Flirting with disaster. - untitled – The State of the Art
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Flirting with disaster. - untitled – The State of the Art
004 mit dOCUMENTA (13) Special Flirting with disaster. EUR 8,70 SFR 17,– Herbst 2012 Insert: Elger Esser Werkporträt: Anselm Kiefer State of the Art: Roman Signer Porträts: Sonja Braas / Gustav Metzger Gespräch: Lori Nix & Brian McKee Atelierbesuche: Dirk Skreber / Christian Eisenberger inhalt 58 documenta (13) Der Fall der Dinge. Seit sechs Jahren setzen sich die beiden argentinischen Künstler Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg mit Meteoriteneinschlägen im Gran-Chaco-Gebiet auseinander. Auf der vergangenen documenta 13 zeigten sie die Ergebnisse ihrer bisherigen Recherchearbeiten. 68 Die Stille der Auflösung. In auf gebauten Modellen basierenden Bildserien, die sich auf Vorstellungen von Natur beziehen, zeigt uns die in New York lebende deutschstämmige Künstlerin Sonja Braas, wie brüchig unsere Weltwahrnehmung ist. Von Stephan Berg 78 Flirting with Disaster. Katastrophen und ihre Geschichte haben Künstler seit jeher als Inspirationsquelle gedient. Petra Amiel zeigt in ihrem Essay, wie groß die Bandbreite einer zeitgenössischen künstlerischen Praxis in diesem Themenfeld ist. 89 Insert. Elger Esser/Wrecks. Der deutsche Fotokünstler Elger Esser hat für diese Ausgabe von untitled aus mehreren alten Postkartenmotiven von Schiffskatastrophen ein bildmächtiges Insert gestaltet. Sonja Braas, Storm (aus der Serie „The Quiet of Dissolution“), 2006, C-Print, Diasec, gerahmt, 185 x 150 cm 104 Die letzten Tage der Menschheit. Die beiden in New York lebenden Künstler Lori Nix und Brian McKee arbeiten am Thema Katastrophen und Desaster. Sie unterhielten sich über ihre Kindheit in Kansas, die Faszination von Naturkatastrophen und verlassenen Farmen und einen Schinken im Ofen nach einem Orkan. 112 Lori Nix, Circulation Desk (aus der Serie „The City“), 2012, C-Print, 102 x 135 cm documenta (13) Der Verlust der Mitte. „Zerstörung und Wiederaufbau“ lautete das zentrale Thema der documenta 13. Über weite Strecken ist der Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev in Kassel ein bedrückendes Zustandsbild der politischen, humanitären und finanziellen Krisen unserer Tage gelungen. Von Alexander Pühringer 126 documenta (13) Die Magie der Zerstörung. Der jüdische Künstler Gustav Metzger überlebte den Holocaust. In der Folge der biografischen Betroffenheit entwickelte er seine „Autodestruktive Kunst“. Von Anna-Verena Nosthoff 130 Heimkatastrophen. Der Medienpsychologe Peter Winterhoff-Spurk zeigt im untitled-Gespräch, welch verheerende Folgen mit der zunehmenden medialen Präsenz von Katastrophen in unserem Alltag einhergehen. Brian McKee, Terra Nova #9, 2011, C-Print auf Aluminium, 126 x 158 cm 136 Die Katastrophe als mediales Faszinosum. Die Medien sind bemüht, Katastrophen immer cleverer zu inszenieren. Aber wie funktionieren eigentlich die Prozesse, die hinter all dem stehen? Reinhard Mohr führt uns durch eine schrecklich schöne Welt, in der sogar Dioxineier die Mäuler unserer Ablenkungsgesellschaft zu stopfen vermögen. 140 Zarathustras Schweigen. Die österreichische Künstlerin Zenita Komad schreibt Briefe an den lieben Gott und hat auch sonst eine spirituelle Weltsicht in ihrer künstlerischen Praxis. Alexander Pühringer hat sich mit ihrer neuesten Werkserie zum Thema Gott und Liebe beschäftigt. 68 Flirting with Disaster 146 Der Stillstand der Dinge. Die Gemälde und Skulpturen des deutschen Künstlers Dirk Skreber sind gezeichnet von Motiven der Zerstörung, wobei ihn eine dokumentarische Wiedergabe dramatischer Einzelgeschichten weniger interessiert. Die Unmittelbarkeit des Moments der Katastrophe ist für den in New York lebenden Künstler vielmehr Ausgangspunkt einer ästhetischen Transformation. Claudia Steinberg hat ihn in seinem Atelier besucht. 152 Mit dem Äußersten rechnen. Das ökonomische Prinzip der totalen Monetarisierung dominiert auch in Zeiten des Ausnahmezustands. Häufig soll das Prinzip des „Immer Mehr“ Wege aus Katastrophen bahnen, die es selbst verursacht hat. Auch in Zeiten des Wahnsinns verlässt man sich offenbar gern auf die unsichtbare Hand. Von Karl-Heinz Brodbeck 154 Kollaterale Schäden. Seine Arbeit lässt sich nur schwer einordnen, vielleicht noch am ehesten in der Quadratur der Parameter Körper-Seele-Sexualität. Bei manchen Arbeiten denkt man auch an die Wiener Aktionisten. Der gebürtige Steirer Christian Eisenberger ist aber vor allem ein wie besessen Schaffender. Alexander Pühringer hat ihn in seinem Atelier in Wien besucht. 160 documenta (13) Aperto. Clemens von Wedemeyer. 162 documenta(13) Aperto. Lara Favaretto. 164 documenta(13) Aperto. Michael Rakowitz. 166 documenta (13) Aperto. Tejal Shah. 168 Aperto. Philipp Goldbach. 170 Werkporträt. Anselm Kiefer. Dietmar Bechstein über das Gemälde „Die sechste Posaune“ des in Frankreich lebenden deutschen Künstlers Anselm Kiefer, in dem er sich auf die „Offenbarung des Johannes“ aus dem Neuen Testament bezieht. Standards Faivovich & Goldberg, Theodore Ruhoff posiert neben einer Fiberglaskopie des „El Taco“, ca. 1965 untitled 004 Herbst 2012 05 editorial 14 projects 24 architecture 34 museumstest 42 commentary 173 p/reviews 207 artdiary 08 contributors 16 kolumne 28 design 36 books 43 storytellers 204 credits 209 state of the art 10 people 18 museums 30 galleries 40 nachgelesen 172 ästhetische bibliothek 210 smalltalk 7 faivovich & goldberg The strata of the Earth is a jumbled museum. Der Fall der Dinge Seit nunmehr sechs Jahren setzen sich die beiden argentinischen Künstler Guillermo Faivovich (*1977) und Nicolás Goldberg (*1978) mit Meteoriteneinschlägen im GranChaco-Gebiet auseinander. Minutiös haben sie in aufwändiger Recherchearbeit die verschiedenen Wege versucht zu rekonstruieren, die die größten einzelnen, allesamt gestohlenen Gesteinsteile in die verschiedensten Winkel der Welt genommen haben. Auf der vergangenen documenta 13 in Kassel präsentierten sie vor und im Fridericianum Ergebnisse ihrer künstlerischen Praxis. AlexAndeR PühRingeR RobeRt SmithSon 58 Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 59 faivovich & goldberg eines solchen criollo, der an diesem tag zerbricht. Doch nicht etwa ein vergessener oder verlorener Pferdehuf oder aber der rest eines Ackergeräts machen das klingende geräusch, sondern einer der vielen Meteoriten, die im chaco-gebiet vor etwa 4000 Jahren aufgeschlagen sind. Das Bruchstück des insgesamt mehr als 800 tonnen schweren Asteroiden aus dem hauptgürtel zwischen den Planeten Mars und Jupiter hat schon seit Jahrhunderten in der geschichte der gegend eine bedeutende rolle gespielt. Bereits in PräKoLuMBischer zeit FAnD ein gewALtiger BrocKen seine erste erwähnung. in spanischen Der 29. August 1962 ist ein Mittwoch. An diesem tag wird Jutta Klein- schmidt, die spätere erfolgreichste deutsche rallye-Fahrerin, in Köln geboren. Michael Jackson wird gerade vier Jahre alt, ingrid Bergman 47 und richard Attenborough 39 Jahre. einen Mann im südlichen, in Argentinien gelegenen teil des so genannten gran-chaco-gebietes kümmern diese geschehnisse kaum. er weiß wahrscheinlich nicht einmal etwas vom selbstmord der schauspielerin Marilyn Monroe, die genau drei wochen zuvor in Los Angeles eine Überdosis schlaftabletten geschluckt hat. Lázaro Milovich stößt an diesem tag in der brütenden sommerhitze mit seinem Pflug auf dem Feld seines Arbeitgebers auf einen metallisch klingenden gegenstand. nachdem sein Ackergerät entzweigebrochen ist, findet der Landarbeiter die ursache in einem gewaltigen steinbrocken. Der rest ist eine geschichte, die auf der kommenden documenta 13 in Kassel ihren höhepunkt finden wird. Die region el chaco, meist nur chaco genannt, ist ein riesiger fruchtbarer Landstrich, der sich vom argentinischen norden über Bolivien und Paraguay bis nach Brasilien hineinzieht. Von 1932 bis 1935 war der chaco schauplatz eines blutigen Krieges zwischen Paraguay und Bolivien, der durch gerüchte um riesige Ölvorkommen angefacht wurde. Die Probebohrungen blieben jedoch nach ende des Krieges erfolglos. Das gesamte gebiet des chaco wird durch weitreichende sedimentböden geprägt, die eine landwirtschaftliche nutzung begünstigen. während die indianer sich noch heute überwiegend vom Jagen, sammeln und Fischen ernähren, betreiben die seit dem 19. Jahrhundert dort lebenden weißen siedler, die criollos, eine extensive weidewirtschaft in Kombination mit Ackerbau. es ist der Pflug kolonialen schriften wird erzählt, dass die spanier informationen über einen großen metallhaltigen steinblock erhalten haben. unmittelbar nach ihrer Ankunft aus europa wurde dann eine expedition ausgerichtet, um dieses Metall aufzuspüren. Dabei durchquerten die spanier siedlungsfelder der indigenen „chiriguanaes“, von denen berichtet wurde, dass sie Menschenfleisch („carne umana“) essen würden. Da jegliches edelmetallvorkommen der spanischen Krone vorbehalten sein sollte, wurde die suche von der Kolonialverwaltung organisiert. capitán Mejía de Miraval führte dann die erste expedition im Jahr 1576 an, auf der man tatsächlich einen „riesengroße Brocken reinen eisens“ entdeckte. weitere expeditionen schlossen sich an, mit unterschiedlichen erfolgen. Die größte erkundung sollte erst mehr als 200 Jahre nach der ersten expedition stattfinden. 1783 brachen unter der Führung des Fregattenkapitäns rubín de celis beinahe zeitgleich mit den berühmten expeditionen von cook, Bougainville und La Pérouse 200 Mann auf, die mehr daran interessiert waren, tropische Landwirtschaftserzeugnisse und neue Kolonialgebiete zu entdecken. Bis zu diesem zeitpunkt dachte man, dass der „Mesón de Fierro“ (eisentafel) der sichtbare teil einer gigantischen eisenader sei. Als De celis den Brocken fand, Vermessungen des Meteoriten „El Taco“ im Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz, 1965–1966 60 ließ er ihn zunächst umdrehen, und kam, als er keine „wurzel“ entdeckte, zu dem schluss, dass das gestein vulkanischen ursprungs sein müsse. 1794, einige Jahre nachdem er einen wissenschaftlichen Bericht über den „Mesón de Fierro“ publiziert hatte, veröffentlichte der deutsche wissenschaftler ernst F. chladni die erste these eines möglichen himmlischen ursprungs dieser eisenstücke. zunächst mochte ihm niemand so recht glauben, doch in den darauf folgenden Jahren gab es weitere Meteoriteneinschläge in italien, Portugal, indien und Frankreich, die von wissenschaftlern untersucht wurden. schließlich wurde klar: hier, im bezeichnenderweise von den einheimischen mit „campo del cielo“ („himmelsfeld“) genannten südlichen teil des chaco, war vor etwa 4000 Jahren einer der weltweit größten Meteoriteneinschläge in der gesamten geschichte der erde passiert. Hier, im bezeichnenderweise von den Einheimischen mit „Campo del Cielo“ („Himmelsfeld“) genannten südlichen Teil des Chaco, ist vor etwa 4000 Jahren einer der weltweit größten Meteoriteneinschläge in der gesamten Geschichte der Erde passiert. AM 1. Juni 2006 erreichen zwei Junge Männer, mit dem Auto aus dem über tausend straßenkilometer entfernten Buenos Aires kommend, den campo del cielo, diesen beinahe mythischen ort. sie hatten sich ein Jahr davor kennengelernt und schnell festgestellt, dass sie ein großes interesse an kosmologischen themen teilten. Auf dem weg hierher hatten sie eine reihe von institutionen besucht, die allesamt tei- 1962 suchte man im Gebiet, wo der „El Taco“-Meteorit gefunden worden war, nach weiteren Einschlägen – vergeblich. Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 61 sonja braas Die Stille der Auflösung In ihren Bildserien, die sich stets auf unsere Vorstellungen und Bilder von Natur und ihren Kräften beziehen, zeigt uns die in New York lebende deutschstämmige Künstlerin Sonja Braas (*1968), wie brüchig unsere Weltwahr nehmung ist und wie sehr unser tägliches Erleben von Natur von Stereotypen geprägt ist. Stephan Berg zeigt die engen Verbindungen zwischen den einzelnen Serien und verankert sie in einer sehr traditionsbewussten Erschaffung von Bildern mit kunsthistorischen Referenzen weit in vergangene Jahrhunderte hinein. Wave 2008, aus der Serie „The Quiet of Dissulution“, CPrint, Diasec, gerahmt, 185 x 149 cm Flood 2006, aus der Serie „The Quiet of Dissolution“, CPrint, Diasec, gerahmt, 160 x 204,5 cm 68 Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 69 sonja braas eIgeNTLICh BRauCheN WIR uNs NuR eINe PosTKaRTe Des maTTeRhoRNs aNsChaueN, um zu begrei- fen, wie künstlich unser Verhältnis zur Natur grundsätzlich ist. auf der Postkarte sieht das matterhorn nämlich immer so perfekt aus, wie wir es in Wirklichkeit nie sehen können. Das betrifft nicht nur den auf dem Foto selbstverständlich immer tiefblauen himmel, sondern auch die Form des Berges und seine in Idealpositur gerückte scharfgratige silhouette. auf dem Postkartenfoto posiert das matterhorn für einen Kamerablick, der es eigentlich nicht abbildet, sondern in Wahrheit neu erschafft – und zwar unabhängig davon, ob er auf analoge oder digitale Weise entstanden ist. Das wissen wir natürlich. Längst ist uns klar, dass das Bild, das auf einer Postkarte erscheint, zu der Wirklichkeit, die es abzubilden vorgibt, in einem besonders gespannten Verhältnis steht. Denn mehr als jedes andere Foto verspricht die Postkarte eben nicht schlichte abbildung, sondern eine art Zurichtung des Wirklichen, die darauf zielt, so lange alles störende aus der realen Vorlage zu filtern, bis nur noch das übrig bleibt, was im sinn eines sehnsuchtsbildes funktioniert. Interessanterweise hindert uns dieses Wissen aber nicht daran, jedes mal aufs Neue enttäuscht zu sein, wenn der reale Blick aufs matterhorn nicht dem idealen Fotokonstrukt entspricht. Wahrnehmungstheoretisch und wiederum in hinblick auf unser Verhältnis zur Natur bezogen, bedeutet das, dass Natur, jenseits ihrer ontologisch unbezweifelbaren existenz, von uns vor allem im modus ihrer Transformation ins ästhetische Bild begriffen wird. Während wir uns in der Natur bewegen, gleichen wir das, was wir sehen, permanent mit einem unendlichen strom von Naturbildern ab, der sich über das reale erlebnis legt und dieses mit der suggestiven Kraft des inszenierten abbilds imprägniert. Das gilt auch bereits für die Landschaftsmalerei des 17. JahrhunYou are here #10 CPrint, Diasec, 122,5 x 100 cm 70 Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 derts, die zunächst in Frankreich und den Niederlanden aus dem schatten der traditionell als Königsdisziplin geltenden historienmalerei getreten war und sich dann im 19. Jahrhundert zu voller Blüte entwickelt hatte. schon hier wird deutlich, dass diese malerei Natur nicht nur als vermittelte und ausschnitthafte zeigt, sondern auch, dass sie, indem sie Natur be-deutet, in gewisser Weise den anspruch erhebt, diese auch zu konstituieren. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise die idealisierenden Naturidyllen Nicolas Poussins oder Claude Lorrains zur Blaupause eines Naturverständnisses, das nicht mehr im original, sondern im verklärenden abbild die eigentliche Natur erblickt. so waren die englischen aristokraten des 17. Jahrhunderts auf ihrer „grand Tour“ durch Italien mit eingefärbten Brillengläsern, sogenannten „Claude-glasses“ unter- wegs, durch die die Landschaft wirkte wie die auf den Bildern von Claude Lorrain. Damit gewinnt die erstmals von Joachim Ritter konsistent formulierte These, wonach die Bedingung der künstlerischen Wahrnehmung von Natur ihre Verwandlung in ein distanziertes, ästhetisches Bild sei, eine entscheidende Verschärfung. Denn von nun an ist es nicht mehr die Natur selbst, die die Naturwahrnehmung bestimmt, sondern vor allem die Bilder von der Natur. IN DIesem KoNTexT BeWegT sICh auCh Das WeRK der in New York le- benden deutschstämmigen Künstlerin sonja Braas. In bislang drei großen Werkblöcken umkreist sie das Thema eines immer schon kulturell kodifizierten umgangs mit Natur und seinen auswirkungen auf die Naturdarstellungen im Bild. „You are here“ (1998–2002) kombiniert Fotos realer Landschaften Sonja Braas in ihrem New Yorker Studio, neben ihr die Kamera, im Hintergrund ein Modell für eine gerade entstehende Arbeit 71 history Flirting with Disaster Katastrophen und ihre Geschichte haben Künstler seit vielen Jahrhunderten als Inspirationsquelle gedient, seien es biblische Themen wie etwa die Sintflut, die Apokalypse, Kriege, Terror, Katastrophen in der Natur oder persönliche. Desaster können dabei in den verschiedensten Genres und Formen dargestellt werden. Petra Amiel zeigt in ihrem Essay, wie groß die Bandbreite einer zeitgenössischen künstlerischen Praxis im Themenfeld Desaster und Katastrophe ist. Joel Sternfeld After a Flash Flood, Rancho Mirage, California, July 1979 1979, Digitaler C-Print aus der Serie „American Prospects“, ca. 122 x 152,5 cm 78 Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 79 history DIE NATUR KENNT KEINE KATASTROPHEN, nur der Mensch benennt Vor- DER PERSISCHE KöNIG XERXES IST ERZüRNT. Die in seinem Auftrag aus jeweils mehr als 300 aneinandergereihten Holzschiffen geschaffenen zwei Brücken am Hellespont, den heutigen Dardanellen, sind in Folge starken Seegangs zerbrochen. Und das mitten im Krieg. Wir schreiben das Jahr 480 v. Chr. und zur Strafe lässt der exzentrische Herrscher das Meer dreihundertmal auspeitschen. An der Meeresenge, die bis ins 20. Jahrhundert hinein ein häufiger Kriegsschauplatz war, gibt es heute noch immer keine Brücke. Knapp 2500 Jahre nach dieser Begebenheit ist der Zorn des Königs Inspirationsquelle für den deutschen Künstler Julius von Bismarck, der ihn zum Anlass für eine bemerkenswerte Arbeit nimmt. Von Oktober bis Dezember 2011 begibt sich dieser mit Peitschen im Gepäck auf Reisen durch die Schweiz, Südamerika und die USA. Unter allegorischer Bezugnahme auf jene antike Legende peitscht er bis zur körperlichen Erschöpfung die Natur aus, er bestraft sie in seiner auf mehrere Orte verteilten Performance. Das Meer, der Wald, der Berg, der See und die Wiese – diese Parameter stehen prototypisch für ein übergeordnetes Ganzes, dem sich der Mensch gegenübersieht. Xerxes ließ ja nicht das Meer auspeitschen, sondern vielmehr Poseidon, den Gott des Meeres. Der Künstler erschöpft sich in der sinnentleerten Geste des Aufbegehrens gegenüber den höheren Mächten, seine Peitschenhiebe sind als Geste zu einer radikalen Infragestellung des Seins in Gestalt der Natur zu verstehen, deren Teil der Mensch letztlich ist. In „Punishment X“ wendet er sich über den Dächern der brasilianischen Metropolo Rio de Janeiro folgerichtig gegen den monumentalen Christus als Erlöser. Die Natur an sich jedoch verharrt gleichgültig, denn sie hat kein Bewusstsein. Der Mensch bleibt ein unerhört Fordernder, ein Maßloser im Angesicht der Natur. gänge in ihr so, die ihn in seinem Bestand, seinem Leben bedrohen. Als eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der Geschichte der USA muss der Hurrikan Katrina angesehen werden, der Ende August 2005 insbesondere an der südöstlichen Golfküste enorme Schäden verursacht hat. Am 26. August war den verantwortlichen Politikern von New Orleans aufgrund von computersimulierten Verlaufsperspektiven des Orkans klar, dass die Möglichkeit einer noch nie dagewesenen Katastrophe im Raum stand, da die Stadt weitgehend unter dem Meeresspiegel liegt, die in die Stadt gespülten Wassermengen daher lange nicht würden abfließen können. Tatsächlich hielten die wichtigen Dämme, aber die kleineren Wände zweier Kanäle brachen entzwei, die Stadt wurde in weiten Teilen völlig zerstört. Der gebürtige Korse, heute aber in New York lebende Fotograf Robert Polidori reiste nach den ersten Aufräumarbeiten in die verwüstete Jazz-Metropole und schuf mit seiner Serie „After the Flood“ im Jahr 2006 eine berührende, aber auch verstörende Bilderserie, in der der Mensch ausgelöscht erscheint. Die leeren Häuser, verschlammten Zimmer, herumliegenden Möbel, die brachiale Zerstörung zeitigen die Atmosphäre einer Geisterstadt, in der das Trauma der Katastrophe weit über ihre physische Erscheinung hinaus Bestand zu haben scheint. Bereits im Mai 2001 reiste Polidori auch in die Ukraine, um in Tschernobyl und Pripyat, mit Schutzkleidung und Mundschutz ausgerüstet, Fotos in der in einem Umkreis von 30 Kilometern errichteten Sperrzone 15 Jahre nach dem bis dahin weltweit schlimmsten Reaktorunfall zu machen. 116.000 Menschen waren in den elf auf den Reaktorunfall folgenden Tagen aus dem Gebiet evakuiert worden. Polidori zeigt in seinen detailgetreuen Bildern geplünderte Schulen und Kran- Julius von Bismarck Punishment #2 2011, Inkjet Print, 100 x 150 cm Punishment #9 2011, Inkjet Print, 33 x 50 cm 80 kenhäuser, aber auch den Kontrollraum des Blocks IV, wo das Unglück durch ein Experiment der Techniker seinen Ausgang nahm (er durfte den Raum nur für wenige Minuten betreten) und wir sehen Schiffe, die im radioaktiv verseuchten Fluss Pripyat verrosten. Auch Es sind bedrückende Zeugnisse über den wissenschaftlichen Hochmut des Menschen gegenüber der Natur und ihren Möglichkeiten, die sich, außer Kontrolle geraten, gegen den Menschen richtet. Robert Polidori Classroom in Kindergarten #7, Golden Key, Pripyat 2001, C-Print Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 Rettungsautos, die wegen der Verstrahlung mit Blei ummantelt wurden, fotografierte er. Die Atmosphäre der Fotografien ist unheimlich, da es ein Verfall ist, der buchstäblich in Zeitlupe stattfindet. Die tödliche Strahlung ist nicht sichtbar, aber dennoch präsent. Es sind Robert Polidori 2600 Block of Munster Boulevard, New Orleans 2006, C-Print 81 documenta 13 Der Verlust der Mitte Die documenta 13 in Kassel war über weite Strecken eine erschütternde Bestandsaufnahme unserer Zeit. Kriege, vor allem die in Syrien und Afghanistan, politische und religiös motivierte Konflikte, der Arabische Frühling, die anhaltenden Krisen auf den globalen Finanzmärkten, ökologische Desaster sowie physischer und psychischer Zerfall zeitigten ein markantes Bild der aus dem Ruder laufenden Probleme der Gegenwart. Nur die Kunst bekam wieder einmal die Aufgabe zugeteilt, für Heilung zu sorgen, eine Bürde, die unangemessen, wenn auch schön ist in ihrer utopischen Hoffnung. AlexAnder Pühringer / fotos: Anton kehrer 112 Goshka Makuga Wandteppich 2012, 288 x 512 cm Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 113 documenta 13 aus dem späten dritten Jahrtausend v. Chr., die im märz 2001 aufgrund ihrer verschwindenden größe die blinde vernichtungswut der taliban im afghanischen bamiyan überstanden, als diese die weltweit größten buddhafiguren zerstörten. zahlreich weitere belege im raum, an den Wänden und im raum verteilt, sind indizien dafür, dass dieses gehirn und damit das bewusstsein und die seele des gesamtkörpers traumatisiert und schwer beschädigt sind. Ausgehend vom Fridericianum bilden sich in die stadt kassel hinein an verschiedenen orten die themenfelder erinnerung, kultur, krieg, katastrophe, kollaps, natur, zerfall und schließlich eine vage Hoffnung heraus, die durch die unversehrtheit der „baktrischen Prinzessinnen“ angedeutet wird. in den kArlsAuen, AuF einer brACHe der PArkPFlegeeinriCHtung nAHe des AuedAmms, hat der ka- An einem lAuen HerbstAbend letzten JAHres Hielt CArolyn CHristov-bAkArgiev vor einer Hand- voll zuhörer einen vortrag in der villa massimo in rom. dabei projizierte die energische mittfünfzigerin in etwa eineinhalb stunden gedankensplitterstakkato auch mehrere ausdrucksstarke bilder an die Wand, die gemeinsam mit einer vielzahl an anderen Artefakten in der von ihr „das gehirn“ benannten Assemblage der documenta 13 in der rotunde im erdgeschoß des Fridericianums eng zusammengepfercht das gedankliche zentrum dieser großen Ausstellung bilden. in rom waren es die nach der be- freiung durch die Alliierten in der badewanne Adolf Hitlers am tag von dessen gemeinsam mit eva braun verübten selbstmord in dessen münchner Wohnung für die kamera posierende Fotografin lee miller, das berühmte metronom mit dem Auge von man ray und das manifest einer „autodestruktiven kunst“ von gustav metzger. zudem wies die vortragende darauf hin, dass es eine avancierte traumaforschung in der Psychologie und Psychiatrie erst seit den späten 1970er-Jahren gibt. in einer vitrine in der rotunde befinden sich auch die sogenannten „baktrischen Prinzessinen“, miniaturfiguren nadier gareth moore bereits im Frühjahr 2010 ein weitläufiges gelände abgesteckt, das eine der stillsten, aber auch überwältigendsten auratischen Arbeiten dieser documenta 13 beherbergt. Aus sperrmüll, gefundenen und zugekauften alten materialien hat er sich in den letzten zwei Jahren ein temporäres zuhause geschaffen mit mehreren nebengebäuden wie gästehaus, Privattempel, Werkzeugschuppen und einem gerade fertiggestellten Fischteich. Auch zwei Fenster des brüder-grimm-museums, eines der wenigen nicht im zweiten Weltkrieg zerbombten historischen gebäude kassels, fanden verwendung. man kann sich auch über eine e-mailAdresse für einen maximalen Aufenthalt von drei nächten anmelden und zu moderaten Preisen oder auf basis eines gegengeschäfts, Arbeit möglicherweise, als kurzzeitbewohner austesten, wie das wohl wäre, wenn. beim eingang in dieses stille reservat muss man Fotoapparat und Handy abgeben. das zeitigt nicht nur eine Art respektbekundung gegenüber dieser beinahe urzeitlich anmutenden lebensform, es führt auch, und das William Kentridge The Refusal of Time 2012 114 Die documenta 13 feiert ihre strikte Abkehr von der Kunst als Fetischobjekt für gelangweilte Reiche und als Spekulationsware von Hedgefondsmanagern bereits nach einem kurzen verweilen zwischen den funktionalen und zugleich sehr poetischen bauten, zu einer spürbaren entschleunigung der Wahrnehmung des eigenen selbst. die Frage der zeit und zeitlichkeit, die diesem so berührenden eingriff in das sonst sehr geschäftig ablaufende Ausstellungstreiben anhaftet, bildet einen wunderbaren brückenschlag zu einer weiteren großartigen installation. im nordFlügel des HAuPtbAHnHoFs hat der südafrikaner William ken- tridge für seinen nunmehr bereits dritten documenta-Auftritt in Folge die kürzlich in Johannesburg fertiggestellte multimediainstallation „the refusal of time“ aufgebaut, bei der er mit einer präzise ablaufenden ineinanderverschränkung von Filmbildern in der für ihn typischen stopmotion-technik Performanceansichten und schattenprozessionen mit einer rhythmisch und tonal orgiastischen musik untermalt eine geschichte des zeitbegriffs (der künstler selber moderierend und als sprecher) vorführt, auf fünf Projektionsflächen in Form von mit weißer Farbe ausgemalten backsteinmauern im abgedunkelten rohen Ambiente einer ausgeräumten lagerhalle. es geht auch um die unausweichlichkeit des schicksals, um die lebenslange sisyphosarbeit und die unmöglichkeit der selbstbestimmung des menschen. ein paar meter weiter hat Clemens von Wedemeyer seine filmische Auseinandersetzung mit der komplexen geschichte des ehemaligen benediktinerklosters breitenaus installiert (siehe Aperto s. 144). Wie bedrüCkend die trAnsFormAtion von reAlen näHmAsCHi- nen in dAs mAteriAl Holz sein können in gedanken an die inzwi- schen fast gänzlich von den industrieländern des Alten und neuen kontents in die schwellenländer Asiens ausgelagerten textilmassenfertigungen, zeigt die installation des ungarn istván Csakany. so einfach kann sozialkritik sein und so bestechend ihr erinnerungsbezug. entlang von etwas unmotiviert in den atmosphärisch dichten ehemaligen lagerhallen auf und ab gezogenen Jalousinen von Haegue yang schlendert man dann hinaus auf eine Freifläche, auf der die turiner künstlerin lara Favaretto eine gewaltige menge an schrott aufgehäuft hat (siehe Aperto s. 146). dass politisch motivierte zivilisationskritik auch ganz schön danebengeIstván Csakany The Sewing Room 2012 Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 115 gustav metzger Die Magie der Zerstörung Der 1926 in Nürnberg geborene jüdische Künstler Gustav Metzger überlebte den Holocaust, weil er rechtzeitig mit seinem Bruder nach London in Sicherheit vor den Nazis gebracht worden war. Infolge der politischen und biografischen Betroffenheit entwickelte er seine von ihm so genannte „Autodestruktive Kunst“ einer allumfassenden Gesellschaftskritik, die auch vor dem Kunstmarkt nicht haltmacht. Metzger ist einer der wenigen authentischen politischen Künstler unserer Zeit. AnnA-VerenA nosthoff JeDe BeWeguNg MArKierT ZerSTöruNg. Die filigran geschwunge- nen Pinselstriche des Künstlers werden zum Ausgangspunkt einer destruktiven Kraft, nach maximal fünfzehn Sekunden wird die Struktur des Nylons von der heroischen Dominanz des acetylsäuregetränkten Pinsels überwältigt. eine flüchtige Berührung genügt, um aus schmalen rissen von der chemischen Substanz zerfressene, grobflächige löcher entstehen zu lassen. Wie beim Anstoßen eines ersten Dominosteins breitet sich die unsichtbare gewalt des Automatismus aus. Das lauffeuer findet erst in der totalen Selbstvernichtung sein ende. inmitten des absoluten Verschwindens verbleibt nur der Künstler in seltsam statischer Haltung. Den Pinsel hat er schon zu Boden gesenkt, bevor er die gasmaske ablegt. Vor seiner Silhouette verlieren sich einige zerrissene Fetzen Stoff in der unkontrolliertheit des Windes. Was bleibt, ist nicht viel, außer dem gefühl der Auslöschung eines etwas. Wahrscheinlich ist das weniger als nichts. Der HeuTe 86 JAHre AlTe geBÜrTige DeuTScHe guSTAV MeTZger hat den Holocaust überlebt. 1939 war der Sohn orthodoxer Juden als Jugendlicher vom refugee childrens Movement nach london gebracht worden, zusammen mit seinem Bruder. Seine eltern waren dem Krieg zum Opfer gefallen. Noch während die Nazis in Deutschland an der Macht waren, kam der nun heimatlose Metzger in england zum ersten Mal mit den Skulpturen eines Henry Moore in Berührung. Während er anfing, sich intensiver mit zeitgenössi- scher Kunst zu beschäftigen, wuchs sein politisches interesse in gleichem Maß. Nachdem er 1944 in einer anarchistischen Kommune gelebt hatte, entschied er sich zunächst dafür, sein künstlerisches interesse weiterzuverfolgen und skulptural zu arbeiten. Kurzerhand traf er sich mit Moore in der National gallery, fragte nach einer Assistenzstelle. Dieser jedoch riet ihm zu einem Kunststudium. es war ein kluger ratschlag, den sich Metzger zu Herzen nahm. Nur wenige Zeit später begann er an der london South Bank university zu studieren, bei seinem lehrer David Bomberg, der auch jüdischer Abstammung war. Es ging Metzger nicht um die bloße Verarbeitung seines eigenen subjektiven Erlebens, in der Tat decken die Fotografien eine thematische Bandbreite vom Vietnamkrieg bis hin zum Bombenangriff auf Oklahoma City ab. Über die Jahrzehnte hinweg hat Metzger die Schuldfrage nie losgelassen. Der quälende gedanke daran, dass er es war, der überlebt hatte, wurde zu einem Hauptmotivator seines künstlerischen Schaffens. er suchte nach Antworten auf die schwierige Frage, wie ein Künstler zu reagieren habe auf unfassbarkeiten wie Auschwitz. Dass die Darstellung des unfassbaren auch „fassbar machen“ heißen und zwangsläu- fig immer auch ein Verrat an der tatsächlichen Dimension des real Schrecklichen sein musste, das hatte er begriffen. Die Worte des Philosophen Theodor W. Adorno, die jegliche bis dahin existierende künstlerische Darstellungsformen, die versuchten, sich der Dimension des Furchtbaren mit ästhetischen Mitteln anzunähern, der Barbarei bezichtigt hatten, waren ihm nicht fremd. Metzger erkannte die Notwendigkeit der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. 1959 fand er sie in der Sprache einer Kunst der Zerstörung, die sich dann beispielsweise in Form eines jenen „Acid Painting“ offenbarte. Zur Klassifizierung dieses neuen Konzepts reichten drei Buchstaben: ADK – die Abkürzung für „Autodestruktive Kunst“. MeTZger PuBliZierTe DiVerSe MANiFeSTe, die seine künstlerische inten- tion theoretisch untermauern sollten. Offensichtlich genügte ihm die rein praktische Arbeit der Autodestruktion nicht. Die Schriften sind kurz und bündig, gespickt mit knappen Sätzen, die die wichtigsten grundideen der Autodestruktion beinahe paraktaktisch aneinanderreihen. in ihnen wird deutlich, dass Metzger die ADK vor allem als Verkörperung gesellschaftszerstörerischer Potenziale sieht. Der Holocaust ist für Metzger nur der Anfang eines sich kontinuierlichen Fortsetzens eben jener destruktiven Allmacht, die über die kapitalistische entpersonalisierung bis hin zur nuklearen Bedrohung reicht. in der Tat ist die thematische Nähe der ADK zur realpolitischen Strategie der Mutually Assured Destruction, des beidseitigen Wissens um die MöglichHistoric Photographs: Kill the Cars, Camden Town, London 1996 1996/2009, Fotografie, Auto und Audio, variable Dimensionen 126 Sommer Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 127 peter winterhoff-spurk Heimkatastrophen Peter Winterhoff-Spurk, einer der führenden deutschen Medienpsychologen, beschäftigt sich seit Langem mit der zunehmenden medialen Präsenz von Katastrophen in unserem Alltag und zeigt in seinen Publikationen, welch verheerende Folgen für die menschliche Psyche damit einhergehen. Anna-Verena Nosthoff und Alexander Pühringer trafen den ehemaligen Professor der Universität des Saarlandes zum Gespräch über das schlechte Spendengewissen auf dem Sofa, das unangenehme Gefühl, im Zug gegen die Fahrtrichtung zu fahren und die Frage, warum wir vor allem dann gute Gastgeber sind, wenn Hiobsbotschaften um Einlass in unsere gute Stube bitten. Herr Winterhoff-Spurk, ist es zynisch, zu behaupten, dass Katastrophen für uns in erster Linie Unterhaltung darstellen? Peter Winterhoff-Spurk: Nein, überhaupt nicht. Der Blick auf die Massenmedien zeigt das ja jeden Tag. Katastrophen haben einen hohen Nachrichtenwert. All das, was kurz, dramatisch und blutig ist, hat eine sehr hohe Chance, auf der Medienagenda ganz oben zu stehen. Viele Katastrophen haben mit uns persönlich ja kaum etwas zu tun. Da kann man schon berechtigterweise die Frage stellen, warum wir uns überhaupt in einer solchen Intensität mit ihnen auseinandersetzen. Sicherlich ist einer der Gründe dafür ihr Unterhaltungswert. Sie skizzieren in Ihren Publikationen die Herausbildung des so genannten „histrionischen Charakters“, der einerseits von einem verstärkten Bedürfnis zur ständigen Dramatisierung, andererseits auch von großer Unsicherheit geprägt ist. Ist diese starke Tendenz hin zum Konsum von Katastrophen auch eine kompensatorische? Das glaube ich nicht. Der Histrio, den man früher als „hysterische“ Persönlichkeit charakterisiert hat, hat in der Tat einen hohen Anregungsbedarf im Sinne des „Sensation seeking“. Aus medienpsychologischen Untersuchungen weiß man, dass Katastrophen immer physiologische Erregung beim Betrachter auslösen. Das ist ein Zustand, den der Histrio gern hat. Ich würde das aber nicht als Kompensation bezeichnen. Vielmehr fördern die Medien in ihrer Bereitschaft, Katastrophen zu zeigen, die Ausbildung des histrionischen Sozialcharakters. Wie muss man sich den „Histrio“ denn genau vorstellen? Ist das ein Mensch, der nach einer unmittelbaren Realkonfrontation mit dem Schrecklichen strebt, der sich damit tagtäglich, vielleicht sogar in seinem Beruf, umgibt? Das muss nicht zwangsläufig so sein. Ein Histrio kann beispielsweise auch jemand sein, der selbst stark unter Ängsten leidet. Wenn ich sehe, dass ein anderer eine Katastrophe erleidet, ist das auch etwas, was mich beruhigen kann. Das ist sicherlich auch eines der Motive, das uns zu einem verstärkten Katastrophenkonsum verleiten kann. Das Beobachten von Katastrophen kann beispielsweise auch eine Form der Angstabwehr sein. Nun gibt es aber auch gewisse „Urfunktionen“. Häufig löst es beispielsweise unangenehme Gefühle aus, wenn wir im Zug in die entgegengesetzte Fahrtrichtung fahren. Wir schauen lieber in die Richtung, in die wir uns bewegen. Stimmt, das Zugbeispiel ist sehr passend. In der Tat ist es so, dass Menschen lieber sehen möchten, was auf sie zukommt. Das ist auch einer der Gründe, warum heute eher schlechte als gute Nachrichten Aufmerksamkeit erregen. Viele Journalisten vertreten aus diesen Gründen auch die Auffassung: ‚Only bad news are good news.‘ Wir haben häufig Angst, etwas zu verpassen, wenn uns schlechte Nachrichten entgehen. Wenn ich auf eine schlechte Nachricht nicht adäquat reagiere, kann das individuell in eine Katastrophe führen. Das Wort „Nachricht“, das ‚Sich-nach-etwasRichten‘ kommt nicht von ungefähr. Der Reflex, der hier ein unangenehmes Gefühl verursacht, ist uralt. Insbesondere die Bildmedien nutzen ihn für eigene Zwecke und bauen ihn wuchtig aus. Die Medienma- Das Leid, das uns alltäglich durch die Medien erreicht, überfordert uns. Wir sind soziale Wesen, in deren Bekanntenkreis höchstens ca. 25 bis 100 Menschen passen. Wenn jedoch tagtäglich Tausende von Menschen sterben, dann interessiert uns das nicht mehr. Peter Winterhoff-Spurk geboren 1945 in Grimma / bis 2010 Professor für Medienpsychologie und Leiter der Arbeitseinheit für Medien- und Organisationspsychologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken / Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher / Mitbegründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift „Medienpsychologie“ / heute Verleger beim Seume-Verlag in Leipzig. interview 130 Herbst 2012 untitled 004 untitled 004 Herbst 2012 131