umfassenden Studie zum EasterlinParadox (Stevenson & Wolfers, 2008), kommen die Autoren zu dem Schluss: ”All told, our time-series comparisons, as well as evidence from repeated international cross sections, appear to point to an important relationship between economic growth and growth in subjective well-being‛ (p. 69). Dieser Befund ist angesichts der oben diskutierten Anpassungsmechanismen an unterschiedliche Lebenssituationen von besonderer Bedeutung. In Deutschland liegt die allgemeine Lebenszufriedenheit seit Beginn der 1990’er Jahre mit geringen Schwankungen recht hoch (Bernhard, 2008). In den meisten der bewerteten Lebensbereiche umfasst der Anteil der eher zufriedenen Menschen zwei Drittel bis vier Fünftel der Bevölkerung. Es zeigen sich im Verlauf der letzten Jahre allerdings zwei bedeutsame Entwicklungen, die sich auf regionale Differenzen und die Ausweitung der Verteilung von SWB beziehen. Regionale Differenzen beziehen sich auf Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Im Jahr 1990 waren die Unterschiede in der Lebenszufriedenheit zwischen den Regionen relativ gering, weiteten sich dann in den ersten Jahren nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten erheblich aus und entwickelten sich in den letzten zwei Jahrzehnten etwas zurück. Dennoch bestehen seit einigen Jahren recht deutliche und stabile Unterschiede in der allgemeinen Lebenszufriedenheit zwischen Ost- und Westdeutschland (Bernhard, 2008). Die Analyse von Verteilungen zeigt, dass sich Disparitäten in der Zufriedenheit mit den materiellen Lebensumständen zwischen ökonomisch starken und schwachen Gruppen herausgebildet haben (Bernhard, 2008). 109 Subjektives Wohlbefinden Vor diesem Hintergrund wird der Wandel des durchschnittlichen SWB sowie der Wandel der Verteilung im SWB untersucht. Der betrachtete Zeitraum umfasst zwölf Jahre (mit insgesamt drei Messzeitpunkten 1996, 2002 und 2008). Bei der Deskription des Wandels des subjektiven Wohlbefindens wird also zwei Fragen nachgegangen: (1) Hat sich das subjektive Wohlbefinden im Durchschnitt gewandelt? (2) Hat sich die Verteilung des subjektiven Wohlbefindens gewandelt? 6.3.2 Hat sich das subjektive Wohlbefinden im Durchschnitt gewandelt? Zunächst wird der Wandel des durchschnittlichen subjektiven Wohlbefindens in der zweiten Lebenshälfte näher betrachtet. Hierbei geht es um die Frage, ob sich das subjektive Wohlbefinden der 40- bis 85-Jährigen im Durchschnitt gewandelt hat. Insgesamt hatte der durchschnittliche soziale Wandel positive Folgen. Dies zeigt sich unter anderen an zwei Makro-Indikatoren. Das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten Jahren bis auf wenige Ausnahmen positiv gewachsen (Lührmann, 2007). Auch die durchschnittliche Lebenserwartung ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (Grobecker & KrackRohberg, 2008). Allerdings sind auch Entwicklungen zu konstatieren, die weniger positiv zu bewerten sind. So lag die Erwerbslosenquote im Jahr 1996 bei 8,6%, stieg zeitweilig auf über 10% und lag im Jahr 2007 bei 8,3% (Wingerter, 2008). Der Anteil der Privatinsolvenz stieg von etwa 3.000 im Jahr 1999 auf über 100.000 im Jahr 2007 (Angele, 2007); dieser Zuwachs beruht teilweise auch auf der im Jahr 1999 eingeführten neuen Insolvenzordnung. Geht man davon aus, dass die gesellschaftliche Entwicklung zwischen 1996 und 2008 positiv war (Entwicklung des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts, Entwicklung der durchschnittliche Lebenserwartung) müsste man annehmen, dass sich auch das subjektive Wohlbefinden in Deutschland – auch bei temporären Ausschlägen – nach wie vor positiv entwickelt (Tesch-Römer, MotelKlingebiel, Wurm, & Huxhold, 2008). Bei der Annahme einer eher negativen Entwicklung (Arbeitslosenquote; steigendes Risiko der Privatinsolvenz) würde man das Gegenteil annehmen. Allerdings ist offen, ob sich gesellschaftliche Entwicklungen in allen untersuchten Altersgruppen, bei Männern und Frauen, bei Menschen in Ost- und Westdeutschland sowie bei Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten gleich auswirken. Zudem ist es möglich, dass die hier untersuchten Facetten des subjektiven Wohlbefindens (Lebenszufriedenheit, positiver Affekt, negativer Affekt, depressive Symptome) unterschiedlich entwickeln. 110 Subjektives Wohlbefinden 6.3.3 Hat sich die Verteilung des subjektiven Wohlbefindens gewandelt? Auch wenn die durchschnittliche gesellschaftliche Entwicklung zwischen 1996 und 2002 positiv ist, sind doch auch Entwicklungen zu konstatieren, die auf eine Vergrößerung von Verteilungen vermuten lassen. Seit etwa 2000 hat sich die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen deutlich erhöht. So stieg der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit in Haushaltsnettoeinkommen beschreibt, von 0,268 im Jahr 1997 auf 0,309 im Jahr 2006 (Goebel, Habich, & Krause, 2008). Im Zeitraum zwischen 1996 und 2008 wurden zudem eine Reihe von sozial- und gesundheitspolitischen Maßnahmen verabschiedet bzw. traten in Kraft, die insbesondere Menschen in der zweiten Lebenshälfte betrafen. Diese Zunahme sozialer Disparitäten könnte zu einer Erhöhung der Streubreite im subjektiven Wohlbefinden geführt haben. Insbesondere die Unterschiede im SWB zwischen sozialen Schichten könnten in den vergangenen zwölf Jahren zugenommen haben (vgl. auch Tesch-Römer, Motel-Klingebiel, Wurm, & Huxhold, 2008). Möglicherweise hat dabei vor allem der Anteil der Personen mit geringerem subjektiven Wohlbefinden zugenommen, während der Anteil der Personen mit hohem subjektivem Wohlbefinden stabil geblieben ist. Schließlich sollte ein etwaiger Wandel in der Verteilung auch nach Alter, Geschlecht und Region untersucht werden. Mit Blick auf Alter ist zu fragen, ob der Wandel des subjektiven Wohlbefindens möglicherweise in unterschiedlichen Altersgruppen unterschiedlich verläuft. So könnte es aufgrund der Veränderungen in Arbeitsmarkt und Sozialpolitik bei der Bevölkerung im Erwerbsalter zu einem Rückgang im SWB gekommen sein, nicht aber bei der Bevölkerung im Rentenalter. Es gibt wenig Anhaltspunkte, einen Wandel der (sehr geringen) Geschlechtsunterschiede anzunehmen. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind in den vergangenen zwölf Jahren wahrscheinlich stabil geblieben. 6.4 Ausblick auf weitere Analysen Weitere Analysen, die im Kontext des Alterssurveys durchgeführt werden, beziehen sich zum einen auf längsschnittliche Veränderungen des Wohlbefindens (individuelle Entwicklungsperspektive) sowie auf die Wirkungen, die subjektives Wohlbefinden für die Person hat. 6.4.1 Veränderungen des subjektiven Wohlbefindens mit dem Alter Da ausgeprägte Zusammenhänge zwischen subjektivem Wohlbefinden und Gesundheit berichtet werden und hohes Alter mit Multimorbidität einhergeht, dürfte dies zu einem Rückgang des subjektiven Wohlbefindens im hohen Alter führen. Studien mit sehr alten Personen finden häufig einen Rückgang im bisher recht stabilen Wohlbefinden. Smith und Kollegen (2002) berichten signifikante 111 Subjektives Wohlbefinden Unterschiede zwischen 70- bis 84-Jährigen und 85- bis 103-Jährigen im subjektivem Wohlbefinden, allerdings differenziert für die verschiedenen Facetten des SWB. Das Erleben positiver Emotionen sowie die Lebenszufriedenheit zeigt einen Rückgang, aber es finden sich keine Alterseffekte für negativen Affekt und Depressivität. Diese Ergebnisse wurden auch in Längsschnittuntersuchungen bestätigt (Kunzmann, Little, & Smith, 2000). Diese Überlegungen zeigen, dass die unterschiedlichen Facetten des SWB getrennt betrachtet werden sollten. Mit Blick auf Lebenszufriedenheit wird von einem kurvilinearen Verlauf im Alter berichtet, mit einem Peak um das 65. Lebensjahr und einer dann folgenden Abnahme (Mroczek, 2005). Mit Blick auf die affektive Facette von SWB wird von einer Abnahme negativen Affekts und Stabilität positiven Affekts bis zum 60. Lebensjahr, danach nimmt dieser ebenfalls ab, berichtet (Sandin Allen, Baucom, Burnett, Epstein, & Rankin-Esquer, 2001). Dies bedeutet, dass die Veränderung der hier betrachteten Facetten des SWB im Längsschnitt lohnend ist. 6.4.2 Veränderungen der Verteilung subjektiven Wohlbefindens mit dem Alter Die gerontologische Forschung geht davon aus, dass die Unterschiedlichkeit zwischen Personen mit dem Alter zunimmt (”differential aging‛). Verschiede Ursachen werden diesem Phänomen zugeschrieben, unter anderem wird davon ausgegangen, dass mit dem zunehmenden Alter eine verstärkende Akzentuierung von Persönlichkeitsmerkmalen stattfindet, die wiederrum mit einer Vielzahl an individuellen Erlebnissen und Erfahrungen über den Lebensverlauf interagiert (Dannefer & Patterson, 2007). Außerdem wird davon ausgegangen, das im hohen Alter Unterschiede, welche auf genetische Ursachen zurückzuführen sind, sich stärker ausprägen können (Light, Grigsby, & Bligh, 1996). Mit steigendem Interesse wird das Phänomen des ”differential aging‛ in verschiedenen Funktionsbereichen untersucht. Kognitive Leistungsfähigkeit zeigt beispielsweise eine starke Variation zwischen Menschen höheren Alters (Baltes, 1997). Falls die Heterogenität auch im subjektiven Wohlbefinden ansteigt, müsste die Varianz in Facetten des Wohlbefindens im Alter zunehmen. Gerade im Hinblick auf eine mögliche Abnahme von Wohlbefinden, könnte eine Zunahme von Heterogenität für eine mögliche andauernde Resilienz auch im sehr hohen Alter sprechen. 6.4.3 Wandel von Altersveränderungen im Lauf der historischen Zeit Der Alterssurvey bietet die Möglichkeit, zu überprüfen, ob sich individuelle Entwicklungen im Lauf des gesellschaftlichen Wandels unterschiedlich gestalten. Dabei stellt sich die Frage, ob individuelle Ereignisse wie der Übergang in den Ruhestand oder der Verlust des Partners aufgrund von gesellschaftlichen Ent- 112 Subjektives Wohlbefinden wicklungen ihre Bedeutung für den Einzelnen bzw. eine Kohorte verändern. Die Einschätzung der subjektiven Lebenszufriedenheit kann hierbei auch als Maß für die Auswirkungen gesellschaftliche Veränderung herangezogen werden. 6.4.4 Wirkungen subjektiven Wohlbefindens In jüngster Zeit ist in der Forschung ein Perspektivwechsel zu beobachten, die Frage, was hohes bzw. geringes Wohlbefinden bedingt, tritt in den Hintergrund und es wird vielmehr danach gefragt, welche Auswirkungen SWB auf andere Bereiche wie soziale Integration, Gesundheit oder Sterblichkeit hat. Überblicksarbeiten zum Einfluss von positiven Affekt und hoher Zufriedenheit haben gezeigt, dass glückliche Personen in vielen Bereichen des Lebens erfolgreicher sind als weniger glückliche Personen (Lyubomirsky, King, & Diener, 2005; Pressman & Cohen, 2005). Beispielsweise, sind glückliche Menschen besser sozial integriert als weniger glückliche Menschen. Positive Auswirkungen von hoher Zufriedenheit wurden auch bezüglich dem Verlauf von Krankheiten und dem Risiko zu Sterben berichtet. Positiver Affekt war zum Beispiel mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einen Schlaganfall zu erleiden assoziiert (Ostir, Markides, Peek, & Goodwin, 2001). Innerhalb einer Stichprobe von Diabetes-Patienten wurde für mehr erlebten positiven Affekte eine verringerte Sterblichkeit berichtet (Moskowitz, Epel, & Acree, 2008). Es ist daher lohnenswert zu beleuchten, inwieweit ein hohes Ausgangsniveau im Wohlbefinden mit einer positiveren Entwicklung über die Zeit zusammenhängt, bzw. ein geringes Ausgangsniveau mit einer weniger positiven Entwicklung in anderen Lebensbereichen einhergeht. 6.5 6.5.1 Methodik Datenbasis Für die Fragen zum Wandel des SWB werden die drei Basisstichproben 1996, 2002 und 2008 verwendet. Für die Fragen zu individuellen Veränderungen werden zwei Stichproben verwendet, und zwar zum einen das Zwölf-Jahres-Panel (1996-2002-2008) sowie die zwei Sechs-Jahres-Panel (1996-2002 sowie 2002-2008). 6.5.2 Instrumente Es werden vier Facetten des subjektiven Wohlbefindens berücksichtigt: Lebenszufriedenheit (LZ), positiver Affekt (PA), negativer Affekt (NA) sowie depressive Symptome. 113 Subjektives Wohlbefinden Tabelle 6-1: Untersuchte Facetten von subjektiven Wohlbefinden Konstrukt Beispiel-Items und Antwortvorgabe Quelle Lebenszufriedenheit 1. In den meisten Dingen ist mein Leben nahezu ideal. 2. Meine Lebensbedingungen sind hervorragend. 3. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Antwortvorgabe: Trifft genau zu, trifft eher zu, weder/noch, trifft eher nicht zu, trifft gar nicht zu Pavot & Diener, 1993 Positiver Affekt 1. Begeistert, 2. Freudig erregt/erwartungsvoll, 3. Stark Antwortvorgabe: In den letzten Monaten habe ich mich (nie, eher selten, manchmal, häufig, sehr häufig) so gefühlt Watson, Clark, & Tellegen, 1988 Negativer Affekt 1. Verärgert, 2. Schuldig, 3. Eingeschüchtert Antwortvorgabe: In den letzten Monaten habe ich mich (nie, eher selten, manchmal, häufig, sehr häufig) so gefühlt Watson, Clark, & Tellegen, 1988 Depressive Symptome Während der letzten Woche... 1. haben mich Dinge beunruhigt, die mir sonst nichts ausmachen. 2. konnte ich meine trübsinnige Laune nicht loswerden, obwohl meine Freunde/Familie versuchten, mich aufzumuntern. 3. hatte ich Mühe, mich zu konzentrieren. Antwortvorgabe: Selten/überhaupt nicht (weniger als einen Tag lang), manchmal (ein bis zwei Tage lang), öfters (drei bis vier Tage lang), meistens, die ganze Zeit (fünf bis sieben Tage lang Hautzinger, 1988 6.5.3 Auswertungsstrategien Es werden für die drei Messzeitpunkte (1996, 2002 und 2008) die mittleren Werte und die Verteilungen für die vier Facetten deskriptiv analysiert. Die Analysen werden für die gesamten Stichproben sowie nach Altersgruppen, Geschlecht, Region und Schicht durchgeführt. Literatur Amato, P. R., Johnson, D. R., Booth, A., & Rogers, S. J. (2003). Continuity and Change in Marital Quality Between 1980 and 2000. Journal of Marriage & Family, 65(1), 1-22. Angele, J. (2007). Überschuldung privater Haushalte im Jahr 2006. Wirtschaft und Statistik, 2007(10), 948-959. 114 Subjektives Wohlbefinden Asendorpf, J. B. (2008). Living apart together: Alters- und Kohortenabhängigkeit einer heterogenen Lebensform. 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Werte und Altersbilder Oliver Huxhold, Susanne Wurm & Clemens Tesch-Römer Inhalt 7.1 Einleitung ..................................................................................... 120 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 Allgemeine Werthaltungen ........................................................... 121 Die universelle Struktur menschlicher Werte ..................................... 123 Wertewandel ...................................................................................... 126 Veränderungen von Werthaltungen in der zweiten Lebenshälfte ..... 127 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 Altersbilder .................................................................................. 129 Die Bedeutung von Altersbildern ........................................................ 130 Die Veränderung und Vielfalt von Altersbildern ................................. 131 Altersbilder im sozialen Wandel ......................................................... 132 7.4 Auswertungsplanungen für den Abschlussbericht ......................... 133 7.4.1 Werte: Was ist Menschen in der zweiten Lebenshälfte besonders wichtig? ............................................................................................... 134 7.4.2 Altersbilder: Welche Vorstellungen vom Älterwerden haben Menschen in der zweiten Lebenshälfte und wie wandeln sich diese?135 Literatur ................................................................................................ 136 7.1 Einleitung Werte beeinflussen individuelles Verhalten und haben Einfluss auf die Interaktionen von Individuen und Gruppen (z.B. Allport, 1961). Die Verteilung von Werten in einer Gesellschaft ist nicht homogen, sondern unterscheidet sich zum Teil nach sozialpolitischen Milieus, zwischen Ethnien sowie Alterskohorten (Trommsdorff, Mayer, & Albert, 2004). Dabei unterliegen Werte oder Werthaltungen nicht nur dem historischen Wandel, sondern verändern sich auch auf der Ebene einzelner Individuen über die Lebensspanne (Schmuck & Kruse, 2004). Gleiches gilt für Altersbilder. Eine Reihe von Studien weist darauf hin, dass gesellschaftliche und individuelle Bilder vom Älterwerden und Altsein hohe Bedeutung für das individuelle Verhalten, soziale Interaktionen sowie für die Lebensdauer älterer Menschen haben. Altersbilder verändern sich über den eigenen Lebenslauf und das eigene Älterwerden hinweg. Zugleich tragen gesellschaftliche Prozesse dazu bei, dass sich das allgemeine Bild vom Altern und Altsein wandelt. Aus der Sicht der Altersforschung ist die empirische Untersuchung von Werten und Altersbildern in zweifacher Weise interessant. Die demografische Entwick 120 Werte und Altersbilder lung in Deutschland, die zu einem immer größer werdenden Anteil älterer und hochaltriger Menschen an der Gesamtpopulation führt, macht deutlich, welche Konsequenzen vorherrschende Werte und Altersbilder in der Gesellschaft haben können, sowohl mit Blick auf die individuelle Lebensqualität als auch bezüglich der sozialpolitischen Ausgestaltung von Generationenbeziehungen. Zudem zeichnet sich ab, dass nachfolgende Kohorten Älterer gesünder und besser gebildet ins Alter kommen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig zu betrachten, wie Werte und Altersbilder in verschiedenen Generationen Älterer ausgeprägt sind. Im Folgenden wird zunächst eine Definition des Wertebegriffs sowie seiner verwandten Konstrukte angeboten bevor eine kurze Beschreibung gängiger Theorien des gesellschaftlichen Wertewandels sowie biografischer Veränderungen von Werthaltungen über die Lebensspanne erfolgt (Abschnitt 7.2). Im Anschluss daran wird die Bedeutung von Altersbildern dargestellt und aufgezeigt, welchen individuellen und gesellschaftlichen Veränderungen Altersbilder unterliegen (Abschnitt 7.3). Abschließend werden Fragestellungen vorgestellt, die im Rahmen des Abschlussberichtes des Alterssurveys adressiert werden sollen (Abschnitt 7.4). 7.2 Allgemeine Werthaltungen Während in der Soziologie und der angewandten Politikwissenschaft der Begriff des Werts häufig relativ unstrittig behandelt wird, herrscht in der Psychologie eine Konfusion verschiedenster Wertedefinitionen und verwandter Konstrukte (Oyserman, 2001). Schmuck und Kruse (2006) sprechen in ihrer entwicklungspsychologischen Abhandlung zur psychologischen Werteforschung vom ”Chaos der Definitionen‛. Schwartz und Bilsky (1990) stellen fest, dass fünf Phänomene häufig im Zusammenhang mit Werten genannt werden: a) Glaubensvorstellungen, b) erstrebenswerte Endzustände oder Verhaltensweisen, c) transsituationale Leitfäden, d) Selektion und Evaluation von Verhalten oder Ereignissen sowie e) die relationale Ordnung von Glaubensvorstellungen, erstrebenswerten Endzuständen oder Verhalten und Handlungsleitfäden. Allen diesen Phänomenen ist gemeinsam, dass sie Bedeutung stiften und handlungsmotivierend wirken. Jedoch wird traditionell die sinnstiftende Begründung von Verhalten im entwicklungspsychologischen Kontext hinsichtlich mehrerer Ebenen beschrieben, die von allgemeinen Werten und Normen, über Einstellungen und Stereotype, hin zu konkreten Zielen reichen (Oerter, 2007; Schmuck & Kruse, 2006; Wentura & Rothermund, 2005). Demzufolge erscheint es sinnvoll, umfassend die relevanten motivationalen Wurzeln menschlichen Handelns in der zweiten Lebenshälfte zu behandeln und damit sowohl Werte, Einstellungen und Ziele als auch altersbezogene Vorurteile und Bilder zu berücksichtigen. Im Kontext des Alterssurveys wird also nicht nur die Bedeutung von Werten beleuch 121 Werte und Altersbilder tet, sondern auch die Relevanz wertverwandter Konstrukte für geisteswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Fragestellungen einbezogen. Zunächst fokussieren diese Betrachtungen auf allgemeine Werthaltungen. Anschließend werden Altersbilder in einem gesonderten Abschnitt behandelt. In der International Encyclopedia of the Social and Behavioural Sciences unterscheidet die Soziologie der Werte vier Dimensionen des Wertekonzepts (Reszohasy, 2001): (1) Jeder Wert hat ein Objekt, auf das sich dieser Wert bezieht. Jedes Objekt der sozialen Realität kann einen Wert-Aspekt haben. (2) Der Wert-Aspekt eines Objektes beinhaltet immer ein Urteil, das Aussagen über die Güte des Objekts erlaubt. (3) Werte können zu Normen werden, wenn sie Regeln umfassen, sich auf eine gewisse Art zu verhalten. (4) Werte können auf der Ebene einzelner Individuen oder auch der Ebene sozialer Gruppen repräsentiert sein. Insofern ist es möglich, von den Werten dieser oder jener Person zu sprechen oder auch Aussagen über das Auftreten oder die Verteilung von Werten einer Gruppe, beispielsweise der Mittelschicht, zu treffen. Der Begriff des Wertes ist also direkt verbunden mit den Begriffen der Heterogenität sowie der sozialen Ungleichheit, wie im Kapitel 1 ”Wandel von Lebensqualität und Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte‛ dargestellt. Die soziologische Definition von Werten wird ergänzt durch die Einbettung einzelner Werte in eine Hierarchie von Wertesystemen, die sich zum einen durch ihre Abstraktheit beziehungsweise Generalisierbarkeit und zum anderen durch die Zentralität einzelner Werte differenziert. In diesem Kontext beinhalten einzelne Werte oder Wertesysteme nicht nur kognitive Komponenten, sondern besitzen auch teilweise stark ausgeprägte affektive Aspekte. Auch die Psychologie identifiziert kognitive und affektive Wertkomponenten (Oyserman, 2001). Sie differenziert jedoch zwischen Werten auf der Ebene des Individuums und solchen auf Gruppenebene. Werte auf der Individuumebene sind soziale Repräsentationen oder moralische Glaubensvorstellungen, auf die sich Personen als ultimative Begründung für bestimmte Verhaltensweisen beziehen. In dieser Vorstellung liefern Werte, die im Sozialisationsprozess internalisiert wurden, die Begründung für Urteile, Präferenzen oder Handlungen im späteren Lebensverlauf (Maio, Olson, Bernhard, & Luke, 2003). Auf der Ebene von Gruppen stellen Werte kulturelle Ideale dar, die alle Mitglieder einer Gemeinschaft teilen. In diesem Sinne ermöglichen Werte soziale Kohärenz, eröffnen aber auch die Möglichkeit von Konflikten zwischen Gruppen (Reszohasy, 2001). Einzelne Werte sind in den gängigen, modernen Wertetheorien immer in einer 122 Werte und Altersbilder Struktur mit anderen Werten verbunden und beeinflussen sich wechselseitig (Maio et al., 2003; Rohan, 2000). Aus psychologischer Sicht ist zu beachten, dass Werte als allgemeine, handlungsleitende Prinzipien anzusehen sind und weder mit Normen im strengen Sinne noch mit Handlungsweisen an sich verwechselt werden dürfen (Oyserman, 2001). Rohan (2000) führt aus, dass Werte bewusste und unbewusste Aspekte aufweisen und unter Umständen handlungsleitend sein können, ohne bewusste Reflexion auszulösen. Ob sich jedoch eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation entsprechend eines Wertes verhält, hängt auch davon ab, ob der entsprechende Wert in dieser Situation salient ist (Fazio, Jackson, Dunton, & Williams, 1995; Fazio, Sanbonmatsu, Powell, & Kardes, 1986). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich die kognitive Zugänglichkeit von Werten zwischen Personen unterscheiden kann (Fazio & Powell, 1997). Dies bedeutet auch, dass sich Menschen nicht nur in ihren Werten selbst unterscheiden, sondern auch, dass es Unterschiede hinsichtlich der Stärke gibt, in der sich eine bestimmte Person von ihren Werten in ihrem Handeln leiten lässt. 7.2.1 Die universelle Struktur menschlicher Werte Eine dominante Annahme in der Werteforschung besagt, dass die Struktur menschlicher Werte universell und kulturübergreifend ist, sich jedoch die relative Wichtigkeit, die Menschen bestimmten Werten zuordnen, zwischen Personen und Kulturen unterscheidet (Rohan, 2000; Maio et al., 2003). Argumente für die Plausibilität dieser Universalitätsannahme verweisen häufig auf fundamentale Probleme der menschlichen Existenz, die auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene einer Lösung bedürfen. Schwartz und Bilsky (1987) diskutieren verschiedene Wertekombinationen als individuelle Lösung dreier, miteinander verknüpfter, existenzieller Problembereiche: (1) den biologischen Bedürfnissen von Individuen (Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung etc.), (2) den Voraussetzungen für die Koordination sozialer Interaktionen und (3) den Anforderungen an das Überleben und Funktionieren von Gruppen. Schmuck und Kruse (2006) argumentieren ebenfalls aus einer evolutionsbiologischen Perspektive. In ihrer Auffassung liegen drei Anforderungen dem Katalog menschlicher Werthaltungen zu Grunde, die entweder aus dem Überleben und der Fortpflanzung des Individuums, den Bedürfnissen sozialer Kohäsion oder der Tragfähigkeit der bewohnten Umwelt erwachsen.7 Im politischen Wertediskurs entwickeln Inglehart und Weltzel (Inglehart, 1970; Weltzel, Inglehart, & Klingemann, 2003) die Annahme, dass die Befriedigung der fundamentalen, individuellen Bedürfnisse, die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Veränderungen erlaubt. 7 Allerdings ist der Meinung der Autoren zu Folge die konkrete Wertewelt nicht objektiv abbildbar, da sich niemals alle möglichen Realisierungen von Werten erfassen ließen. 123 Werte und Altersbilder Aus der letztgenannten Sichtweise wird ersichtlich, dass einzelne Werte nicht in Isolation voneinander in einem abstakten Werteraum existieren, sondern dass Wertepräferenzen sich wechselseitig beeinflussen und auch wechselseitig ausschließen können (Reszohasy, 2001). In der strukturellen Perspektive der Werteforschung sind Werte systemisch verbunden. Die Veränderungen einzelner Komponenten haben Auswirkungen auf das gesamte System. Die Änderung einer Wertepräferenz zieht also Veränderungen auf anderen Wertedimensionen nach sich (Schwartz & Boehnke, 2004). Unter dieser Bedingung ist es entscheidend, eine Annahme über die Struktur von Werten zu treffen, denn ohne diese ist es unmöglich auf Grund einer festgestellten Veränderung eines bestimmten Wertes, Konsequenzen für die Bedeutung anderer Werte zu erschließen. Eine strukturelle Theorie menschlicher Werte, für die es zunehmend kulturübergreifende, empirische Evidenz gibt, entwickelten Schwartz und Bilsky (1987; 1990) aufbauend auf den Arbeiten von Rokeach (1973). Eine grundsätzliche Hypothese dieser Theorie besagt, dass die Verfolgung bestimmter Werte mit anderen Werten entweder konfligieren oder harmonieren kann, wobei das Ausmaß von Konflikt und Harmonie graduell zwischen verschiedenen Wertdimensionen variiert. Es sind also Wertekombinationen denkbar, die direkt antagonistisch sind, die in unterschiedlichem Maße konfligieren oder die sich orthogonal zueinander verhalten. Unter diesen Voraussetzungen kann man von einer zirkulären Struktur eines menschlichen Wertekontinuums sprechen (z.B. Schwartz, 1999; Schwartz & Boehnke, 2003; siehe Abbildung 7-1). Abbildung 7-1: Das Zirkumplexmodell menschlicher Werte (Schwartz, 1999) Quelle: Vortrag Boehnke (Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2008) 124 Werte und Altersbilder Schwartz und Kollegen (Schwartz & Bilsky 1987; 1990; Schwartz & Boehnke, 2003) beschreiben zehn Grundwerte, die sich mehr oder minder gut weiter differenzieren lassen und die sich wiederum zu einer zweidimensionalen Struktur vereinfachen lassen (siehe Tabelle 7-1): Eine dieser Dimensionen, die aus dem Wertepaar Offenheit für Veränderung versus Bewahrung des Bestehenden (Konservatismus) gebildet wird, bezieht sich auf den Konflikt zwischen der Motivation, neue Erfahrungen zu machen, und dem Bedürfnis, Bestehendes zu erhalten. Die zweite Dimension wird zwischen den Polen Selbststärkung (Selbstfokus) versus Selbstüberwindung (Selbsttranszendenz) aufgespannt. Dieses Kontinuum ordnet Werte hinsichtlich ihrer Eigenschaft, Individuen zu motivieren, ihre eigenen Ziele auch auf Kosten ihrer sozialen und natürlichen Umwelt zu verfolgen. Tabelle 7-1: Definition der Wertedimensionen (nach Schwartz, 1999) Quelle: Vortrag Boehnke (Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2008) Die zirkuläre Struktur des Modells von Schwartz ist in vielen länder- und kulturübergreifenden Studien dokumentiert worden. Die universelle Einsetzbarkeit des von Schwartz weiterentwickelten Fragebogens ist in einer zusammenfassenden Arbeit mit Hilfe konfirmatorischer Faktoranalysen unter der Einbeziehung von rund 11.000 Probanden aus etwa 60 verschiedenen Ländern belegt (Schwartz & Boehnke, 2004). Die multidimensionale Beschreibung des Werteraums von 125 Werte und Altersbilder Schwartz eignet sich auch zu Charakterisierung von Kulturen (Trommsdorff et al., 2004; Schwartz, 1996). In diesem Kontext werden beispielsweise die Wertemaßstäbe von Nationen aus den Mittelwerten der Wertepräferenzen der sie bewohnenden Individuen geschätzt. Dieser Ansatz wird auch von Theorien des gesellschaftlichen Wertewandels verfolgt. 7.2.2 Wertewandel Theorien zum gesellschaftlichen Wertewandel sind eng mit Modernisierungstheorien verbunden. Ein einflussreiches Beispiel dieses Ansatzes ist das Modell von Inglehart (1970), welches auf der Bedürfnishierarchie Maslows (1970) aufbaut. In diesem Modell wird die Verfolgung basaler Bedürfnisse des Überlebens und der Sicherheit nach deren Befriedigung abgelöst von Zielen, die sich auf Zugehörigkeit und Selbstverwirklichung beziehen. Inglehart (1970) argumentierte, dass die industrielle Revolution zunächst begleitet war von einer Fokussierung auf materialistische Bedürfnisse, jedoch hätte die Erhöhung des Lebensstandards und der sozialen Sicherung im Verlauf der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer zunehmenden Attraktivität postmaterialistischer Wertevorstellungen geführt. Diese Wandlung sollte sich in der gesellschaftlichen Präferenz materialistischer und postmaterialistischer Werte abbilden. Inglehart (1996) überprüfte diese Hypothese durch die Befragung von Personen aus 43 Nationen, die verschiedene materialistische und postmaterialistische Werte hinsichtlich ihrer Bedeutung für ihr Land ordnen sollten. Im Einklang mit der Vorhersage konstruierten diese Rangordnungen faktoranalytisch eine Dimension, die von ausgesprochen materialistischen bis hin zu postmaterialistischen Zielen reichte. Da die Generationen, die vor dem 2. Weltkrieg geboren wurden, noch in einer Zeit des Mangels und der Unsicherheit sozialisiert wurden, wurde vorhergesagt, dass bei ihnen materialistische Werte ausgeprägter seien als in den nachfolgenden Generationen. Auch diese Hypothese ließ sich empirisch bestätigen (Schwartz, 1996). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Trommsdorff und Kollegen (2004). Die Autoren fanden bei älteren Menschen eine signifikant größere Schwerpunktlegung auf traditionelle Werte als bei jüngeren Menschen.8 Eine Kritik des universalistischen, biopsychologischen Models Ingleharts wurde von Klages und Kollegen formuliert (z.B. Klages, 1975; Klages & Gensicke, 2006). Nach Ansicht der Autoren bedingt die ökonomische Entwicklung nicht zwangsläufig einen Übergang von traditionellen, materialistischen Werten hin zu selbsttranszendenten, postmaterialistischen Werten. Vielmehr sollte eine erfolgreiche Bewältigung der Komplexität und Dynamik moderner Gesellschaften eine 8 Später wurde der Übergang vom Materialismus zum Postmaterialismus auf der Ebene von Kulturen in der Erweiterung des Modells durch Welzel et al. (2003) ergänzt durch die Vorhersage einer Zunahme demokratischer Strukturen mit steigendem Lebensstandard. 126 Werte und Altersbilder flexible Anpassung und Wertepluralität erfordern (Klages, 1975; Klages & Gensicke, 2006). So identifizieren Klages und Kollegen denn auch in ihrer Theorie der Wertsynthese den Typen des aktiven Realisten, der sich durch die gleichzeitige Betonung teilweise konformistisch/konservativer und teilweise selbsttranszendenter Werte auszeichnet, als Erfolgsmodell der Anpassung an die rasante Zunahme gesellschaftlicher Komplexität (Klages & Gensicke, 2006). Diese Erkenntnis konnte nur durch die Anerkennung der Multidimensionalität des menschlichen Wertekatalogs erzielt werden, die auch in einigen empirischen Studien bestätigt wurde (Gensicke, 2000; Klages & Gensicke, 2005). Um diese Komplexität zu erfassen, sind die von Klages und Kollegen verwendeten Ratingverfahren, in denen jede Werthaltung unabhängig bewertet werden kann, geeigneter als die Rankingverfahren Ingleharts. Eine weitere fundamentale Kritik an universellen Wertetheorien zielt auf die angenommene Stabilität individueller Werthaltungen über die Lebensspanne ab. Alle gängigen Theorien gehen zwar von der sozialen Formung individueller Werthaltungen aus. Politische und soziologische Theorien betonen jedoch die Stabilität individueller Wertemuster nach Abschluss der Sozialisationsphase im Jugendalter (z.B. Inglehart, 1970; Welzel et al., 2003). In diesem Kontext ist die Untersuchung von Werteveränderungen beschränkt auf Kohortenvergleiche. In entwicklungspsychologischen Theorien geht es dagegen um die Beschreibung und Erklärung von Veränderungen der individuellen Wertestruktur über die Lebensspanne (Schmuck & Kruse, 2006; Oerter, 2007; Trommsdorff et al., 2004). 7.2.3 Veränderungen von Werthaltungen in der zweiten Lebenshälfte Bestehende entwicklungspsychologische Wertetheorien betonen den Interaktionscharakter der Beziehung zwischen intraindividuellen Werthaltungen und einer sich verändernden sozialen Umgebung. Deutlich wird dies in dem von Havighurst erstmalig artikulierten Konzept der Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1948; 1972). Eine Entwicklungsaufgabe wird von Havighurst (1972) als Aufgabe definiert, die sich nahezu jedem Individuum innerhalb einer bestimmten Lebensperiode stellt. Deren Bewältigung ermöglicht hohes subjektives Wohlbefinden, deren Nichtbewältigung erschwert hingegen die Lösung weiterer Entwicklungsaufgaben und führt zu einer Ablehnung durch die Gesellschaft.9 Havighurst (1948) unterscheidet hierbei drei Quellen für Entwicklungsaufgaben: (1.) physische Reife, (2.) kultureller Druck (soziale Anpassung) und (3.) individuelle Zielsetzungen oder Werte. Als aktiver Agent der eigenen Entwicklung muss das Individuum sich selbst immer neue Ziele setzen, aber auch den eige9 Die gesellschaftlichen Normen, die aussagen, zu welchem Zeitpunkt ein bestimmtes Lebensziel erreicht werden sollte, differieren häufig zwischen Altersgruppen (Byrd & Breuss, 1992). 127 Werte und Altersbilder nen Wertekatalog den entwicklungsbedingten Gegebenheiten anpassen (z.B. Dreher & Oerter, 1985). In diesem Zusammenhang wird häufig auch den vom individuellen Entwicklungsverlauf abhängigen Übernahmen und Abgaben sozialer Rollen ein besonderer Einfluss auf die individuellen Wertestrukturen eingeräumt (vgl. Schmuck & Kruse, 2006). Eine typische Entwicklungsaufgabe des höheren Erwachsenenalters ist das Ausscheiden aus dem Berufsleben und dem damit einhergehenden Rollenwechsel. Je nachdem, welcher Theorie man folgen möchte, ist dieser Wechsel mit einer Zunahme oder einer Abnahme selbstfokussierter Werte verbunden. Während die Aktivitätstheorie vorhersagt, dass der Übergang in den Ruhestand nicht mit automatischen Werteverschiebungen verbunden sein muss (Havighurst, 1963), besagt die Disengagementtheorie (Cumming & Henry, 1961), dass eine erfolgreiche Bewältigung der Altersphase einen stärkeren Bezug auf selbstfokussierte Werte erfordert. Aus anderen generalisierbaren Theorien des Alters lassen sich weitere Hypothesen über einen Wertewandel im Übergang vom mittleren zum höheren und hohen Erwachsenenalter ableiten (cf. Schmuck & Kruse, 2006). Die sozioemotionale Selektivitätstheorie (Carstensen, 1991) geht beispielsweise davon aus, dass im Alter eine stärkere Orientierung an selbstbezogenen Werten und eine Verringerung des Leistungsmotivs besteht, denn die Aussicht begrenzter verbleibender Lebenszeit soll der Theorie zu Folge mit einer erhöhten Wichtigkeit intensiver emotionaler Kontakte gekoppelt sein. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (Baltes & Baltes, 1989) hingegen sagt vorher, dass die mit dem Alter abnehmenden Ressourcen die Auswahl und Konzentration auf weniger Lebensziele erforderlich machen. Dies bedeutet, dass ältere Menschen nicht mehr in dem Maße multiple Werte verfolgen können wie jüngere Menschen. Daraus lässt sich folgern, dass die Gruppe der älteren Erwachsenen heterogener in ihrem Werteprofil sein müsste als die Gruppe mittelalter Erwachsener. Ob und inwieweit die oben erwähnten Hypothesen der empirischen Realität entsprechen, hängt sicherlich mit den interindividuellen Unterschieden in der beobachteten Stichprobe zusammen. Die Notwendigkeit zur Werteselektion ist zum Beispiel direkt mit den verfügbaren Kapazitäten des Individuums verknüpft. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Einschätzung der Verfügbarkeit von Ressourcen nicht nur objektiven Kriterien entspringt, sondern auch subjektiven Bewertungen unterworfen ist (Baltes, 1995). Solche subjektiven Bewertungen spiegeln sich unter anderem in individuellen Altersbildern wider, die im folgenden beschrieben werden. 128 Werte und Altersbilder 7.3 Altersbilder Altersbilder reflektieren individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen vom Älterwerden und Altsein. Gesellschaftliche Vorstellungen finden hierbei in erster Linie ihren Ausdruck in Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Älteren.10 Altersbilder können sich auf Vorstellungen vom Alter (Zustand des Altseins) und Vorstellungen vom Altern (Prozess des Älterwerdens) beziehen. Die Bilder vom Altsein reichen hierbei von einfachen Eigenschaftszuschreibungen wie beispielsweise ”gebrechlich, vergesslich, starrsinnig‛ oder auch ”verständnisvoll, erfahren, weise‛ hin zu komplexen Überzeugungsstrukturen und Altersstereotypen. Die Beschreibung verschiedener Prototypen älterer Menschen wie zum Beispiel "golden agers", "perfekte Großeltern", "Griesgram", "Einsiedler" (Hummert, Garstka, Shaner, & Strahm, 1994) zeigt, dass positiv wie negativ belegte stereotype Bilder über ältere Menschen bestehen. Demgegenüber bezeichnen Bilder vom Älterwerden individuelle Vorstellungen und gesellschaftliche Stereotype, die Menschen vom Prozess des Älterwerdens haben. Gängige negative Stereotype über das Altern sind mit der Überzeugung verbunden, dass alterskorrelierte Verluste in bestimmten Bereichen mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten und weitgehend unbeeinflussbar sind (z.B. abnehmende körperliche Fitness, Nachlassen von Gedächtnisleistung). Auch wenn alle Altersgruppen sowohl positive wie negative Bilder vom Älterwerden und Altsein haben, überwiegen negative Einstellungen und Stereotype (z.B. Cuddy & Fiske, 2002). Diese manifestieren sich in diskriminierenden Einstellungen und Verhalten gegenüber älteren Personen, zum Beispiel gegenüber älteren Erwerbstätigen (Glover & Branine, 2001), älteren Patienten in der medizinischen Versorgung (Bowling, 1999) oder pflegerischen Versorgung (Baltes & Reisenzein, 1986). Nicht nur die Altersdiskriminierung durch jüngere Menschen kann das Älterwerden erschweren. Im Vergleich zu anderen Stereotypen weisen Altersstereotype eine Besonderheit auf: Sie werden ab der frühen Kindheit gelernt und beziehen sich zunächst auf eine andere, weit entfernte Altersgruppe. Aber alle Menschen, die nur lange genug leben, wachsen unvermeidlich in diese stereotypisierte Gruppe hinein. Dadurch, dass ältere Menschen bereits früh in ihrem Lebenslauf und damit lange bevor sie selbst Mitglied dieser Gruppe wurden, die überwiegend negativen Sichtweisen auf das Alter(n) assimiliert haben, sind sie anfällig dafür, diese negativen Stereotype auf die eigene Altersgruppe anzuwenden. Altersdiskriminierung erfolgt damit nicht nur durch jüngere, sondern teilweise auch durch andere ältere Menschen. 10 Als Stereotyp wird in der sozial-kognitiven Forschung die mentale Repräsentation von Merkmalsassoziationen mit einer sozialen Gruppe bezeichnet. Mit Stereotypen sind zunächst wertneutrale mentale Repräsentationen gemeint, während ein Vorurteil immer eine negative Einstellung gegenüber einer sozialen Gruppe ist. 129 Werte und Altersbilder 7.3.1 Die Bedeutung von Altersbildern Die Betrachtung der vorherrschenden gesellschaftlichen und individuellen Altersbilder ist wichtig, da diese Bilder erhebliche Wirkung entfalten können. Eine Reihe von Studien hat darauf hingewiesen, dass Altersstereotype auf die Interaktion zwischen Personen wirken und Folgen für die älteren Personen haben. Hummert, Shaner, Garstka und Henry (1998) verglichen beispielsweise die Kommunikationsstile von Personen (verschiedener Altersklassen) gegenüber einer älteren Person, die ein negatives Altersbild verkörperte und einer, die ein positives Altersbild verkörperte. Gegenüber der Person, die ein negatives Altersbild verkörperte zeigte sich konsistent ein deutlich stärker bevormundendes und herablassendes Kommunikationsverhalten als gegenüber jener, die ein positives Altersbild verkörperte. Mehrere Studien konnten zeigen, dass explizit geäußerte Altersstereotype einen erheblichen Einfluss auf ältere Personen haben können, z.B. auf ihre Gedächtnisleistungen und ihre Genesung nach einer Krankheit (z.B. Hess, Auman, Colcombe, & Rahhal, 2003; Levy, Slade, May, & Caracciolo, 2006). Altersstereotype können zudem in subtilerer Weise wirken, d.h. sie entfalten eine Wirkung, ohne dass den älteren Personen diese Altersstereotype bewusst würden. Experimentelle Studien, die dies untersuchten, verwendeten meist eine Technik, bei der auf dem Computerbildschirm für nur wenige Millisekunden bestimmte Begriffe eingeblendet werden. Auf diese Weise werden die Begriffe unterhalb der Bewusstseinsschwelle wahrgenommen. Älteren Personen wurden mit dieser Technik negative Altersbilder wie ”Senilität‛ oder positive Altersbilder wie ”Weisheit‛ vermittelt. Tatsächlich zeigte sich in diesen Studien, dass Personen, die auf diese subtile Weise negative Altersbilder erhalten hatten, sich in ihren Gedächtnisleistungen, ihrer Handschrift, Gehgeschwindigkeit und ihren physiologischen Stressreaktionen von jenen unterschieden, die positive Altersbilder erhalten hatten. In allen Studien fielen ihre Werte ungünstiger aus (Hausdorff, Levy, & Wei, 1999; Levy, 1996; Levy, Hausdorff, Hencke, & Wei, 2000). Aber auch die Vorstellungen vom eigenen Älterwerden und Altsein können erhebliche Konsequenzen haben. Mehrere Studien wiesen darauf hin, dass ältere Menschen häufiger dazu neigen, Symptome und körperliche Einschränkungen nicht auf Krankheiten zurückzuführen, sondern auf ihr Alter. Zugleich zeigten diese Studien, dass Personen, die gesundheitliche Probleme eher ihrem Alter zuschreiben, seltener zum Arzt gehen, ein ungünstigeres Gesundheitsverhalten haben und früher sterben (z.B. Goodwin, Black, & Satish, 1999; Leventhal & Prohaska, 1986; Sarkisian, Hays, & Mangione, 2002). Neuere Längsschnittstudien stützen diese Befunde indem sie zeigten, dass die individuelle Sicht auf das Älterwerden einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie gesund Menschen älter werden und wie lange sie leben (z.B. Levy & Myers, 2005; Levy, Slade, & Kasl, 2002; Levy, Slade, Kasl, & Kunkel, 2002; Maier & Smith, 1999; Wurm, Tesch 130 Werte und Altersbilder Römer, & Tomasik, 2007). Zusammen liefern diese Befunde erhebliche Evidenz für die Annahme, dass die Sicht auf das eigene Älterwerden langfristige Folgen entfalten kann. 7.3.2 Die Veränderung und Vielfalt von Altersbildern Bereits ab der Kindheit werden Altersstereotype erworben, während eigene Erfahrungen mit dem Älterwerden erst deutlich später im Lebenslauf gemacht werden. Dies bedeutet, dass Altersstereotype mit den eigenen Erfahrungen verglichen werden können. Die Konsequenzen dieses Vergleichs werden von verschiedenen theoretischen Positionen unterschiedlich bewertet. Die ”Vergleichshypothese‛ besagt, dass der Vergleich der eigenen Alterserfahrungen mit dem, im allgemein negativen, Bild des Alterns einem Abwärtsvergleich entspricht (vgl. Heckhausen & Brim, 1997). Je negativer das Altersstereotyp ist, desto positiver fällt dieser Hypothese zufolge der Vergleich mit den eigenen Alterserfahrungen aus. Dementsprechend sollten Personen mit negativen Altersstereotypen hohe Werte im subjektiven Wohlbefinden aufweisen, da sie angesichts dieser negativen Bilder die eigenen Alterserfahrungen vergleichsweise positiv bewerten können. Die ”Kontaminationshypothese‛ besagt hingegen, dass sich eine Person umso mehr selbst zur Gruppe der alten Menschen zugehörig fühlt, je mehr die in der Jugend erworbenen Altersstereotype in das Selbstbild übernommen wurden. Eine Längsschnittstudie von Rothermund und Brandtstädter (2002) stützt die größere Bedeutung der Kontaminationsthese gegenüber dem positiven Einfluss des sozialen Abwärtsvergleichs. Dies spricht, Wentura und Rothermund zufolge dafür, dass ”(…) ein in jungen Jahren erworbenes negatives Altersstereotyp zur Bürde des Alters‛ wird (Wentura & Rothermund, 2005, S.25). Altersstereotype beeinflussen (”kontaminieren‛) demnach die individuelle Sicht auf das Älterwerden und diese Altersbilder, die auf gesellschaftlichen und individuellen Vorstellungen vom Älterwerden und Altsein beruhen, können negative Folgen für das eigene Altern haben. Was aber sind die Inhalte von Altersbildern, die sich zu einer Bürde des Alters entfalten können und gibt es auch Altersbilder mit positiven Folgen? Studien, die sich mit den Folgen der individuellen Sicht auf das Älterwerden beschäftigt haben, verwendeten meist ein eindimensionales Maß zur sogenannten Alterszufriedenheit (Lawton, 1975). Hingegen lassen sich auf der Grundlage des Alterssurveys verschiedene Sichtweisen auf das Älterwerden differenzieren. Hierzu zählen negative Altersbilder wie die Sicht, dass das Älterwerden mit körperlichen oder sozialen Verlusten einhergeht sowie positive Altersbilder einer mit steigendem Alter wachsenden Selbstkenntnis und persönlichen Weiterentwicklung. Eine Analyse der Längsschnittdaten des Alterssurvey (Daten von 1996 und 2002) machte hierbei deutlich, dass sowohl positive als auch negative Altersbilder Folgen für die Gesundheit haben können. Es zeigte sich, dass die Vor 131 Werte und Altersbilder stellung, das Älterwerden gehe mit körperlichen Verlusten einher, eine schlechtere Gesundheit vorhersagte, während die Vorstellung, das Älterwerden gehe mit persönlicher Weiterentwicklung einher, sich als günstig für die Gesundheit erwies (Wurm et al., 2007). Die Art und Weise, in der verschiedene Altersbilder Konsequenzen für das eigene Älterwerden entfalten können, ist noch weitgehend ungeklärt. Experimentelle Untersuchungen deuten auf den physiologischen Stress hin, der im Fall von negativen Altersstereotypen entsteht (Levy, Hausdorff, Hencke, & Wei, 2000). Einen anderen möglichen Wirkmechanismus stellt das Gesundheitsverhalten dar. Basierend auf den Daten des Alterssurveys wurde untersucht, ob Personen mit einer positiven Sicht auf das Älterwerden ein günstigeres Gesundheitsverhalten haben (Wurm, Tomasik, & Tesch-Römer, im Druck). Als Gesundheitsverhalten wurde hierbei körperliche Bewegung (Sport, Spaziergänge) betrachtet, da diese bis ins hohe Alter hinein zwar bedeutsam für die Gesundheit bleibt, aber das – ohnehin allgemein geringe – Ausmaß körperlicher Aktivität mit steigendem Alter weiter absinkt. Die Ergebnisse machten deutlich, dass Personen mit einer positiven Sicht auf das Älterwerden tatsächlich ein günstigeres Gesundheitsverhalten aufweisen: Sie sind (Querschnitt) und bleiben (Längsschnitt) körperlich deutlich aktiver als jene mit einer weniger positiven Sicht auf das Älterwerden. Aus den dargestellten Ergebnissen lässt sich ersehen, dass die interindividuellen Unterschiede hinsichtlich verschiedener Altersbilder nicht folgenlos sind. Zugleich wurde deutlich, dass bisher recht wenig darüber bekannt ist, welche Altersbilder in der Gesellschaft vorherrschen und wie groß hierbei die Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig zu betrachten, wie verbreitet verschiedene Altersbilder sind und wie sehr sich die Altersbilder in Abhängigkeit vom Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund und regionalen Kontext unterscheiden. 7.3.3 Altersbilder im sozialen Wandel In den vergangenen Jahrzehnten vollzog sich eine Reihe von Veränderungen, die sowohl für die Gesellschaft als auch für die einzelne, älter werdende Person von hoher Tragweite sind. Exemplarisch zu nennen ist hierbei der sich derzeit vollziehende demografische Wandel, die gestiegene und weiter steigende Lebenserwartung sowie der über für viele Jahre hinweg verbreitete frühe Ruhestand.11 Der zahlenmäßig deutlich steigende Anteil Älterer an der Gesamtbevölkerung führt dazu, dass die Lebensphase Alter stärker in das gesellschaftliche Bewusstsein rückt. Hinzu kommt, dass durch den frühen Ruhestand und die gestiegene 11 Detaillierte Ausführungen zum sozialen Wandel finden sich im einführenden Kapitel 1 ”Wandel von Lebensqualität und Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte‛. 132 Werte und Altersbilder Lebenserwartung die Lebensphase Alter mittlerweile oftmals mehrere Jahrzehnte umfasst. Viele Menschen erleben nun das Alter nicht einfach als Restlebensphase, in der Verluste und Abschied dominieren, sondern (auch) als eine aktive Phase der ”späten Freiheit‛ (Rosenmayr, 1983), die es persönlich sinnvoll zu füllen und zu gestalten gilt. Vermutlich auch deshalb wird der Übergang in den Ruhestand meist nicht in einer Weise krisenhaft erlebt, wie dies früher angenommen wurde (Wurm, Engstler, & Tesch-Römer, 2007). Das Bild einer aktiven Lebensphase Alter wird zunehmend von der Politik und den Medien unterstützt. Zugleich werden zunehmend auch die Probleme thematisiert, die mit einer steigenden Lebenserwartung einhergehen. Hierzu zählt die steigende Prävalenz von demenziellen Erkrankungen, der steigende Pflegebedarf und die Frage nach der zukünftigen Finanzierbarkeit der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung. Die gesellschaftlichen Diskussionen, sowohl zur ”späten Freiheit‛ des jungen Alters als auch den Problemen des hohen Alters tragen vermutlich dazu bei, dass sich gängige Altersbilder verändern. Im Rahmen des Alterssurveys kann untersucht werden, inwieweit die Altersbilder einem sozialen Wandel unterliegen. Ergebnisse auf der Grundlage der ersten beiden Erhebungswellen weisen auf einen solchen Wandel zugunsten positiverer Altersbilder hin. Anhand der dritten Welle kann untersucht werden, ob sich diese Veränderungen in Form eines kontinuierlichen Trends fortsetzen oder ob hingegen gegenläufige Entwicklungen festzustellen sind. 7.4 Auswertungsplanungen für den Abschlussbericht In Deutschland ist bisher nur wenig über die Werthaltungen und Altersbilder von Menschen in der zweiten Lebenshälfte bekannt. Im Abschlussbericht des Alterssurveys ist deshalb im Sinne der Alterssozialberichterstattung geplant, diese Wissenslücke durch aktuelle Daten zu diesen Themenbereichen zu füllen. In welcher Weise dies erfolgen soll, wird in den folgenden beiden Abschnitten beschrieben. Für das Themenfeld Altersbilder ist zudem eine Expertise für die 6. Altenberichtskommission geplant. Diese wird auf einige Fragen und Aspekte von Altersbildern vertiefend eingehen, die im Rahmen des Abschlussberichtes nicht behandelt werden können. Zudem ist eine Reihe von vertiefenden Publikationen zum Thema Altersbilder und Gesundheit geplant, die auf der Analyse der individuellen Längsschnittdaten beruhen. Beispiele dieser Publikationsplanungen finden sich im Kapitel 5 ”Gesundheit‛. 133 Werte und Altersbilder 7.4.1 Werte: Was ist Menschen in der zweiten Lebenshälfte besonders wichtig? So wenig es möglich ist, eine umfassende Darstellung aller Teilbereiche des Themenkomplexes Werte und seiner verwandten Konstrukte zu leisten, so wenig ist es sinnvoll aus den dargestellten Teilaspekten eine umfassende Fragestellung zu synthetisieren. Aus diesem Grund wird sich die Vorstellung von Fragestellungen an der Struktur der inhaltlichen Hintergründe orientieren und empirische Umsetzungen innerhalb der einzelnen Teilaspekte formulieren. Grundsätzlich wird jedoch angenommen, dass das Thema Werte eine multidimensionale Erfassung seiner Konstrukte mit Hilfe von Ratingskalen verlangt (siehe Abschnitt 7.2.2) und dieser Themenkomplex eine Adressierung auf unterschiedlichen Ebenen der Konkretheit verlangt. Dieser Fragekomplex beschäftigt sich mit der Verteilung von allgemeinen Wertevorstellungen in der Bevölkerung der über 40Jährigen. Die Analysen werden auf dem Zirkumplexmodell von Schwartz und auf Querschnittsdaten beruhen, da dieses Instrument erst in der dritten Welle des Deutschen Alterssurveys in die Erhebung aufgenommen wurde. Eine erste allgemeine Frage in diesem Zusammenhang, die untersucht werden soll, befasst sich mit dem Komplex des differenziellen Alterns. Es ist zu erwarten, dass nachlassende Ressourcen auf der Ebene einzelner Individuen zu einer größeren Differenzierung des Wertekatalogs führen. Diese Folgerung aus dem Modell selektiver Optimierung mit Kompensation, sagt dementsprechend aus, dass das Werteprofil älterer Menschen heterogener als das Werteprofil jüngerer Erwachsener ist. Bei der Beurteilung der Ergebnisse wird es auf Grund des Querschnittansatzes nicht möglich sein zwischen Effekten des sozialen Wandels und altersbedingten individuellen Veränderungen zu differenzieren. Durch die Erweiterung der Untersuchungen um Maße der sozialen Ungleichheit (z.B. Unterschiede im Bildungshintergrund), bilden sich möglicherweise auf der Grundlage der Querschnittdaten erste Hinweise auf gesellschaftliche Veränderungen ab, die mit den demografischen Veränderungen einhergehen. So sagen beispielsweise sowohl die Theorien Ingleharts (1970) als auch Klages (1975) vorher, dass sich die Struktur menschlicher Werte in Abhängigkeit zur ökonomischen Entwicklung und empfundener sozialen Sicherheit verändert. Aus soziologischer Sicht wäre es also interessant zu erfahren, inwiefern die Existenz postmaterieller/selbsttranszendenter Werte mit dem realen ökonomischen Status korreliert. Beide Theorien des sozialen Wandels würden vorhersagen, dass sich die Gesellschaft in Zukunft eher postmaterialistisch und weniger konservativ gestalten würde. Aus entwicklungspsychologischer Sicht wäre aber auch der genau umgekehrte Fall denkbar. Aus dieser Perspektive wird häufig erwartet, dass Menschen mit steigendem Alter konservativer werden. Eine Erklärung für diese Entwicklung kann auf den Arbeiten von Blanchard-Fields (z.B. Blanchard-Fields, 2007) aufbauen. In ihrem Modell bedingt die Reduktion fluider, kognitiver Res- 134 Werte und Altersbilder sourcen im Alter eine größer werdende Präferenz, Urteile auf Grund einfacher erlernter Heuristiken zu fällen, also Urteile auf eher bekannten traditionellen Schemata zu gründen. Bei einem steigenden prozentualen Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung könnte dieser Mechanismus zu einem Ansteigen konservativer Werthaltungen führen. 7.4.2 Altersbilder: Welche Vorstellungen vom Älterwerden haben Menschen in der zweiten Lebenshälfte und wie wandeln sich diese? Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung positiver und negativer Altersbilder für das Leben im Alter (vgl. Abschnitt 7.3.1) ist es wichtig, zu untersuchen, wie verbreitet bestimmte Altersbilder in der Gesellschaft sind. Im Rahmen des Abschlussberichtes werden deshalb deskriptive Auswertungen zum Thema Altersbilder vorgelegt, die auf den Daten der dritten Welle des Alterssurveys basieren. Hierbei werden aktuelle Altersbilder des Jahres 2008 beschrieben. Dabei wird auf die allgemeine Zufriedenheit mit dem Älterwerden eingegangen und die verschiedenen (verlust- und gewinnbezogenen) Facetten des Älterwerdens betrachtet. Bisher ist kaum etwas darüber bekannt, wie sehr sich die Altersbilder verschiedener Personen unterscheiden. Es soll deshalb neben mittleren Ausprägungen auch betrachtet werden, wie groß die Vielfalt der Altersbilder ist. Hierbei gilt es insbesondere, die Altersbilder verschiedener Altersgruppen zu vergleichen und die Unterschiede in den Altersbildern von Frauen und Männern in den Blick zu nehmen. Zudem kann der regionale Kontext dazu beitragen, wie positiv oder negativ Altersbilder ausfallen. Besonders in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands erfolgte eine Abwanderung von Personen im Erwerbsalter, wodurch der Altersdurchschnitt regional deutlich angestiegen ist. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, inwieweit Altersbilder systematisch sozial strukturiert verteilt sind. Eine Frage ist hierbei, inwieweit positive Altersbilder möglicherweise in höheren Bildungsschichten verbreiteter sind, da diese potenziell bessere Voraussetzungen dafür haben, das Alter als eine ”späte Freiheit‛ zu gestalten. Es ist daher vorgesehen, Altersbilder differenziert nach Altersgruppe, Geschlecht, Region (Ost/West) und Bildung zu betrachten. Die drei Basiserhebungen des Alterssurveys (1996, 2002 und 2008) ermöglichen die Untersuchung der im Abschnitt 7.3.3 näher ausgeführten Frage, ob sich der derzeitige soziale Wandel auch in einem Wandel der Altersbilder widerspiegelt. Mit Hilfe von Kohortenvergleichen kann untersucht werden, ob nachfolgende Geburtskohorten eine andere Sicht auf das Älterwerden haben als früher geborene Geburtskohorten. Hierbei sind zwei Entwicklungen denkbar: Einerseits könnte der in den letzten Jahren verstärkte mediale Diskurs zu ”Potenzialen des Alters‛ positive Altersbilder befördert haben. Andererseits könnten als 135 Werte und Altersbilder negativ empfundene Nachrichten aus dem Bereich des Alters (z.B. die mit steigendem Alter wachsende Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung) ein negatives Altersbild verstärkt haben. Dadurch, dass im Rahmen des Alterssurveys verschiedene positive und negative Altersbilder untersucht werden, kann differenziert dargestellt werden, innerhalb welcher Facetten der Altersbilder Veränderungen festzustellen sind. Aufgrund der mehrdimensionalen Perspektive auf unterschiedliche Facetten von Altersbildern lässt sich auch analysieren, ob möglicherweise sowohl positive als auch negative Altersbilder zugenommen haben. Ergebnisse der ersten beiden Wellen des Alterssurveys lassen eher erwarten, dass positive Altersbilder zugenommen, negative Altersbilder hingegen abgenommen haben. Ob sich dies jedoch tatsächlich über den nun zu betrachtenden Zwölfjahreszeitraum zeigt, ist noch offen und wird im Rahmen des Abschlussberichtes zu beantworten sein. 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Erwerbstätigkeit und Ruhestand Olaf Jürgens Inhalt 8.1 Einleitung ..................................................................................... 140 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter – Themenbereiche......... 143 Allgemeine Situation älterer Arbeitnehmer........................................ 145 Erwerbsbeteiligung im Ruhestand ...................................................... 148 Die Entwicklung von Ausstiegsplänen................................................. 150 Literatur ................................................................................................ 153 8.1 Einleitung Wie in den meisten Industriestaaten ist als Folge des Geburtenrückgangs und des allgemeinen Anstiegs der Lebenserwartung auch in Deutschland die Bevölkerungsentwicklung von zunehmender Alterung geprägt. So wird nicht nur die Gesamtbevölkerung von zurzeit 82,5 Millionen Menschen (2005) auf 69 bis 74 Millionen im Jahre 2050, sondern auch das Erwerbspersonenpotenzial von rund 50 Millionen auf maximal 39 Millionen Personen bis zum selben Zeitpunkt sinken (Statistisches Bundesamt, 2006). Ebenso wird sich die Altersstruktur innerhalb des Erwerbspersonenpotenzials deutlich zu Gunsten der Älteren verschieben. Zu den Folgen dieser Entwicklung gehören beispielsweise die Finanzierungsproblematik der umlagefinanzierten Rentenversicherung oder die ökonomischen Herausforderungen durch den Rückgang des Arbeitskräftepotenzials (Clemens, Kühnemund, & Parey, 2003; Naegele, 2004; Sporket, 2007). Für Deutschland wurde in den Jahren von 2001 bis 2006 der höchste Zuwachs der Erwerbstätigenquote 55- bis 64-Jähriger in der Europäischen Union beobachtet, allerdings von einem niedrigem Niveau ausgehend, so dass die Erwerbsbeteiligung in dieser Altersgruppe insgesamt niedrig zu bleibt (Brussig, Knuth, & Wojtkowski, 2008). Der Anstieg selbst ist darauf zurückzuführen, dass insbesondere Männer länger arbeiten, um Abschläge bei einem vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu vermeiden; dementsprechend ist das durchschnittliche Rentenzugangsalter mittlerweile um ein Jahr auf 63 Jahre (2006) angestiegen. Darüber hinaus hat auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen insgesamt zugenommen. Dabei hängt Erwerbsbeteiligung im Alter stark vom jeweiligen Bildungsniveau ab. Da die geburtenschwachen Jahrgänge um 1945 das Rentenalter erreichen, lässt sich bei der Regelaltersrente ein Rückgang um 10% 140 Erwerbstätigkeit und Ruhestand beobachten, der jedoch zwischen den Geschlechtern konträr verläuft (Hoffmann & Hofmann, 2008): So ist bei Männern eine Zunahme der Übergänge in die Regelaltersrente von 2,3% bei gleichzeitiger Abnahme alternativer, vorzeitiger Zugänge (Ausnahme: Altersrente für Schwerbehinderte), bei den Frauen allerdings eine Abnahme von 20% in die Regelaltersrente und eine Zunahme bei der Altersrente nach Arbeitslosigkeit oder Teilzeitarbeit zu verzeichnen. Da die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit mit Abschlägen behaftet wurde, nahm die Bedeutung dieser Rentenart insgesamt ab, so dass sich Arbeitslosigkeit ab 60 Jahren in jüngster Zeit überhaupt erst zum nennenswerten Phänomen entwickeln konnte. Bis zum Jahr 2006 war der Anteil von Personen, die aus der Arbeitslosigkeit in die Rente gingen, steigend. So wurde der Anstieg des Renteneintrittsalters nur zu einem Teil durch eine verlängerte Erwerbsphase realisiert. Seit 1999 stieg auch die verdeckte Arbeitslosigkeit von Personen ab 58 Jahren im Rahmen der Ausgliederung aus den Betrieben über den ”goldenen Handschlag‛ durch den Bezug des ”Arbeitslosengeldes unter erleichterten Voraussetzungen‛ an (diese Regelung lief zum 31.12.2007 aus). Die Übergänge in die Rente unmittelbar aus sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen hatten ab-, die aus ALG-I oder ALG-II-Bezug aber zugenommen (Brussig & Wojtkowski, 2007). Die neueren Analysen zum Jahr 2007 machen allerdings deutlich, dass sich in jüngster Zeit vermehrt Rentenzugänge aus regulären Beschäftigungsverhältnissen beobachten lassen (Hoffmann & Hofmann, 2008; Statistik der Deutschen Rentenversicherung, 2008). Bei den Übergängen in die Rente kommt dabei der Altersteilzeit insbesondere seit dem Jahre 2000 wachsende Bedeutung zu. Die in der Literatur beschriebenen Entwicklungen werden als Anzeichen dafür interpretiert, dass die Reformen in der Rentenversicherung der letzten zehn Jahre Wirkung zeigen und zu einer Änderung des Rentenzugangsverhaltens geführt haben, da die Betroffenen Abschläge bei vorzeitigem Rentenbeginn vermeiden oder minimieren wollen (Bäcker, Naegele, Bispinck, Hofemann, & Neubauer, 2007; Brussig, Knuth, & Wojtkowski, 2008; Hoffmann & Hofmann, 2008). Die gesellschaftlichen Folgen der Verlängerung der Lebensarbeitszeit erstrecken sich auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche (Morschhäuser, 1999): Auf individueller Ebene ist die Kongruenz zwischen der Belastungsintensität der jeweils ausgeübten Tätigkeit älterer Arbeitnehmer und der altersveränderlichen individuellen Belastbarkeit angesprochen. Die betriebliche Ebene umfasst die Auswirkungen alternder Belegschaften auf die Beschäftigungsstrategie in den Unternehmen, insbesondere auf die Divergenz zwischen verändertem Leistungspotenzial älterer Arbeitnehmer und den durch Modernisierungsprozesse restriktiveren Ausweichmöglichkeiten innerhalb der Betriebe in weniger belastungsintensive Tätigkeitsfelder. Auf sozialpolitischer Ebene sind die Engpässe bei der Finanzierung der Altersversorgung sowie die entsprechenden Konzepte zur Ver- 141 Erwerbstätigkeit und Ruhestand längerung der Erwerbsphase und zum Abbau von Anreizen, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen, betroffen. Mit einer Erwerbsquote von 52,1% und einer Beschäftigtenquote von 45,5% (jeweils 2005) der Personen zwischen 55 und 64 Jahren nimmt Deutschland im OECD-Vergleich eine mittlere Position ein (Thode, 2006). Allerdings ist die Arbeitslosenquote dieser Personengruppe in Deutschland mit 12,7% im OECD-Vergleich am höchsten. Im Jahre 2003 hatte die Arbeitslosigkeit unter Älteren ein Minimum von 10% erreicht und steigt seitdem als Folge der Einschränkungen von Frühverrentungsmöglichkeiten. Die geringe Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitskräfte lässt sich als Folge der jahrelang geübten Praxis eines vorzeitigen Renteneintritts interpretieren. Die Relevanz des in der Einleitung dargestellten Phänomens wird angesichts der gesellschaftlichen Folgen der Verlängerung der Lebensarbeitszeit deutlich, die sich auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche erstrecken (Morschhäuser, 1999): Auf individueller Ebene ist die Kongruenz zwischen der Belastungsintensität der jeweils ausgeübten Tätigkeit älterer Arbeitnehmer und der altersveränderlichen individuellen Belastbarkeit angesprochen. Die betriebliche Ebene umfasst die Auswirkungen alternder Belegschaften auf die Beschäftigungsstrategie in den Unternehmen, insbesondere auf die Divergenz zwischen verändertem Leistungspotenzial älterer Arbeitnehmer und den durch Modernisierungsprozesse restriktiveren Ausweichmöglichkeiten innerhalb der Betriebe in weniger belastungsintensive Tätigkeitsfelder. Auf sozialpolitischer Ebene sind die Engpässe bei der Finanzierung der Altersversorgung sowie die entsprechenden Konzepte zur Verlängerung der Erwerbsphase und zum Abbau von Anreizen, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen, betroffen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die zentralen Fragestellungen der angestrebten Analysen ableiten: Wer ist im Alter zwischen 40 und 64 Jahren noch erwerbstätig? Wer ist auch im Rentenalter in Deutschland noch erwerbstätig bzw. sucht aktiv Arbeit und aus welchen Gründen? Wie zufrieden sind ältere Erwerbstätige mit ihrer Arbeit? Dabei ist explizit auch die Dimension des Wandels im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Wellen angesprochen: Verstärken sich Anzeichen einer Trendwende hin zum längeren Verbleib im Erwerbsleben? Erwarten Menschen, heute länger arbeiten zu müssen als vor 12 Jahren? Hat sich die Arbeitszufriedenheit älterer Erwerbstätiger gewandelt? Die Auswahl der Fragestellungen für die angestrebten Analysen auf der Basis des Alterssurveys orientiert sich dabei nicht nur an der oben dargelegten sozialpolitischen und gesellschaftlichen Relevanz, sondern auch an den besonderen Stärken des Alterssurveys. Die Stärken des Alterssurveys gegenüber bereits etablierten Längsschnitterhebungen liegen insbesondere darin, dass die Pläne der Betroffenen sowohl hinsichtlich des Übergangs aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand zum Zeitpunkt t1 oder t2 erhoben wurden und mit dem tatsächlichen Verhalten (zum Zeitpunkt t3) kontrastiert werden können. Darüber hinaus ist das tatsächli- 142 Erwerbstätigkeit und Ruhestand che Erwerbsverhalten (bezogen auf Erwerbstätigkeit wie auf Erwerbslosigkeit) auch jenseits der Ruhestandsgrenzen – unabhängig vom institutionellen Status der Betroffenen – einschließlich der Motivation und des Umfangs erfasst. Daher werden bei den Analysen des Alterssurveys zum Themenbereich Alter und Erwerbstätigkeit drei Themenblöcke im Vordergrund stehen: Die Erwerbsbeteiligung und Erwerbssituation älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Allgemeinen, die Erwerbsbeteiligung im Ruhestand im Besonderen sowie schließlich die Entwicklung von Ausstiegsplänen aus der Erwerbsphase. Die Analyse dieser Themenbereiche wird explizit unter Bezugnahme auf die Lebensqualität älterer Erwerbspersonen erfolgen: Auf diese Weise sind auch Rückschlüsse auf erfolgreiche Qualifikationsprofile oder die betriebliche Organisation und Einsatzstrategien für ältere Erwerbstätige möglich. Die Legitimation dieser Analysen ergibt sich daraus, dass sich gesellschaftlich relevanten Fragen mit den Ergebnissen dieser Analysen beantworten lassen und aus den (erwarteten) Ergebnissen Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet werden können, etwa mit Blick auf Arbeitsmarkt- oder Rentenpolitik. Die gesellschaftliche Relevanz ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass der gesellschaftliche Wohlstand in Gefahr geraten kann, wenn der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials nicht entweder durch steigende Produktivität oder durch erfolgreiche Integration älterer Erwerbstätiger in den Produktionsprozess gelingt (Arnds & Bonin, 2003). Die sozialpolitische Relevanz ergibt sich vor diesem Hintergrund durch die Möglichkeit, auf der Basis theoretisch fundierter und empirisch abgesicherter Informationen Maßnahmen im Rahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik zur Verbesserung der Situation älterer Erwerbspersonen auf dem Arbeitsmarkt oder im Rahmen innerbetrieblicher Beschäftigungspolitik zur Anpassung individueller Arbeitsbedingungen an die veränderten Leistungspotenziale älterer Menschen zu ergreifen. Die Analyse des Erwerbspersonenpotenzials, das sich jenseits der Altersgrenze befindet, erlaubt die Identifikation derjenigen Menschen im Ruhestand, die entweder zu geringe Rentenansprüche haben und zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf zusätzliche Erwerbsquellen angewiesen sind, oder aber die als ”aktive Alte‛ eine Beschäftigung über das Rentenalter hinaus weiterführen. 8.2 Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter – Themenbereiche Die Analyse der Situation älterer Erwerbstätiger ermöglicht die Identifikation sowohl derjenigen Erwerbstätigen, die mit Erfolg länger erwerbstätig sind, als auch der entsprechenden Branchen und Tätigkeitsfelder, die einen längeren, erfolgreichen Verbleib im Berufsleben ermöglichen. Dies ermöglicht fundierte und empirisch abgesicherte Erkenntnisse über Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter und den Übergang in den Ruhestand, die als wichtige Voraussetzung angesehen werden, um erfolgreich die Umstellung zu einem längeren Verbleib in 143 Erwerbstätigkeit und Ruhestand der Arbeitswelt und die damit verbundenen Akzeptanz sowohl bei den betroffenen Erwerbstätigen als auch den Betrieben zu ermöglichen (Engstler, 2004). Das Theorieangebot für gerontologische Analysen zu Erwerbstätigkeit und Übergang in den Ruhestand ist vergleichsweise umfassend, da in Ermangelung einer umfassenden Theorie des Alter(n)s je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse beispielsweise psychologische Theorien oder Arbeitsmarkttheorien bzw. deren Theoriebestandteile eingesetzt werden. Auf der Mikroebene sind dabei die Zusammenhänge von individuellem Alter und Löhnen, Ausbildung, Erwerbsquoten, Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsverhältnissen von Interesse; quer dazu liegen Geschlecht und Nationalität (Engelhardt & Prskawetz, 2005). Auf der Makroebene wird der tiefgreifende ökonomische Strukturwandel betont, der Güter-, Geld und Arbeitsmärkte betreffen wird (Börsch-Supan, 2007; siehe zum Folgenden Frerichs, 1998; Lange, 2007): Die Theorieangebote der Psychologie zielen auf die Ebene individueller Akteure und thematisieren die Entwicklung der individuellen Leistungsfähigkeit bzw. deren Einschätzung. Dieses Theorieangebot wird durch die Erklärungsansätze aus den Arbeitswissenschaften ergänzt, in der die Auswirkungen von Arbeitsbedingungen auf die Beschäftigten im Mittelpunkt stehen. Im Rahmen von Arbeitsmarkttheorien lassen sich einerseits rein ökonomische Theorien – die Arbeitsmarkt- und Humankapitaltheorie, aber auch die Such- und Matchingtheorie – verorten; andererseits werden auch sozialwissenschaftlich orientierte Erklärungsangebote – Segmentationstheorie, Alternativrollenkonzept und betriebsstruktureller Ansatz – dazugezählt. Diese Theorieebenen werden aus der Industriesoziologie, insbesondere durch den produktionsregimespezifischen Ansatz, und sozialpolitikorientierte Theorien ergänzt. Den unterschiedlichen Theorieangeboten werden je nach Fragstellung unterschiedliche Erklärungskraft, aber auch unterschiedliche Defizite zugeschrieben (Naegele, 1992). Aus Platzgründen wird an dieser Stelle von einer umfassenden Darstellung dieser Theorieangebote abgesehen. Die Präsentation der zur Anwendung kommenden Theorie wird dabei in den Abhandlungen zu den einzelnen Fragestellungen erfolgen. Da eine Stärke des Alterssurveys unter anderem im Kohortensequenzdesign liegt, spielt hier nicht nur die Querschnittsbetrachtung eine Rolle, sondern auch die Entwicklung über die verschiedenen Wellen des Panels hinweg. Auf diese Weise lassen sich die Folgen der demografischen Alterung des Arbeitskräftepotenzials über die Zeit berücksichtigen. Dies verweist auch auf eine weitere Stärke des Alterssurveys, die in der Möglichkeit liegt, Analysen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels sowie Analysen individueller Entwicklung aufeinander zu beziehen und insbesondere den Wandel der individuellen Entwicklung über die einzelnen Erhebungszeitpunkte hinweg unternehmen zu können. Die im Zusammenhang mit Erwerbsbeteiligung relevanten Prozesse des demografischen Wandels sind bereits in der Einleitung dargelegt und werden im Rahmen der ein- 144 Erwerbstätigkeit und Ruhestand zelnen Fragestellung um den jeweiligen Kontext der individuellen Entwicklung, hier insbesondere bezogen auf Erwerbsbiografien inklusive der Übergänge in den Ruhestand, und um den Wandel dieser Entwicklung über die Zeit hinweg ergänzt. Dabei wird in der Endfassung der Kapitel die Fragestellung auch vor dem Hintergrund von Lebensqualität und Ungleichheit erörtert. 8.2.1 Allgemeine Situation älterer Arbeitnehmer Der aktuelle Forschungsstand zur Erwerbsbeteiligung älterer Menschen verdeutlicht zwei Entwicklungen (Brussig, Knuth, & Wojtkowski, 2008): Die Erwerbsbeteiligung im Alter nimmt sowohl als Ergebnis demografischer Konstellationen als auch als Folge des Abbaus von Anreizen zur Frühverrentung zu. Die demografische Komponente beruht insbesondere darauf, dass die geburtenstärkeren Jahrgänge ab 1945 mittlerweile in die Altersgruppe 55+ vorgerückt sind und dort insbesondere das Altersfenster der 55- bis 60-Jährigen dominieren. Darüber hinaus führt der Abbau von Maßnahmen der Frühverrentung zu verlängerter Erwerbstätigkeit im Lebenslauf, allerdings je nach Qualifikationsniveau in unterschiedlichem Maße. Zu einem unerwarteten Periodeneffekt hat dabei das III. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geführt, da es durch die Ablösung der ehemaligen Arbeitslosenhilfe durch das restriktivere Arbeitslosengeld II wieder eine leichte Zunahme vorzeitiger Übergänge in den Ruhestand gab. Die Situation älterer Arbeitnehmer in den Betrieben variiert stark in Abhängigkeit von Beruf und Branche (Böhme, Ebert, & Kistler, 2007; Frerichs, 1998). Dabei ist in allen Wirtschaftsgruppen der Anteil älterer sozialversicherungspflichtig Beschäftigter ab 50 Jahren angestiegen (allerdings auch aus demografischen Gründen – so erreichen die geburtenstärkeren Jahrgänge das Alter von 55 bis 64) und ist in der öffentlichen Verwaltung besonders hoch, ebenso in der Wirtschaftsgruppe ”Interessenvertretung und Kultur‛, ”Bildung und Erziehung‛ sowie ”Versorgung und Entsorgung‛, während er beispielsweise im Baugewerbe besonders niedrig ist (Brussig & Wojtkowski, 2008b): Dabei steigt auch in schrumpfenden Branchen der Anteil Älterer insgesamt, da die betreffenden Betriebe weniger Neueinstellungen von jungen Arbeitskräften vornehmen, sondern entstehenden Bedarf innerbetrieblich decken. Größere Betriebe (ab mindestens 50 Mitarbeitern) beschäftigen zwar einen höheren Anteil Älterer als die kleineren Unternehmen, der Anteil älterer Beschäftigter ist über die Zeit jedoch in allen Betrieben unabhängig von der Größe angestiegen (ebd.). In der jüngsten Vergangenheit boten Betriebe, in denen tayloristische Produktionsweisen dominieren, dabei ihren Arbeitnehmern die vergleichsweise geringsten Aussichten auf anhaltende Beschäftigung auch im Alter, ebenso Betriebe des verarbeitenden und Dienstleistungsgewerbes mit niedrig qualifizierten Anforderungsprofilen 145 Erwerbstätigkeit und Ruhestand (Frerichs, 1998). Besser gestellt sind ältere Beschäftigte in Betrieben mit einem diversifizierten Dienstleistungs- bzw. Produktionsregime. Der theoretische Rahmen für die Analyse der Erwerbssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte deckt die Individualebene der Akteure ab. So wird die notwendige Mikrofundierung durch das Konzept der Employability gewährleistet, die auf die individuellen Ressourcen wie Bildung und Gesundheit der Erwerbspersonen eingeht (Blancke, Roth, & Schmid, 2000). Employability bedeutet, dass vor dem Hintergrund des ökonomischen Strukturwandels, insbesondere durch Innovationen in der Informations- und der Produktionstechnologie der Betriebe, die Anforderungen an Flexibilität und Weiterbildung mit den sich wandelnden Kompetenzen älterer Erwerbstätiger integriert werden müssen. Der Alterssurvey erlaubt eine Operationalisierung dieses Ansatzes durch die erhobenen Informationen zur Arbeitsbelastung, Arbeitszufriedenheit, Qualifikation und Weiterbildung. Welche Personen sind nun mit Erfolg im höheren Lebensalter erwerbstätig? Bei welchen Tätigkeiten und Tätigkeitsfeldern ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ältere Arbeitnehmer bis zum Erreichen der regulären Altersgrenze mit Erfolg im Beruf verbleiben? Wie hat sich die Erwerbssituation älterer Erwerbspersonen über die Jahre verändert? Die individuelle Belastung unterschiedlicher Tätigkeiten wird im Alterssurvey erfasst und lässt sich mit verschiedenen Berufen und beruflichen Tätigkeiten in Verbindung bringen. Hier können auch ausbildungsinadäquate Beschäftigungen im Sinne von beruflicher Überforderung oder Unterforderung thematisiert werden. Als Resultat lassen sich auch Beschäftigungszweige mit besonders guten Beschäftigungsperspektiven für ältere Arbeitnehmer identifizieren. Dabei wird nach unterschiedlichen Altersgruppen, Geschlecht und regionalen Dimensionen differenziert. Die durch Arbeit vermittelten Kompetenzen und Ressourcen determinieren individuelle Lebenschancen. Dies wird besonders bei unfreiwilliger Nichtteilnahme am Erwerbsleben oder dem altersbedingten Ausscheiden deutlich. Neben den Charakteristiken, die eine erfolgreiche Teilnahme am Erwerbsleben auch im höheren Lebensalter ermöglichen, ist daher auch Erwerbslosigkeit eine zentrale Dimension: Erwerbslos ist dabei eine Person, die ohne aktuelle Beschäftigung gegen Entgelt ist, seit längerem aktiv Arbeit sucht und auch bereit ist, eine angebotenen Arbeit unmittelbar anzunehmen. Darüber hinaus gilt unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung als eine Form der zeitlichen Unterversorgung, da für solche Arbeitskräfte ein existenzsicherndes Einkommen oft nicht erzielbar ist und unter Umständen nur unzureichende Rentenansprüche durch die geringeren Rentenbeiträge generiert werden. Teilzeitarbeit kann allerdings auch in einen Übergang in ein vollzeitiges Beschäftigungsverhältnis führen; dies gilt allerdings insbesondere für Männer, da Frauen häufiger versuchen, über Teilzeitbeschäftigungen Erwerbs- und Familienarbeit zu kombinieren (Schäfer & Vogel, 2005). 146 Erwerbstätigkeit und Ruhestand Ansonsten ist das Risiko groß, trotz verschiedener Vorschriften (z.B. Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge) als Randbelegschaft marginalisiert und vom Zugang zu beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen oder beruflichen Aufstiegschancen ausgeschlossen zu werden. Unfreiwillige Teilzeitarbeit ist, insbesondere bei befristeten Verträgen, eine Form der prekären Beschäftigung und gilt im vorliegenden Konzept als eine Form der Unterversorgung. Darüber hinaus wird die Ausbildungsadäquanz von Beschäftigungsverhältnissen berücksichtigt: Da sich auf Grund der problematischen Situation auf dem Arbeitsmarkt die Bereitschaft erhöht hat, unterwertige Arbeitsverhältnisse anzunehmen, gelten Beschäftigungen, die inadäquat hinsichtlich des höhere Ausbildungsniveaus der Arbeitskräfte sind, in Bezug auf angemessene Teilhabe im Beschäftigungssystem ebenfalls als unterversorgt. Eine besondere Variation liegt im umgekehrten Fall vor, wenn die tägliche Arbeit als Überforderung empfunden wird. Solche Arbeitskräfte gelten weniger als unterversorgt hinsichtlich einer angemessenen Teilhabe am Erwerbsleben, sondern eher hinsichtlich betrieblicher Qualifizierungs- oder allgemeiner Weiterbildungsmaßnahmen. Die übergreifende Hypothese lautet, dass die Erwerbstätigkeit in der zweiten Lebenshälfte insgesamt über die Zeit und somit über die einzelnen Panelwellen hinweg steigt, da die Anreize, länger erwerbstätig zu sein, wirken (Engstler, 2004). Allerdings variiert die Erbstätigkeit in der zweiten Lebenshälfte in Abhängigkeit von bestimmten Charakteristiken sowohl der Arbeitnehmer als auch der jeweiligen Tätigkeitsfelder. Vorangegangene Analysen haben beispielsweise die Bedeutung der Qualifikation herausgestellt; tatsächlich ist die Qualifikation für die Position auf dem Arbeitsmarkt bedeutsamer als Alter oder Geschlecht (Menning, Hoffmann, & Engstler, 2007). In diesem Zusammenhang ist auch die als Dequalifikationsrisiko bezeichnete altersspezifische Entwertung von Qualifikation von Bedeutung. Da Weiterbildungsmaßnahmen häufig auf jüngere Arbeitnehmer beschränkt bleiben, kann in der Folge eine altersspezifische Aufgabenzuweisung oder geringere betriebliche Einsetzbarkeit älterer Arbeitskräfte mit dem Risiko einer vorzeitigen Freisetzung die Folge sein. Dies kann auch aus einer jahrzehntelangen Spezialisierung auf ein bestimmtes Aufgabengebiet resultieren, die unter Umständen zu einer verringerten beruflichen Einsetzbarkeit im Falle von Innovationen oder Veränderungen des Arbeitsfeldes führt. Da im Alterssurvey Fragen nach der tatsächlichen und beabsichtigten Nutzung von beruflichen Weiterbildungsmöglichkeiten und der Motivation diesbezüglich sowie dem tatsächlichen Nutzen der eigenen Ausbilddung gestellt werden, lässt sich an dieser Stelle auch das reale Dequalifikationsrisiko älterer Arbeitnehmer bestimmen und bei den Analysen berücksichtigen. 147 Erwerbstätigkeit und Ruhestand Forschungsfragen und Hypothesen: Da es in diesem Themenbereich in erster Linie um die Beschreibung des Wandels der Erwerbsbeteiligung und des Zeitpunktes des Renteneintritts geht, soll an dieser Stelle weniger die empirische Gültigkeit theoretisch abgeleiteter Hypothesen geprüft werden, sondern vielmehr eine umfassende Deskription erfolgen. Die übergreifende Frage lautet: Wer ist mit Erfolg im höheren Lebensalter erwerbstätig? Wie stellt sich Erwerbstätigkeit in der zweiten Lebenshälfte dar (demografische und berufliche Merkmale inkl. Branchen bzw. Arbeitsmarktsegment etc.), und wie hat sie sich über die Jahre verändert? Ist für ältere Menschen Erwerbstätigkeit die Haupteinnahmequelle? Welche Anteil der nichterwerbstätigen Älteren ist erwerbslos (d.h. würde gerne arbeiten), wie setzt sich dieser Anteil zusammen und wie hat er sich verändert? Welche Rolle spielt Weiterbildung vor diesem Hintergrund und wer nutzt sie? Unter Bezugnahme auf den dargelegten theoretischen Rahmen ist zu erwarten, dass mehr Personen mit höherer Bildung/höherer Qualifikation, mehr Männer als Frauen, mehr Personen in Berufen mit körperlich wenig belastenden Tätigkeitsprofilen sowie mehr Deutsche/Deutschstämmige erwerbstätig sind, während Menschen mit vorangegangener Erwerbslosigkeit seltener Arbeit haben (Brussig, Knuth, & Weiß, 2006). 8.2.2 Erwerbsbeteiligung im Ruhestand Der Stand der Forschung zur Erwerbstätigkeit im Ruhestand ist durchaus übersichtlich. In der Literatur wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, das beobachtete Altersspektrum auch auf die 65- bis 70-Jährigen auszuweiten, da Erwerbstätigkeit neben dem Rentenbezug – sei es aus Gründen ökonomischer Notwendigkeit, sei es als aktive Gestaltung des höheren Lebensalters jenseits ökonomischer Zwänge – von zunehmender Bedeutung sein wird. Dabei wird konstatiert, dass die Erwerbstätigkeit im Ruhestand zugenommen hat, wenn auch in einem bislang ausgesprochen überschaubaren Rahmen (Brussig & Wojtkowski, 2008a). Vor dem Hintergrund zunehmend diskontinuierlicher Erwerbskarrieren sowie abnehmender Realeinkommen für Rentner wird oftmals angenommen, dass finanzielle Bedarfslagen im höheren Lebensalter auch in der Phase des Ruhestands zunehmen müssten. Allerdings kann eine niedrigere Altersrente nicht zwangsläufig als Indikator für Altersarmut gesehen werden, da viele Ruheständler noch über eine weitere Einkommensquelle verfügen, beispielsweise Hinterbliebenenrente oder Renten aus betrieblicher oder privater Vorsorge. Bislang ist die empirische Evidenz für Altersarmut als einem ausgedehnten Phänomen eher dünn. Nur wenn keine weiteren Einkommensquellen neben der Rente vorhanden sind und das Rentenniveau nicht ausreicht, kann von einer Armutsgefährdung ausgegangen werden. 148 Erwerbstätigkeit und Ruhestand Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass es tendenziell mehr Erwerbspersonen geben müsste, die sich jenseits des regulären Rentenalters befinden. Dies betrifft sowohl Erwerbstätige als auch Erwerbslose. Dabei wird die ILODefinition zu Grunde gelegt, die Erwerbslose nach ihrem tatsächlichen Suchverhalten definiert, und nicht nach ihrem institutionellen Status als möglicherweise verrentete Person. Daher soll geprüft werden, ob sich Erwerbstätigkeit im Ruhestand zur zusätzlichen Einkommenserzielung zum nennenswerten Phänomen entwickelt. Dabei muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen Erwerbstätigkeit aus der Notwendigkeit zur zusätzlichen Einkommenserzielung einerseits und aus Gründen einer aktiven Lebensgestaltung auch im Ruhestandes jenseits von finanziellen Notwendigkeiten andererseits. Im Alterssurvey wird nach der tatsächlichen Erwerbsbeteiligung unabhängig vom institutionellen Status der jeweiligen Person, also auch bei Personen im Ruhestand, gefragt. Dies beinhaltet auch Fragen nach einer möglichen aktiven Suche nach Arbeit und der Möglichkeit, eine angebotenen Arbeit so bald wie möglich anzunehmen. Auf diese Weise wird die Konzeptualisierung des Erwerbsstatus im Sinne von Erwerbslosigkeit und Erwerbstätigkeit nach der ILO-Definition möglich. Zusätzlich werden die Gründe nach der Erwerbstätigkeit im Ruhestand erfasst. Auf diese Weise kann auch zwischen der finanziellen Notwendigkeit von Erwerbstätigkeit einerseits und dem Wunsch nach einer aktiven Gestaltung des höheren Lebensalters durch Erwerbstätigkeit andererseits unterschieden werden. In Deutschland gehören nach Angaben des Mikrozensus im Alter von 65 bis 69 Jahren noch 8,5 Prozent der Männer und 4,8 Prozent der Frauen zu den Erwerbspersonen, d.h. sie sind erwerbstätig oder zu einem sehr geringen Anteil erwerbslos (Menning, Hoffmann, & Engstler, 2007). Dabei liegt Deutschland mit einer Quote von zusammen 6,3 Prozent europaweit im unteren Drittel. Der theoretische Hintergrund wird – wie in der vorangegangenen Analysedimension auch – durch das bereits beschriebene Employability-Konzept gebildet. Forschungsfragen und Hypothesen Welche Personen arbeiten auch im Ruhestand noch (bzw. suchen aktiv Arbeit) im Vergleich zu 2002 und 1996? Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Hypothesen wird erwartet, dass Erwerbstätigkeit im Ruhestand zugenommen hat und überwiegend Selbstständige und mithelfende Familienangehörige im Rentenalter erwerbstätig sind. Insbesondere Selbstständigkeit kann eine Alternative für Ältere sein, wenn der Arbeitsmarkt nichts mehr anbietet. Welche Motivation liegt diesem Verhalten nun zu Grunde oder, anders gefragt, welchen Stellenwert hat das so erzielte Einkommen? Entwickelt sich Erwerbsbeteiligung im Ruhestand zur ”4. Säule‛ der Alterssicherung? Als Folge des Kaufkraftverlustes bei den Rentnern sowie unzureichender Rentenansprüche durch diskontinuierliche Erwerbsbiografien sind mehr Rentner als früher auf zusätzlichen Verdienst 149 Erwerbstätigkeit und Ruhestand angewiesen. Dabei werden meistens allerdings Tätigkeiten weitergeführt, die schon vor dem Ruhestand begonnen wurden. Die andere Personengruppe wird aus aktiven Alten bestehen, die beispielsweise mit dem Interesse, weiterhin soziale Kontakte zu pflegen oder um eine Aufgabe zu haben, erwerbstätig sind. 8.2.3 Die Entwicklung von Ausstiegsplänen Im Zentrum dieses Themenkomplexes steht die individuelle Ausstiegs- bzw. Verbleibsorientierung. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die Altersteilzeit. Bislang war es die Strategie des Gesetzgebers und der Betriebe, älteren Erwerbstätigen einen frühzeitigen Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. Dies hatte über die Jahrzehnte hinweg bei den Erwerbstätigen die Erwartung gefestigt, entsprechend frühzeitig in den Erwerbsruhestand zu wechseln (Engstler, 2006): 1996 plante die Hälfte der Erwerbstätigen im Alter ab 40 Jahren, spätestens ab 60 Jahren die Erwerbstätigkeit aufzugeben. Daher stellt sich die Frage, ob sich als Folge dieser Änderungen die Ausstiegspläne älterer Arbeitskräfte bereits in Richtung auf eine Orientierung an einem längeren Verbleib im Erwerbsleben verändert haben und welche Ausstiegspläne dann tatsächlich realisiert werden. Die vorangegangenen Untersuchungen zu diesem Themenkomplex haben dabei den Zusammenhang zwischen geplantem und realisiertem Austritt aus dem Erwerbsleben bestätigen können (ebd.). So wurde ein beträchtlicher Rückgang der Erwartung eines vorzeitigen Ruhestandes bei den Erwerbstätigen deutlich. Der Anteil derjenigen Erwerbstätigen, die mit spätestens 60 Jahren der Erwerbstätigkeit den Rücken kehren wollen, hat zwischen 1996 und 2002 von 50% auf 35% abgenommen. Insbesondere nahm die Ungewissheit über den tatsächlichen Austrittszeitpunkt bei allen Erwerbstätigen zu. Vor dem Hintergrund der Diskurse in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit sowie der tatsächlichen Maßnahmen zum Abbau von Anreizen für einen vorzeitigen Austritt gilt die Akzeptanz dieser Maßnahmen bei Beschäftigten und Betrieben als wichtigste Grundlage für die angestrebte Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Es ist anzunehmen, dass die Planungsunsicherheit sechs Jahre später nun konkreteren Vorstellungen über den Übergang in den Ruhestand gewichen ist. Eine Rahmenbedingung bildet die Annahme, dass das geplante Ausstiegsalter ein geeigneter Prädiktor für den tatsächlichen Ausstieg aus dem Erwerbsleben bildet. Auf der Grundlage von den insgesamt drei verfügbaren Wellen des Alterssurvey wird die Entwicklung der Pläne zum Austritt aus dem Erwerbsleben, die interindividuelle Variabilität der Ausstiegspläne über die Zeit hinweg sowie der Zusammenhang zwischen Ausstiegsplänen und dem tatsächlichen Ausstieg untersucht. Es ist eine besondere Stärke des Alterssurveys, die Aspirationen der Erwerbspersonen zum Ausstieg aus dem Erwerbsleben abbilden und mit dem spä- 150 Erwerbstätigkeit und Ruhestand teren tatsächlichen Verhalten kontrastieren zu können. Daher soll vor allem der Frage nachgegangen werden, ob sich in den Erwartungen verstärkt die Tendenz zu einem längeren Verbleib im Erwerbsleben erkennen lässt, die Orientierung auf einen vorzeitigen Übergang in den Ruhestand vor der Regelaltersgrenze von 65 Jahren weiter abgenommen hat und sich somit die aktuellen Reformen auch in den Erwartungen der älteren Erwerbstätigen niederschlagen. Als Indikator wird einerseits das geplante Austrittsalter aus dem Erwerbsleben, andererseits die Konvergenz bzw. Divergenz zwischen geplanten und tatsächlich realisiertem Austrittsalter herangezogen. Auf diese Weise lässt sich sowohl die Vorhersagekraft der Ausstiegspläne als auch die Wirkung von veränderten Rahmenbedingungen auf individuelle Zukunftspläne rekonstruieren. Anhand der Panelstichprobe kann dann verglichen werden, ob die 1996 und/oder 2002 geäußerten Ausstiegspläne mit dem tatsächlichen Erwerbsstatus 2008 übereinstimmen. Dabei soll der Altersteilzeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand (Altersteilzeitgesetz) trat mit Wirkung zum 1. August 1996 in Kraft. Seitdem haben es mehr als 900.000 Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch genommen (Kaldybajewa & Kruse, 2007). Dabei läuft die geförderte Altersteilzeit zum Dezember 2009 aus. Das bisherige Altersteilzeitgesetz sollte eine arbeitsmarktpolitisch begründete Alternative zur bisherigen Praxis des vorzeitigen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben über Arbeitslosigkeit und frühestmöglichen Renteneinritt, den sog. ”goldenen Handschlag‛ bieten (Bäcker, 1999). Die Verringerung der Arbeitszeit bewirkt eine Abmilderung physischer und psychischer Belastungen, insbesondere bei bereits gesundheitlich beeinträchtigten Erwerbstätigen. Kürzere Arbeitszeiten am Ende des Erwerbslebens sollte ein längeres Verbleiben älterer Beschäftigter bewirken. Altersteilzeitarbeit ist aber auch ein Instrument zur Frühausgliederung der Versicherten aus dem Erwerbsleben, da das Blockmodell überwiegt, so dass kein langsames Ausgleiten aus der Erwerbsphase erfolgt (Kerschbaumer, 2007). Personen, die über Altersteilzeit das Erwerbsleben verlassen, realisieren dabei die höchsten Renten, da Altersteilzeit insbesondere in größeren Betrieben häufig für höhere Angestellte angeboten wird, die sich die Abschläge leisten können (Himmelreicher, Hagen, & Clemens, 2008; Kaldybajewa & Kruse, 2007; Stück, 2003). Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach sozialer Ungleichheit im Zugang zu diesem Ausstiegspfad, so dass in der Analyse die Sozialstruktur der Teilnehmer dieses Ausstiegspfades berücksichtigt werden muss. Im Rahmen der Deskription steht nicht nur die Darstellung der Entwicklung von Ausstiegsplänen über die verschiedenen Alterskohorten hinweg im Zentrum, sondern auch die Identifikation von Faktoren, die als push-Faktoren wirken, also als Anreiz, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Der Alterssurvey erlaubt dabei, durch die Analyse der individuellen Belastungseinschätzung, der 151 Erwerbstätigkeit und Ruhestand bereichsspezifischen Zufriedenheit sowie der Weiterbildungsaspiration und -beteiligung, Einflussgrößen auf die individuelle Ausstiegsplanung zu identifizieren. Dabei steht nicht die Deskription des tatsächlichen Ausstiegsverhaltens im Vordergrund (hierzu sind in der Literatur bereits reichlich Analysen vorhanden), sondern die individuelle Planung: Welche konkreten Ausstiegspläne lassen sich in unterschiedlichen Altersgruppen beobachten? Wer hat jetzt schon vor, über das 63. Lebensjahr hinaus zu arbeiten? Welche Gründe können für unterschiedliche Erwerbsorientierungen identifiziert werden? Dabei ist eine Differenzierung nach einzelnen Berufsgruppen erforderlich, da es sowohl Tätigkeitsfelder mit von vornherein begrenzter Dauer, beispielsweise im Bergbau, beim Flugpersonal, beim Militär oder verschiedenen handwerklichen Berufen, als auch Berufe mit längerer Verweildauer in der Erwerbstätigkeit gibt. Forschungsfragen und Hypothesen Welche Einflüsse auf die Erwerbsorientierung lassen sich identifizieren? Bei welchen Erwerbstätigen lässt sich bereits jetzt eine Umorientierung auf längere Erwerbstätigkeit beobachten? Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Rahmenbedingungen ist zu erwarten, dass der Abbau der Anreize zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sich weiterhin auf die Beendigungspläne und die tatsächlichen Erwerbsquoten älterer Erwerbstätiger auswirkt. Die Erwartung, mit spätestens 60 Jahren aus dem Erwerbsleben auszusteigen, wird weiter abnehmen. Die anfängliche Ungewissheit über den tatsächlichen Rentenbeginn weicht einer Gewissheit über die Wirkung der einzelnen Reformen. Welche Determinanten (inkl. Branchen, Berufsgruppen und erwartete Arbeitslosigkeit) lassen sich nun bei denjenigen Erwerbstätigen identifizieren, die länger arbeiten wollen? Hier sind einerseits Berufe mit von vornherein begrenzter Dauer (beispielsweise Flugpersonal, Fluglotsen etc.), andererseits Berufe, die für einen längeren Verbleib prädestiniert sind, zu kontrollieren. Es lassen sich Unterschiede in Abhängigkeit von verschiedenen Charakteristika der Betroffenen beim Übergang in den Ruhestand beobachten; beispielsweise zwischen den Geschlechtern. Diese Fragestellungen sollen auch vor dem Hintergrund der seit den achtziger Jahren in der Soziologie verbreiteten Debatte über die Dreiteilung des Lebenslaufs (Kohli, 1985) beantwortet werden. Bedeutet die Abkehr von der Orientierung auf frühen Ruhestand und die Unsicherheit über den voraussichtlichen Zeithorizont auch eine abnehmende Orientierung an festen Altersgrenzen? Sind verlängerte und differenziertere Übergänge Symptome für eine weitere Entstandardisierung des Lebenslaufs? Dies wäre beispielsweise zu erwarten, wenn die Ausstiegsorientierungen älterer Erwerbstätiger heterogen und nicht mehr an festen Altersgrenzen orientiert sind, so dass in der Folge Statusübergänge flexibler werden und die Varianz des Ausscheidealters steigt. Oder lässt sich umgekehrt 152 Erwerbstätigkeit und Ruhestand durch die Abkehr von den vielfältigen Formen der Frühverrentung vielmehr eine Re-Standardisierung des Lebenslaufs beobachten? Bezogen auf Altersteilzeit (ATZ) lautet die Hauptfrage, wie wirkt sich das Angebot von Altersteilzeit auf den Verbleib im Erwerbsleben aus? Hier wird nicht nur die tatsächliche Inanspruchnahme von ATZ analysiert, sondern auch die Orientierungen auf ATZ als Ausstiegsoption aus dem Erwerbsleben. Wollen die Personen, die an Maßnahmen der ATZ teilnehmen wollen, auch länger arbeiten? ATZ soll ja längeren Verbleib im Erwerbsleben ermöglichen, bewahrheitet sich das? Zu erwarten ist hier eher, dass Teilnehmer an ATZ-Maßnahmen früher aussteigen wollen. ATZ kann auch als personalpolitisches Instrument genutzt werden. Welche Erwerbstätigen dürfen über ATZ aus dem Erwerbsleben aussteigen, wer beabsichtigt und wer macht es? Altersteilzeit erscheint als privilegierter Ausstiegspfad: Teilnehmer an ATZ-Maßnahmen sind häufig höhere Angestellte, die in der Erwerbsphase zu den höheren Einkommensgruppen gehören und höhere Renten realisieren können. Literatur Arnds, P., & Bonin, H. (2003). Gesamtwirtschaftliche Folgen emographischer Alterungsprozesse. In M. Herfurth, M. Kohli & K. F. 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Materielle Lagen Andreas Motel-Klingebiel & Laura Romeu Gordo Inhalt 9.1 Einleitung ..................................................................................... 156 9.2 Fragestellungen............................................................................ 160 9.3 Datenerhebung und Konzepte ...................................................... 162 9.4 Analyseperspektiven .................................................................... 165 9.4.1 Die aktuelle Lebenssituation der 40- bis 85-Jährigen ......................... 165 9.4.2 Veränderungen der Lebenssituation der 40- bis 85-Jährigen über die Zeit und ihre Bestimmungsgründe...................................................... 167 9.5 Zusammenfassung........................................................................ 170 Literatur ................................................................................................ 171 9.1 Einleitung Deutschland altert rasch und das Zusammenspiel von niedriger Geburtenrate und steigender Lebenserwartung bei nur geringer Migration verändert die Altersstruktur nachhaltig. Derzeit ist etwa ein Fünftel der Bevölkerung jünger als 20 Jahre und ein weiteres 65 Jahre oder älter. Drei Fünftel der Bevölkerung sind entsprechend im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren. Folgt man den Ergebnissen der 11. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes werden sich diese Relationen künftig verschieben. Im Jahr 2050 wird nur noch jeder sechste Einwohner unter 20 Jahre alt sein, während der Anteil der 65-Jährigen und Älteren stark angestiegen sein wird: Jeder Dritte wird dann dieser Altersgruppe angehören. Noch beachtenswerter wird der zahlenmäßige Bedeutungszuwachs der älteren Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren sein. Ihre Zahl wird voraussichtlich von gegenwärtig knapp 4 Millionen auf voraussichtlich rund 10 Millionen im Jahr 2050 ansteigen (Statistisches Bundesamt, 2006, mittlere Variante). Konsequenterweise ist der demografische Wandel seit einigen Jahren zu einem zentralen Thema in der gesellschaftlichen Diskussion geworden. Der gesellschaftliche Trend spiegelt sich auch in den Lebensläufen der Menschen. Die ”Lebensphase Alter‛ umfasst inzwischen mehrere Jahrzehnte und wird sich weiter verlängern. Heutige 60-Jährige haben bereits eine fernere Lebenserwartung von 20 Jahren (Männer) bzw. 24 Jahren (Frauen); diese wird bis zum Jahr 2050 voraussichtlich um weitere fünf Jahre ansteigen (Statistisches Bundesamt, 2006). Ältere Menschen stellen also einen immer 156 Materielle Lagen größeren Bevölkerungsanteil und späte Lebensphasen werden zu einem immer gewichtigeren Bestandteil des Lebenslaufs aller Menschen. Es stellt sich daher entsprechend, neben der Frage nach den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Potenzialen dieser längeren Lebensphase und der steigenden Zahl älterer Menschen, immer drängender die Frage nach den Lebenssituationen des Alters und nach der Ausgestaltung der späten Lebensphasen. Hierbei sind die objektiven Aspekte des Lebens und ihre subjektive Repräsentation genauso angesprochen wie die Planungen und Bewertungen der Betroffenen sowie das wahrgenommene Wohlbefinden älterer Menschen. Es geht also um die Lebensqualität im Alter, ihre Voraussetzungen und Ergebnisse, ihre Verteilung und ihre Entwicklung sowie um sozialpolitische Interventionen zu ihrer Aufrechterhaltung und Verbesserung. Die materiellen Lebenssituationen, ihre Bewertungen und das wirtschaftliche Handeln im Alter sind ein wesentlicher Aspekt der Lebensqualität älterer Menschen. Während die materiellen Lebensbedingungen die Lebenschancen von Individuen maßgeblich beeinflussen, stellen die subjektiven Bewertungen des Lebensstandards eine Grundlage allgemeiner Lebenszufriedenheit und individuellen Wohlbefindens dar – beide Aspekte stehen in, wenn auch unvollkommenen, Bezug zueinander (Hansen, Slagsvold, & Moum, 2008) und in engem Zusammenhang mit dem Handeln und den Lebensplanungen der Individuen. Sie stellen in diesem Sinne Resultate von Lebenschancen dar und haben in längsschnittlicher Perspektive wiederum ihrerseits Auswirkungen auf die Lebensbedingungen älterer Menschen. Alle diese Aspekte der Lebensqualität in der zweiten Lebenshälfte sind eingebettet in die vorangegangenen Lebensläufe und gesellschaftliche Kontexte. Mit Blick auf den Lebenslauf ist – neben der wichtigen Frage nach der Kumulation von Begünstigungen und Benachteiligungen im Sinne der Diskussionen um ”cumulative (dis)advantage‛ (vgl. Crystal & Shea, 1990; Dannefer, 2003; O'Rand, 2003) oder ”cumulative inequality‛ (Ferraro, Shippee, & Schafer, 2009) oder nach der möglichen Nivellierung von Disparitäten im späten Lebenslauf aufgrund des Wegfalls der Erwerbssphäre nach dem Übergang in den Ruhestand und der zunehmenden Bedeutung im Alter einsetzender physischer und psychischer Abbauprozesse – dessen historische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Einbettung von Bedeutung. Es ist zu betrachten, unter welchen historischen Bedingungen und in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen sich Erwerbskarrieren und Familienverläufe vollzogen haben bzw. die Ausbildung von Lebensstilen und Konsumpräferenzen vonstatten ging. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei einerseits der Frage nach der Ausbildung wirtschaftlicher, aber auch gesellschaftlicher und politischer Generationen und ihrer Auswirkung auf die materielle Lebenssituation im Alter zu. Andererseits ist das Augenmerk auf die langfristige Aus- und Umgestaltung sozialer wie marktlicher Sicherungs- und Bilanzierungssysteme zu richten, die wesentlich Einfluss auf die materiellen Lebenssituationen ausüben. 157 Materielle Lagen Soziale Sicherung – Die materiellen Grundlagen der Lebenssituation im Alter basieren im Wesentlichen auf der Akkumulation von Anwartschaften – sei es im System der sozialen Alterssicherung oder im Hinblick auf private Vermögen. In beiden Fällen verweist dies auf die intergenerationale Umverteilung und ihre Institutionen Markt und Wohlfahrtsstaat. Die Systeme der Alterssicherung befinden sich derzeit allerdings in einem langfristigen Wandel (Berner, 2007; Berner, Romeu Gordo, & Motel-Klingebiel, 2008). Reformen der sozialen Sicherung intendieren ein Absenken der Sicherungsniveaus der gesetzlichen Alterssicherung und eine sukzessive, teilweise staatlich geförderte Teilprivatisierung der materiellen Absicherung des Ruhestands. Die aktuelle Alterssicherungspolitik in Deutschland hat dabei das vorrangige Ziel der Stabilisierung der Beiträge. Die ursprüngliche soziale Sicherungs- und Ausgleichsfunktion der gesetzlichen Rentenversicherung ist dabei zum nachrangigen Zielgedanken geworden. Dies gilt sowohl für den Ausgleich zwischen Lebensaltersgruppen als auch für die Umverteilung innerhalb der Lebensalter, z. B. zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen, Männern und Frauen, Geringverdienern und Beziehern höherer Einkommen. Die mit der Verschiebung einhergehende (Teil)Privatisierung hat insbesondere auch Effekte auf die intragenerationalen Verteilungen (Motel-Klingebiel & Arber, 2006; Estes, 2004). Zumindest argumentativ ist zudem die Diskursfigur der Generationengerechtigkeit in den letzten Jahren neben den intertemporalen und intragenerationalen Ausgleich und die Lebensstandardsicherung im Alter getreten (Motel-Klingebiel & Tesch-Römer, 2004; Schmähl, 2005; Staeck, 2003). Über sie wird gängig die Abwendung von einer vergleichsweise üppig ausgestatteten Umverteilung im Umlageverfahren und die Hinwendung zu einer reduzierten Umverteilung legitimiert, die nunmehr die materielle Ausstattung im Alter in Kombination mit staatlich gestützten (kapital)marktlich organisierten Sicherungsprodukten sichern helfen soll. Der dieser Verschiebung zugrunde liegende Marktoptimismus hat im Zuge der Kapitalmarkt- und Wirtschaftskrisen eine gewisse Dämpfung erfahren. Dieses wird wohl zumindest mittelfristig kaum etwas an der angestoßenen Umorientierung der Alterssicherungspolitik in Deutschland ändern. Die doppelte Entwicklung – einerseits die Niveauabsenkung und Teilprivatisierung der Alterssicherung, andererseits die aktuelle Krise kapitalmarktlich basierter privater Alterssicherungskomponenten – könnte sich allerdings bereits in den Erwartungen der heutigen und künftigen Ruheständler an ihre Absicherung im Alter niederschlagen und so auch die Lebensplanungen in der zweiten Lebenshälfte beeinflussen. Veränderungen der Lebensläufe – Neben der Alterssicherung befinden sich auch die Lebensverläufe im Wandel. Einerseits ist hier die Pluralisierung der Familienund Lebensformen zu nennen (siehe hierzu die Kapitel 2 und 3). Andererseits macht dieser Trend zur gesellschaftlichen Differenzierung auch nicht vor den 158 Materielle Lagen Erwerbsverläufen halt, die sich langfristig in Richtung instabilerer und kürzerer Karrieren unter Einschluss atypischer und geringfügiger Beschäftigung und zunehmender Verbreitung von immer weniger gesicherten Arbeitslosigkeitsphasen wandeln. Diese Entwicklung würde eigentlich verstärkte individuelle wie gesellschaftliche Sicherungsanstrengungen notwendig machen, die derzeit allerdings nicht zu konstatieren sind. Hier sind insbesondere auch die Überlegungen zur Einführung einer Erwerbstätigenversicherung sowie zur Ausweitung von Grundsicherungskomponenten zu nennen. Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen der Erwerbsverläufe hin zu höherer Variabilität und Instabilität findet sich im System der sozialen Alterssicherung eine Erhöhung der Regelaltersgrenze, die möglicherweise – wie jetzt bereits nach der Altersgrenzenanhebung der vorgezogenen Altersrenten – zu häufigeren Hinnahme von Rentenabschlägen bei vorzeitigen Rentenübergängen führen wird. Diese Trends werden in der gesetzlichen Alterssicherung langfristig voraussichtlich ein weiteres Absinken der Sicherungsniveaus nach sich ziehen. Zugleich ist anzunehmen, dass dieses Absinken nicht einheitlich verläuft, sondern ohne zusätzliche Abfederung bevorzugt bestimmte Personengruppen betreffen wird. In der Folge wird es daher absehbar zu einer Ausdifferenzierung der sinkenden GRV-Einkommen führen. Das Vorhandensein privater Alterssicherung – staatlich gefördert wie die ‚Riester-Rente‘ oder nicht wie Lebensversicherungen oder privates Kapitalsparen – ist sozial differenziert, was ihre Verbreitung als auch ihren jeweiligen Umfang angeht. Eine künftige 100%ige Abdeckung ist ohne die Einführung eines Obligatoriums realistisch nicht plausibel anzunehmen. Und eine Gleichverteilung der Ansprüche wäre auch in diesem Fall nicht gegeben. Private Alterssicherung bedarf des individuellen Wissens zur Optimierung der Outcomes (Lusardi & Mitchell, 2005) und zugleich sind die sozialen Ausgleichsfunktionen privater Sicherung beschränkt und allenfalls durch ihre sozialstaatliche Überformung bewirkt. Die Renditen als solche bewegen sich in einem breiten Korridor, der durch die ‚Riester‘-Vorgaben nur bescheiden verengt wird. Hinzu kommen weitere private Anlageformen außerhalb der staatlichen Förderung, die noch wesentlich heterogener verteilt sind, und aktuell an Bedeutung gewinnen. Entwicklungstrends der materiellen Lagen im Alter – In der Folge der Veränderungen von Lebensläufen und sozialer Sicherung sollte sich sukzessive eine deutliche Absenkung der mittleren Einkommen aus der sozialen Alterssicherung zeigen. Sie sollte ergänzt werden durch eine erhebliche Ausdifferenzierung der Einkommenslagen, ohne dass absehbar ist, dass in der Breite die private Vorsorge die Einkommensniveauverluste in der öffentlichen Alterssicherung kompensieren wird. Dieser Trend sollte bereits eingesetzt haben, ist in seiner Ausgestaltung zu dokumentieren und in seinen Wirkungen auf Lebensplanungen und weitere Lebensbereiche zu analysieren. Aktuelle Rentenprognosen und Prognosen der Alterseinkommen insgesamt scheinen dabei zu optimistisch auszufallen 159 Materielle Lagen (Riedmüller & Willert, 2008) und sind in ihrer Bewertung nicht an Sicherungszielen orientiert, die eine angemessene Bewertung der voraussichtlichen Zielerreichung ermöglichen würden. 9.2 Fragestellungen Aus diesen Überlegungen ergibt sich die grundlegende Frage, welche Wirkung dieser aktuelle Wandel von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die langfristige Veränderung individueller Lebensverläufe über die verschiedenen Ruhestandskohorten und Generationen auf die materielle Lage und das wirtschaftliche Handeln sowie auf die Bewertungen der materiellen Lebenssituationen, die Akzeptanz sozialstaatlicher Umverteilung und die gesellschaftliche Integration aktueller und künftiger Generationen von Ruheständlern hat. Konkret soll gefragt werden: Wie zeigt sich und wie verändert sich der Umfang, die Verteilung und die Struktur materieller Lagen älterer Menschen sowie ihre Bewertungen und Erwartungen im gesellschaftlichen Wandel? Und wie beeinflussen diese Veränderungen ihr wirtschaftliches Verhalten? Wie verändern sich Erwerbs- und Familienbiografien und welche Effekte hat dieser Wandel auf den Umfang, die Verteilung und die Struktur materieller Lagen älterer Menschen sowie ihre Bewertungen, ihre Erwartungen und ihr wirtschaftliches Verhalten? Wie verändern sich die Systeme sozialer Sicherung und die auf sie bezogenen Einstellungen/Bewertungen und welche Effekte hat dieser Wandel auf den Umfang, die Verteilung und die Struktur materieller Lagen älterer Menschen sowie ihre Bewertungen, ihre Erwartungen und ihr wirtschaftliches Verhalten? Und welche Probleme und Interventionsoptionen ergeben sich daraus aus gesellschaftspolitischer Sicht? Weitergehende Analysen nehmen darüber hinaus auch individuelle Verläufe in der zweiten Lebenshälfte in den Blick und stellen u.a. folgende Fragen: Wie gestalten sich individuelle Einkommens-, Vermögens- und Bewertungsverläufe über das Alter und was sind ihre individuellen wie sozialstrukturellen Prädiktoren? Welche Wirkungen auf materielle Lagen gehen von lebensphasenspezifischen Übergängen (Auszug der Kinder, Ruhestandsübergang, Verwitwung) aus und wie verändern sich diese Effekte über die Zeit? Gewinnen Einkommensverluste im Übergang in den Ruhestand an Bedeutung? 160 Materielle Lagen Welche Wirkungen gehen von Einkommensverläufen auf Bewertungen des Lebensstandards und auf Bewertungen der intergenerationalen Umverteilung aus? Aus sozialpolitischer Perspektive stellt sich dabei jeweils besonders die Frage nach der Identifikation möglicher Problem- oder Risikogruppen, der Ausgestaltung ihrer Lebenssituation, der Gründe für die besondere Problem- oder Risikolage und die zahlenmäßige Entwicklung dieses Personenkreise über die Zeit sowie möglicherweise daraus resultierender aktueller wie künftiger politischer Interventionsbedarfe. Den genannten Fragen soll im Deutschen Alterssurvey nachgegangen werden. Abbildung 9-1 zeigt die jeweiligen Analysedimensionen im Bereich ”Materielle Lage und Wirtschaftliches Handeln‛ und ihre konzeptionelle Zuordnung. Auf der Grundlage der Sozialstruktur, der individuellen Erwerbs- und Familienverläufe sowie der Ausgestaltung der Alterssicherungssysteme zeigen sich die materiellen Ressourcenlagen im höheren Lebensalter. Vor ihrem Hintergrund sind das wirtschaftliche Verhalten, die subjektiven Bewertungen und individuellen Planungen sowie die Einstellungen und Bewertungen wohlfahrtsstaatlicher Umverteilungsarrangements zu betrachten. Abbildung 9-1: Wirtschaftliche Lagen, wirtschaftliches Handeln und Bewertungen wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung im Alter 161 Materielle Lagen 9.3 Datenerhebung und Konzepte Die Erhebung sozialstruktureller Determinanten, der Erwerbs- und Familienverläufe sowie der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung folgt nicht allein Überlegungen zur materiellen Lebenssituation. Während Daten zur Sozialstruktur, Erwerbstätigkeit und Familie in anderen Analysebereichen des Deutschen Alterssurveys erhoben werden, ist die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme nicht Gegenstand einer Mikrodatensammlung sondern muss auf der Basis externer Quellen diskutiert werden (vgl. Kap. 1). Allerdings erhebt der Deutsche Alterssurvey individuelle Einstellungen zur Akzeptanz dieser Systeme, die in die Analyse der materiellen Lebenssituationen einfließen. Einkommen – Das Einkommen der Befragten wird im mündlichen Interview und der schriftlichen Erhebung des Deutschen Alterssurveys erfasst. In der mündlichen Befragung wird hierzu eine Standardformulierung gemäß der Empfehlung des Arbeitskreises Deutscher Marktforschungsinstitute, der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute und des Statistischen Bundesamtes verwendet. In der schriftlichen Erhebung wird auch die Zusammensetzung des Haushaltseinkommens erfragt. Für diejenigen Fälle, in denen das Haushaltseinkommen ausschließlich auf das Einkommen des Befragten oder seines Partners bzw. auf detailliert erfragte, einzelnen Personen nicht individuell zuzuordnenden Einkommensarten (wie Sozialhilfe, Miet- und Zinseinnahmen usw.) zurückgeht, kann auf Basis der schriftlichen Befragung eine Substitution fehlender Werte in der Einkommensabfrage der mündlichen Erhebung vorgenommen werden. Dieses Vorgehen ermöglicht – wie bereits in den Vorwellen – eine erhebliche Senkung des Anteils fehlender Werte. Die so erstellte Einkommensvariable hat bislang einen Anteil fehlender Werte von weniger als zwölf Prozent (1996) bzw. zehn Prozent (2002). Wird vor allem eine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der Betroffenen, d. h. ihrer relativen Wohlstandsposition, angestrebt, so ist das Äquivalenzeinkommen das am häufigsten verwendete Einkommenskonzept. Ihm liegt die Idee zugrunde, dass ”aussagekräftige Wohlstandsuntersuchungen (...) die Normierung der realiter vorfindbaren, unterschiedlichen Haushaltsstrukturen‛ (Faik, 1995; 28; Faik, 1997; Paccagnella & Weber, 2005) erfordern. Diese Normierung erfolgt zumeist über eine differenzierte Gewichtung der Bedarfe unterschiedlicher Haushaltstypen in der Berechnung der Einkommensgröße. Diese Gewichtung basiert zum einen auf der Summe der von allen Mitgliedern eines Haushaltes erzielten persönlichen Nettoeinkommen. Zum anderen stützt sie sich auf die Größe des Haushalts und zumeist auch auf die Altersstruktur seiner Mitglieder. Das so berechnete Äquivalenzeinkommen ist für die Ermittlung von Wohlfahrtspositionen aussagekräftiger als das von einer Person, beispielsweise durch eigene Erwerbstätigkeit oder aufgrund von Renten- bzw. Pensionsansprüchen erzielte, persönliche Einkommen. Aufgrund der Integration der allgemein 162 Materielle Lagen angenommenen Kostendegression in größeren Haushalten ist diese Größe auch der einfachen Summierung der persönlichen Einkommen zum Haushaltseinkommen überlegen (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1999; Danziger & Taussig, 1979). Der Berechnung des Äquivalenzeinkommens liegt die Erhebung des Haushaltsnettoeinkommens sowie der Haushaltszusammensetzung als Basis der Kalkulation der Bedarfsgewichte zugrunde. Zur Normierung der Haushaltsstrukturen wird dabei jeweils ein Faktor der Bedarfsgewichtung eingesetzt – die Äquivalenzskala. Die Festsetzung der Gewichte ist nicht unproblematisch, denn sie beeinflusst die berechnete sozialstrukturelle Verteilung der Wohlfahrtspositionen. Für die Berechnung der Äquivalenzeinkommen werden grundsätzlich die Äquivalenzgewichte gemäß der neuen OECD-Skala verwendet. Armut und Wohlstand – Während Armut übereinstimmend als gesellschaftlicher Missstand gewürdigt und als Mangel an Verwirklichungschancen interpretiert wird, sind konzeptionelle Abgrenzung und empirische Bestimmung dennoch problematisch. Für die empirische Analyse sind voraussetzungsvolle Annahmen unerlässlich. Der Begriff der Armut wird im Deutschen Alterssurvey auf den Aspekt der ressourcenbezogenen Armut beschränkt und Armut wird durchgängig als relative Einkommensarmut definiert. Die Armutsgrenze wird hierbei mit 60 Prozent des Medianeinkommens der Gesamtpopulation bestimmt, für deren Berechnung das sozio-oekonomische Panel (SOEP) herangezogen werden muss. Es basiert einerseits auf einer repräsentativen Stichprobe der Gesamtbevölkerung und setzt andererseits eine Einkommensabfrage ein, die jener im Deutschen Alterssurvey vergleichbar ist. Die einkommensbasierte Messung von relativem Wohlstand oder Reichtum im Alter schließt sich an die Definition relativer Einkommensarmut an. Wohlstand wird durch Einkommen in Höhe von 200 Prozent oder mehr des gesellschaftlichen Durchschnitts bestimmt. Bei der Bewertung dieser Grenze ist aus gerontologischer und sozialpolitischer Perspektive allerdings zu beachten, dass ein so bestimmter Geldbetrag gerade dazu ausreichen dürfte, bei Unterstützung durch die Pflegeversicherung einen Platz in einem durchschnittlichen Pflegeheim ohne Vermögensauflösungen oder weitere Hilfen zur Pflege zu finanzieren. Vermögensbesitz – Die Erhebung der Vermögen wurde in der dritten Welle ausgebaut und umfasst nunmehr auch die verschiedenen Komponenten der privaten Vermögensportfolios einschließlich der am weitesten verbreiteten Aspekte privater Altersvorsorge. Geld- und Wertpapiervermögen, Anwartschaften im Rahmen von Kapitallebensversicherung und privaten Rentenversicherung innerhalb und außerhalb des Rahmens der Riester-Rente können nunmehr wie auch der Besitz von Immobilien(vermögen) in die Untersuchung einbezogen werden. Das Geldvermögen wurde, wie auch die Verschuldung, im schriftlichen Teil der Erhebung erfragt. 163 Materielle Lagen Bewertungen des Lebensstandards – Die subjektiven Bewertungen des Lebensstandards, seiner vergangenen und seiner künftigen Entwicklung erfolgten analog der Erhebung der Bewertungen in anderen Schwerpunktbereichen des Alterssurveys. Geld- und Sachtransfers – Die Erhebung materieller Geld- und Sachtransfers umfasst mit Geldgeschenken, größeren Sachgeschenken und regelmäßigen finanziellen Unterstützungen möglichst alle übertragbaren Formen materieller Güter und bezieht sich auf die vergangenen 12 Monate vor der Befragung. Die Zahl möglicher Vorbilder war im deutschen Sprachraum zum Zeitpunkt der ersten Erhebungswelle des Alterssurveys mit der Berliner Altersstudie (BASE) und dem sozio-oekonomischen Panel (SOEP) gering. Auf dieser Basis lagen einige wenige Publikationen vor (vgl. Croda, 1998; Jürges, 1998; Motel & Spieß, 1995). Die Erhebung in der ersten Befragungswelle von 1996 hat sich bewährt (vgl. MotelKlingebiel, 2000) und wurde in den Folgewellen wiederholt. Zur Erhebung der aktuellen privaten Transfers wird jeweils eine globale Frage nach der Vergabe bzw. dem Erhalt solcher Leistungen gestellt. Anschließend werden bis zu sieben Empfänger oder Geber solcher Leistungen erhoben. Des Weiteren wird nach der Art der Transfers sowie nach der Transferhöhe gefragt. Erbschaften – Ähnlich wurde die Erbschaftserhebung strukturiert. Ausgehend von einer Einstiegsfrage werden, bei Vorliegen einer Erbschaft, der Erblasser sowie der heutige Wert dieser Erbschaften erfragt. Zusätzlich wird die Frage nach künftig erwarteten Erbschaften und ihrem geschätzten Wert gestellt. Sparen und Entsparen – Bei der Abfrage von Spar- und Entsparprozessen wird analog schrittweise vorgegangen: Einer allgemeinen Einstiegsfrage sind hier Sparziele bzw. Verwendungszwecke nachgestellt. Die Abfrage wird durch die Erhebung kategorialer Angaben der Summen abgeschlossen. Konsumziele – Auf eine Erhebung der Konsumstruktur in der zweiten Lebenshälfte wird im Deutschen Alterssurvey nicht abgehoben. Um Konsumpräferenzen zu ermitteln wurde stattdessen eine Frage zur Verwendung eines fiktiv zufließenden Geldbetrags aus dem Survey for Health, Aging and Retirement in Europe (SHARE) übernommen. Akzeptanz von Umverteilung und Bewertung der Generationenverhältnisse – Die Beschreibung von Umverteilung in der sozialen Sicherung kann auf der Basis der Mikrodaten des Deutschen Alterssurveys nicht vorgenommen werden. Vielmehr steht die Beurteilung und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und ihrer Institutionen im Blickfeld, welches in der dritten Erhebungswelle weiter ausgeweitet wurde. Die dritte Welle des Deutschen Alterssurveys ermöglicht nunmehr die Gegenüberstellung von Einkommens- und Vermögenslagen mit Verteilungspositionen auf der einen, sowie der Akzeptanz der dahinterstehenden 164 Materielle Lagen Sicherungsinstitutionen und der Zustimmung zu Verteilungs- und Sicherungszielen auf der anderen Seite. 9.4 Analyseperspektiven Die Analysen gehen in drei Schritten vor und betreffen vor allem drei Analysebereiche. Sie beziehen sich auf die Bereiche der materiellen Ressourcen von Einkommen und Vermögen, auf das wirtschaftliche Verhalten, sowie auf die Bewertungen des Lebensstandards und die Einstellungen zum System wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und Umverteilung. Es werden dabei jeweils die aktuellen Lebenssituationen der 40- bis 85-Jährigen in Deutschland analysiert und die Veränderungen über den Betrachtungszeitraum des Deutschen Alterssurveys (DEAS) seit 1996 untersucht. Zudem werden die Bestimmungsfaktoren der festgestellten Veränderungen vor dem Hintergrund des Generationenwandels bzw. des Wandels der Lebensläufe sowie der aktuellen sozial- und sicherungspolitischen Trends diskutiert. 9.4.1 Die aktuelle Lebenssituation der 40- bis 85-Jährigen In einem ersten Schritt sollen die materiellen Aspekte der Lebenssituation in der zweiten Lebenshälfte umfassend abgebildet werden. Die Einkommens- und Vermögenslagen werden im Allgemeinen recht gut dokumentiert (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, 2005; Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2008), doch finden sich altersphasenspezifische Analysen nur in begrenztem Umfang und noch seltener eingebettet in weitergehende alternswissenschaftliche Untersuchungen, die die Bedeutung der materiellen Lebenssituation Älterer angemessen in den Kontext weiterer Lebenszusammenhänge und der Lebensqualität im Alter stellen. Bei der Einkommens- und Vermögenssituation werden insbesondere die Differenzen zwischen den Altersgruppen betrachtet. Dem Lebensalter kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Denn während die Erwerbsbeteiligung für Menschen im Arbeitsalter der Hauptbestimmungsfaktor für die Einkommenssituation ist, ist die Arbeitsmarktpartizipation für die Einkommenssituation der Älteren kaum relevant. Die vorrangigen Einkommensquellen älterer Menschen sind die Renten und Pensionen, Einkommen aus Betriebsrenten oder der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, sowie Einkommen aus privater Altersvorsorge. Einkommen aus Zinserträgen oder Immobilienbesitz sind insgesamt nicht unerheblich, fließen aber nur bestimmten Gruppen Älterer zu. Erwerbstätige und Ruheständler trennt der Übergang in den Ruhestand als ein wesentliches und beinahe universelles Lebensereignis. Die Einkommenssituation der Ruheständler/innen und ihre Entwicklung muss entsprechend getrennt von der Einkom- 165 Materielle Lagen menssituation des Restes der Bevölkerung untersucht werden. Die Einkommensund Vermögenssituation wird für verschiedene Gruppen von Ruheständler/innen (Ost- und Westdeutsche, Männer und Frauen, Rentner und Pensionäre, Migrant/innen und Indigene) getrennt untersucht. Es ist aufgrund vorliegender Ergebnisse aus anderen Studien (Braun & Metzger, 2007; Krause, Möhring, & Zähle, 2008; Motel-Klingebiel, Romeu Gordo, & Betzin, 2009) und früheren Wellen des Deutschen Alterssurveys (Motel-Klingebiel, 2006) anzunehmen, dass sich hier weiterhin wesentliche Disparitäten nachweisen lassen. Darüber hinaus wird die Situation der Jüngeren im Alter vor dem Ruhestand analysiert. Angesichts der Situation und Entwicklung der Arbeitsmärkte sowie der veränderten sozialen Sicherungssysteme ist es wichtiger denn je, dabei die Frage nach Armut und Ausgrenzung, also nach mangelnden Lebens- und Verwirklichungschancen (Lyberaki & Tinios, 2005) zu stellen, aber auch besonders begünstigte Lebenssituationen in den Blick zu nehmen, die gerade von einem Überfluss an sich bietenden Chancen geprägt sind (Breyer, Meran, Petersen, & Seidel, 2006). Die Einkommensposition der älteren Menschen in Deutschland hat sich zwar in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. Doch zum einen sind die Armutsquoten in der größten Einzelgruppe der alleinstehenden älteren Frauen noch immer höher als in der Gesamtbevölkerung (Grabka & Krause, 2005; Strengmann-Kuhn, 2008). Zum anderen lassen die aktuellen Daten es kaum zu, von einem ungebrochenen Verbesserungstrend zu sprechen. Angesichts der sinkenden Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung und der sich wandelnden Erwerbs-, Familien- und Partnerschaftsverläufe sind eher sinkende als steigende relative Einkommenspositionen der Älteren und damit erhöhte Armutsrisiken zu erwarten, was eine fortgesetzte Beobachtung von Armut im Alter notwendig macht. Dabei ist neben der Einkommens- und Vermögenslage allerdings auch auf weitere Aspekte der materiellen Lebenssituation Bezug zu nehmen (Headey, 2008). Ebenfalls wegen des wachsenden gesellschaftspolitischen Belangs wird der Frage nach der individuellen Vorsorge der Älteren, aber insbesondere auch der Jüngeren für die Ruhestandsphase nachgegangen. Es ist besonders interessant zu betrachten, ob die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichem Umfang und nach jeweils unterschiedlichen Mustern vorsorgen und dadurch im Alter auf absehbar unterschiedliche Versorgungsniveaus abzielen bzw. Risiken von Einkommensverlusten und Armut eingehen. Darüber hinaus wird allgemein die Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen untersucht. Nicht nur die objektive wirtschaftliche Situation bestimmt die Lebensqualität im Ruhestand. Vielmehr ist für Verhalten und Lebensplanung auch die Bewertung der jeweiligen Lagen und ihrer vergangenen Entwicklungen sowie die Erwartungen künftiger Veränderungen von Bedeutung. Daher wird im Deutschen Alterssurvey untersucht, wie die verschiedenen Gruppen ihre aktuelle Situation vor 166 Materielle Lagen dem Hintergrund der ihnen objektiv zur Verfügung stehenden Ressourcen bewerten und in welchem Verhältnis diese Bewertungen zu den Einstellungen zur sozialen Sicherung und zu den politischen Zielen im Allgemeinen stehen. Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre ist eine vergleichsweise moderate Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme und eine eher skeptische Sicht auf private Vorsorgepfade zu erwarten (Boeri, Börsch-Supan, & Tabellini, 2001; Nüchter, 2008; Reimann & Frommert, 2006; Roller, 2002; Schwarze, Wagner, & Wunder, 2004; Ullrich, 2008). Objektive Situation und subjektive Bewertungen beeinflussen auch wesentlich das wirtschaftliche Verhalten, das der Deutsche Alterssurvey vor allem in den Aspekten der privaten Transferleistungen und des Sparverhaltens abbildet. Darüber hinaus werden Bezüge zu spezifischen Konsumzielen in der zweiten Lebenshälfte hergestellt. Daneben werden Daten zu Verbreitung und Umfang von Erbschaften in der zweiten Lebenshälfte vorgestellt. Wesentlich für die materielle Lage in der zweiten Lebenshälfte ist die Einbettung der Lebenssituation nicht nur in (sich wandelnde) gesamtgesellschaftliche, nationale Kontexte. Erheblichen Einfluss auf die individuellen Ressourcen und den sich ergebenden Lebensstandard, auf die Bewertungen des Lebensstandards und deren Zusammenhang mit objektiven Ressourcen haben die regionalen Kontexte von Nachbarschaft, Gemeinde, Kreis und Bundesland (Motel-Klingebiel & Huxhold, 2008). Dem Alterssurvey stehen hier in Ergänzung eigener Mikrodaten entsprechende Mesodaten zur Verfügung, die einerseits vom Statistischen Bundesamt bereitgestellt und andererseits aus der Marktforschung erworben wurden. Voranalysen mit den Daten von Welle I und II des Deutschen Alterssurveys zeigen eine dreifache Wirkung der Mesokontexte: Sie wirken in signifikanter Weise auf die individuellen Ressourcen und die Bewertungen des Lebensstandards und moderieren zugleich den Zusammenhang zwischen objektiven und subjektiven Lebenssituationen. 9.4.2 Veränderungen der Lebenssituation der 40- bis 85-Jährigen über die Zeit und ihre Bestimmungsgründe Veränderungen – Dynamiken der wirtschaftlichen Situation und ihrer Verteilung in der zweiten Lebenshälfte über die Zeit speisen sich vor allem aus zwei Quellen. Einerseits sind hier die aktuellen sozialpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen und Ereignisse zu nennen. Reformen der Alterssicherung, wirtschaftliche Hoch- und Krisenzeiten, politische Machtverschiebungen und gesellschaftliche Störungen haben einen Einfluss auf individuelle und gesellschaftliche Ressourcen, die Einstellung zu sozialen Sicherungssystemen und auf das Empfinden von Sicherheit und Wohlstand. Andererseits speisen sich solche Verschiebungen aus Veränderungen in der Zusammensetzung der Popu- 167 Materielle Lagen lation in der zweiten Lebenshälfte mit ihren jeweils spezifischen Ressourcen und Lebensläufen. Für die relative Lage ist zudem auch die Zusammensetzung der älteren Erwerbsbevölkerung von Wichtigkeit. Während die Ruhestandspopulation zum Zeitpunkt der ersten Welle von den Kohorten der bis etwa 1930 Geborenen dominiert wurde (im Westen der Generation der 45er, im Osten die Aufbaugeneration), wächst diese zusehends in das höchste Lebensalter hinein, das nicht durch den Deutschen Alterssurvey abgedeckt wird. Zugleich bilden die 68er (im Westen) und die integrierte Generation (im Osten) im Jahr 2008 die Hauptgruppe der jüngeren Ruheständler, während sie im Jahr 1996 zum Zeitpunkt der ersten Welle noch die älteren Erwerbstätigen stellten. Neu in die zweite Lebenshälfte hineingewachsen sind seitdem die Babyboomer in Ost- und Westdeutschland (vgl. Kapitel 1). Es stellt sich daher zunächst die Frage, inwieweit sich die Niveaus der wirtschaftlichen Lebenssituation in der zweiten Lebenshälfte absolut und/oder relativ verändert haben. Doch nicht nur Änderungen in den Einkommensniveaus sind zu prüfen, sondern es sind auch Veränderungen der Einkommensverteilung in den Blick zu nehmen. Die Analysen der zweiten Welle des Alterssurveys haben einen deutlichen Trend zur Angleichung der Ungleichverteilung der Einkommen zwischen West- und Ostdeutschland auf dem Niveau der westlichen Bundesländer dokumentiert (Motel-Klingebiel, 2006). Diese Ergebnisse decken sich mit jenen anderer Untersuchungen, beispielsweise auf Basis des sozioökonomischen Panels (SOEP, vgl. Frick & Grabka, 2005; Krause & Schäfer, 2005; Krause, Möhring, & Zähle, 2008). Es ist zu untersuchen, ob sich dieser Trend fortgesetzt hat oder ob hier neue Verschiebungen zu konstatieren sind. Beispielweise kann angenommen werden, dass die Bedeutungszunahme privater Vorsorge Effekte auf die Verbreitung prekärer materieller Lagen hat (Schmähl, 2008). Zugleich hat sich die Einkommenssituation über die vergangenen Jahre womöglich nicht für alle Älteren in gleicher Weise verändert, sondern es gibt Gruppen, die mehr von Änderungen in der Alterssicherung und konjunkturellen Entwicklungen betroffen sind als andere. Es ist zu untersuchen, welche Gruppen in einer relativen Perspektive die Gewinner oder Verlierer aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen sind. Da Veränderungen objektiver Indikatoren Dynamiken subjektiver Indikatoren induzieren können, wird untersucht, inwieweit Veränderungen der wirtschaftlichen Ressourcen mit Veränderungen in den subjektiven Bewertungen des Lebensstandards korrespondieren. Änderungen in objektiven und subjektiven Indikatoren der materiellen Lebenssituation können das wirtschaftliche Verhalten beeinflussen. So belegen Mahne und Motel-Klingebiel (Mahne & Motel-Klingebiel, 2008; Motel-Klingebiel & Mahne, 2008) einen Zusammenhang zwischen der Veränderung von Einkommen und Vermögen mit der Neigung zu Geld- und Sachtransfers an die erwachsenen Kinder. Wesentlich werden die Veränderungen im Transfer- und Sparverhalten 168 Materielle Lagen untersucht werden, die ggf. unmittelbar auf die Ressourcenlage der Jüngeren rückwirken. Daher wird u.a. untersucht, ob und in welcher Weise sich das Transferleistungsverhalten seit 1996 geändert hat. Die Hauptuntersuchungsfrage ist, ob heutzutage Ältere angesichts sich verschiebender Einkommensrelationen zwischen den Generationen und sich wandelnder familialer Generationenbeziehungen weniger bereit oder in der Lage sind, Transferleistungen zu leisten als vor zwölf Jahren. Hintergründe der Veränderungen – Vor dem Hintergrund der Diskussion möglicher Veränderungen von Niveaus und Verteilungen materieller Lagen, ihrer Bewertungen und ihres Zusammenhangs mit Einstellung zum System sozialer Sicherung über die Zeit, stellt sich die Frage, welche Faktoren solche Veränderungen beeinflussen können. Wie bereits oben angesprochen, ist hier auf einen doppelten Zusammenhang hinzuweisen. Erstens können aktuelle Verschiebungen im System sozialer Sicherung sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Verschiebungen solche Veränderungen nach sich ziehen. Andererseits kann darin ein mehr oder minder langfristiger sozialer Wandel zum Ausdruck kommen, in dessen Folge neue Generationen mit von früheren abweichenden Lebensläufen und Lebensformen, Ressourcen aber auch Lebensstilen und Präferenzen in die Lebensphase des späten Erwerbsalters und des Ruhestands hineinwachsen. Verschiebungen ergeben sich in diesem Fall vor allem als Kompositionseffekt. Zur Prüfung dieser möglichen Einflussgrößen sollen im Deutschen Alterssurvey die Erwerbs- und Familienverläufe der heutigen Älteren in ihrer historischen Entwicklung analysiert und zu den materiellen Lebenssituationen in Bezug gesetzt werden. Da bekannt ist, dass materielle Ressourcen im Alter ganz wesentlich auf der Akkumulation von Anwartschaften in den verschiedenen Alterssicherungssystemen basieren, ist es wichtig, die Erwerbsverläufe aktueller und zukünftiger Rentner zu analysieren. Es wird empirisch untersucht, in welcher Weise sich die Lebensläufe verschiedener Ruhestandskohorten darstellen und wie sie sich über die Zeit verändert haben. In enger Verknüpfung mit dem an den Deutschen Alterssurvey angebunden Forschungsvorhaben ”Lebensläufe und Alterssicherung im Wandel‛ (LAW) (vgl. Motel-Klingebiel et al., 2007) wird untersucht, ob und inwieweit die Erwerbsverläufe instabiler werden, indem beispielweise Episoden von Arbeitslosigkeit ohne Absicherung und atypischer und geringfügiger Beschäftigung häufiger werden. Verbunden damit soll auch gefragt werden, ob sich ein Trend zu zunehmend inhomogenen Familien- und Partnerschaftsverläufen zeigen lässt, sich also insbesondere in vermehrten Ausmaß familien- oder partnerschaftsinduzierte Wechsel in und aus Erwerbstätigkeit finden lassen, und Effekte häufigerer Trennungen in zunehmendem Maße auf die materielle Lebenssituation und ihre Bewertung wirken (vgl. beispielsweise Stegmann & Bieber, 2007). Die individuellen Verläufe sind wichtige Determinan- 169 Materielle Lagen ten der materiellen Lage im Alter und veränderte Verlaufsmuster wirken so unmittelbar auf die materielle Ausgestaltung des Ruhestands. Dabei soll, inspiriert von der in Kapitel 1 umrissenen Darstellung des Generationenwandels in Deutschland, auch untersucht werden, ob sich die Differenzierung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Generationen bis in späte Lebensphasen fortschreiben lässt, oder ob sich über den jeweils gemeinsamen Lebenslauf und die damit verbundenen Ereignisse und Entwicklungsaufgaben Annäherungen an bestimmte Altersmuster des Ruhestands finden lassen. Aktuell muss dabei gefragt werden, ob das Hineinwachsen der 68er-Generation in das Ruhestandsalter dieses mit Blick auf die materiellen Lagen in weiten Teilen neu bestimmen wird, oder ob sich hier trotz der spezifischen Generationenlagerung für das Alter nur wenig spektakuläre Effekte erwarten lassen. Ebenfalls von großer Bedeutung für die materiellen Lebenssituationen im Alter sind die fortlaufenden Änderungen im Alterssicherungs- und anderen Teilsystemen der sozialen Sicherung. Sukzessive Absenkungen der Sicherungsniveaus und die stattgefundene und geplante (Wieder)Ausdehnung der Erwerbsphase sollten bereits heute ihren Niederschlag in der materiellen Lebenssituation der zweiten Lebenshälfte finden. Zugleich ist zu fragen, inwieweit die Politik der staatlich geförderten Eigenvorsorge für den Ruhestand einen Einfluss auf die Vermögensportfolios der heute in mittleren und späten Erwerbsphasen befindlichen Menschen hat – möglicherweise mit entsprechenden Effekten auf Bewertungen, Planungen und Einstellungen zu den Systemen sozialer Sicherung. Neben den wichtigen strukturellen (Nach)Wirkungen der deutschen Vereinigung auf die Arbeitsmärkte aber auch auf die Bevölkerungsstrukturen stellen auch die konjunkturellen Änderungen im Zeitraum zwischen 1996 und 2008 (vgl. Kapitel 1) weitere Aspekte dar, die in der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen sind. Diese konjunkturellen Faktoren können vor allem die Erwerbschancen und Einkommenssituation in der späten Erwerbsphase vor dem Übergang in den Ruhestand stark beeinflussen und damit Effekte sowohl auf die Ruhestandsübergänge mit ihren Wirkungen auf die Einkommensdynamiken als auch auf die längerfristigen materiellen Lebenssituationen im Ruhestand haben. In ähnlicher Weise können sich die genannten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat spiegeln. Daher wird im Deutschen Alterssurvey auch nach möglichen Zusammenhängen dieser Entwicklungen mit Einstellungen und Bewertungen gesucht. 9.5 Zusammenfassung Die Ausgestaltung der materiellen Lebenssituation stellt einen wichtigen Aspekt der Lebensqualität in der zweiten Lebenshälfte dar. Sie setzt sich aus objektiven Ressourcenlagen, subjektiven Bewertungen, spezifischen Einstellungen und Verhaltensoutcomes zusammen, die wechselseitig miteinander interagieren. Die 170 Materielle Lagen materielle Lebenssituation der Individuen ist einerseits in die Kontexte von Lebensalter, Lebenslauf und Generation sowie andererseits in die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Kontexte der Meso- und Makroebene von Gesellschaft, sozialer Sicherung, Region und Nachbarschaft eingebettet. In diesem Spannungsfeld ist die materielle Lebenssituation der 40- bis 85Jährigen in Deutschland und ihre Veränderung über die Zeit zu analysieren. Im Deutschen Alterssurvey werden die Niveaus und Verteilungen der objektiven und subjektiven materiellen Lagen und ihre Veränderungen im Kontext des sozialen Wandels untersucht. Der Analyse individueller Dynamiken der materiellen Lebenssituationen kommt darüber hinaus eine besondere Rolle für das interdisziplinäre Verständnis von bereichsspezifischen Wirkzusammenhängen und die grundlegende Bedeutung der Ausgestaltung materieller Lagen für Veränderungen von Niveaus und Verteilungen sowie individuelle Dynamiken in anderen Lebensbereichen zu. Literatur Berner, F. (2007). Der entgrenzte Sozialstaat. Der Wandel der Alterssicherung in Deutschland und die Entzauberung sozialpolitischer Fiktionen. Universität Bielefeld, Bielefeld. Berner, F., Romeu Gordo, L., & Motel-Klingebiel, A. (2008). Lebenslauforientierung in der Alterssicherung. In G. Naegele (Ed.), Lebenslaufpolitik und Lebenslaufforschung (im Druck). Boeri, T., Börsch-Supan, A., & Tabellini, G. (2001). Would you like to shrink the welfare state? A survey of European citizens. Economic Policy, 32, 7-50. Braun, R., & Metzger, H. (2007). 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Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates: Präferenzen, Konflikte, Deutungsmuster (1. Aufl. ed.). Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. 174 Wohnen im Alter 10. Wohnen im Alter Jenny Block & Katharina Mahne Inhalt 10.1 Subjektive Bedeutung des Wohnraumes im Alter .......................... 175 10.2 Wohnen als alter(n)spolitisches Thema ......................................... 177 10.3 Forschungsstand und Fragestellungen ........................................... 179 10.3.1 Wohnstandard und -kosten ................................................................ 180 10.3.2 Wohnumfeld ....................................................................................... 181 10.3.3 Wohnzufriedenheit ............................................................................. 183 10.3.4 Wohnmobilität .................................................................................... 184 10.4 Analyseperspektiven .................................................................... 185 10.4.1 Die aktuelle Wohnsituation Älterer .................................................... 185 10.5 Wohnsituationen Älterer im Wandel ............................................. 186 10.6 Fazit und Ausblick ......................................................................... 187 Literatur ................................................................................................ 188 10.1 Subjektive Bedeutung des Wohnraumes im Alter Die Wohnung und das Wohnumfeld werden im Alter, insbesondere im nachberuflichen Leben, zu hoch bedeutsamen Lebens- und Aufenthaltsorten. Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben fällt der Arbeitsbereich als ein wichtiger Lebensraum weg, so dass sich das alltägliche und soziale Leben inhaltlich und zeitlich mehr und mehr auf die Wohnung konzentriert. Parallel steigt der Erinnerungswert und damit die emotionale Verbundenheit mit den eigenen vier Wänden und dem Wohnumfeld infolge der oft viele Jahre umfassenden Verweildauer in der gleichen Wohnung (Burzan, 2002; Dieck, 1979; DZA, 1998; Höpflinger, 2008; Lehr, 2004; Saup, 1993). Die Bedeutsamkeit der Beschaffenheit der Wohnumgebung wird besonders deutlich durch den primären Wunsch des Großteils älterer Menschen, so lange wie möglich selbstständig in der angestammten Wohnung bleiben zu können, auch und insbesondere bei gesundheitlichen und körperlichen Einschränkungen (Backes & Clemens, 2003; Klumpp, 2005; E. Schmitt, Kruse, & Olbrich, 1994). Zum selbstständigen Wohnen ist dabei nicht nur die alter(n)sgerechte Gestaltung der Wohnung selbst erforderlich, sondern es muss auch die Möglichkeit vorhanden sein, die Wohnung problemlos verlassen zu können, um sich im Wohnumfeld bewegen zu können. Dieses muss wie- 175 Wohnen im Alter derum ausreichend Angebote zur Alltagsbewältigung und -gestaltung bereit stellen, wie zum Beispiel Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und Apotheken oder eine gute Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr. Die gerontologische Forschung befasst sich seit ihren Anfängen mit Wohnfragen (Dieck, 1979; Dittrich, 1972; Dringenberg, 1975; Haag, 1972; Schreiber, 1976). Aufgrund vielfältiger demografischer und sozialer Entwicklungen haben sich die Wohnsituationen im Alter verändert. Zunächst ist eine Zunahme der Kleinhaushalte und 1-Personen-Haushalte in der älteren Generation zu verzeichnen. Hintergrund ist zum einen altersbedingte Mortalität, häufig handelt es sich bei allein lebenden Älteren um Witwen. Andererseits lassen sich familiale Strukturen heute als ‚multilokale Mehrgenerationenfamilien‘ (Bertram, 2000) beschreiben, die ‚Intimität auf Distanz‘ leben. Eine gemeinsame Haushaltsführung wird von beiden Seiten übereinstimmend meist abgelehnt, in der Regel wohnen Eltern und Kinder jedoch in relativer räumlicher Nähe zueinander. Geisteigerte berufliche Mobilitätsanforderungen stellen einen weiteren Einfluss auf das Zusammenleben der Generationen dar und es wird vermutet, dass es folglich zu Lücken im familiären Unterstützungs- und Pflegepotenzial für ältere, hilfebedürftige Menschen kommt. Zukünftig wird diese Situation verschärft werden durch eine zunehmende Kinderlosigkeit (Dorbitz, 2005; Kaufmann, 2007; Künemund, 2006; Statistisches Bundesamt, 2006). Die Wohnbedingungen sind ein bedeutsamer Teil der Lebensqualität im Alter. Dabei umfasst ”Wohnen‛ nicht nur ökonomisch-materielle Faktoren der Wohnsituation eines Individuums, wie etwa die Versorgung mit grundlegenden Wohnstandards und -gütern, sondern auch beispielsweise Elemente der Gesundheitsversorgung, der Bildung oder der sozialen Umwelt und gesellschaftlichen Teilhabe im Wohnumfeld. Zu den Möglichkeiten der Pflege sozialer Kontakte zählt eine adäquate Wohnraumgröße und –beschaffenheit (Besuche) genauso wie etwa Gemeinschaftsmöglichkeiten im nachbarschaftlichen Umfeld (Quartier). Ferner müssen Möglichkeiten zur Mobilität vorhanden sein, beispielsweise durch einen barrierefreien Zugang zum Wohnumfeld aus der eigenen Wohnung heraus. Zu einer adäquaten Wohnumfeldgestaltung zählen auch Möglichkeiten zur Gestaltung der individuellen Freizeit in der unmittelbaren Wohnumgebung sowie letztlich der produktiven Einbringung in die Gesellschaft. Neben der Bestimmung objektiver Faktoren ist insbesondere die subjektive Einschätzung von Faktoren der Lebensqualität durch das Individuum zu berücksichtigen (Noll & Weick, 2009). Um die Wohnsituation älterer Menschen bewerten zu können reicht es also nicht aus, sich auf objektive Indikatoren zu beziehen. Selbst unter objektiv mangelhaften Wohnbedingungen zeigen ältere Menschen oft eine hohe Wohnzufriedenheit (Backes & Clemens, 2003; Mette & Narten, 2005; Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Es wurde deutlich, dass neben objektiv messbaren Wohnfaktoren auch subjektiv bedeutsame Wohneigenschaften eine große Rolle 176 Wohnen im Alter spielen für den Grad der Wohnzufriedenheit. Dazu zählen etwa die Verbundenheit mit der Wohnumgebung oder mit im Haushalt lebenden Personen (vgl. Abschnitt 10.3.4.) Die kognitive Theorie des Alterns bietet Anhaltspunkte zur Erklärung dieses Phänomens. Ihr zufolge hat die kognitive Bewertung einer Situation nur eine geringe Korrelation mit objektiven Beobachtungen dieser Situation durch Außenstehende (Rupprecht, 2008). Ausschlaggebend sind folglich die subjektive Wahrnehmung von Wohnbedingungen sowie die individuellen Wohnbedürfnisse. So ist denkbar, dass die Zufriedenheit mit der Wohnsituation gar nicht von einer mangelhaften Wohnungsausstattung beeinflusst wird, sondern dass etwa ein guter Anschluss an den ÖPNV der entscheidende Faktor bei der individuellen Bewertung der Wohnsituation ist und andere, mangelhafte Wohnfaktoren weniger relevant werden lassen. Es sind also vielmehr die individuellen Bedürfnisse, die eine Wohnsituation zu einer guten oder einer schlechten werden lassen. Die Wohnumgebung dient zudem des Weiteren offensichtlich als Stabilitätsfaktor. Das Bedürfnis von Individuen nach Kontinuität im Verlauf ihres Lebens im Sinne einer stabilen Identität (Oswald, 1996; Rupprecht, 2008) erklärt möglicherweise den geringen Willen, objektiv mangelhafte Wohnverhältnisse durch Umzug zu verändern. Oft fehlt es jedoch schlicht an den finanziellen Ressourcen zur Verbesserung der Wohnsituation oder der Verbleib in der Wohnung dient dem Erhalt der Erbmasse. Die Erhaltung innerer und äußerer Strukturen dient quasi der Meisterung von kritischen Phasen und Übergängen. Offensichtlich passen sich ältere Menschen also eher den Wohnbedingungen an, als dass sie ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnbedingungen schaffen (lassen). In den letzten Jahrzehnten haben sich die objektiven Wohnbedingungen bezüglich des Wohnstandards Älterer deutlich verbessert, doch der gegenwärtige politische Diskurs zu diesem Thema zeigt, dass damals wie heute die Wohnsituation für ältere Menschen offenbar nicht zufriedenstellend ist. Um die wichtigsten Argumente und Aspekte innerhalb der Debatte zur aktuellen Wohnsituation älterer Menschen wird es im folgenden Abschnitt gehen. 10.2 Wohnen als alter(n)spolitisches Thema Die Sensibilität für alter(n)sgerechte Wohnbedingungen ist im Wohnungsbau, der Wohnpolitik und im Städtebau deutlich gestiegen. Die Mängel in der Wohnungsausstattung vor allem in den neuen Bundesländern sind inzwischen weitestgehend behoben und haben sich dem Standard der Wohnungen in den alten Bundesländern angeglichen (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Es wurde ferner eine DIN-Norm für barrierefreies Bauen geschaffen und weiterentwickelt(Reindl & Kreuz, 2007). Doch gerade in Anbetracht dieser objektiv guten Wohnbedingungen und der gleichzeitig anhaltenden Diskussion zum Thema wird 177 Wohnen im Alter deutlich, dass die heute als selbstverständlich und universell angesehenen Wohnstandards für eine alter(n)sgerechte Wohnung und Wohnumgebung nicht immer ausreichend realisiert sind. Die Gruppe der Älteren ist eine heterogene Gruppe, für die universelle Wohnlösungen nicht ausreichen. Jeder ältere Mensch hat je nach Lebensstil und Gesundheit ganz individuelle Wohnbedürfnisse, die bei der Gestaltung der angestammten Wohnung und der Wohnumgebung berücksichtigt werden müssen (Mester, 2005; Nordalm, 2008). ”Alter(n)sgerecht wohnen‛ wird auch als die Möglichkeit verstanden, selbst bei einsetzender, leichter Hilfe- bzw. Pflegebedürftigkeit oder gesundheitlichen Einschränkungen selbstständig im gewohnten Umfeld wohnen bleiben zu können. Dies ist dezidiert der öffentlich erklärte politische Wille, der sich etwa in Modellprogrammen zum Thema Wohnen äußert (BMFSFJ, 2001). Nach der Theorie der ökologischen Gerontologie stellen dabei sowohl Wohnung und Wohnumfeld als auch der ältere Mensch selbst Ressourcen dar, die die Wohnsituation bestimmen. Ausgegangen wird von einer Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt, in der unterstützende oder behindernde Umweltaspekte die Entwicklungsmöglichkeiten des alternden Menschen beeinflussen (Mollenkopf, Oswald, & Wahl, 2002, 2004). Zum einen sind also den Lebensalltag erleichternde Wohnbedingungen erforderlich, zum anderen muss es Möglichkeiten für Ältere geben, selbst einen aktiven Beitrag zur Gestaltung ihrer Wohnbedingungen zu leisten (Backes & Clemens, 2003; Wahl & Heyl, 2004). Beim selbstständigen Wohnen im Alter geht es demnach zum einen um Barrierefreiheit und das Vorhandensein von baulich-technischen Hilfen in der eigenen Wohnung sowie zum anderen um ein Wohnumfeld, das Mobilität erlaubt und Infrastruktur bietet, insbesondere im Sinne der Verfügbarkeit von Hilfs- und Pflegedienstleistern (KDA & BMFSFJ, 2006; Lehr, 2004). Wohnungsanpassungen als baulich-technische Maßnahmen sind in dieser Hinsicht nötiger als große Innovationen; sie werden in Zukunft zentraler Bestandteil des selbstständigen Wohnens sein (Bertelsmann-Stiftung & KDA, 2007; Mester, 2005). Zur förderlichen Gestaltung von Wohnumfeld und im Rahmen von Wohnungsanpassungen müssen die Betroffenen zukünftig ihre Bedürfnisse und Interessen artikulieren können; so werden die Betroffenen auch zur Selbsthilfe motiviert. Hierin kann ein Paradigmenwechsel vom passiven zum aktiven Alter gesehen werden (Grymer, 2005). Selbstständiges Wohnen muss dabei nicht im Sinne der Erfüllung von Wohnansprüchen einer einzelnen, quasi 'der' alten Bevölkerungsgruppe betrachtet werden (was auch eine Stigmatisierung verhindert) (DZA, 1998). Eine barrierefreie Wohnumgebung kommt auch anderen Bevölkerungsgruppen mit ähnlichen Wohnbedürfnissen zugute, wie etwa Familien mit kleinen Kindern oder körperlich behinderten Menschen (Höpflinger, 2004; Lehr, 2004; Schmidt, 2005). 178 Wohnen im Alter Wohnbedingungen und Wohnbedürfnisse sollten vor dem Hintergrund der Diversität und damit einer möglichen, an das Wohnen gekoppelten, sozialen Ungleichheit im Alter betrachtet werden. Alter(n) ist vielgestaltig, so dass die bauliche Umsetzung von einheitlichen Wohnstandards zwar gewinnbringend ist, aber bei Nicht-Erfüllung individueller Wohnanforderungen zu ungleichen Teilhabe- und Lebenschancen führen kann. Die Beschaffenheit der Wohnbedingungen ist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten eines Individuums, sich bestimmte Standards leisten zu können. Viele Ältere haben recht hohe relative Wohnkosten. Laut aktuellem Datenreport (Frick & Schubert, 2008) liegen diese im Jahr 2006 für die über 65-Jährigen im Westen bei mehr als 31 Prozent. Befunde für das Jahr 1996 zeigen, dass dabei das unterste Einkommensquartil 29 Prozent seines Einkommens für Wohnkosten verwendet (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Im Schnitt aller Altersgruppen musste in Deutschland 1998 pro Haushalt ein Viertel des Einkommens für die Miete aufgewendet werden; bei 1-Personen-Haushalten waren es sogar 35 Prozent (Winkler, 1998). So ist zwar der allgemeine Wohnstandard erheblich gestiegen, jedoch sind andere Ungleichheitsfaktoren dabei weiter von Bedeutung, was neben den relativen Wohnkosten heute etwa Möglichkeiten sozialer Teilhabe betrifft. Unzureichende Wohnbedingungen können so eine ungewollte Isolation im Alter bedeuten, wenn etwa der ÖPNV nur mangelhaft ausgestattet ist oder wenn Zugänge zu öffentlichen Plätzen wie Einkaufszentren oder Ämter nicht barrierefrei gestaltet sind. Damit entstünde neben einer räumlichen auch eine gesellschaftliche Exklusion (Grymer, 2005). Diese Tatbestände stellen Herausforderungen insbesondere an eine Wohnumfeldgestaltung, die eine Infrastruktur mit Einrichtungen des täglichen Bedarfs, auch zur Versorgung bei Hilfe- oder Pflegebedarf unabhängig von der sozialen Lage, bereit stellt. Aufgrund dieser Erfordernisse soll der Fokus der Untersuchungen der DEASDaten 2008 im Bereich ”Wohnen im Alter‛ neben den Grundinformationen zur objektiven und subjektiven Wohnsituation im Alter vor allem auf das Wohnumfeld gerichtet werden. Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die Wohnsituation der älteren Bevölkerung Deutschlands und wirft Fragen für die Analyse der DEAS-Daten unter dem Fokus des Wohnumfeldes auf. 10.3 Forschungsstand und Fragestellungen Im Abschnitt 10.3.1 geht es um den Versorgungsstand mit grundlegenden Wohngütern des täglichen Bedarfs in der Wohnung und eventuelle ungleiche Verteilungen und Ausstattungen bei den Befragten. Zudem wird der Blick auf die Wohnkosten gerichtet. Danach soll es in Abschnitt 10.3.2 um die Frage gehen, wie das Wohnumfeld als wichtiger Faktor zur Förderung des selbstständigen Wohnens beschaffen ist. Abschnitt 10.3.3 widmet sich der Frage, wie hoch die Wohnzufriedenheit in Bezug auf Wohnung und Wohnumfeld ist. In Abschnitt 179 Wohnen im Alter 10.3.4 wird schließlich ein Blick auf die Wohnmobilität älterer Menschen geworfen und im Hinblick auf die Wohnzufriedenheit hinterfragt. Im Anschluss an die Darstellung des Forschungsstandes erfolgt in Abschnitt 10.4 eine Zusammenfassung der leitenden Fragestellungen zur Analyse der aktuellen DEAS-Daten. 10.3.1 Wohnstandard und -kosten Nach Ergebnissen des Alterssurveys lebten 1996 noch sechs Prozent der 70bis 85-jährigen Menschen in den neuen Bundesländern im extremen Substandard, in den alten Bundesländern von den Menschen der gleichen Altersgruppe hingegen nur 0,4 Prozent. In den Wohnungen dieser Betroffenengruppe gab es keine Sammelheizung, kein Bad und kein Innen-WC (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Die ILSE-Studie (Interdisziplinäre Längsschnittstudie des Erwachsenenalters über Bedingungen gesunden und zufriedenen Älterwerdens) zeigte ähnliche Ergebnisse, vor allem für den Ost-West-Vergleich (M. Schmitt & Sperling, 1998). Backes (2001) weist zudem darauf hin, dass schlechte Wohnbedingungen hauptsächlich ein Problem allein lebender hochaltriger Frauen im Osten wie im Westen ist. Über die bauliche Ausstattung hinaus geht es bei der Wohnungsausstattung um Merkmale wie Belegungsdichte und die Verfügbarkeit von Freiflächen. 1996 waren die 40- bis 85-Jährigen in den neuen Bundesländern mit durchschnittlich einem Raum weniger versorgt als ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Die Verfügbarkeit einer bestimmten Größe von Wohnraum ist im Alter sehr bedeutsam. So würde der Umzug von der großen angestammten Familienwohnung in eine kleinere Wohnung zwar einen geringeren Instandhaltungsaufwand mit sich bringen – und dies ist für viele Befragte der negative Aspekt zu großen Wohnraumes – aber es käme aufgrund eines neuen Mietvertrages möglicherweise zu höheren Wohnkosten und die soziale Funktion des Wohnraumes (z.B. Besuche und Übernachtungsmöglichkeiten) wäre eingeschränkt. Zudem wäre im Pflegefall möglicherweise zu wenig Platz für Pflegeaktivitäten und damit die längstmögliche Beibehaltung der Selbstständigkeit im Alter eingeschränkt (Höpflinger, 2004). Mit Freiflächen waren 1996 in den alten Bundesländern 80 Prozent (Balkone) und 73 Prozent (Garten) der älteren Bundesbürger ausgestattet, in den neuen Bundesländern sind es mit 46 beziehungsweise 50 Prozent deutlich weniger (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Ob sich die Verhältnisse diesbezüglich zwischen den beiden Landesteilen angeglichen haben, wird Gegenstand der geplanten Analysen sein. Die Ansprüche hinsichtlich der technischen Ausstattung im Informations- und Kommunikationsbereich als Teil des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Teilhabe werden heute wichtiger. In bisherigen Untersuchungen wurde eine 180 Wohnen im Alter deutliche Ungleichverteilung in der technischen Ausstattung zulasten der neuen Bundesländer festgestellt. Bestimmende Größen für die Quantität und Qualität der Technikausstattung und -nutzung sind das Alter, das Einkommen und die Haushaltsgröße (Mollenkopf, Oswald, & Wahl, 2004). Mit den aktuellen DEASDaten kann die technische Wohnausstattung der Älteren überprüft werden und auch hinsichtlich fehlender finanzieller Möglichkeiten untersucht werden. Im Zusammenhang mit dem verfügbaren Wohnstandard muss auch betrachtet werden, wie die Wohnsituation mit der finanziellen Lage des Befragten zusammenhängt. Hat ein Individuum nur begrenzte finanzielle Spielräume aufgrund einer hohen Wohnkostenbelastung, so engt dies zum Beispiel dessen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, der Transfers an Kinder und Enkelkinder, sowie des privaten Erwerbs von Haushalts- und Pflegedienstleistungen ein. Die Ergebnisse des Alterssurveys zeigen, dass die reinen Wohnkosten im Westen 1996 höher lagen als im Osten und dass erwartungsgemäß die Wohnkosten mit steigendem Alter aufgrund der längeren Wohndauer in einer Wohnung oder einem Haus, hier aufgrund des Wegfalls von Hypotheken, abnehmen (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Aufgrund der Tatsache, dass Deutschland im europäischen Vergleich einen auffallend großen Mietwohnsektor hat (Noll & Weick, 2009), soll der Fokus auf die befragten Mieter gerichtet werden. Der Unterschied in den Wohnkosten zwischen den alten und den neuen Bundesländern muss jedoch auch unter Berücksichtigung des dahinter stehenden Wohnstandards betrachtet werden. Frauen, insbesondere im Alter zwischen 70 und 85 Jahren, haben 1996 bedeutend höhere relative Wohnkosten durch Verwitwungseffekte und geringere Renteneinkommen als Männer. Diese Benachteiligung hat sich nach aktuellen Ergebnissen nicht wesentlich gerändert: trotz des Anstieges der Wohnkostenbelastung auch für alleinstehende Männer müssen alleinstehende Frauen nach wie vor einen höheren Anteil ihres Einkommens für Wohnbedarfe aufbringen (Frick & Dross, 2006). Die Befunde, die von weiteren deutschen Untersuchungen bestätigt werden (Hinrichs, 2001; Höpflinger, 2004), zeigen des Weiteren, dass die Wohnkostenbelastung in den neuen Bundesländern weiterhin niedriger ist als im Westen. Inwieweit dies noch immer mit einem schlechteren Wohnstandard im Osten verbunden ist, soll geklärt werden. 10.3.2 Wohnumfeld Da empirische Studien nahelegen, dass die grundlegenden unmittelbaren Wohnbedingungen bei nahezu allen Älteren erfüllt sind und damit die Diskussion um den Wohnstandard in den Hintergrund rückt, soll der Fokus auf die immer wichtiger werdenden Eigenschaften des weiteren Wohnumfeldes gerichtet werden, dessen Ressourcen ebenso ausschlaggebend für das selbstständige Wohnen im Alter sind wie die Wohnungsausstattung. Dazu zählen infrastruktuelle Faktoren sowie soziale und partizipatorische Aspekte des Wohnquartieres. Interessant ist 181 Wohnen im Alter hier zudem vor allem der Stadt-Land-Vergleich, da ländliche Großräume verstärkt dem demografischen Wandel ausgesetzt sind und daher die Wohnprobleme in all ihren Facetten eine besondere Schärfe erhalten dürften. Die Verfügbarkeit von pflegerischen Hilfen oder Fahr- und Bringdiensten, Netzwerke der Nachbarschaftlichkeit und Hilfen zur Bewältigung des Alltages sind wichtige Ausstattungsmerkmale des Wohnumfeldes (Krings-Heckemeier, 1996). Aus Sicht der Älteren scheint der Wunsch nach in diesem Sinne belastbaren Nachbarschaftsstrukturen größer als nach Servicedienstleistungen, da über das Netzwerk viele Dienstleistungen auf informellem Wege erbracht werden können (Saup, 1993). Die Anbindung an den ÖPNV sowie die Ausstattung mit Einkaufsmöglichkeiten werden 1996 von zwei Dritteln der Befragten als gut bewertet. Zehn Prozent hingegen benennen einen Mangel an Ärzten und Apotheken in ihrer Nähe (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Im Stadt-LandVergleich zeigte sich 1996 eine Häufung der Mängel in ländlichen Gebieten. Inwieweit sich diese Unterschiede im Laufe der letzten 12 Jahre angeglichen oder verändert haben, soll überprüft werden. Um Zugang zum Wohnquartier zu haben, ist ein barrierefreies Verlassen der Wohnung nötig. 42 Prozent der Älteren im Osten müssen mehr als 10 Treppenstufen überwinden, um zu ihrer Wohnung zu gelangen oder diese zu verlassen; im Westen sind es hingegen 30 Prozent. Für die alten Bundesländer könnte die Erklärung hierfür im höheren Anteil an Hauseigentümern liegen, Eigenheime sind für gewöhnlich nahezu ebenerdig gebaut. Besonders auffällig ist das fehlende Sicherheitsempfinden im eigenen Wohnumfeld bei Dunkelheit: dies trifft insbesondere auf die 70- bis 85-jährigen Befragten aller Bundesländer zu (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Diese Ergebnisse werden von neueren Befunden im Rahmen des Age Report 2004 gestützt (Höpflinger, 2004). In den neuen Bundesländern ist 1996 zudem laut Daten des Alterssurvey in allen Altersgruppen ein bedeutend höherer Anteil derer zu verzeichnen, die sich im Wohnumfeld bei Dunkelheit unsicher fühlen. Das Thema ”Komfort und Sicherheit‛ ist der mit Abstand am häufigsten erwähnte Wohn-Aspekt in den Untersuchungen zum Persönlichen Sinnsystem (MotelKlingebiel, Künemund, & Bode, 2005), so dass diesem Unsicherheitsempfinden in der aktuellen Analyse besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Als ein weiterer Indikator für die Qualität des Wohnumfeldes soll der Blick auf den Pflegezustand der Wohnumgebung sowie die Baufälligkeit der bewohnten Immobilie gerichtet werden. Die Qualität beider Indikatoren ist in den neuen Bundesländern in fast allen Siedlungsregionen deutlich schlechter als in den alten Bundesländern. Eine weitere wichtige Frage wird sein, in welchem sozialen Umfeld Ältere wohnhaft sind und welche Veränderungen im Laufe der letzten 12 Jahre stattgefunden haben. Wie hoch ist beispielsweise der Anteil jener Älteren die auf 182 Wohnen im Alter dem Land und damit möglicherweise unter schlechten infrastrukturellen Bedingungen wohnen? Oder sind Ältere vielleicht sozial exkludiert, weil sie in sozial schwachen Quartieren wohnen, die infrastrukturell nicht gefördert werden? 10.3.3 Wohnzufriedenheit Mit dem Alter steigt die Tendenz, in der angestammten Wohnung wohnen zu bleiben, unabhängig von objektiven, möglicherweise mangelhaften Wohnmerkmalen (‚Beharrungstendenz‘) (Heywood, Oldman, & Means, 2002; Mette & Narten, 2005). Aus dem Datenreport 2008 geht hervor, dass die Wohnzufriedenheit der ab 41-Jährigen (neben allen anderen Bevölkerungsgruppen) zwischen 1991 und 2006 zwar mit Schwankungen bei etwas über 7 bzw. 8 Bewertungspunkten auf einer 10-stufigen Skala relativ konstant geblieben ist (Frick & Schubert, 2008). Auffällig an den Ergebnissen des Datenreports ist die Diskrepanz zwischen den Altersgruppen: die jüngeren Älteren zeigen niedrigere Wohnzufriedenheitswerte als die Befragten ab 65, wobei die Ergebnisse nur spärlich nach Familien- und Partnerschaftssituation (allein stehende Frauen) aufgeschlüsselt sind. Durch die Steigerung des Wohnstandards im Osten haben sich die Wohnzufriedenheiten in den neuen und alten Bundesländern seit 1991 bei heute etwa 7,7 Bewertungspunkten angenähert (ebenda). Die Wohnzufriedenheit hängt - insbesondere für die Ostdeutschen - nach Angaben des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg (SFZ) wesentlich von der Art des Wohnverhältnisses ab, also ob es sich zum Beispiel um Mietwohnungen oder Eigentumswohnung beziehungsweise -haus handelt (Winkler, 1998). Den Ergebnissen des Alterssurvey zufolge fällt die Wohnungsaufteilung als Grund für mangelnde Wohnzufriedenheit im Westen mit 17 Prozent am stärksten ins Gewicht, in den neuen Bundesländern sind es mit 26 Prozent die Wohnkosten ( Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Für ähnliche Ergebnisse siehe auch Backes (2001) und Haupt & Hinrichs(2004). Als Prädiktoren für Wohnzufriedenheit gelten, auch wenn sie keinen großen Teil der Varianz erklären, bei den objektiven Faktoren laut ILSE (M. Schmitt & Sperling, 1998) der Wohnbesitz bei den jüngeren Kohorten und der Befragtengruppe im Westen, hingegen die Wohnausstattung bei der älteren Kohorte und der Befragtengruppe im Osten. Bedeutsam sind neben objektiven auch die subjektiven Wohnfaktoren, wie die Beziehung zu mit im Haushalt lebenden Personen oder die Verbundenheit mit der Wohnumgebung (M. Schmitt & Sperling, 1998). Die Identifikation mit dem Wohnumfeld bzw. der Wohnung und der damit verbundenen emotionalen Bedeutung als Indikator für eine mögliche Beharrungstendenz ist nach Ergebnissen des Alterssurvey ein bedeutsamer Faktor. In ländlichen Regionen zeigt sich eine besonders hohe emotionale Bindung an die Wohnum- 183 Wohnen im Alter gebung (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005; siehe auch: Robison & Moen, 2000). 10.3.4 Wohnmobilität Ergebnisse verschiedener Untersuchungen verdeutlichen, dass die Wohnmobilität mit steigendem Alter abnimmt (Höpflinger, 2004; Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). In der aktuellen Wohnung leben die 70- bis 85-jährigen Befragten des Alterssurvey im Jahr 1996 durchschnittlich seit über 30 Jahren. Lediglich knapp sieben Prozent der Befragten in dieser Altersgruppe sind in den vorangegangenen 10 Jahren aus einem anderen Wohnort zugezogen und nur ein Zehntel von ihnen gibt konkrete Umzugspläne an (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005). Dabei liegt die Präferenz deutlich beim Verbleib im selben Ort oder der selben Gegend (Haupt & Hinrichs, 2004; Krings-Heckemeier, 1996). In allen höheren Altersgruppen zeigt sich mit jeweils etwa 20 Prozent eine hohe Bereitschaft, aus gesundheitlichen Gründen umzuziehen (ebenda). Mit den Daten der dritten Erhebungswelle des Alterssurvey werden sich Untersuchungen darüber anstellen lassen, wie die Umzugspläne der heutigen Älteren aussehen, wohin sie ziehen möchten oder ob zum Beispiel Umbaupläne für ihre angestammte Häuslichkeit bestehen. Neben der Verbundenheit mit der Wohnumgebung ist vor allem der höhere Anteil an Wohneigentümern unter den Älteren eine Erklärung für deren insgesamt geringe Wohnmobilität (Scheewe, 1997). Zum einen besteht eine engere Bindung an das Wohnobjekt und das Wohnumfeld durch bereits geleistete höhere Investitionskosten, woraus eine größere Beharrungstendenz folgt. Zum anderen bestehen für Wohneigentümer flexiblere Möglichkeiten, den Wohnraum den eigenen Bedürfnissen entsprechend (auch im Alter) anzupassen, so dass keine zwingende Notwendigkeit besteht, sich nach neuen Wohnorten umzusehen (Heinze, Eichener, Naegele, Bucksteeg, & Schauerte, 1997). Ergebnissen des Alterssurveys zufolge haben die mangelhafte Ausstattung der Wohnung, die Höhe der Wohnkosten, die Überbelegung der Wohnung oder die Ausstattung des Wohnumfeldes nur nachgeordnete Bedeutung für Umzugspläne; ausschlaggebender sind emotionale Gründe und die subjektive Bewertung der Wohnsituation (Motel-Klingebiel, Künemund, & Bode, 2005; ebenso: Rupprecht, 2008). Es gibt unterschiedlich gelagerte exogene und persönliche bzw. familiäre Beweggründe für den Wohnortswechsel. Es kann sich zum Beispiel um einen Umzug in die Wunschwohngegend handeln oder das Ziel kann sein, Wohneigentum zu bilden. An der Spitze für alle Altersgruppen steht der Grund, dass Angehörige zu weit entfernt wohnen. Für 65- bis 74-Jährige stehen zudem Wohnungsmängel im Vordergrund, direkt gefolgt von der Kündigung bzw. Verteuerung der angestammten Wohnung. Für die ab 75-Jährigen sind an zweiter Stelle gesundheitliche Verschlechterungen der Umzugsgrund (Friedrich, 1994). 184 Wohnen im Alter 10.4 Analyseperspektiven Zur Analyse der Alterssurvey-Daten 2008 wird zum einen die Querschnittsperspektive eingenommen um die aktuelle Wohnsituation der Älteren darzustellen (Abschnitt 10.4.1). Der Fokus soll hierbei auf Wohnumfeldkriterien liegen, sowie auf dem Vergleich zwischen der Wohnsituation der älteren Bevölkerung in ländlichen und städtischen Räumen. Ferner ist es unter Hinzuziehung der Daten aus den vorhergehenden zwei Erhebungswellen von 1996 und 2002 möglich, im Vergleich der drei Querschnitte gewandelte Wohnverhältnisse im Alter nachzuzeichnen (Abschnitt 10.5). Im Folgenden werden die konkreten Fragestellungen zusammengefasst, auf die sich die Analysen konzentrieren werden. Jede Frage soll hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter, Landesteil und städtischen bzw. ländlichen Räumen untersucht werden. 10.4.1 Die aktuelle Wohnsituation Älterer Die Auswertungsplanung für die DEAS-Daten von 2008 sieht vor, die aktuelle Wohnsituation der älteren Bevölkerung Deutschlands hinsichtlich folgender Fragen und Hypothesen zu untersuchen. Wohnstandard und -kosten: Überprüft werden soll, wie hoch der Anteil jener Älterer ist, die möglicherweise noch im Substandard leben, sprich, die weder über ein Innen-WC noch eine Zentralheizung verfügen. Des Weiteren ist von Interesse, wie viele Ältere im Wohneigentum und wie viele zur Miete wohnen. Für jene Befragten, die zur Miete wohnen, soll untersucht werden, wie hoch die Mietkosten sind, um eine eventuelle verstärkte Wohnkostenbelastung im Alter zu prüfen. Ferner wird es darum gehen, wie viele Zimmer außer Küche, Bad und Flur den Älteren zur Verfügung stehen und wie im Vergleich dazu die Belegungsdichte ist. Dazu soll auch beantwortet werden, über welche Freiflächen wie Garten oder Terrasse/Balkon welcher Anteil der Älteren verfügt. Beide Aspekte sind bedeutsam für den persönlichen Freiraum in den eigenen vier Wänden, aber auch für die Möglichkeit, Besuch empfangen zu können. Als ein immer wichtiger werdendes Kriterium moderner Wohnbedingungen wird die technische Ausstattung der Haushalte beleuchtet. Sollte eine mangelhafte Ausstattung festgestellt werden, wird zu überprüfen sein, ob finanzielle Gründe für das Nichtvorhandensein des entsprechenden Gerätes genannt werden. 185 Wohnen im Alter Wohnumfeld: Da es aktuell bei der Frage nach den Wohnbedingungen im Alter vor allem um das Wohnumfeld geht, wird zu untersuchen sein, wie die Verfügbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten und Apotheken sowie Anschlüssen an den ÖPNV bewertet wird. Um Nachbarschaftsstrukturen abschätzen zu können, soll analysiert werden, wie eng der Kontakt der Befragten zu ihren Nachbarn ist. Um den außerhäuslichen Bedürfnissen des alltäglichen Lebens nachgehen zu können, ist ein hindernisarmer Zugang zur Wohnung vonnöten. Geprüft werden soll, wie hoch der Anteil jener Älteren ist, die mehr als 10 Treppenstufen zu überwinden haben, um zu ihrer Wohnung zu gelangen bzw. aus dieser heraus ins Wohnquartier. Eine weitere Frage ist, wie hoch der Anteil der Älteren ist, die über einen Lift Zugang zu ihrer Wohnung erlangen. Wohnzufriedenheit: Nachdem diese objektiven Indikatoren untersucht worden sind, sollen die Ergebnisse mit der Wohnzufriedenheit der älteren Bevölkerung Deutschlands abgeglichen werden. Daraus könnten Rückschlüsse auf eventuelle andere Wohnbedürfnisse bei einer Divergenz zwischen Wohnbedingungen und Wohnzufriedenheit gezogen werden. 10.5 Wohnsituationen Älterer im Wandel Wohnstandard und -kosten im Wandel: Durch die Verfügbarkeit von Daten über die Wohnausstattung der Befragten über einen Zeitraum von 12 Jahren lassen sich Aussagen darüber treffen, wie sich die Ausstattung mit Standards wie Innen-WC und Zentralheizung gewandelt hat. Zu untersuchen ist, ob immer noch ein starkes West-Ost-Gefälle im Wohnstandard wie 1996 zu verzeichnen ist und wie hoch im Vergleich dazu die Wohnkosten sind; sprich, ob hinter geringeren Wohnkosten in den neuen Bundesländern ein immer noch schlechterer Wohnstandard steht. Des Weiteren soll überprüft werden, ob es immer noch die höheren Altersgruppen sind, die in einem schlechteren Wohnstandard leben als die Jüngeren, und ob allein lebende Frauen immer noch auffällig benachteiligt bezüglich der Wohnausstattung sind. Zudem ist von Interesse, wie sich die Ausstattung mit Freiflächen wie Balkon/Terrasse und Garten sowie die Ausstattung der Haushalte mit technischen Geräten gewandelt hat (nur Welle 2 und 3). Ist bei der technischen Ausstattung immer noch eine Ungleichverteilung zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu verzeichnen? 186 Wohnen im Alter Wohnumfeld: Um nachzeichnen zu können, ob ein Wandel in der Beschaffenheit der Wohnquartiere als wichtiger aktueller Indikator für die Lebensqualität im Alter stattgefunden hat, soll die individuelle Bewertung der Ausstattung des Wohnquartiers mit Anschlüssen an den ÖPNV, mit Ärzten und Apotheken sowie mit Einkaufsmöglichkeiten im Verlauf der drei Erhebungswellen untersucht werden. Hier wird von Interesse sein, ob immer noch eine Häufung der Mängel in ländlichen Gebieten zu verzeichnen ist, sowie die Frage, ob sich der Pflegezustand der Wohnquartiere in den neuen Bundesländern seit 1996 verbessert hat. Ein weiterer Aspekt wird das Gefühl der Sicherheit im Dunkeln im Quartier sein. 1996 war das Unsicherheitsempfinden der Älteren in ihrem Quartier noch sehr hoch; mit den aktuellen Daten lässt sich die Entwicklung dieses Unsicherheitsempfindens nachzeichnen und schauen, ob sich in den neuen Bundesländer diesbezüglich immer noch auffällig höhere Anteile der Älteren im eigenen Wohnquartier im Dunkeln unsicher fühlen. Wohnmobilität: Bei der Frage nach der Wohnmobilität im Alter ist von Interesse, wie hoch der Anteil jener Befragten ist, die in 10 Jahren vor dem Befragungszeitpunkt umgezogen sind und welche Altersgruppen dies betrifft. Ist hier im Wandel eine Veränderung hin zu späteren Umzügen zu verzeichnen? Untersucht werden soll zudem, wie sich die Umzugspläne der Älteren verändern. Die Daten können Aufschluss darüber geben, wie die Anteile an geplanten Umbauten, Umzug in die Nähe der Kinder oder in alternative Wohnformen bzw. seniorenspezifische Wohnformen zueinander stehen. 10.6 Fazit und Ausblick Die Wohnbedingungen werden im Alter zu hoch bedeutsamen Indikatoren der Lebensqualität, sie beeinflussen die selbstständige Lebensführung im Alter. Wichtig sind eine angemessene Wohnungsbeschaffenheit als auch eine adäquate Ausstattung des Wohnquartieres mit Möglichkeiten zur selbstständigen Bewältigung des alltäglichen Lebens im Alter hinsichtlich materieller wie sozialer Faktoren. Für die Alter(n)spolitik haben aktuelle demografische und soziale Entwicklungen wie multilokale Mehrgenerationenfamilienstrukturen und gesteigerte berufliche Mobilitätsanforderungen zur Folge, dass entstehende Lücken im familiären Pflege- und UnterstützungsPotenzial für die ältere Bevölkerung mit einer adäquaten Wohnraum- und Wohnquartiersförderung gefüllt werden müssen, denn es ist ausdrücklicher Wunsch der älteren Menschen, selbst bei alter(n)sbedingten ge- 187 Wohnen im Alter sundheitlichen und körperlichen Einschränkungen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Wohnumgebung zu verbleiben. Im Rahmen einer alter(n)sgerechten Politik müssen auch die Diversität im Alter und mögliche, an die Wohnbedingungen gekoppelte soziale Ungleichheiten berücksichtigt werden. Für die Analyse der aktuellen DEAS-Daten soll der Fokus daher, neben Aussagen zu grundlegenden Wohnfragen wie zum Beispiel Wohnstandard oder kosten, auf der Ausstattung des Wohnumfeldes sowie auf dem Vergleich der Wohnbedingungen zwischen städtischen und ländlichen Regionen liegen. Für ländliche Regionen wird vermutet, dass aufgrund der verschärften Folgen des demografischen Wandels in diesen Gebieten die Wohnumgebung besondere Aufmerksamkeit erhalten muss. Vor allem die Verfügbarkeit von Ärzten und Apotheken sowie das Sicherheitsempfinden im Dunkeln sind nach Darstellung des Forschungsstandes offenbar bedeutsame Indikatoren. Auch die Beschaffenheit des Zugangs zur Wohnung und damit die Verbindung zwischen Wohnung und Wohnquartier ist ein bedeutender Faktor, den es zu untersuchen gilt. Zu Zwecken der Bestimmung des sozialen Umfeldes älterer Menschen in Deutschland wäre es ferner möglich, die Microm-Datensätze in die Analysen der DEAS-Daten mit einzubeziehen. Vor allem die Microm-Typologie®-Daten können Aufschluss darüber geben, unter welcher Bedingungen Ältere mit bestimmten soziodemografischen Eigenschaften wohnen und ob sich diesbezüglich eine Typenbildung abzeichnet. Literatur Backes, G. M. (2001). Lebenslagen und Alter(n)sformen von Frauen und Männern in den neuen und alten Bundesländern. In D. Z. f. Altersfragen (Ed.), Lebenslagen, soziale Ressourcen und gesellschaftliche Integration im Alter (Vol. 3, pp. 11-115). Opladen: Leske & Budrich. Backes, G. M., & Clemens, W. (2003). Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. Weinheim, München: Juventa. Bertelsmann-Stiftung, & KDA. (2007). Ergebnisanalyse des Werkstattwettbewerbs Quartier und Handlungsempfehlungen. Köln: KDA. Bertram, H. (2000). Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland: Die multilokale Mehrgenerationenfamilie. In M. Kohli & M. Szydlik (Eds.), Generationen in Familie und Gesellschaft (pp. 97-121). Opladen: Leske+Budrich. 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