Flirting with disaster. - untitled – The State of the Art

Transcrição

Flirting with disaster. - untitled – The State of the Art
004 mit
dOCUMENTA
(13)
Special
Flirting with disaster.
EUR 8,70 SFR 17,– Herbst 2012
Insert: Elger Esser
Werkporträt: Anselm Kiefer
State of the Art: Roman Signer
Porträts: Sonja Braas / Gustav Metzger Gespräch: Lori Nix & Brian McKee
Atelierbesuche: Dirk Skreber / Christian Eisenberger
inhalt
58
documenta (13) Der Fall der Dinge.
Seit sechs Jahren setzen sich die beiden argentinischen
Künstler Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg
mit Meteoriteneinschlägen im Gran-Chaco-Gebiet auseinander. Auf der vergangenen documenta 13 zeigten
sie die Ergebnisse ihrer bisherigen Recherchearbeiten.
68
Die Stille der Auflösung.
In auf gebauten Modellen basierenden Bildserien, die
sich auf Vorstellungen von Natur beziehen, zeigt uns
die in New York lebende deutschstämmige Künstlerin
Sonja Braas, wie brüchig unsere Weltwahrnehmung ist.
Von Stephan Berg
78
Flirting with Disaster.
Katastrophen und ihre Geschichte haben Künstler seit
jeher als Inspirationsquelle gedient. Petra Amiel zeigt in
ihrem Essay, wie groß die Bandbreite einer zeitgenössischen künstlerischen Praxis in diesem Themenfeld ist.
89
Insert. Elger Esser/Wrecks.
Der deutsche Fotokünstler Elger Esser hat für diese
Ausgabe von untitled aus mehreren alten Postkartenmotiven von Schiffskatastrophen ein bildmächtiges
Insert gestaltet.
Sonja Braas, Storm (aus der Serie
„The Quiet of Dissolution“), 2006,
C-Print, Diasec, gerahmt, 185 x 150 cm
104 Die letzten Tage der Menschheit.
Die beiden in New York lebenden Künstler Lori Nix
und Brian McKee arbeiten am Thema Katastrophen
und Desaster. Sie unterhielten sich über ihre Kindheit
in Kansas, die Faszination von Naturkatastrophen und
verlassenen Farmen und einen Schinken im Ofen nach
einem Orkan.
112
Lori Nix, Circulation Desk (aus der
Serie „The City“), 2012, C-Print,
102 x 135 cm
documenta (13) Der Verlust der Mitte.
„Zerstörung und Wiederaufbau“ lautete das zentrale
Thema der documenta 13. Über weite Strecken ist
der Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev in Kassel ein
bedrückendes Zustandsbild der politischen, humanitären und finanziellen Krisen unserer Tage gelungen. Von
Alexander Pühringer
126 documenta (13) Die Magie der Zerstörung.
Der jüdische Künstler Gustav Metzger überlebte den
Holocaust. In der Folge der biografischen Betroffenheit
entwickelte er seine „Autodestruktive Kunst“. Von
Anna-Verena Nosthoff
130 Heimkatastrophen.
Der Medienpsychologe Peter Winterhoff-Spurk zeigt im
untitled-Gespräch, welch verheerende Folgen mit der
zunehmenden medialen Präsenz von Katastrophen in
unserem Alltag einhergehen.
Brian McKee, Terra Nova #9, 2011,
C-Print auf Aluminium, 126 x 158 cm
136 Die Katastrophe als mediales Faszinosum.
Die Medien sind bemüht, Katastrophen immer cleverer
zu inszenieren. Aber wie funktionieren eigentlich die
Prozesse, die hinter all dem stehen? Reinhard Mohr
führt uns durch eine schrecklich schöne Welt, in der
sogar Dioxineier die Mäuler unserer Ablenkungsgesellschaft zu stopfen vermögen.
140 Zarathustras Schweigen.
Die österreichische Künstlerin Zenita Komad schreibt
Briefe an den lieben Gott und hat auch sonst eine
spirituelle Weltsicht in ihrer künstlerischen Praxis.
Alexander Pühringer hat sich mit ihrer neuesten Werkserie zum Thema Gott und Liebe beschäftigt.
68 Flirting with Disaster
146 Der Stillstand der Dinge.
Die Gemälde und Skulpturen des deutschen Künstlers
Dirk Skreber sind gezeichnet von Motiven der Zerstörung, wobei ihn eine dokumentarische Wiedergabe
dramatischer Einzelgeschichten weniger interessiert.
Die Unmittelbarkeit des Moments der Katastrophe ist
für den in New York lebenden Künstler vielmehr Ausgangspunkt einer ästhetischen Transformation. Claudia
Steinberg hat ihn in seinem Atelier besucht.
152 Mit dem Äußersten rechnen.
Das ökonomische Prinzip der totalen Monetarisierung
dominiert auch in Zeiten des Ausnahmezustands. Häufig soll das Prinzip des „Immer Mehr“ Wege aus Katastrophen bahnen, die es selbst verursacht hat. Auch in
Zeiten des Wahnsinns verlässt man sich offenbar gern
auf die unsichtbare Hand. Von Karl-Heinz Brodbeck
154 Kollaterale Schäden.
Seine Arbeit lässt sich nur schwer einordnen, vielleicht
noch am ehesten in der Quadratur der Parameter
Körper-Seele-Sexualität. Bei manchen Arbeiten denkt
man auch an die Wiener Aktionisten. Der gebürtige
Steirer Christian Eisenberger ist aber vor allem ein wie
besessen Schaffender. Alexander Pühringer hat ihn in
seinem Atelier in Wien besucht.
160 documenta (13) Aperto. Clemens von Wedemeyer.
162 documenta(13) Aperto. Lara Favaretto.
164 documenta(13) Aperto. Michael Rakowitz.
166 documenta (13) Aperto. Tejal Shah.
168 Aperto. Philipp Goldbach.
170 Werkporträt. Anselm Kiefer.
Dietmar Bechstein über das Gemälde „Die sechste Posaune“ des in Frankreich lebenden deutschen Künstlers
Anselm Kiefer, in dem er sich auf die „Offenbarung des
Johannes“ aus dem Neuen Testament bezieht.
Standards
Faivovich & Goldberg, Theodore Ruhoff
posiert neben einer Fiberglaskopie des
„El Taco“, ca. 1965
untitled 004 Herbst 2012
05 editorial
14 projects
24 architecture 34 museumstest 42 commentary
173 p/reviews 207 artdiary
08 contributors 16 kolumne
28 design
36 books
43 storytellers
204 credits
209 state of the art
10 people
18 museums 30 galleries
40 nachgelesen 172 ästhetische bibliothek
210 smalltalk
7
faivovich & goldberg
The strata
of the Earth
is a jumbled
museum.
Der Fall der Dinge
Seit nunmehr sechs Jahren setzen sich die beiden argentinischen Künstler Guillermo
Faivovich (*1977) und Nicolás Goldberg (*1978) mit Meteoriteneinschlägen im GranChaco-Gebiet auseinander. Minutiös haben sie in aufwändiger Recherchearbeit die
verschiedenen Wege versucht zu rekonstruieren, die die größten einzelnen, allesamt gestohlenen Gesteinsteile in die verschiedensten Winkel der Welt genommen haben. Auf
der vergangenen documenta 13 in Kassel präsentierten sie vor und im Fridericianum
Ergebnisse ihrer künstlerischen Praxis. AlexAndeR PühRingeR
RobeRt SmithSon
58
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
59
faivovich & goldberg
eines solchen criollo, der an diesem tag
zerbricht. Doch nicht etwa ein vergessener oder verlorener Pferdehuf oder aber
der rest eines Ackergeräts machen das
klingende geräusch, sondern einer der
vielen Meteoriten, die im chaco-gebiet vor etwa 4000 Jahren aufgeschlagen sind. Das Bruchstück des insgesamt
mehr als 800 tonnen schweren Asteroiden aus dem hauptgürtel zwischen den
Planeten Mars und Jupiter hat schon seit
Jahrhunderten in der geschichte der gegend eine bedeutende rolle gespielt.
Bereits in PräKoLuMBischer zeit
FAnD ein gewALtiger BrocKen seine erste erwähnung. in spanischen
Der 29. August 1962 ist ein Mittwoch. An diesem tag wird Jutta Klein-
schmidt, die spätere erfolgreichste deutsche rallye-Fahrerin, in Köln geboren.
Michael Jackson wird gerade vier Jahre alt, ingrid Bergman 47 und richard
Attenborough 39 Jahre. einen Mann im
südlichen, in Argentinien gelegenen teil
des so genannten gran-chaco-gebietes
kümmern diese geschehnisse kaum. er
weiß wahrscheinlich nicht einmal etwas
vom selbstmord der schauspielerin Marilyn Monroe, die genau drei wochen
zuvor in Los Angeles eine Überdosis
schlaftabletten geschluckt hat. Lázaro
Milovich stößt an diesem tag in der brütenden sommerhitze mit seinem Pflug
auf dem Feld seines Arbeitgebers auf einen metallisch klingenden gegenstand.
nachdem sein Ackergerät entzweigebrochen ist, findet der Landarbeiter die
ursache in einem gewaltigen steinbrocken. Der rest ist eine geschichte, die
auf der kommenden documenta 13 in
Kassel ihren höhepunkt finden wird.
Die region el chaco, meist nur
chaco genannt, ist ein riesiger fruchtbarer Landstrich, der sich vom argentinischen norden über Bolivien und Paraguay bis nach Brasilien hineinzieht. Von
1932 bis 1935 war der chaco schauplatz eines blutigen Krieges zwischen Paraguay und Bolivien, der durch gerüchte um riesige Ölvorkommen angefacht
wurde. Die Probebohrungen blieben jedoch nach ende des Krieges erfolglos.
Das gesamte gebiet des chaco wird
durch weitreichende sedimentböden geprägt, die eine landwirtschaftliche nutzung begünstigen. während die indianer
sich noch heute überwiegend vom Jagen, sammeln und Fischen ernähren, betreiben die seit dem 19. Jahrhundert dort
lebenden weißen siedler, die criollos,
eine extensive weidewirtschaft in Kombination mit Ackerbau. es ist der Pflug
kolonialen schriften wird erzählt, dass
die spanier informationen über einen
großen metallhaltigen steinblock erhalten haben. unmittelbar nach ihrer Ankunft aus europa wurde dann eine expedition ausgerichtet, um dieses Metall
aufzuspüren. Dabei durchquerten die
spanier siedlungsfelder der indigenen
„chiriguanaes“, von denen berichtet
wurde, dass sie Menschenfleisch („carne umana“) essen würden. Da jegliches
edelmetallvorkommen der spanischen
Krone vorbehalten sein sollte, wurde die
suche von der Kolonialverwaltung organisiert. capitán Mejía de Miraval führte
dann die erste expedition im Jahr 1576
an, auf der man tatsächlich einen „riesengroße Brocken reinen eisens“ entdeckte. weitere expeditionen schlossen
sich an, mit unterschiedlichen erfolgen.
Die größte erkundung sollte erst mehr
als 200 Jahre nach der ersten expedition stattfinden. 1783 brachen unter der
Führung des Fregattenkapitäns rubín
de celis beinahe zeitgleich mit den berühmten expeditionen von cook, Bougainville und La Pérouse 200 Mann auf,
die mehr daran interessiert waren, tropische Landwirtschaftserzeugnisse und
neue Kolonialgebiete zu entdecken. Bis
zu diesem zeitpunkt dachte man, dass
der „Mesón de Fierro“ (eisentafel) der
sichtbare teil einer gigantischen eisenader sei. Als De celis den Brocken fand,
Vermessungen des Meteoriten „El Taco“
im Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz,
1965–1966
60
ließ er ihn zunächst umdrehen, und
kam, als er keine „wurzel“ entdeckte,
zu dem schluss, dass das gestein vulkanischen ursprungs sein müsse. 1794,
einige Jahre nachdem er einen wissenschaftlichen Bericht über den „Mesón
de Fierro“ publiziert hatte, veröffentlichte der deutsche wissenschaftler ernst F.
chladni die erste these eines möglichen
himmlischen ursprungs dieser eisenstücke. zunächst mochte ihm niemand so
recht glauben, doch in den darauf folgenden Jahren gab es weitere Meteoriteneinschläge in italien, Portugal, indien
und Frankreich, die von wissenschaftlern untersucht wurden. schließlich
wurde klar: hier, im bezeichnenderweise von den einheimischen mit „campo
del cielo“ („himmelsfeld“) genannten
südlichen teil des chaco, war vor etwa
4000 Jahren einer der weltweit größten
Meteoriteneinschläge in der gesamten
geschichte der erde passiert.
Hier, im bezeichnenderweise
von den Einheimischen
mit „Campo del Cielo“
(„Himmelsfeld“) genannten
südlichen Teil des Chaco,
ist vor etwa 4000 Jahren
einer der weltweit größten
Meteoriteneinschläge in der
gesamten Geschichte der
Erde passiert.
AM 1. Juni 2006 erreichen zwei
Junge Männer, mit dem Auto aus
dem über tausend straßenkilometer entfernten Buenos Aires kommend, den
campo del cielo, diesen beinahe mythischen ort. sie hatten sich ein Jahr davor
kennengelernt und schnell festgestellt,
dass sie ein großes interesse an kosmologischen themen teilten. Auf dem
weg hierher hatten sie eine reihe von
institutionen besucht, die allesamt tei-
1962 suchte man im Gebiet, wo der „El
Taco“-Meteorit gefunden worden war, nach
weiteren Einschlägen – vergeblich.
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
61
sonja braas
Die Stille der
Auflösung
In ihren Bildserien, die sich stets auf unsere
Vorstellungen und Bilder von Natur und ihren
Kräften beziehen, zeigt uns die in New York
lebende deutschstämmige Künstlerin Sonja
Braas (*1968), wie brüchig unsere Weltwahr­
nehmung ist und wie sehr unser tägliches
Erleben von Natur von Stereotypen geprägt ist.
Stephan Berg zeigt die engen Verbindungen
zwischen den einzelnen Serien und verankert sie
in einer sehr traditionsbewussten Erschaffung
von Bildern mit kunsthistorischen Referenzen
weit in vergangene Jahrhunderte hinein.
Wave
2008, aus der Serie „The Quiet of Dissulution“,
C­Print, Diasec, gerahmt, 185 x 149 cm
Flood
2006, aus der Serie „The Quiet of Dissolution“,
C­Print, Diasec, gerahmt, 160 x 204,5 cm
68
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
69
sonja braas
eIgeNTLICh BRauCheN WIR uNs
NuR eINe PosTKaRTe Des maTTeRhoRNs aNsChaueN, um zu begrei-
fen, wie künstlich unser Verhältnis zur
Natur grundsätzlich ist. auf der Postkarte sieht das matterhorn nämlich immer so perfekt aus, wie wir es in Wirklichkeit nie sehen können. Das betrifft
nicht nur den auf dem Foto selbstverständlich immer tiefblauen himmel,
sondern auch die Form des Berges und
seine in Idealpositur gerückte scharfgratige silhouette. auf dem Postkartenfoto
posiert das matterhorn für einen Kamerablick, der es eigentlich nicht abbildet,
sondern in Wahrheit neu erschafft – und
zwar unabhängig davon, ob er auf analoge oder digitale Weise entstanden ist.
Das wissen wir natürlich. Längst ist uns
klar, dass das Bild, das auf einer Postkarte erscheint, zu der Wirklichkeit, die
es abzubilden vorgibt, in einem besonders gespannten Verhältnis steht. Denn
mehr als jedes andere Foto verspricht
die Postkarte eben nicht schlichte abbildung, sondern eine art Zurichtung
des Wirklichen, die darauf zielt, so lange alles störende aus der realen Vorlage zu filtern, bis nur noch das übrig
bleibt, was im sinn eines sehnsuchtsbildes funktioniert. Interessanterweise hindert uns dieses Wissen aber nicht daran, jedes mal aufs Neue enttäuscht zu
sein, wenn der reale Blick aufs matterhorn nicht dem idealen Fotokonstrukt
entspricht.
Wahrnehmungstheoretisch und wiederum in hinblick auf unser Verhältnis
zur Natur bezogen, bedeutet das, dass
Natur, jenseits ihrer ontologisch unbezweifelbaren existenz, von uns vor allem im modus ihrer Transformation ins
ästhetische Bild begriffen wird. Während wir uns in der Natur bewegen, gleichen wir das, was wir sehen, permanent
mit einem unendlichen strom von Naturbildern ab, der sich über das reale erlebnis legt und dieses mit der suggestiven Kraft des inszenierten abbilds imprägniert. Das gilt auch bereits für die
Landschaftsmalerei des 17. JahrhunYou are here #10
C­Print, Diasec, 122,5 x 100 cm
70
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
derts, die zunächst in Frankreich und
den Niederlanden aus dem schatten der
traditionell als Königsdisziplin geltenden historienmalerei getreten war und
sich dann im 19. Jahrhundert zu voller
Blüte entwickelt hatte. schon hier wird
deutlich, dass diese malerei Natur nicht
nur als vermittelte und ausschnitthafte
zeigt, sondern auch, dass sie, indem sie
Natur be-deutet, in gewisser Weise den
anspruch erhebt, diese auch zu konstituieren.
In diesem Zusammenhang werden
beispielsweise die idealisierenden Naturidyllen Nicolas Poussins oder Claude Lorrains zur Blaupause eines Naturverständnisses, das nicht mehr im original, sondern im verklärenden abbild die
eigentliche Natur erblickt. so waren die
englischen aristokraten des 17. Jahrhunderts auf ihrer „grand Tour“ durch
Italien mit eingefärbten Brillengläsern,
sogenannten „Claude-glasses“ unter-
wegs, durch die die Landschaft wirkte wie die auf den Bildern von Claude
Lorrain. Damit gewinnt die erstmals
von Joachim Ritter konsistent formulierte These, wonach die Bedingung der
künstlerischen Wahrnehmung von Natur ihre Verwandlung in ein distanziertes, ästhetisches Bild sei, eine entscheidende Verschärfung. Denn von nun an
ist es nicht mehr die Natur selbst, die die
Naturwahrnehmung bestimmt, sondern
vor allem die Bilder von der Natur.
IN DIesem KoNTexT BeWegT sICh
auCh Das WeRK der in New York le-
benden deutschstämmigen Künstlerin sonja Braas. In bislang drei großen
Werkblöcken umkreist sie das Thema
eines immer schon kulturell kodifizierten umgangs mit Natur und seinen auswirkungen auf die Naturdarstellungen
im Bild. „You are here“ (1998–2002)
kombiniert Fotos realer Landschaften
Sonja Braas in ihrem New Yorker Studio,
neben ihr die Kamera, im Hintergrund ein
Modell für eine gerade entstehende Arbeit
71
history
Flirting
with
Disaster
Katastrophen und ihre Geschichte haben
Künstler seit vielen Jahrhunderten als
Inspirationsquelle gedient, seien es biblische
Themen wie etwa die Sintflut, die Apokalypse,
Kriege, Terror, Katastrophen in der Natur oder
persönliche. Desaster können dabei in den
verschiedensten Genres und Formen dargestellt
werden. Petra Amiel zeigt in ihrem Essay, wie
groß die Bandbreite einer zeitgenössischen
künstlerischen Praxis im Themenfeld Desaster
und Katastrophe ist.
Joel Sternfeld
After a Flash Flood, Rancho Mirage, California, July 1979
1979, Digitaler C-Print aus der Serie „American Prospects“,
ca. 122 x 152,5 cm
78
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
79
history
DIE NATUR KENNT KEINE KATASTROPHEN, nur der Mensch benennt Vor-
DER PERSISCHE KöNIG XERXES IST
ERZüRNT. Die in seinem Auftrag aus
jeweils mehr als 300 aneinandergereihten Holzschiffen geschaffenen zwei
Brücken am Hellespont, den heutigen
Dardanellen, sind in Folge starken Seegangs zerbrochen. Und das mitten im
Krieg. Wir schreiben das Jahr 480 v.
Chr. und zur Strafe lässt der exzentrische Herrscher das Meer dreihundertmal auspeitschen. An der Meeresenge,
die bis ins 20. Jahrhundert hinein ein
häufiger Kriegsschauplatz war, gibt es
heute noch immer keine Brücke.
Knapp 2500 Jahre nach dieser Begebenheit ist der Zorn des Königs Inspirationsquelle für den deutschen
Künstler Julius von Bismarck, der ihn
zum Anlass für eine bemerkenswerte Arbeit nimmt. Von Oktober bis Dezember 2011 begibt sich dieser mit
Peitschen im Gepäck auf Reisen durch
die Schweiz, Südamerika und die USA.
Unter allegorischer Bezugnahme auf
jene antike Legende peitscht er bis zur
körperlichen Erschöpfung die Natur
aus, er bestraft sie in seiner auf mehrere Orte verteilten Performance. Das
Meer, der Wald, der Berg, der See
und die Wiese – diese Parameter stehen prototypisch für ein übergeordnetes Ganzes, dem sich der Mensch gegenübersieht. Xerxes ließ ja nicht das
Meer auspeitschen, sondern vielmehr
Poseidon, den Gott des Meeres. Der
Künstler erschöpft sich in der sinnentleerten Geste des Aufbegehrens gegenüber den höheren Mächten, seine Peitschenhiebe sind als Geste zu einer radikalen Infragestellung des Seins in
Gestalt der Natur zu verstehen, deren
Teil der Mensch letztlich ist. In „Punishment X“ wendet er sich über den
Dächern der brasilianischen Metropolo Rio de Janeiro folgerichtig gegen den monumentalen Christus als
Erlöser. Die Natur an sich jedoch verharrt gleichgültig, denn sie hat kein Bewusstsein. Der Mensch bleibt ein unerhört Fordernder, ein Maßloser im Angesicht der Natur.
gänge in ihr so, die ihn in seinem Bestand, seinem Leben bedrohen. Als eine
der verheerendsten Naturkatastrophen
in der Geschichte der USA muss der
Hurrikan Katrina angesehen werden,
der Ende August 2005 insbesondere
an der südöstlichen Golfküste enorme
Schäden verursacht hat. Am 26. August
war den verantwortlichen Politikern
von New Orleans aufgrund von computersimulierten Verlaufsperspektiven
des Orkans klar, dass die Möglichkeit
einer noch nie dagewesenen Katastrophe im Raum stand, da die Stadt weitgehend unter dem Meeresspiegel liegt,
die in die Stadt gespülten Wassermengen daher lange nicht würden abfließen
können. Tatsächlich hielten die wichtigen Dämme, aber die kleineren Wände zweier Kanäle brachen entzwei, die
Stadt wurde in weiten Teilen völlig zerstört.
Der gebürtige Korse, heute aber in
New York lebende Fotograf Robert Polidori reiste nach den ersten Aufräumarbeiten in die verwüstete Jazz-Metropole und schuf mit seiner Serie „After
the Flood“ im Jahr 2006 eine berührende, aber auch verstörende Bilderserie, in
der der Mensch ausgelöscht erscheint.
Die leeren Häuser, verschlammten Zimmer, herumliegenden Möbel, die brachiale Zerstörung zeitigen die Atmosphäre einer Geisterstadt, in der das
Trauma der Katastrophe weit über
ihre physische Erscheinung hinaus Bestand zu haben scheint. Bereits im Mai
2001 reiste Polidori auch in die Ukraine, um in Tschernobyl und Pripyat, mit
Schutzkleidung und Mundschutz ausgerüstet, Fotos in der in einem Umkreis
von 30 Kilometern errichteten Sperrzone 15 Jahre nach dem bis dahin weltweit schlimmsten Reaktorunfall zu machen. 116.000 Menschen waren in den
elf auf den Reaktorunfall folgenden Tagen aus dem Gebiet evakuiert worden.
Polidori zeigt in seinen detailgetreuen
Bildern geplünderte Schulen und Kran-
Julius von Bismarck
Punishment #2
2011, Inkjet Print, 100 x 150 cm
Punishment #9
2011, Inkjet Print, 33 x 50 cm
80
kenhäuser, aber auch den Kontrollraum
des Blocks IV, wo das Unglück durch
ein Experiment der Techniker seinen
Ausgang nahm (er durfte den Raum
nur für wenige Minuten betreten) und
wir sehen Schiffe, die im radioaktiv verseuchten Fluss Pripyat verrosten. Auch
Es sind bedrückende
Zeugnisse über den
wissenschaftlichen
Hochmut des Menschen
gegenüber der Natur
und ihren Möglichkeiten,
die sich, außer Kontrolle
geraten, gegen den
Menschen richtet.
Robert Polidori
Classroom in Kindergarten #7,
Golden Key, Pripyat
2001, C-Print
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
Rettungsautos, die wegen der Verstrahlung mit Blei ummantelt wurden, fotografierte er. Die Atmosphäre der Fotografien ist unheimlich, da es ein Verfall
ist, der buchstäblich in Zeitlupe stattfindet. Die tödliche Strahlung ist nicht
sichtbar, aber dennoch präsent. Es sind
Robert Polidori
2600 Block of Munster Boulevard,
New Orleans
2006, C-Print
81
documenta 13
Der Verlust der Mitte
Die documenta 13 in Kassel war über weite Strecken eine erschütternde Bestandsaufnahme
unserer Zeit. Kriege, vor allem die in Syrien und Afghanistan, politische und religiös motivierte
Konflikte, der Arabische Frühling, die anhaltenden Krisen auf den globalen Finanzmärkten,
ökologische Desaster sowie physischer und psychischer Zerfall zeitigten ein markantes Bild
der aus dem Ruder laufenden Probleme der Gegenwart. Nur die Kunst bekam wieder einmal
die Aufgabe zugeteilt, für Heilung zu sorgen, eine Bürde, die unangemessen, wenn auch
schön ist in ihrer utopischen Hoffnung. AlexAnder Pühringer / fotos: Anton kehrer
112
Goshka Makuga
Wandteppich
2012, 288 x 512 cm
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
113
documenta 13
aus dem späten dritten Jahrtausend v.
Chr., die im märz 2001 aufgrund ihrer
verschwindenden größe die blinde vernichtungswut der taliban im afghanischen bamiyan überstanden, als diese die
weltweit größten buddhafiguren zerstörten. zahlreich weitere belege im raum,
an den Wänden und im raum verteilt,
sind indizien dafür, dass dieses gehirn
und damit das bewusstsein und die seele des gesamtkörpers traumatisiert und
schwer beschädigt sind. Ausgehend vom
Fridericianum bilden sich in die stadt
kassel hinein an verschiedenen orten die
themenfelder erinnerung, kultur, krieg,
katastrophe, kollaps, natur, zerfall und
schließlich eine vage Hoffnung heraus,
die durch die unversehrtheit der „baktrischen Prinzessinnen“ angedeutet wird.
in den kArlsAuen, AuF einer brACHe der PArkPFlegeeinriCHtung
nAHe des AuedAmms, hat der ka-
An einem lAuen HerbstAbend
letzten JAHres Hielt CArolyn
CHristov-bAkArgiev vor einer Hand-
voll zuhörer einen vortrag in der villa
massimo in rom. dabei projizierte die
energische mittfünfzigerin in etwa eineinhalb stunden gedankensplitterstakkato auch mehrere ausdrucksstarke bilder an die Wand, die gemeinsam mit einer vielzahl an anderen Artefakten in
der von ihr „das gehirn“ benannten Assemblage der documenta 13 in der rotunde im erdgeschoß des Fridericianums
eng zusammengepfercht das gedankliche
zentrum dieser großen Ausstellung bilden. in rom waren es die nach der be-
freiung durch die Alliierten in der badewanne Adolf Hitlers am tag von dessen gemeinsam mit eva braun verübten
selbstmord in dessen münchner Wohnung für die kamera posierende Fotografin lee miller, das berühmte metronom mit dem Auge von man ray und
das manifest einer „autodestruktiven
kunst“ von gustav metzger. zudem
wies die vortragende darauf hin, dass es
eine avancierte traumaforschung in der
Psychologie und Psychiatrie erst seit den
späten 1970er-Jahren gibt.
in einer vitrine in der rotunde befinden sich auch die sogenannten „baktrischen Prinzessinen“, miniaturfiguren
nadier gareth moore bereits im Frühjahr 2010 ein weitläufiges gelände abgesteckt, das eine der stillsten, aber auch
überwältigendsten auratischen Arbeiten
dieser documenta 13 beherbergt. Aus
sperrmüll, gefundenen und zugekauften alten materialien hat er sich in den
letzten zwei Jahren ein temporäres zuhause geschaffen mit mehreren nebengebäuden wie gästehaus, Privattempel, Werkzeugschuppen und einem gerade fertiggestellten Fischteich. Auch
zwei Fenster des brüder-grimm-museums, eines der wenigen nicht im zweiten Weltkrieg zerbombten historischen
gebäude kassels, fanden verwendung.
man kann sich auch über eine e-mailAdresse für einen maximalen Aufenthalt
von drei nächten anmelden und zu moderaten Preisen oder auf basis eines gegengeschäfts, Arbeit möglicherweise, als
kurzzeitbewohner austesten, wie das
wohl wäre, wenn. beim eingang in dieses stille reservat muss man Fotoapparat und Handy abgeben. das zeitigt nicht
nur eine Art respektbekundung gegenüber dieser beinahe urzeitlich anmutenden lebensform, es führt auch, und das
William Kentridge
The Refusal of Time
2012
114
Die documenta 13 feiert
ihre strikte Abkehr von der
Kunst als Fetischobjekt für
gelangweilte Reiche und
als Spekulationsware von
Hedgefondsmanagern
bereits nach einem kurzen verweilen
zwischen den funktionalen und zugleich
sehr poetischen bauten, zu einer spürbaren entschleunigung der Wahrnehmung des eigenen selbst. die Frage der
zeit und zeitlichkeit, die diesem so berührenden eingriff in das sonst sehr geschäftig ablaufende Ausstellungstreiben
anhaftet, bildet einen wunderbaren brückenschlag zu einer weiteren großartigen
installation.
im nordFlügel des HAuPtbAHnHoFs hat der südafrikaner William ken-
tridge für seinen nunmehr bereits dritten
documenta-Auftritt in Folge die kürzlich
in Johannesburg fertiggestellte multimediainstallation „the refusal of time“
aufgebaut, bei der er mit einer präzise ablaufenden ineinanderverschränkung von
Filmbildern in der für ihn typischen stopmotion-technik Performanceansichten
und schattenprozessionen mit einer
rhythmisch und tonal orgiastischen musik untermalt eine geschichte des zeitbegriffs (der künstler selber moderierend und als sprecher) vorführt, auf fünf
Projektionsflächen in Form von mit weißer Farbe ausgemalten backsteinmauern
im abgedunkelten rohen Ambiente einer
ausgeräumten lagerhalle. es geht auch
um die unausweichlichkeit des schicksals, um die lebenslange sisyphosarbeit
und die unmöglichkeit der selbstbestimmung des menschen.
ein paar meter weiter hat Clemens
von Wedemeyer seine filmische Auseinandersetzung mit der komplexen geschichte des ehemaligen benediktinerklosters breitenaus installiert (siehe
Aperto s. 144).
Wie bedrüCkend die trAnsFormAtion von reAlen näHmAsCHi-
nen in dAs mAteriAl Holz sein
können in gedanken an die inzwi-
schen fast gänzlich von den industrieländern des Alten und neuen kontents in
die schwellenländer Asiens ausgelagerten textilmassenfertigungen, zeigt die installation des ungarn istván Csakany. so
einfach kann sozialkritik sein und so bestechend ihr erinnerungsbezug.
entlang von etwas unmotiviert in
den atmosphärisch dichten ehemaligen
lagerhallen auf und ab gezogenen Jalousinen von Haegue yang schlendert man
dann hinaus auf eine Freifläche, auf der
die turiner künstlerin lara Favaretto
eine gewaltige menge an schrott aufgehäuft hat (siehe Aperto s. 146).
dass politisch motivierte zivilisationskritik auch ganz schön danebengeIstván Csakany
The Sewing Room
2012
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
115
gustav metzger
Die Magie der Zerstörung
Der 1926 in Nürnberg geborene jüdische Künstler Gustav Metzger überlebte den Holocaust, weil er
rechtzeitig mit seinem Bruder nach London in Sicherheit vor den Nazis gebracht worden war. Infolge
der politischen und biografischen Betroffenheit entwickelte er seine von ihm so genannte „Autodestruktive Kunst“ einer allumfassenden Gesellschaftskritik, die auch vor dem Kunstmarkt nicht haltmacht. Metzger ist einer der wenigen authentischen politischen Künstler unserer Zeit. AnnA-VerenA nosthoff
JeDe BeWeguNg MArKierT ZerSTöruNg. Die filigran geschwunge-
nen Pinselstriche des Künstlers werden
zum Ausgangspunkt einer destruktiven Kraft, nach maximal fünfzehn Sekunden wird die Struktur des Nylons
von der heroischen Dominanz des acetylsäuregetränkten Pinsels überwältigt.
eine flüchtige Berührung genügt, um
aus schmalen rissen von der chemischen Substanz zerfressene, grobflächige löcher entstehen zu lassen. Wie beim
Anstoßen eines ersten Dominosteins
breitet sich die unsichtbare gewalt des
Automatismus aus. Das lauffeuer findet erst in der totalen Selbstvernichtung
sein ende. inmitten des absoluten Verschwindens verbleibt nur der Künstler
in seltsam statischer Haltung. Den Pinsel hat er schon zu Boden gesenkt, bevor er die gasmaske ablegt. Vor seiner
Silhouette verlieren sich einige zerrissene Fetzen Stoff in der unkontrolliertheit
des Windes. Was bleibt, ist nicht viel,
außer dem gefühl der Auslöschung eines etwas. Wahrscheinlich ist das weniger als nichts.
Der HeuTe 86 JAHre AlTe geBÜrTige DeuTScHe guSTAV MeTZger hat
den Holocaust überlebt. 1939 war der
Sohn orthodoxer Juden als Jugendlicher vom refugee childrens Movement
nach london gebracht worden, zusammen mit seinem Bruder. Seine eltern
waren dem Krieg zum Opfer gefallen.
Noch während die Nazis in Deutschland an der Macht waren, kam der nun
heimatlose Metzger in england zum ersten Mal mit den Skulpturen eines Henry Moore in Berührung. Während er
anfing, sich intensiver mit zeitgenössi-
scher Kunst zu beschäftigen, wuchs sein
politisches interesse in gleichem Maß.
Nachdem er 1944 in einer anarchistischen Kommune gelebt hatte, entschied
er sich zunächst dafür, sein künstlerisches interesse weiterzuverfolgen und
skulptural zu arbeiten. Kurzerhand traf
er sich mit Moore in der National gallery, fragte nach einer Assistenzstelle. Dieser jedoch riet ihm zu einem Kunststudium. es war ein kluger ratschlag, den
sich Metzger zu Herzen nahm. Nur wenige Zeit später begann er an der london South Bank university zu studieren,
bei seinem lehrer David Bomberg, der
auch jüdischer Abstammung war.
Es ging Metzger nicht um
die bloße Verarbeitung
seines eigenen subjektiven
Erlebens, in der Tat decken
die Fotografien eine
thematische Bandbreite
vom Vietnamkrieg bis hin
zum Bombenangriff auf
Oklahoma City ab.
Über die Jahrzehnte hinweg hat
Metzger die Schuldfrage nie losgelassen. Der quälende gedanke daran, dass
er es war, der überlebt hatte, wurde zu
einem Hauptmotivator seines künstlerischen Schaffens. er suchte nach Antworten auf die schwierige Frage, wie ein
Künstler zu reagieren habe auf unfassbarkeiten wie Auschwitz. Dass die Darstellung des unfassbaren auch „fassbar machen“ heißen und zwangsläu-
fig immer auch ein Verrat an der tatsächlichen Dimension des real Schrecklichen sein musste, das hatte er begriffen. Die Worte des Philosophen Theodor W. Adorno, die jegliche bis dahin
existierende künstlerische Darstellungsformen, die versuchten, sich der Dimension des Furchtbaren mit ästhetischen
Mitteln anzunähern, der Barbarei bezichtigt hatten, waren ihm nicht fremd.
Metzger erkannte die Notwendigkeit
der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. 1959 fand er sie in der Sprache einer Kunst der Zerstörung, die sich
dann beispielsweise in Form eines jenen
„Acid Painting“ offenbarte. Zur Klassifizierung dieses neuen Konzepts reichten
drei Buchstaben: ADK – die Abkürzung
für „Autodestruktive Kunst“.
MeTZger PuBliZierTe DiVerSe MANiFeSTe, die seine künstlerische inten-
tion theoretisch untermauern sollten.
Offensichtlich genügte ihm die rein
praktische Arbeit der Autodestruktion
nicht. Die Schriften sind kurz und bündig, gespickt mit knappen Sätzen, die
die wichtigsten grundideen der Autodestruktion beinahe paraktaktisch aneinanderreihen. in ihnen wird deutlich,
dass Metzger die ADK vor allem als
Verkörperung gesellschaftszerstörerischer Potenziale sieht. Der Holocaust ist
für Metzger nur der Anfang eines sich
kontinuierlichen Fortsetzens eben jener
destruktiven Allmacht, die über die kapitalistische entpersonalisierung bis hin
zur nuklearen Bedrohung reicht.
in der Tat ist die thematische Nähe
der ADK zur realpolitischen Strategie
der Mutually Assured Destruction, des
beidseitigen Wissens um die MöglichHistoric Photographs: Kill the Cars,
Camden Town, London 1996
1996/2009, Fotografie, Auto und Audio,
variable Dimensionen
126
Sommer
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
127
peter winterhoff-spurk
Heimkatastrophen
Peter Winterhoff-Spurk, einer der führenden deutschen Medienpsychologen, beschäftigt sich seit
Langem mit der zunehmenden medialen Präsenz von Katastrophen in unserem Alltag und zeigt in
seinen Publikationen, welch verheerende Folgen für die menschliche Psyche damit einhergehen.
Anna-Verena Nosthoff und Alexander Pühringer trafen den ehemaligen Professor der Universität
des Saarlandes zum Gespräch über das schlechte Spendengewissen auf dem Sofa, das unangenehme Gefühl, im Zug gegen die Fahrtrichtung zu fahren und die Frage, warum wir vor allem dann
gute Gastgeber sind, wenn Hiobsbotschaften um Einlass in unsere gute Stube bitten.
Herr Winterhoff-Spurk, ist es zynisch,
zu behaupten, dass Katastrophen
für uns in erster Linie Unterhaltung
darstellen?
Peter Winterhoff-Spurk: Nein, überhaupt nicht. Der Blick auf die Massenmedien zeigt das ja jeden Tag.
Katastrophen haben einen hohen
Nachrichtenwert. All das, was kurz,
dramatisch und blutig ist, hat eine
sehr hohe Chance, auf der Medienagenda ganz oben zu stehen. Viele
Katastrophen haben mit uns persönlich ja kaum etwas zu tun. Da kann
man schon berechtigterweise die Frage stellen, warum wir uns überhaupt
in einer solchen Intensität mit ihnen
auseinandersetzen. Sicherlich ist einer
der Gründe dafür ihr Unterhaltungswert.
Sie skizzieren in Ihren Publikationen
die Herausbildung des so genannten
„histrionischen Charakters“, der
einerseits von einem verstärkten
Bedürfnis zur ständigen Dramatisierung, andererseits auch von großer
Unsicherheit geprägt ist. Ist diese
starke Tendenz hin zum Konsum von
Katastrophen auch eine kompensatorische?
Das glaube ich nicht. Der Histrio, den
man früher als „hysterische“ Persönlichkeit charakterisiert hat, hat in der
Tat einen hohen Anregungsbedarf im
Sinne des „Sensation seeking“. Aus
medienpsychologischen Untersuchungen weiß man, dass Katastrophen
immer physiologische Erregung beim
Betrachter auslösen. Das ist ein Zustand, den der Histrio gern hat. Ich
würde das aber nicht als Kompensation bezeichnen. Vielmehr fördern die
Medien in ihrer Bereitschaft, Katastrophen zu zeigen, die Ausbildung
des histrionischen Sozialcharakters.
Wie muss man sich den „Histrio“
denn genau vorstellen? Ist das ein
Mensch, der nach einer unmittelbaren
Realkonfrontation mit dem Schrecklichen strebt, der sich damit tagtäglich, vielleicht sogar in seinem Beruf,
umgibt?
Das muss nicht zwangsläufig so sein.
Ein Histrio kann beispielsweise auch
jemand sein, der selbst stark unter
Ängsten leidet. Wenn ich sehe, dass
ein anderer eine Katastrophe erleidet,
ist das auch etwas, was mich beruhigen kann. Das ist sicherlich auch
eines der Motive, das uns zu einem
verstärkten Katastrophenkonsum verleiten kann. Das Beobachten von Katastrophen kann beispielsweise auch
eine Form der Angstabwehr sein.
Nun gibt es aber auch gewisse
„Urfunktionen“. Häufig löst es beispielsweise unangenehme Gefühle
aus, wenn wir im Zug in die entgegengesetzte Fahrtrichtung fahren. Wir
schauen lieber in die Richtung, in die
wir uns bewegen.
Stimmt, das Zugbeispiel ist sehr passend. In der Tat ist es so, dass Menschen lieber sehen möchten, was auf
sie zukommt. Das ist auch einer der
Gründe, warum heute eher schlechte
als gute Nachrichten Aufmerksamkeit erregen. Viele Journalisten vertreten aus diesen Gründen auch die
Auffassung: ‚Only bad news are good
news.‘ Wir haben häufig Angst, etwas zu verpassen, wenn uns schlechte
Nachrichten entgehen. Wenn ich auf
eine schlechte Nachricht nicht adäquat reagiere, kann das individuell
in eine Katastrophe führen. Das Wort
„Nachricht“, das ‚Sich-nach-etwasRichten‘ kommt nicht von ungefähr.
Der Reflex, der hier ein unangenehmes Gefühl verursacht, ist uralt.
Insbesondere die Bildmedien nutzen
ihn für eigene Zwecke und bauen
ihn wuchtig aus. Die Medienma-
Das Leid, das uns
alltäglich durch die
Medien erreicht,
überfordert uns. Wir
sind soziale Wesen, in
deren Bekanntenkreis
höchstens ca. 25
bis 100 Menschen
passen. Wenn jedoch
tagtäglich Tausende
von Menschen sterben,
dann interessiert uns
das nicht mehr.
Peter Winterhoff-Spurk
geboren 1945 in Grimma / bis 2010 Professor für Medienpsychologie und Leiter der Arbeitseinheit für Medien- und Organisationspsychologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken /
Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher / Mitbegründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift „Medienpsychologie“ / heute
Verleger beim Seume-Verlag in Leipzig.
interview
130
Herbst 2012 untitled 004
untitled 004 Herbst 2012
131