Das böse Zimmer – Teil 1

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Das böse Zimmer – Teil 1
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XXL-Leseprobe
aus Büchern des
Titus Verlag
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_PROLOG _
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»Hätte ich gewusst, dass die Nacht so endet, dann hätte ich
doch noch meine Pfeife geraucht«, war das Letzte, was Robert Bergmann dachte, bevor die Kugel in seinem Kopf einschlug.
Sieben Minuten zuvor hatte er sein Schlafzimmer betreten,
nachdem er einige Stunden an seinem Schreibtisch verbracht
und über seinen Akten gebrütet hatte. Seit seine Frau nicht
mehr da war, ging er immer spät zu Bett. Er hatte keine Lust,
darüber nachzudenken, was in den letzten Monaten passiert
war. Stattdessen stürzte er sich auf seine Arbeit und erlaubte
sich nicht, zur Ruhe zu kommen. Andernfalls würde er wahnsinnig werden.
Als Thea noch hier war, waren sie immer früh ins Bett gegangen. Sie hatten sich geliebt und waren danach eng umschlungen eingeschlafen. Dann war Thea auf einmal fort gewesen
und mit ihr das Bedürfnis nach Schlaf und Ruhe.
Er sah auf den Digitalwecker, der auf dem Nachtkästchen
stand: 4:32 Uhr. Eigentlich lohnte es sich gar nicht mehr zu
schlafen. Um sieben wollte er schon wieder aufstehen.
Es war noch dunkel im Zimmer. Er drückte auf den Lichtschalter. Es gab einen gedämpften Knall, ein kurzes Aufflackern, dann wieder Dunkelheit. Er war bei dem Knall zusammengezuckt. Der Schlafmangel hatte ihn schreckhaft gemacht. Robert Bergmann seufzte und fuhr sich mit der Hand
über die Stirn. Schweiß.
›So kann das nicht weitergehen‹, dachte er. Er musste endlich wieder richtig schlafen.
Er ging auf den Flur hinaus, zum Sicherungskasten. Er ertastete ihn mit den Händen, öffnete ihn, strich mit den Fingerspitzen über die Sicherungen, bis er die richtige fand und
setzte sie wieder ein. Das Licht ging wieder an. Er schnaufte
tief durch.
Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer machte er doch
noch einen kleinen Abstecher in sein Arbeitszimmer. Er
schaltete das Licht an und stellte erleichtert fest, dass es diesmal keinen gedämpften Knall gab. Zufrieden blickte er auf
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die rote Aktenmappe auf seinem Schreibtisch. Er nahm sie
noch einmal in die Hand und wog sie ein wenig hin und her,
fast als sei er sich nicht sicher, der Schwere des Falls gewachsen zu sein.
»Fleissen, Edgar Henry«, stand in Blockbuchstaben auf dem
weißen Etikett, das sich auf der Akte befand.
»Ich kriege dich«, murmelte Robert. »Und wenn du deinen
Anwälten noch so viel bezahlst, ich kriege dich.«
Er legte die Akte wieder auf seinen Schreibtisch zurück und
nahm stattdessen seine Pfeife zur Hand, die unberührt daneben lag. Er nahm sie in den Mund und zog daran. Sie war
kalt.
Thea hatte den Duft seiner Pfeife gemocht. Seit sie weg
war, rauchte er nicht mehr. Er hatte die Lust dazu verloren.
Robert legte die Pfeife zurück auf den Schreibtisch und
öffnete das Fenster. Die laue Nachluft kam herein und füllte
den Raum mit einem angenehmen, frischen Geruch. Er atmete tief ein. Die Nacht war klar. Er konnte die Sterne sehen,
die über dem Wald strahlten. Es war völlig ruhig. Nicht einmal die Grillen zirpten heute Nacht. Robert liebte die Abgeschiedenheit seines Hauses. Es lag auf einem kleinen Hügel,
mitten am Waldrand. Wenn man auf der Schlafzimmerseite
aus dem Fenster sah, konnte man das Haus des nächsten
Nachbarn nur ganz klein von Weitem sehen, aber auch nur,
wenn dort Licht brannte. Wollte er Bernd und Lisa besuchen,
war es gut eine Viertelstunde Fußmarsch den Hügel hinab.
Aber er besuchte ohnehin nicht mehr viele Leute, seit er allein
hier zurückgeblieben war. Er sah die Häuser seiner Nachbarn
nur noch, wenn er morgens auf dem Weg zum Gericht an
ihnen vorbeifuhr, und abends, wenn er nach Hause kam. Er
vermisste auch niemanden. Außer Thea.
Thea hatte es gehasst, so einsam zu wohnen. Wahrscheinlich war das mit ein Grund gewesen, warum sie schließlich
gegangen war. Aber es hatte ja auch noch andere gegeben.
Robert hatte die Einsamkeit immer dem Treiben in der
Stadt vorgezogen. Er liebte die Ruhe. Hier konnte er manchmal – aber nur manchmal – von all den Verbrechen abschal4
ten, mit denen er die ganze Zeit zu tun hatte. Seit Thea fort
war und er auch zu Hause arbeitete, konnte er nicht einmal
mehr das. Aber wenigstens spürte er hier die Schatten nicht.
Er schloss das Fenster, drehte sich um, schaltete das Licht
aus und ging zurück ins gegenüberliegende Schlafzimmer. Als
er dort eintrat, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte.
Ein kalter Lufthauch wehte ihm entgegen, der Vorhang bewegte sich leicht hin und her. Robert riss den Vorhang zur
Seite. Das Fenster stand einen Spalt offen. Ein kalter Schauder überfiel ihn. Er war sich sicher, das Fenster geschlossen
zu haben. Oder hatte er es nur angelehnt? War es einfach
wieder aufgegangen?
Er schloss das Fenster und sah sich um. Das Herz klopfte
ihm bis zum Hals. Robert spürte, dass er nicht allein war. Er
drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und robbte sie
entlang zur Tür. Im Schlafzimmer war niemand, sonst würde
er ihn sehen. Wer auch immer durch sein Schlafzimmerfenster eingedrungen war, musste es bis in den Flur geschafft
haben, als Robert im Arbeitszimmer gewesen war.
Er spähte um die Ecke. Im Flur sah er niemanden. Die Tür
zum Arbeitszimmer stand offen, aber das war in Ordnung. Er
wusste, dass er sie offen gelassen hatte. Dort brannte kein
Licht, darum konnte er nichts sehen, nicht einmal einen
Schatten. Wenn wirklich ein Eindringling im Haus war, dann
hatte Robert nur eine Chance, wenn er es bis zum Schreibtisch im Arbeitszimmer schaffte und noch genug Zeit hatte,
die unterste Schublade zu öffnen. Er konnte nur hoffen, dass
der Eindringling nicht ebenfalls im Arbeitszimmer war, denn
dann wäre er verloren.
Robert zwang sich zum Denken. Konnte sich jemand, während er im Arbeitszimmer gewesen war, auf dem Flur versteckt haben und nun in diesem Raum sein? Nein, denn das
hätte in der kurzen Zeit passieren müssen, als er im Schlafzimmer gewesen war und das offene Fenster bemerkt hatte.
Wäre ein Eindringling in der Zwischenzeit ins Arbeitszimmer
gegangen, dann hätte Robert ihn hören müssen. Nein, wo
immer sein nächtlicher Besucher auch war, falls es ihn gab, er
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konnte nicht im Arbeitszimmer sein. Das war Roberts
Chance.
Er nahm all seinen Mut zusammen und hechtete über den
Flur. Mit einem Satz war er in dem dunklen Raum, steuerte in
dem schwachen Lichtschein, der vom Schlafzimmer kam, auf
seinen Schreibtisch zu, riss die unterste Schublade auf und
ebenso schnell die Pistole heraus, die darin lag. Dann warf er
sich zu Boden.
Robert konnte den Lichtschein aus dem Schlafzimmer
sehen, der den vorderen Teil des Arbeitszimmers erhellte. Er
sah keinen Angreifer. Ebenso schnell, wie er sich niedergeworfen hatte, sprang er wieder auf und schlug auf den Lichtschalter. Mit erhobener Waffe fuhr er herum und warf beinahe gleichzeitig die Tür des Arbeitszimmers zu.
Leer. Das Arbeitszimmer war leer. Er war ganz allein. Derjenige, der ins Haus eingedrungen war, musste sich außerhalb
dieses Zimmers befinden. Er verharrte einen Moment hinter
der Tür, dann hob er die Waffe und feuerte durch das
Türholz. Würde der Eindringling vor der Tür stehen, wäre
dies sein letzter Einbruch gewesen.
Der Knall seines eigenen Schusses ließ ihn noch mehr zusammenzucken als zuvor das Geräusch, mit dem die Sicherung herausgeflogen war. Jedoch folgte nichts. Kein Schrei,
kein Aufstöhnen, kein zu Boden Fallen. Niemand war vor
dieser Tür.
Ohne weiteres Zögern riss er die Tür wieder auf, die Pistole
weiterhin im Anschlag. Er sah niemanden auf dem Flur.
»Wer da?«, rief er hinaus. Seine Stimme zitterte. Nichts
rührte sich. »Wer da?«, fragte er noch einmal. Lauter. Selbstbewusster. Stille. »Wer da?«, rief er ein drittes Mal und seine
Stimme kippte.
Immer noch keine Antwort. Wer auch immer in sein Haus
eingedrungen sein mochte, der war nun Freiwild und zum
Abschuss freigegeben. Es war eine alte Regel aus dem Schützenverein, die sich Robert immer zu Herzen genommen
hatte: Wer beim dritten »Wer da« nicht antwortete, musste
damit rechnen, erschossen zu werden. Robert war das immer
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als eine plausible Lebensregel erschienen. Er hatte während
seines Jurastudiums zwei Seminare zur frühmittelalterlichen
Rechtsgeschichte besucht und noch düster eine Norm einer
germanischen Rechtsordnung im Kopf behalten, die besagte,
dass ein fremder Wandersmann, wenn er nachts ein fremdes
Grundstück überquerte, laut rufen musste, um dem Grundstückseigentümer zu signalisieren, dass er sich nur auf Wanderschaft befand und keine bösen Absichten hegte. Unterließ
er das Rufen und schlich sich wie ein Dieb über das Grundstück, musste er damit rechnen, getötet zu werden, wenn er
auf dem Grund und Boden des Eigentümers angetroffen
wurde.
Robert fand es faszinierend, was für Dinge ihm durch den
Kopf schossen, während er mit einer geladenen Waffe in der
Hand in seinem Arbeitszimmer stand und auf den Flur
hinauszielte, um einen potenziellen Einbrecher zu erschießen.
Da er nicht das kleinste Geräusch hörte, beschloss er, taktisch
vorzugehen. Das Schlafzimmer lag genau gegenüber auf der
anderen Seite des Flurs. Es war eine Sackgasse, genau wie das
Arbeitszimmer. In keinem der beiden Räume befand sich jemand außer ihm und von dort hätte der Eindringling nirgendwo hingelangen können. War er also durch das Schlafzimmerfenster gekommen, musste er es auf den Flur geschafft
haben. Von dort standen ihm nur zwei Wege offen: entweder
den Flur hinab zum Wohnzimmer oder ins Badezimmer, das
direkt neben Schlaf- und Arbeitszimmer lag. Eine Treppe gab
es nicht. Das Haus hatte keinen oberen Stock, und der Keller
war nur von außen zugänglich. Robert hatte die rustikale Bauweise des Hauses immer zu schätzen gewusst. Jetzt wusste er,
warum er das tat. Wohin der Einbrecher auch gegangen war:
Er saß in der Falle.
Wäre der Eindringling schlau gewesen, hätte er den langen
Weg den Flur hinunter zum Wohnzimmer genommen. Denn
dort gab es mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken. Auf der
anderen Seite wäre die Gefahr, dass Robert, während er am
Arbeitszimmerfenster gestanden war, etwas gehört hätte,
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größer gewesen, wenn der nächtliche Besucher den langen
Weg zum Wohnzimmer genommen hätte.
›Er muss also im Badezimmer sein!‹ Die Tür zum Bad stand
offen, aber Robert konnte in der Dunkelheit nichts erkennen.
Außerdem konnte durchaus auch jemand in der Ecke beim
Waschbecken stehen. Dann konnte er ihn von hier aus überhaupt nicht sehen. Robert hielt den Atem an und lauschte
konzentriert, in der Hoffnung, irgendetwas, und sei es nur ein
leises Atmen, aus dem Badezimmer zu hören. Nichts.
Robert spähte nach links um die Ecke zum Wohnzimmer.
Es war dunkel, sowohl auf dem Flur als auch im Wohnzimmer. Er konnte ohnehin wenig erkennen, da ihm der massive
Eichenschrank im Flur die Sicht versperrte. Er beschloss, es
zunächst im Badezimmer zu versuchen. Er konnte es riskieren, sich ein Stück auf den Flur hinauszuwagen und dem
Wohnzimmer kurzzeitig den Rücken zuzudrehen, da ihm der
Flurschrank ein wenig Deckung gab. Robert trat leise, aber
blitzschnell hinaus, wandte sich mit einer geschwinden
Drehung mit dem Rücken zum Schrank, richtete die Waffe
auf die offene Badezimmertür und feuerte zwei schnelle
Schüsse hintereinander in das Dunkel.
Unmittelbar nach dem zweiten Schuss sprang er hinein, die
Waffe nur noch in der rechten Hand haltend, schlug mit der
linken auf den Lichtschalter und warf mit seinem rechten Fuß
die Tür zu. Er wurde eines Schattens in der Dusche gewahr
und feuerte dreimal hintereinander durch die gläserne Duschtür. Das Glas zersplitterte mit einem kläglichen Klirren und
gab die Sicht auf ein großes Badetuch frei, das nun drei Löcher hatte. Er drückte sich gegen die Wand, seine Sicht war
vernebelt. Sein Herz pochte nun dröhnend in seinem Kopf.
Niemand stand in der Dusche. Niemand stand bei der Toilette. Niemand beim Waschbecken. Das Bad war leer.
Ihm wurde schwindlig. Sein Körper drohte, sich seiner
Kontrolle zu entziehen. Ihm wurde heiß und kalt zugleich,
seine Beine und seine Arme zitterten. Er spürte den Drang,
ohnmächtig zu werden ebenso stark wie den Drang, sich zu
übergeben. Er hatte einen schrecklichen Augenblick lang das
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Gefühl, seine Blase hätte ihm bereits den Dienst versagt, aber
mit einem Blick an sich hinunter stellte er fest, dass nichts
passiert war. Einzig seine Beine zitterten, als stünde er bei
dreißig Grad minus nackt im Schnee. Er hatte allerdings überhaupt kein Gefühl mehr in seinen Beinen und in der Lendengegend. Der Nebel über seinen Augen verdichtete sich, und
einen Moment lang dachte er wirklich, er würde hier in seinem Badezimmer ohnmächtig zusammenbrechen oder vielleicht sogar an einem Herzinfarkt sterben, während ein Einbrecher in Ruhe sein Haus ausräumte.
Robert nahm sich zusammen und zwang sich, ruhiger zu
atmen.
›Ich muss da raus‹, dachte er. ›Ich sitze hier im Bad in der
Falle. Selbst das Telefon ist im Wohnzimmer. Und mein
Handy ...! Mist, das liegt auch auf dem Wohnzimmertisch.‹
Er wusste, er musste raus auf den Flur. Er betrachtete seine
Hände und sah zufrieden, dass sie weniger zitterten als eben.
Er war zur Konfrontation mit dem unbekannten Angreifer
bereit. Wie viele Schüsse hatte er noch? In der Pistole war ein
frisches Magazin mit fünfzehn Schuss gewesen. Einen hatte
er vom Arbeitszimmer auf den Flur hinausgefeuert, zwei vom
Flur durch die Badezimmertür. Wie viele Schüsse hatte er in
die Dusche abgegeben? Zwei oder drei? Das Badetuch hatte
drei Löcher, es mussten drei gewesen sein. Sechs Schuss vergeudet. Neun hatte er noch. Die mussten reichen. Kurz entschlossen schoss er noch einmal durch die Badezimmertür,
falls sich doch mittlerweile jemand davor gewagt hatte.
›Nummer sieben‹, dachte er.
Er riss die Tür auf und sprang auf den Flur hinaus. Er
suchte Deckung hinter dem Flurschrank und blickte zum
Wohnzimmer. Er sah zu seiner Überraschung, dass in der
Stube Licht brannte. Nun hatte Robert endgültig Gewissheit,
dass noch jemand im Haus sein musste. Er hatte das Licht im
Wohnzimmer definitiv ausgemacht, und als er vorhin dorthin
gespäht hatte, war es noch dunkel gewesen.
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Robert tastete sich langsam hinter dem Flurschrank hervor.
Zuerst sah er nur einen Schatten im hell erleuchteten Wohnzimmer. Dann blickte er weiter zur Terrassentür.
An der Tür stand ein hochgewachsener Mann mit einem
weiten beigen Lodenmantel und einem großen braunen Hut.
Er stand mit dem Rücken zu Robert und starrte in die Nacht
hinaus.
Zögernd hob Robert die Waffe und ging auf die offene
Wohnzimmertür zu, die Pistole in seinen zitternden Händen
stetig auf den Mann an der Tür gerichtet.
»Keine Bewegung«, wollte Robert sagen, aber seine Stimme
versagte ihm, und nur ein leises Krächzen kam hervor.
Der Mann vor der Terrassentür rührte sich nicht. Robert
trat langsam durch die Tür ins Wohnzimmer ein. Er merkte
sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er plötzlich den
zweiten Schatten neben seinem eigenen sah. Es war nicht der
Schatten des Mannes an der Tür.
Der Schlag traf ihn hart auf den Hinterkopf. Robert wurde
nach vorne geworfen und fiel der Länge nach hin. Die Waffe
entglitt seinen Händen und schlitterte über den Parkettboden.
Er sah die Schritte des Mannes mit dem Hut und dem Lodenmantel auf sich zukommen. In einem letzten verzweifelten
Aufbäumen versuchte er, nach der Pistole zu greifen, aber der
Mann mit dem Hut kickte sie weg.
Der Hang zur Ohnmacht wurde stärker als vorher. Aber
sein Überlebensinstinkt hinderte ihn daran, das Bewusstsein
zu verlieren.
»Umdrehen«, flüsterte eine Stimme hinter Robert.
Benommen drehte er sich auf den Rücken. Er sah die
Person, die hinter ihm gestanden hatte, seine eigene Bratpfanne in der Hand. Erst als sich der Nebelschleier über seinen Augen etwas lichtete, begriff er, wen er da sah.
»Aber ...«, krächzte er.
Er riss den Kopf herum und sah den Mann mit dem Hut,
der seinerseits eine Pistole aus seiner Tasche zog.
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Roberts Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Nein!«, war
das Letzte, was er schreien konnte. Dann sah er nur noch das
Mündungsfeuer.
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_TEIL 1 ‐ DAS GEHEIME KIND _
__KAPITEL 1 _ Paul Keller blickte durch die Frontscheibe des
Wagens auf die flimmernde Luft über der Motorhaube. Er
seufzte. Der glutrote Griff des Sommers hielt die Hauptstadt
schon seit Tagen umklammert, und jeden weiteren Tag fielen
mehr Menschen der Hitze zum Opfer. Sogar die Wolkendecke, die sich am Vorabend wie eine schiefergraue Kuppel
über Berlin gespannt und kühlenden Regen versprochen
hatte, war verflogen, ohne dass ein einziger Tropfen gefallen
war. Anstelle angenehmer warmer Sommerluft waberte nur
zäher, staubiger Dunst durch die erstaunlich leeren Straßen.
Wer konnte, zog sich in klimatisierte Räume zurück, die zumindest die Illusion einer Abkühlung versprachen.
Sein Blick fiel auf den kleinen Thermostat zwischen den
fauchenden Lüftungsschlitzen der Klimaanlage. Eine hellorange leuchtende Achtunddreißig starrte zurück. Schnaufend
stieß Keller die Luft durch die Nase. Es reichte nicht, dass die
Leute umfielen wie die Fliegen. Die Hitze ließ zusätzlich die
Gemüter hochkochen. Und wenn diese sich Bahn brachen,
war meist alles zu spät. Eine nie gekannte Welle von Gewalt
und Zerstörung breitete sich über der Stadt aus. Und die endete nicht nur mit weiteren Todesfällen, sondern führte auch
dazu, dass er den verhältnismäßig kühlen Wagen verlassen
und in die sengende Sonne hinaustreten musste.
Mit einem weiteren Seufzer, der das Unvermeidliche aufschob, sank der Polizist in den Sitz zurück. Seine Hände kneteten das Lenkrad.
»Also, was erwartet uns jetzt? «, fragte er mit einem Blick
zur Seite.
Stefan Wedding, sein langjähriger und jüngerer Partner,
schlug ein schmales Notizbuch auf. Die aktuelle Seite war wie
immer mit einem Gummiband gekennzeichnet. Er schob den
darunter liegenden Kugelschreiber zur Seite.
»Zwei Tote«, las er über das fauchende Gebläse hinweg
vor. »Vermutlich Doppelmord. Eine Nachbarin hat sie gefunden und die Polizei verständigt.«
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Kellers Gesichtsmuskeln verhärteten sich. Den meisten
Leichen sah man an, ob ihr Tod natürlich oder herbeigeführt
war. Wenn so früh von Mord die Rede war, erwartete sie kein
schöner Anblick.
»Wie hat sie die Leichen gefunden?«, zögerte Keller den
Moment des Aussteigens weiter hinaus. Seine Hände hatten
inzwischen das Lenkrad losgelassen und waren in seinen
Schoß gesunken.
»Die Tür stand wohl offen.« Wedding klappte sein Notizbuch zu und warf einen Blick auf seinen Kollegen. »Vom
Rumsitzen kommen wir nicht weiter. Je schneller wir draußen
sind, umso eher sind wir wieder weg.« Ohne die Reaktion des
anderen abzuwarten, stieß er die Tür auf. Augenblicklich
umfing sie die sengende Hitze wie eine zweite, kochende
Haut. Automatisch griff Wedding nach seinem Hemdkragen
und zog die lockeren Enden weiter auseinander.
Keller kam um den Wagen herum. Zwischen seinen dünnen, nach hinten gekämmten Haaren glitzerten Schweißperlen, und sein Hemd hatte in der kurzen Zeit angefangen, sich
unter den Armen dunkel zu färben.
Anstatt den gepflasterten Steinweg zu benutzen, gingen sie
direkt über die gelbfleckige, vertrocknete Wiese. Ihr Ziel war
das mittlere von drei im Bogen stehenden Hochhäusern. Die
südwestliche Sonne ließ die Schatten der Monolithen nutzlos
zur Seite wegkippen. Neben jedem Haus gab es eine umzäunte Gruppe von Müllcontainern. Ganz rechts außen
außerdem ein metallenes Klettergerüst, das die Sonne weiß
glühend reflektierte. Sollte jemand dumm genug sein, das Metall zu berühren, würde er sich augenblicklich die Hände verbrennen.
Schwer atmend erreichten sie das Treppenhaus. Die Luft
im Innern war zwar abgestanden, brannte beim Luft holen
aber nicht mehr in den Lungen. Ein einzelner Tropfen rann
zwischen Weddings Schultern hinab und versickerte in seinem Hosenbund. Es kitzelte leicht. Keller war nicht besser
davon gekommen. Ein breiter dunkler Streifen zog sich senkrecht über seinen Rücken. Umständlich zupfte er den nassen
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Stoff von seiner nackten Haut, doch sobald er sich nach dem
Fahrstuhlknopf streckte, klebte das Hemd wieder an ihm fest.
Insgeheim war er froh, dass die Metalltür sein Spiegelbild nur
schemenhaft zurück warf. Er war Anfang 50, und trotz des
regelmäßigen Sports nagte der Zahn der Zeit an ihm. Sein
Bauch stand zu weit vor, der Haaransatz zu weit zurück. Zu
viel ungesundes Essen, Stress und unregelmäßiger Schlaf forderten ihren Tribut. Selbst unter normalen Umständen wäre
er nicht in der Lage gewesen, den kompletten Weg nach oben
die Treppe zu benutzen.
Während sie auf den Fahrstuhl warteten, zog Wedding sein
Handy hervor. »Wir sind am Wochenende übrigens gerade
mit dem Zimmer fertig geworden«, verriet er mit einem Blick
auf das Display, »gerade eben so. Die Ärzte sagen, es kann
jeden Augenblick losgehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Babyausstatter es in dieser Stadt gibt. Von
den Online-Anbietern gar nicht zu reden. Und bei jedem
Einzelnen bekommst du alles, was du brauchst. Am Ende bist
du also genau so weit wie vorher.« Als wäre es eine Bestätigung piepte das Handy einmal auf. Zufrieden ließ es Wedding wieder in die Tasche sinken. »Wenn die ganzen Kataloge
erst mal weg sind, glaube ich, haben wir eine viel größere
Wohnung.«
Keller nickte wissend, blieb aber stumm. Es gab nicht viel,
was er aus seinem Privatleben erzählen wollte. Außerdem
konnte er von diesen Dingen auch nichts berichten. Beziehungen waren seit Jahren kein Thema mehr für ihn.
Kratzend schob sich die Fahrstuhltür ineinander und riss
ihn so aus seinen Gedanken. Erst jetzt bemerkte er, wie verkrampft er innerlich war. Gemeinsam traten sie aus der muffigen Kabine.
»Bereit für die Show«, murmelte er leise.
Die erste Tote lag im Flur der Wohnung. Keller blieb einen
Augenblick vor der Tür stehen, die Augen geschlossen. Während er sich blind die weißen Latexhandschuhe überzog, versuchte er, alle Gefühle abzustellen. Noch einmal atmete er tief
ein. Dann schlug er die Augen auf.
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Das Bild der Toten sprang ihm förmlich entgegen. Weiblich, korpulent, das Alter schwer einschätzbar. Auf dem
Bauch liegend, das Gesicht zur Erde gedreht. Der schwarze
Griff eines Messers ragte aus ihrem Rücken, die Klinge fast
bis zum Heft in ihren Körper getrieben. Nur ein schmaler
silbriger Rand schimmerte zwischen dem getrockneten rotbraunen Fleck auf ihrer Kleidung und dem schwarzen Griff
hervor. Keller riss sich von dem kaleidoskophaften Anblick
der Leiche los und betrachtete den Rest der Wohnung. Vier
weitere Räume zweigten vom Flur ab. Durch die offene Tür
rechts konnte er das Ende eines Sofas sehen. Ein aufrecht
stehendes, gelbes Zahlenkärtchen mit der Nummer Vier
markierte eine Gruppe dunkler Spritzer an der Wand darüber.
Entgegengesetzt lag eine halb geöffnete Tür, hinter der das
Fußende eines Bettes zu sehen war. Dort liefen außerdem
Spurensicherer in weißen Papieranzügen und mit Überziehern
für ihre Schuhe umher. Immer wieder gerieten sie in Kellers
begrenzten Blickwinkel.
Auf der Längsseite ihm gegenüber lagen zwei weitere
Durchgänge. Der Linke führte durch einen bodenlangen Vorhang aus schmierigen Holzperlen in die Küche. Staubkörnchen tanzten im Licht vor grünen Schrankfronten mit dunkelbrauner Oberfläche. Der andere Durchgang musste dementsprechend ins Bad führen: Die eingelassene aufgeraute Glasscheibe ließ zwar nichts erkennen, doch das war der letzte
Raum, der insgesamt noch fehlte.
Eine Gestalt im weißen Papieranzug mit Kapuze kam aus
dem Schlafzimmer auf die Beamten zu. Was von dem eiförmigen Ausschnitt seines Gesichts noch freilag verschwand
unter einem fransigen Ziegenbärtchen.
»Wir sind gerade fertig geworden«, begann er direkt, ohne
sich mit einer Vorstellung aufzuhalten, »Die Leichen sind
schon freigegeben und werden gleich abgeholt. Jedenfalls war
vorhin schon jemand deswegen hier. Habt ihr die Sache
schon offiziell übernommen?«
Keller nickte knapp. Wedding zückte zusätzlich noch seinen Dienstausweis.
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»Die andere Leiche liegt im Wohnzimmer«, sagte der Mann
im weißen Overall mit einem Nicken. »Ist übel zugerichtet
worden. Ich meine, wirklich übel.«
Weddings Stift kratzte bereits über die Seite seines Notizbuches. Nun stoppte er, schwebte nur wenige Millimeter über
dem Papier. »Was soll das heißen?«
Der andere zuckte die Schultern. »Ich mein ja nur. Das
Ganze ist kein schöner Anblick. Aber seht euch das selbst an.
Wir haben ohnehin jede Menge Zeug gefunden, das erst noch
ausgewertet werden muss.«
Wedding schrieb weiter. »Wer hat sie eigentlich gefunden,
die beiden Toten?«
Der Kollege warf theatralisch die Arme in die Luft. »Ehrlich, Mann, keine Ahnung. Da müsst ihr bei der Meldestelle
nachfragen. Die Notrufzentrale sollte das eigentlich wissen.
Wir räumen nur das zusammen, womit ihr nachher den Täter
fangt.«
Statt einer Antwort drückte Wedding auf den Knopf seines
Kugelschreibers. Geräuschvoll verschwand die Mine im
Inneren des Stifts. »Okay. Danke«, sagte er säuerlich.
Der andere drehte sich schon wieder um. »Also, wenn das
alles ist, fangen wir an einzupacken. Ihr bekommt dann unseren vorläufigen Bericht, sobald er fertig ist.«
Keller hatte sich früher aus dem Gespräch gelöst. Er war
schon halb den Flur hinabgegangen, als sein Partner ihm
schließlich folgte. Als Erstes fiel ihnen die Einrichtung auf.
Oder was davon übrig war. Das Sofa war zum Teil von der
Wand abgerückt und stand schief im Raum. Braune Sprenkel
zogen sich im weiten Bogen über den groben Stoff und die
Wand dahinter. Der übergroße Fernseher lehnte umgestürzt
in einer Ecke. Dunkle Striemen getrockneten Blutes klebten
daran, ebenso wie an dem umgestürzten Sessel vor der Heizung. Auf dem winzigen Raum dazwischen, auf den zertrümmerten Resten eines Tisches, erwartete sie der zweite Tote.
Unwillkürlich machte Keller einen weiteren Schritt auf den
Leichnam zu, akribisch darauf bedacht, nichts zu berühren.
Als er die blutige Masse sah, die einmal ein Gesicht gewesen
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war, zog sich krampfhaft sein Magen zusammen. Plötzlich
verstand er, warum so selbstverständlich von Doppelmord
die Rede gewesen war. Die eine konnte sich nicht selbst erstochen haben, und der andere sah aus, als hätte er in ein
Schrotgewehr geguckt. Was von seinem linken Auge übrig
geblieben war, lag tief in der Höhle eingesunken. Die Pupille
und der weiße Rand darum waren mit einem rosafarbenen
Film überzogen. Das andere Auge fehlte vollständig.
Keller ging in die Hocke und lehnte sich etwas zurück. Der
Gestank, der von dem Toten ausging, war schon jetzt atemraubend. Die Nase, der Mund, die Wangenknochen – einfach
alles, was einem Gesicht die typische Form gab, war nur noch
ein aufgeplatzter, blutiger Krater. Kleine Fliegen krochen
über die schartigen Wundränder. Und als perverser Kontrast
ragte die weiße Spitze eines abgebrochenen Zahns aus der
schwarzen Höhle, die sein Mund gewesen war. Blutstropfen
an der Wand hinter ihm bildeten einen grotesken Heiligenschein. Der Rest des Körpers schien allerdings nahezu unversehrt.
Keller schluckte trocken und wandte sich ab. Im Laufe der
Jahre hatte er schon öfter Menschen gesehen, die so zugerichtet worden waren. Sogar mehr als das. Doch der Leichnam eines zu Tode geprügelten Menschen ließ ihn immer
noch nicht kalt.
Sein Blick fiel durch die letzte Tür. In dem fast völlig leeren
Raum hockte ein weiterer Mann im weißen Overall und untersuchte einen Fleck auf dem nackten Estrichboden.
Hier war der Gestank sogar noch penetranter als in der
restlichen Wohnung. Verbrauchte, stickige Luft mischte sich
mit dem beißenden Ammoniakgeruch von abgestandenem
Urin und etwas, das man nicht so genau definieren wollte. Jedes Zimmer wirkte vernachlässigt und schmutzig, aber keines
war so heruntergekommen wie dieses. Mit angehaltenem
Atem wagte er einen kurzen Blick hinein. Die Fenster waren
von innen mit schwarzer Folie verklebt, das Licht fiel nur
schwach hindurch. Die beiden Männer von der Spurensicherung hatten einen Standscheinwerfer aufgebaut, um
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besser arbeiten zu können. Keller bemerkte die ausgefransten
Ränder der grauen, nackten Raufasertapete, als hätte jemand
nachträglich einzelne Stücke herausgerissen.
Er räusperte sich übertrieben laut, um den galligen Geschmack von seiner Zunge zu bekommen. Als einer der beiden Männer zu ihm aufsah, zeigte er auf die Tapetenränder.
»Kann das ein Haustier gewesen sein?«
Der Größere zuckte mit den Schultern. »Möglich«, murmelte er unter der ovalen Papiermaske über seinem Mund
hervor. »Aber dann hat er die Stücke wohl gefressen. Herumliegen tut hier nämlich nichts. Und das passiert allein wegen
des Kleisters eher selten.«
Keller sah zur Decke hinauf. Das weiße Kabel, das sich wie
ein verendeter Wurm aus der Decke schlängelte, endete in
einem roten und einem blauen Draht. Keine Glühbirne. Keine Fassung. Noch nicht einmal eine Sicherung. Nur die blanken Kupferspitzen. »Nicht gerade ein Tierfreund«, murmelte
er, einen Blick über die gebeugte Gestalt werfend. »Gibt es
hier sonst noch etwas?«
»Eine Kindermatratze, ziemlich verdreckt allerdings. Ist
schon unterwegs ins Labor. Und zwei Decken, die waren
auch ganz schön mitgenommen.«
Wedding kam um die Ecke und betrachtete das zweite
Opfer. »Hast du so was schon mal gesehen?«
›Ja‹, dachte er, ›aber es wird niemals besser.‹ Jedoch sagte er:
»Nein, in der Art noch nicht.«
Der Jüngere nickte in den leeren Raum. »Und was hältst du
davon?«
Keller zog sich die Handschuhe aus und wischte sich die
feuchten Hände an den Hosenbeinen ab. »Was immer da drin
war: Nicht gerade artgerechte Haltung.«
Einige Zeit später folgte Keller dem geschwungenen Bogen
der Ringstraße zurück auf dem Weg ins Präsidium. Sie hatten
noch den Abtransport der Leichen abgewartet, sich danach
aber sofort auf den Weg gemacht. Alle vorläufigen Ergebnisse würden sich erst bei der Obduktion ergeben. Ein un11
dankbarer Job, bei der mindestens einer von ihnen ebenfalls
anwesend sein musste.
Keiner von ihnen war negativ gestimmt, den Tatort verlassen zu müssen. Der beißende Gestank hatte sie bis in den
Wagen verfolgt. Obwohl die Klimaanlage bereits wieder auf
Hochtouren lief, klebte der Geruch weiterhin wie zäher Lack
in der Nase.
»Okay, die beiden hießen Schaack«, ging Wedding seine
Notizen durch, »das stand zumindest auf der Post. Sein Vorname war Thomas. Ihr Vorname fehlt noch. Im Schlafzimmer stand ein Hochzeitsfoto. Die Aufnahme war etwas älter,
aber die Frau auf dem Bild war definitiv die Tote. Bei ihm
lässt sich das natürlich nicht so ohne Weiteres sagen.« Er
klappte sein Buch zu. »Und das war es auch schon. Den Rest
müssen wir über die Ämter herausbekommen. Außerdem
werden die Nachbarn noch befragt. Bei zwölf Etagen wird
das allerdings eine Weile dauern.«
Keller lenkte den Wagen im Bogen über die Fahrbahn.
»Fangen wir mit der Frau an und dem, was wir wissen. Sie lag
auf dem Bauch, mit dem Messer im Rücken.«
»Ihre Arme waren nach vorn weggestreckt«, ergänzte Wedding, »was bedeutet, sie ist aus der Bewegung heraus gestürzt.
Vermutlich wurde sie von hinten angegriffen ...«
»... und zu Boden gerissen. Demnach wäre sie auf der
Flucht gewesen. Vom eigentlichen Angriffspunkt weg, der
wohl im Wohnzimmer lag.«
»Würde dazu passen, wie es dort aussah.« Wedding drehte
die Klimaanlage runter, um sich trotz des Geräusches besser
unterhalten zu können. »Im Flur habe ich auf Anhieb keine
Kampfspuren entdecken können. Es muss sehr schnell gegangen sein. Dafür musste der Täter das Messer aber die
ganze Zeit bei sich getragen haben. Die Zeit, es erst irgendwo
herzuholen, hatte er nicht mehr.«
»Also hatte er entweder von Anfang an geplant, sie zu
töten, oder es zumindest nicht ausgeschlossen.« Keller wischte sich über die Stirn. Es war stickig und heiß im Innern des
Wagens, und sein Hemd klebte an ihm. Aber er ließ die
12
Klimaanlage, wie sie war. Viel ausrichten konnte sie ohnehin
nicht. »Die Tote lag aber ein Stück hinter der Tür, als wäre sie
daran vorbeigelaufen. Wieso ist sie nicht einfach ins Treppenhaus geflüchtet?«
Wedding hatte den Kugelschreiber zwischen die Zähne geklemmt und ließ ihn auf und ab wippen. »Der Leichenbeschauer hat gesagt, die Knie und Oberschenkel waren aufgeschürft. Der Mörder ist schon vorher in sie hineingerannt,
und der Aufprall hat sie weiter nach vorn geschleudert. Dazu
gehört einiges an Kraft, die Tote war nicht gerade zierlich.«
»Der Täter muss ohnehin ziemlich stark sein. Er hat zwei
Leute umgebracht, einen davon anscheinend zu Tode geprügelt.«
»Genau das verstehe ich nicht.« Keller warf einen Blick in
den Seitenspiegel und wechselte die Spur. »Da ist zunächst die
Frau. Sie rennt aus dem Wohnzimmer hinaus und wird erstochen. Und ihr Mann bleibt seelenruhig vor dem Fernseher
hocken, bis er dran ist? Würdest du sitzen bleiben, wenn
deine Freundin angegriffen wird?«
Der Stift hörte auf zu tanzen und verharrte in einer schrägen Bahn nach oben. »Du wirst dir wohl denken können, was
ich machen würde.«
»Und das meine ich. Jeder würde irgendetwas tun. Aber
nicht dumm herumsitzen. Thomas Schaack machte einen
kräftigen Eindruck. Er hätte problemlos dazwischen gehen
können, wenn er gewollt hätte.«
Der Stift tanzte weiter. »Zum Fluchtzeitpunkt konnte der
Mann keine Gefahr dargestellt haben. Entweder wurde er von
einer zweiten Person in Schach gehalten oder war anders
außer Gefecht gesetzt. Ihn so zuzurichten hat eine kleine
Ewigkeit gedauert. Bis dahin hätte die Frau einmal durch das
ganze Haus laufen können.«
Inzwischen hatten sie sich der Innenstadt so weit genähert,
dass die ersten Dächer ihres Ziels aufblitzten. Wedding kramte in seiner Tasche und warf einen erneuten Blick auf sein
Handy. »Es gab keine Einbruchsspuren an der Tür«, sagte er,
als würde er die Information gerade vom leeren Display ab13
lesen. »Der Angriff fand aber so tief in der Wohnung statt,
dass Täter und Opfer sich wahrscheinlich kannten.«
»Es würde mich wundern, wenn nicht. Da ist jemand mit
einer Riesenwut herangegangen.« Keller nickte bestätigend zu
seiner eigenen Theorie. »Die Sache mit Thomas Schaack war
bestimmt etwas Persönliches. Es wäre nicht das erste Mal,
dass ein Treffen so endet. Die Frau war womöglich bloß im
Weg.«
»Trotzdem trug einer der Täter das Messer von Anfang an
bei sich. Es ist also nicht einfach nur eine Situation außer
Kontrolle geraten. Zumindest einer der Morde geschah vorsätzlich.«
»Wir sollten die kompletten Tagesabläufe kontrollieren.
Alles, was sich in irgendeiner Art wiederholt hat und wo man
immer wieder mit denselben Personen in Kontakt kommt.
Stammtischrunden, der Weg zur Arbeit, Mittagspausen,
Joggingstrecken ...« Keller stoppte kurz und warf einen
Seitenblick zu seinem Partner. Der Stift sank von oben rechts
nach unten links.
»Okay, Joggingstrecken können wir wohl streichen. Und
wir brauchen natürlich die Liste der Angehörigen. Vielleicht
wissen die etwas, was uns weiterhilft.«
Weddings Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, eine
Todesnachricht überbringen zu müssen. Er hatte schon von
Kollegen gehört, die von den Hinterbliebenen angegriffen
und ernsthaft verletzt worden waren. Während er seine Liste
noch einmal durchging, umrundete Keller den letzten Kreisverkehr beinahe völlig. Die Fliehkraft schob sie sanft in ihren
Sitzen zur Seite.
Während sie die Toreinfahrt des Präsidiums passierten,
fasste Wedding noch einmal zusammen: »Also, aufgrund der
Situation gehen wir erst einmal von zwei Tätern aus, von
denen zumindest einer aus dem näheren Umfeld der Toten
stammen muss. Außerdem benötigen wir noch den Vornamen der Toten. Die meisten Ergebnisse fehlen uns noch,
sodass wir auf Autopsie und Spurensuche warten müssen.« Er
14
klappte sein Notizbuch mit einem leisen Geräusch zusammen. »Wenigstens die Toten laufen uns nicht davon.«
__KAPITEL 2_ Abrupt schnellte die schlanke, sehnige Faust
nach vorn und grub sich tief in den nachfedernden Schaumstoff. Die königsblaue Oberfläche, eben noch flach wie die
ebene, sich spiegelnde Fläche eines Sees, wölbte sich unter
dem Druck nach innen wie ein mit Kunstleder überzogener
Krater. Mit einem leisen Zischen wich die Luft aus dem
Schaumstoff im Inneren des Kissens, ehe die Person auf der
Rückseite des Materials einen unsicheren Schritt nach hinten
wankte. Sofort setzte die junge Frau nach, wie sie es in
endlosen Stunden gelernt hatte, kanalisierte ihre Kraft in
einem lauten Schrei, ehe ihre andere ebenfalls zur Faust geballte Hand vorschnellte und nochmals das Zentrum des
Rechtecks traf. Wieder taumelte das Kissen von ihr weg und
zwang sie, mit einem weiteren Schritt nachzusetzen. Ihre Bewegungen erfolgten wie von selbst, ohne dass es ihr wirklich
auffiel. Als sie ihre Hand zurück zog, um erneut die andere
einzusetzen, ertönte plötzlich ein schriller Pfiff in der Halle.
Augenblicklich verstummte der Kampflärm um sie herum.
Alle Zweiergruppen ließen ihre Arme sinken, die sperrigen
Schaumstoffkissen sanken zu Boden und gaben den Blick auf
die Trainingspartner frei. Alle wandten sich dem Mann zu,
der die Gruppe vom Rand des Feldes aus die Gruppe beobachtet hatte.
»Das war sehr gut! Zehn Minuten Pause für alle!«, brüllte
er. Und fügte durch das widerhallende Echo hinzu: »Braun!
Zu mir.«
Die junge Frau warf einen fragenden Blick über die Schulter zu ihrer Trainingspartnerin. Das schmale Gesicht hinter
der Schlagfläche blickte ebenso fragend zurück. Mit einem
Achselzucken legte sie diese auf dem mit Matten ausgelegten
Boden ab. Doch als sie gemeinsam auf den Rand des Feldes
zugingen, hob ihr Trainer abwehrend die Hand. »Nein, nur
15
_PROLOG Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft. Graue Wolken
verdunkelten den ohnehin trüben Nachmittagshimmel, aber im Park
wehte nicht ein Lüftchen.
Ich blieb stehen, um auszuschnaufen, suchte dabei mit den Augen die
Grünflächen ab, die durch einzelne Haselnussstauden unterbrochen wurden, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Der Park war menschenleer. Und es war ungewöhnlich still. Außer dem Kies, der unter meinen
Schuhen knirschte, und meinem heftigen Atem vernahm ich nichts. Ohne
es zu merken, war ich die letzten Kilometer viel zu schnell gerannt.
Genauer gesagt seit der Brücke unten am Fluss, wo mich zum ersten Mal
das Gefühl überkommen war, nicht alleine zu sein.
Eine Schweißperle lief mir übers Gesicht. Obwohl mir eigentlich heiß
hätte sein sollen, fröstelte es mich. Ich zog mir die Weste über, die ich mir
um die Hüften gebunden hatte, dann lief ich weiter.
Es gab keinen Grund für mein Unbehagen, sagte ich mir. Er wusste
nicht, wo ich war. Er konnte es gar nicht wissen. Und wenn doch?
Im Laufen sah ich mich noch einmal um, schüttelte dann den Gedanken
von mir. Bestimmt war es meine Psyche, die mir einen Streich spielte.
Vielleicht war ich es, die nun durchzudrehen drohte. Vielleicht sollte ich
doch Dr. Lindners Angebot annehmen und ein paar Therapiestunden bei
ihm in Anspruch nehmen. Vielleicht würde es mir gut tun.
Ich kam zu einer Parkbank am Ufer des Ententeichs. Nicht eine Welle
trübte die Wasseroberfläche. Die zunehmend kahler werdenden Buchen,
die das Ufer säumten, spiegelten sich in einer Klarheit im Wasser, die ich
an jedem anderen Tag wohl als atemberaubend empfunden hätte. Heute
aber ließ sie mich schaudern.
Ich setzte mich, versuchte, an etwas anderes zu denken, aber es gelang
mir nicht recht. Ein Knacken in der Haselnussstaude hinter mir ließ mich
hochschrecken. Mein Puls, der sich gerade beruhigt hatte, schnellte in die
Höhe, und ich vergaß zu atmen.
Abgesehen von einem Vogel, der am Boden im Gebüsch nach etwas
Essbarem suchte, war da nichts, was mir auffällig erschien. Trotzdem
entschied ich mich, aufzubrechen. Keine Sekunde länger wollte ich noch
hierbleiben.
Ich war nur wenige Meter gelaufen, als etwas meinen Arm ergriff und
mich herumwirbelte. Entsetzt starrte ich in seine Augen, die mich anblitzten wie die eines Raubtieres, das gerade seine Beute erlegt hatte. Sein
Mundwinkel zuckte, und er grinste, aber sein Blick durchbohrte mich, als
hätte er mir einen Dolch durch den Schädel gerammt.
Seine Hand fühlte sich an wie Stahl, der sich um meinen Unterarm
gewickelt hatte. Ich machte erst gar nicht den Versuch freizukommen,
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konzentrierte mich viel eher darauf, mir meine Angst nicht anmerken zu
lassen.
»Was willst du?« Ich wollte kühl und überlegen klingen, aber meine
Worte hörten sich an wie hilfloses Keuchen.
»Mit dir reden«, erwiderte er, als wäre es das normalste auf der Welt.
Mein Blick fiel auf den Blumenstrauß, den er mit den Blüten nach unten
hängend in der anderen Hand trug. Rote Rosen.
Er schien es zu bemerken, denn er ließ von mir ab, streckte mir den
Strauß entgegen und fiel auf die Knie. Mir blieb keine Zeit, mich über das
schicke Hemd und die Krawatte an ihm zu wundern, denn ich wusste
bereits, was nun kommen würde.
»Heirate mich!«
Siegesgewissheit und Verzweiflung wechselten sich in seinem Ausdruck
ab. Je länger ich dastand und ihn anstarrte, umso mehr nahm jedoch die
Verzweiflung überhand. Die Festigkeit in seiner Stimme schwand: »Wir
fangen noch mal ganz von vorne an. Nur du und ich.«
Wut machte sich in mir breit, vielmehr aber noch Verachtung. Ich funkelte ihn an, nicht sicher, ob ich ihn anschreien oder einfach links liegen
lassen sollte.
Seine Augen wurden groß. Er zog die leicht zitternden Brauen zusammen. »Bitte«, flehte er. »Gib mir eine Chance. Ich habe mich geändert. Ich
beweise es dir!«
Ein Teil von mir fühlte mit ihm, wollte nichts mehr, als ihn in den Arm
zu nehmen und zu trösten. Der andere wollte ihm ins Gesicht schlagen,
ihn anbrüllen. Doch ich tat weder noch. Ich schüttelte nur den Kopf.
Seine Schultern sackten nach vorne. »Verzeih mir doch«, flüsterte er.
»Ich mach es wieder gut. Versprochen.«
Beinahe hätte mir sein Anblick das Herz zerrissen. »Nimm deine Blumen und verschwinde«, sagte ich diesmal deutlich bestimmter.
Sein Blick wurde leer, seine Miene versteinerte sich. Die Rosen fielen
neben ihm auf den Kies, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Als ich gehen wollte, kam er mir zuvor. »Warte!« Er sprang auf, streckte
seine Hand nach mir aus.
Instinktiv wich ich zurück. Mit verschränkten Armen, die Fingernägel in
meine Weste gekrallt, blieb ich vor ihm stehen. »Was muss noch passieren,
damit du es endlich kapierst?«
Etwas in seinen Augen blitzte auf. »Nun stell dich nicht so an«, sagte er
und trat näher an mich heran.
Flüchtig sah ich mich um, aber außer uns war niemand hier. Dann fiel
mir ein, dass mein Handy zuhause auf dem Küchentisch lag.
6
»Lass dich hier nie wieder blicken!« Was eine Drohung hätte sein sollen,
klang eher nach einer ängstlichen Bitte. »Sonst rufe ich die Polizei«, fügte
ich noch hinzu.
Er legte den Kopf schief und hielt einen Moment lang inne. Dann
verzog sich sein Mund zu einem hämischen Grinsen. Meine Fingernägel
bohrten sich noch tiefer in die Weste. Mir war längst klar, dass er wusste,
dass ich nie mit Handy joggen ging.
»Ich meine es Ernst«, sagte ich. Bemüht, keine hektischen Bewegungen
zu machen, wand ich ihm den Rücken zu und ließ ihn stehen.
Nur jetzt keine Schwäche zeigen, dachte ich. Mir nur nicht anmerken
lassen, dass ich Angst habe und am liebsten davonlaufen würde. Wenngleich es ohnehin keinen Sinn gemacht hätte.
Ich hörte ihn rasch näher kommen. Ich drehte mich um, da hatte er
schon meinen Arm gepackt.
»Lass mich los!«, schrie ich und stemmte mich mit meinem ganzen
Gewicht gegen ihn. »Du tust mir weh!«
Er zog mich zu sich, kam mit seinem Gesicht nahe an meines heran.
»Nicht so weh, wie du mir tust.« Sein Mundwinkel zuckte wieder.
Ein letztes Mal suchte ich die Gegend nach Leuten ab.
»Gib es auf«, sagte er. »Hier ist niemand. Nur du und ich.« Dabei hielt er
mich so fest, dass meine Finger taub wurden.
»Verdammtes …!« Irgendwie gelang es mir, mich loszureißen. Wahrscheinlich, weil er es so wollte. Er spielte mit mir. Wie eine Raubkatze, die
ihre Beute ziehen ließ, nur um erneut in den Genuss zu kommen, ihr
nachzustellen.
Wie in einem Traum, in dem man zu laufen versuchte, seine Beine aber
nicht gehorchten, rannte ich unbeholfen davon. Ich stolperte, kam viel zu
langsam wieder hoch, lief weiter. Ich durfte nicht nach Hause. Nicht mal
mehr dort würde ich dann noch sicher vor ihm sein. Doch wahrscheinlich
wusste er ohnehin längst, wo ich wohnte.
Gerade, als mir der Gedanke kam, dass er mich mit ziemlicher Sicherheit eingeholt hatte, bevor ich überhaupt das Ende des Parks erreicht
hätte, traf mich etwas Hartes am Schädel. Ich stürzte zu Boden, blieb mit
dem Gesicht nach unten im Gras liegen. Ich spürte einen stechenden
Schmerz am Hinterkopf, etwas Warmes lief mir über die Stirn. Intuitiv
fuhr ich mir durchs Haar, zog die blutverschmierte Hand zurück.
Gerade, als ich mich fragte, ob ich das alles träumte, hörte ich seine
Stimme: »Du Dummerchen, jetzt hast du dir auch noch den Kopf
gestoßen! Dabei solltest du doch wissen, dass du vor mir nicht davonlaufen kannst.«
Er stand über mir und blickte auf mich herab. Dann kniete er sich zu
mir und berührte mich an der Nasenspitze. »Siehst du, nun blutest du
7
auch noch. Du solltest besser auf mich hören, dann passiert so etwas erst
gar nicht.«
»Fass mich nicht an!« Ich stieß seine Hand zur Seite.
Seine Pupillen zogen sich zusammen, seine Miene verfinsterte sich. Er
deutete an sich hinab. »Denkst du wirklich, ich habe mich umsonst für
dich in Schale geworfen? Denkst du wirklich, ich lasse mich von dir schon
wieder zum Narren halten?«
Alles, was mir in den Sinn kam, war weglaufen. Beinahe vergnügt sah er
mir dabei zu, wie ich mich hochrappelte. Ich hörte das Blut in meinen
Ohren rauschen. Dazu mein panisches Keuchen, sein Lachen im Hintergrund. Ich rannte so schnell ich konnte. Kurz darauf riss mir etwas die
Beine weg, und ich fiel erneut.
Diesmal sprang er auf mich und nahm mich von hinten in den Schwitzkasten.
»Was hast du vor?«, fragte ich nach Luft ringend.
»Du kleines Biest entkommst mir nicht mehr«, sagte er und drückte
noch fester zu. Ich meinte, zu ersticken, wand mich in alle Richtungen. Er
ließ los, presste mir im gleichen Moment ein nasses Tuch auf Mund und
Nase, und ich sog einen süßlichen Geruch ein.
»Gut so«, hörte ich ihn noch sagen. »Jetzt gehörst du mir.«
WKAPITEL 1W Wir spannten die Pferde ein. David nahm Darius, ich
Manza’s Boy. Es war klirrend kalt. Die Sonne ging gerade auf und verzauberte die Landschaft in eine glitzernde Märchenwelt. Die Pferde
schnaubten, der Atem aus ihren Nüstern gefror, sobald er an die Luft kam
und blieb in Form von kleinen Kristallen an den Barthaaren hängen. Der
Schnee knirschte unter den Hufen, die Schlitten glitten geschmeidig hinterher. Dann plötzlich ein Schlag, der mich beinahe aus dem Sitz katapultierte. Manza’s Boy, der vor Schreck aus der Spur ausbrach und außer
Kontrolle davongaloppierte. Die Leinen, die mir das Blut in den Fingern
abschnürten, die Muskeln in meinen Armen, die vor Schmerz brannten.
Panik, als sich die Straße näherte. Meine Lippen, die sich bewegten, aber
keinen Ton hervorbrachten. David, der mir hinterherbrüllte.
Ein Klopfen an der Bürotür ließ mich hochfahren. Ich brauchte ein
paar Sekunden, um zu realisieren, dass ich eingeschlafen war.
»Moment!«, rief ich und strich mit ein paar hektischen Handgriffen die
blonden, Schulterlangen Strähnen aus dem Gesicht und band mir bei
einem prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand gegenüber den Pferdeschwanz neu. Dunkle Augenringe sahen mir entgegen, und das, obwohl
8
Das böse Zimmer – Teil 1
von Hendrik Buchna
MEIN NAME IST FRANK MORGAN, geboren am
19. Dezember 1926 in Lakewood, New Jersey. Studium
der Medizin und Psychologie an der Universität von
Virginia, Abschluss 1956. Forschungsaufträge und
berufliche Tätigkeit an verschiedenen Kliniken und
psychiatrischen Einrichtungen in Richmond, Philadelphia und Arlington. Zwei gescheiterte Ehen, keine
Kinder. Seit 38 Jahren praktizierender Psychotherapeut
und forensischer Berater am ›Kennedy Medical Center‹
in Porterville, Talbot County, Maryland … und heute
beim letzten Versuch gescheitert, aus dieser Stadt zu
entkommen.
Eine freie und sichere Kommunikation ist nicht
möglich. Deshalb verwende ich dieses ProtokollTonband, um zu berichten, was ich gesehen und erlebt
habe. Ich tue dies in der schwachen Hoffnung, dass
dieses Dokument auf irgendeinem Weg nach außen
gelangen wird – weit fort von hier. Jenseits der Wälder.
Vielleicht wird dieses Tonband ja eines Tages dazu
beitragen, die schockierenden Ereignisse aufzuklären,
deren ich Zeuge wurde. Ein Zeuge, der eingreifen wollte
und es nicht konnte. Und dessen Flucht nun dort endet,
wo sie heute Morgen ihren Anfang nahm.
Alles war vorbereitet. Die Fahrkarten nach Baltimore
waren gekauft und die Spuren verwischt. Zur Sicherheit
hatte ich ein ganzes Abteil reserviert. Eine vollkommen
törichte Maßnahme. Aber in meiner Paranoia glaubte
ich, so die Möglichkeit auszuschließen, dass er sich
plötzlich neben mich setzt. Es fällt mir schwer, dies
einzugestehen, aber auf der Fahrt zum Bahnhof war ich
30
tatsächlich guten Mutes gewesen – sogar wild entschlossen. Ich hatte die ganze Aktion zigmal im Geist
durchexerziert, jede auch noch so geringfügige Unwägbarkeit bedacht. Keine Spur von Kurzschlussreaktion
oder kopfloser Hektik, obwohl ich mir im Nachhinein
wünschte, es wäre so gewesen. Dann wäre es jetzt einfacher für mich. Einfacher deswegen, weil mein Fluchtversuch nur das Produkt eines umnebelten Augenblicks
gewesen wäre. Geboren in Panik, Trunkenheit oder
Idiotie. Gescheiterte Schwäche wiegt längst nicht so
schwer wie zerbrochene Stärke. Im Rückblick erscheint
manche Erkenntnis geradezu erschreckend trivial. Ich
habe als Gefangener dieser Stadt gelernt, mich gegen
alle riskanten Gefühlswallungen zu schützen. Alle … bis
auf die eine. Die gefährlichste, tödlichste: Hoffnung.
Gegen ihre Verführungskraft sind selbst die größte
Furcht und der schärfste Intellekt machtlos. Der heutige
Tag kündet in leuchtenden Lettern davon.
Nun bin ich wieder hier, sitze am Schreibtisch und
warte darauf, dass der Single-Malt seine Wirkung tut.
Für das schwere Geschütz aus dem Medikamentenschrank ist später noch Zeit. Obwohl ich alle Heizungen
aufgedreht habe, ist es eisig kalt. Wahrscheinlich wird es
nicht mehr lange dauern, bis auch der Strom ausfällt.
Man hat entschieden, den Fremdkörper zu isolieren und
auszusondern. Aus deren Sicht durchaus nachvollziehbar. Ich hatte meine Chance dazuzugehören und habe
sie mutwillig verspielt.
Wie sagte mein alter Freund Dr. Barrett doch immer:
»Gib einem Narren Bürgerrecht, und er fällt in den
Dorfbrunnen.«
Dass ich die ganze Zeit selbst dieser Narr gewesen
bin, ist mir leider erst viel zu spät klar geworden. Seit
dem heutigen Tag sind solche Überlegungen aber ohnehin überflüssig. Nach so langer Zeit auf der Suche nach
31
dem Unbekannten sind die Erinnerungen zu ständigen
Begleitern geworden. Und wüsste ich nicht, dass es
unmöglich ist, so würde ich glauben, dass seine leuchtenden Augen mich in diesem Moment hinter dem
Lampenschirm oder aus dem verglasten Wandschrank
heraus anstarren. Ungeduldig und erwartungsvoll. Es
mutet wie bittere Ironie an, dass dieser ganze Irrsinn in
vollkommener Unschuld seinen Anfang nahm.
Der Erste, der mich nach einem Ort namens Darkside
Park fragte, war Scott Harrison, ein kleiner Junge von
der ›Junior High‹. Das war Ende der 60er, irgendwann
im Frühsommer. Hin und wieder habe ich mich in einer
stillen Stunde gefragt, wie die Dinge wohl verlaufen
wären, wenn es diesen Moment nie gegeben hätte.
Gewiss wäre ich jetzt an einem anderen Ort, und Scotts
Eltern hätten noch einen Sohn. Heute weiß ich, dass wir
an jenem schicksalhaften Tag den seidenen Faden eines
gewaltigen Netzes berührt hatten. Und weit entfernt in
dessen Mitte war die riesenhafte Spinne erneut aus
tiefem Schlaf erwacht. Sie jagt noch heute.
Doch der Reihe nach: Alles begann an einem wolkenverhangenen Junitag. Ich war wenige Wochen zuvor
von Arlington ins beschauliche Porterville gezogen,
nicht zuletzt um Abstand zu meiner zweiten ruinierten
Ehe zu bekommen. Ende Mai begann ich dann meinen
Dienst als Assistenzarzt am ›Kennedy Medical Center‹.
Zeitgleich arbeitete ich an einem Forschungsbericht
über die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen. Mein damaliger Mentor, Dr. Joseph Barrett,
hatte zu diesem Zeitpunkt einen kleinen Jungen in
Therapie, der nach einem schweren Schockerlebnis stationär behandelt werden musste: Scott Harrison. Er und
sein bester Freund Toby Jenkins waren eines Tages vom
Spielen nicht nach Hause gekommen. Als sie auch am
32
Abend noch nicht zurück waren, begann die Suche nach
ihnen. Zwei volle Tage und Nächte lang durchkämmten
Polizei und Hunderte Freiwillige jeden Quadratzentimeter von hier bis Denton, doch ohne Erfolg. Am
Morgen des dritten Tages fand man Scott schließlich
allein durch den Shaden Forest irren. Als man ihn aufgriff, stand er unter schwerem Schock und redete wirres
Zeug von bösen Augen und fremden Männern, die er
gesehen habe. Sein Freund Toby blieb weiterhin spurlos
verschwunden, obwohl die Suche unvermindert fortgesetzt wurde. Sobald Scott wieder zurück in der Stadt
und in ärztlicher Behandlung war, brachen seine hysterischen Selbstgespräche plötzlich ab. Physisch war er
unverletzt, doch er wies schwere dissoziative Störungen
auf und verweigerte jeden Versuch, mit ihm über das
Erlebte zu sprechen. Da Barrett ein Verfechter der
medikamentösen Therapie war, behandelten wir Scott
zunächst mit Imipramin, später dann mit Seroxat und
einem gering dosierten Neuroleptikon, jedoch mit wenig
Erfolg. Flankierend versuchte ich, psychotherapeutisch
auf den Jungen einzuwirken.
Nach etwa einem Monat schien der Panzer, mit dem
sich Scott gegen die Außenwelt abgeschottet hatte, endlich erste Risse zu bekommen. Wir befanden uns gerade
auf dem Spielplatz der Klinik, den ich als festen
Bestandteil in meinen Behandlungsplan integriert hatte.
Außer uns waren noch drei weitere Kinder dort, zwei
Jungen und ein Mädchen – alle zwischen zehn und
zwölf Jahre alt. Ich weiß noch, dass es ein sehr schwüler
Tag war und die Kinder träge in den Schaukeln hingen,
während ich versuchte, Scott zu einem Ausflug auf das
Klettergerüst zu animieren. Er wollte jedoch lieber mit
seinem roten Flugzeug spielen, das er ständig bei sich
trug und mit dem er sich stundenlang beschäftigen
konnte. Es war ein kleiner Plastik-Doppeldecker, auf
33
dessen Bug ein weißer Vogel gedruckt war. Schließlich
steckte Scott ihn aber doch ein und erklomm widerwillig
das Gerüst. Obwohl ich das Mädchen nicht kannte,
winkte es mir zum Abschied und rief mir aus der Ferne
irgendetwas zu, bevor es im Gebäude verschwand. Es
war jedoch zu leise, um es verstehen zu können. Scott
schien es gar nicht wahrgenommen zu haben. Ich
konnte es mir nicht erklären, doch ich spürte das starke
Verlangen, dem fremden Mädchen hinterherzulaufen
und es zu fragen, was es mir hatte sagen wollen.
In diesem Moment drehte sich Scott plötzlich zu mir
um, blickte mich durchdringend an und fragte: »Kennen
Sie den Darkside Park?«
In den ersten Sekunden war ich zu perplex, um zu
reagieren, doch dann verneinte ich zögernd.
Daraufhin wandte der Junge seinen Blick ab und murmelte: »Toby ist jetzt dort. Der bleiche Mann hat ihn
mitgenommen.«
Verständlicherweise versuchte ich im Folgenden
intensiv, eine Erklärung für diese rätselhafte Aussage zu
erhalten. Doch Scott verfiel wieder in tiefes Schweigen,
sodass ich abends unverrichteter Dinge und zutiefst
verwirrt meinen Heimweg antrat. In den folgenden
Tagen und Wochen versuchte ich auf Grundlage von
Scotts Äußerung immer wieder, einen Gesprächszugang
in den hermetischen Kokon des Jungen zu finden, doch
vergebens. Zwar gelang es mit der Zeit, seine posttraumatischen Symptome mehr und mehr einzudämmen, doch über den seltsamen Park oder den
unheimlichen Fremden sprach Scott nie wieder.
Selbstverständlich stand ich die ganze Zeit über
sowohl mit seinen als auch mit Tobys Eltern und der
Polizei in Verbindung, aber es ergab sich keine verwertbare Spur. Niemand konnte mit Scotts Worten
etwas anfangen oder eine Verbindung zu früheren
34
Geschehnissen herstellen. Dr. Barrett interpretierte den
mysteriösen bleichen Mann letztlich als imaginäre
Projektionsfigur. Eine emotional greifbare Phantasiegestalt, mit der Scott das tragische Verschwinden seines
Freundes auf eine für ihn begreifbare Ebene rücken
wollte. Dieses Phänomen zur Kompensierung von
Angst- und Schuldgefühlen ist in vergleichbaren Fällen
durchaus häufiger zu beobachten. Auch ich stimmte
dieser Diagnose zu, jedoch nicht ganz ohne verbleibende Zweifel. Bis zuletzt war ich mir nämlich sicher,
damals in Scotts Augen etwas gesehen zu haben, das
gänzlich klar und unverzerrt war: eine felsenfeste und
unantastbare Gewissheit.
Viele Monate später, Scott war schon lange nach
Hause entlassen worden, erhielt ich eine erschütternde
Nachricht. Während eines Spaziergangs hatte sich der
Junge urplötzlich von seiner Mutter losgerissen, war
über das Geländer der Dellview Bridge geklettert und in
die Tiefe gesprungen. Er wurde sofort von der starken
Strömung des Cale River mitgerissen und konnte zwei
Kilometer flussabwärts nur noch tot geborgen werden.
Das Ganze geschah auf den Tag genau ein Jahr nach
dem Verschwinden von Toby Jenkins.
Scotts Tod traf mich tief. Er war mein erster Patient
hier in Porterville gewesen, und im Laufe der langen
Zeit war er mir stärker ans Herz gewachsen, als ich es
mir eingestanden hatte. Therapeutisch gesehen war da
natürlich stets eine professionelle Distanz gewesen,
doch irgendetwas an dem Jungen hatte mich berührt
und nicht mehr losgelassen. Nach seinem Tod verstärkte sich diese Empfindung noch. Kaum ein Tag
verstrich, ohne dass ich mir die quälende Frage stellte,
ob ich irgendetwas hätte tun können, um sein Schicksal
abzuwenden. Mit der Zeit jedoch begann die schmerz-
35
liche Erinnerung, mehr und mehr zu verblassen. Neue
Patienten kamen und gingen.
Zum Beispiel Matt Broyers, ein Musiker aus Detroit,
der aus beruflichen Gründen vor kurzem mit seiner
Familie nach Porterville gezogen war. Ein überaus dynamischer, lebensfroher Mann, der jedoch unter dem
belastenden Manko einer stark ausgeprägten Klaustrophobie litt. Ausgelöst durch ein traumatisches Kindheitserlebnis, hatte sich seine Angst vor engen Räumen
in den Folgejahren immer stärker ausgeprägt. Schließlich
war der Leidensdruck so groß geworden, dass er den
Entschluss fasste, professionelle Hilfe in Anspruch zu
nehmen. Tatsächlich gelang es im Rahmen einer mehrmonatigen Therapie, Broyers Panikattacken nahezu vollständig einzudämmen. Sowohl im Beruf als auch privat
begann für ihn nun ein völlig neues Leben. Sein überglückliches Gesicht am Ende unserer letzten Sitzung
werde ich nie vergessen. Dieses Erfolgserlebnis beflügelte mich und ließ den Vorfall mit Scott weiter in den
Hintergrund rücken. Die Jahre vergingen, und der
segensreiche Reflex des Vergessens setzte ein.
Wahrscheinlich hätte ich nie wieder an den seltsamen
Park oder den bleichen Mann gedacht, wenn ich nicht
auf Stewart Falkner getroffen wäre. Falkner war ein
ehemaliger Bibliothekar Ende 70, der schon seit über
zwanzig Jahren im ›St. Christopher’s‹ wohnte – einem
Seniorenwohnheim in unmittelbarer Nachbarschaft zur
Klinik. Anfang des Jahres 1981 wurden beide Institutionen zusammengeschlossen. Von da an zählten auch
regelmäßige Routine-Kontrollen im ›St. Christopher’s‹
zu meinem Aufgabenbereich. Vornehmlich Untersuchungen der dort gepflegten Demenzpatienten.
Stewart Falkner war in jeder Beziehung außergewöhnlich, nicht nur aufgrund seines markanten
Äußeren, das mich an eine zerzauste Variante von
36
Abraham Lincoln erinnerte. Sein Krankheitsbild ließ
sich nur schwer in ein gängiges Profil einordnen. Die
Diagnose lautete auf eine seltene Variante der Zyklothymie. Heute würde man von bipolarer Störung
sprechen – eine affektive Psychose, die sich durch
extreme Stimmungsschwankungen auszeichnet. Das
Spektrum reicht von manisch-aktiver Euphorie bis hin
zu tiefer Depression. Das Besondere an Falkners Fall
war, dass seine depressiven Phasen von schweren katatonischen Schüben begleitet waren. Er verfiel in eine
regelrechte Schockstarre, die sich mitunter über viele
Tage hinzog, sodass er künstlich ernährt werden musste.
War er aus dieser Starre wieder erwacht, stürzte er sich
übergangslos in hektische Betriebsamkeit, ohne sich an
die zurückliegende Phase erinnern zu können. Derlei
Symptome wichen deutlich von den bekannten Formen
manischdepressiver Störungen ab. Entsprechend
schwierig gestaltete sich die Therapie. In vergleichbaren
Fällen finden sich meist konkrete Ursachen, die die
Entstehung der Erkrankung beeinflussen. Genetische
Veranlagung kann als Auslöser ebenso in Frage
kommen wie starke Schock- und Verlusterfahrungen,
körperliche Misshandlungen oder Konflikte in der
Familie und am Arbeitsplatz. Nichts davon traf jedoch
auf Stewart Falkner zu. Er führte eine grundsolide Existenz ohne erkennbare Schattenseiten, als er im Herbst
1959 urplötzlich zusammenbrach.
Es war wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Er
hatte sich gerade auf dem Rückweg von einem Abendspaziergang befunden, als er ohne sichtbaren Anlass die
Besinnung verlor und in Starre verfiel. Zwei Obdachlose
hatten den Vorfall beobachtet und brachten ihn zum
nächsten Krankenhaus. Erst drei Tage später kam
Falkner im ›Columbia Hospital‹ wieder zu sich, ohne
sich an den Vorfall oder seine Ursache erinnern zu
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können. Seitdem hatte sich sein Geisteszustand rapide
verschlechtert, sodass er schließlich mit Einwilligung der
Angehörigen ins ›St. Christopher’s‹ eingewiesen wurde.
Seine folgenden Jahre glichen einem ständigen Wechsel
zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. Grauzonen gab es bei Mr. Falkner nicht. Entweder er war
bester Laune und widmete sich mit Feuereifer diversen
Aktivitäten wie dem Ausschneiden und Sortieren von
Katalog-Coupons. Oder aber er lag mit versteinerten
Gesichtszügen im Bett und starrte ausdruckslos die
Zimmerdecke an. Stunden-, manchmal sogar tagelang.
Eine vernünftige Konversation war in beiden Zuständen ausgeschlossen. Er reagierte auf keinerlei stimulierende Impulse, weder verbal noch medikamentös. Falkner hatte sich in seinen eigenen Mikrokosmos zurückgezogen, in dem es nur noch sinnlosen Aktionismus
oder vollkommene Leere gab. Dennoch musste man
den alten Kauz gern haben, wenn er beim Öffnen der
Tür von seinem völlig überladenen Basteltisch aufblickte
und jeden Besucher mit einem überschwänglichen
»Charly! Wie schön, dass du es einrichten konntest!«
begrüßte. Er nannte jeden im ›St. Christopher’s‹ Charly,
egal ob männlich oder weiblich.
Nach dem Willkommensgruß versenkte er sich wieder
vollständig in seine jeweilige Tätigkeit, doch sobald man
sich verabschiedete, rief er strahlend und unter heftigem
Winken: »Wie schön, dass du da warst, Charly!«
So ging es Wochen und Monate, bis es eines Tages im
August 1982 zu einem äußerst bizarren Vorfall kam. Ich
hatte gerade meine übliche Untersuchung bei Mr. Falkner abgeschlossen, die dieser wie immer anstandslos
über sich hatte ergehen lassen. Als ich bereits wieder
halb auf den Flur hinausgetreten war, hielt ich verwundert inne und blickte zurück in den Raum. Wo blieb
der Abschiedsgruß? Mr. Falkner saß wie stets an seinem
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geliebten Basteltisch und hatte sich tief über einen
aufgeschlagenen Werbeprospekt gebeugt. Sein Gesichtsausdruck spiegelte jedoch nicht wie sonst hitzige Freude
und Enthusiasmus wider, sondern war von blankem
Grauen erfüllt.
Mit weit aufgerissenen Augen tippte er wieder und
wieder auf ein bestimmtes Bild und hauchte: »Da …
daaa…«
Irritiert trat ich auf ihn zu und betrachtete die Prospektseite. Es war ein schmaler Versandhauskatalog für
Möbel und sonstigen Einrichtungsbedarf. Auf den
ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen.
Abgebildet war ein stilvoll, wenn auch etwas altmodisch
eingerichtetes Zimmer in typischer Neuengland-Eleganz, inklusive langgestreckter Regalwand und gediegener Sessel-Garnitur, auf der sich eine breit lächelnde
Blondine aalte. Überragt wurde die Szenerie von einer
imposanten Standuhr, deren Zeiger exakt auf 1.00 Uhr
standen.
Diese Uhr war es offenkundig, die Falkners Entsetzen
hervorrief. Immer noch stammelte er wie in Trance: »Da
… da …«
Ich berührte ihn sanft an der Schulter und fragte:
»Was sehen Sie, Mr. Falkner?«
Der knochige Zeigefinger des alten Mannes stieß noch
heftiger auf das bedruckte Papier hinab. »Das böse
Zimmer … ich war dort … allein … mit ihm!«
Verwirrt beugte ich mich tiefer zu ihm herab. »Wen
meinen Sie? Wer war dort?«
Falkner begann, am ganzen Leib zu zittern und flüsterte panisch: »Die … die Uhr … er kam aus der Uhr …
schreckliche Augen …!«
Das Zucken wurde immer stärker und Ströme von
Schweiß rannen seine Stirn herab. Eilig zog ich eine
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Spritze mit einem Sedativum auf, während ich weitersprach.
Ich wollte, ich musste es wissen: »Wer, Mr. Falkner?
Wer kam in dieses Zimmer?«
Plötzlich packte mich der alte Mann am Kragen
meines Arztkittels und zog mich mit unglaublicher Kraft
direkt zu seinem angstverzerrten Gesicht herab. Es
waren nur zwei Sätze, die er heiser hervorstieß, doch sie
ließen mir das Blut in den Adern gefrieren: »Der bleiche
Mann! Lassen Sie nicht zu, dass er mich holt, Dr.
Morgan!«
Dann brach die Spannung ab, und seine Hände lösten
sich von mir. Langsam wandte sich Falkner wieder der
Tischplatte zu, blätterte mit glasigem Blick die Prospektseite um und begann mit hörbarer Begeisterung, einen
längst verfallenen Einkaufsgutschein auszuschneiden.
Der dramatische Moment der Wachheit hatte nur
wenige Sekunden gedauert. Nun war Mr. Falkners Geist
wieder in seine eigene ferne Welt zurückgekehrt. Dieses
Mal endgültig. Kein Wort, keine Bitte oder Aufforderung vermochte, ihn wieder zurückzuholen. Natürlich war ich wegen dieses Vorfalls zutiefst verunsichert.
Wie war das möglich? Dieser alte Mann lebte seit
einem Vierteljahrhundert im ›St. Christopher’s‹, hochgradig umnachtet und ohne jeden Bezug zur Außenwelt.
Wie konnte er da eine Figur kennen, die der Phantasie
eines ihm völlig unbekannten Jungen entsprungen war?
Zwischen den beiden gab es doch nicht den geringsten
Zusammenhang. Und dennoch war ich hundertprozentig überzeugt davon, dass auch Scott an dem
Junitag vor über zehn Jahren von einem »bleichen
Mann« gesprochen hatte. Und von irgendeinem seltsamen Park.
Ich informierte Dr. Barrett von dem erstaunlichen
Zwischenfall, und er teilte meine Meinung, dass wir der
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Sache nachgehen sollten. Wir setzten uns mit Falkners
Familie in Verbindung, kontaktierten alte Freunde und
Weggefährten, doch alle Bemühungen blieben ergebnislos. Ich rief sogar beim Servicebüro des Versandhauses
an. Dort erhielt ich jedoch wie erwartet die Information,
dass es sich bei dem betreffenden Foto um eine arrangierte Studioaufnahme handelte. Das abgebildete
Zimmer existierte nur für den Augenblick der Aufnahme. Falls es sich bei Mr. Falkners Aussetzer also
tatsächlich um einen Flashback gehandelt hatte, musste
die Standuhr der auslösende Schlüsselreiz gewesen sein.
»Er kam aus der Uhr«, hatte Falkner gesagt.
Ich zermarterte mir den Kopf darüber, was er damit
gemeint haben könnte. Noch wichtiger jedoch war die
zweite Frage: Wenn der bleiche Mann wirklich existierte
– wer war er, und was hatte sich damals ereignet?
Welches Grauen konnte Mr. Falkner zugestoßen sein,
dass er daraufhin den Verstand verloren hatte? Und wie
stand Scott Harrison mit diesen Geschehnissen in
Verbindung?
Angesichts der vielen ungeklärten Fragen entschloss
ich mich, Sheriff Parker vom ›Porterville Police Department‹ hinzuzuziehen. Schon seit Jahren arbeitete ich
regelmäßig in beratender Funktion mit ihm zusammen.
Dazu zählte beispielsweise die psychologische Betreuung von Straftats- und Unfallopfern, aber auch die Auswertung von Risikodiagnosen. Im Laufe der Zeit war
Hank Parker ein väterlicher Freund für mich geworden,
dessen Rat ich sehr schätzte und dem ich mich stets
anvertrauen konnte. Er war ein Polizeichef wie aus dem
Bilderbuch: Seine hoch aufragende Statur und der
respekteinflößende Leibesumfang verliehen ihm eine
natürliche Autorität, die nicht arrogant oder aufgesetzt
wirkte. Das scharf geschnittene Gesicht mit der kleinen
L-förmigen Narbe unter dem rechten Auge unterstrich
41
Prolog
FURCHT
KANN SEHR HILFREICH sein, wenn
es darum geht, den Willen eines Menschen zu brechen. Es kann lange dauern, bis das Opfer seine
eigenen Widerstandskräfte vollkommen in den Hintergrund drängt, nur um gefügig zu sein. Bloß um
kein Leid mehr zugefügt zu bekommen - um keinen
Schmerz mehr spüren zu müssen. Alles nur, damit die
Furcht schwindet. Manche Menschen sind jedoch
stark. Sehr stark. Stärker als man glauben mag. Hingegen schafft es niemand dauerhaft, seine Angst zu
besiegen. Die Angst vor dem Tod ist stets allgegenwärtig, den Erhaltungstrieb kann man nicht unterdrücken. Todesangst ist kein geselliger Zeitgenosse.
Jeder weiß, dass der Tod mit seinen Opfern nicht
gerade feinfühlig umgeht.
Der kaum bekleidete Mann auf dem kargen, hölzernen Stuhl windet sich bereits seit Tagen und wird
immer schwächer. Der Durst nimmt kontinuierlich
von seinem Körper Besitz. Er schmeckt noch das
Salz der letzten Ration auf seiner Zunge, und sein
Speichel zieht äußerst trockene Fäden.
Jedoch hat sein Peiniger ihn deutlich unterschätzt.
Die Prozedur hat diesmal länger angedauert. Länger
als bei all den anderen zuvor. Als sehr zäh erweist
sich dieser Mensch und sein Wille, all die Qualen zu
überstehen – einfach nur, um zu überleben. Der
archaische Trieb zum nackten Überleben kann ungeahnte Kräfte mobilisieren.
Obwohl der Mann schon viel Blut verloren hat und
der Schmerz ihn fast in die Ohnmacht treibt, fährt
5
ihm immer und immer wieder ein fester Gedanke
durch den Kopf: ›Halte durch! Warum auch immer
dir das angetan wird – halte nur durch!‹
Eine plausible Erklärung für das Martyrium erschließt sich dem zitternden Mann nicht. Nicht für
den Grund seiner Situation. Nicht für das Motiv der
Täter. Auch nicht, weshalb gerade er hier in diesem
Raum sitzt. ›Warum ich? Das kann doch alles nicht
wahr sein!‹
Er spürt, dass geronnenes Blut seine Haut spannt
und frisches an seinem Unterschenkel herabfließt.
Schmerz in seinen facettenreichen Varianten ist für
ihn, seit er hier gefangen ist, keine neue Erfahrung
mehr. Damit hat er in den letzten Tagen fast schon
umzugehen gelernt. Der seelische Stress und der
Überlebenskampf treiben ihn viel stärker an den Rand
des Erliegens – und dieses Salz. Aber mit einem
Ende, seinem Ende, hat er sich nicht abgefunden. Er
will kämpfen - nicht aufgeben. ›Noch nicht!‹
Einen tatsächlichen Raum, eine Definition für diesen Ort, kann er sich nicht erschließen. Seit Stunden,
Tagen, oder ist es schon eine Woche, wird er von
grellen Scheinwerfern geblendet. Das Zeitgefühl hat
ihn verlassen. Wird er es jemals wieder erlangen? Ist
es draußen Tag oder Nacht? ›Werde ich die Sonne
jemals wiedersehen?‹
Er nimmt Geräusche wahr. Jene Geräusche, die
stets die Vorboten zu weiteren Attacken gewesen
sind. Jene Geräusche, die nie etwas Gutes bedeutet
haben. Eine Tür. Schritte. Hände, die sich voller
Vorfreude reiben. Leises Kichern. Seine Nervosität
steigt erneut. Mit ruckartigen Bewegungen versucht
er, sich mit seinen wenigen Kräften, die ihm ge-
6
blieben sind, aus den Fesseln zu lösen – den Geräuschen und ihren Verursachern zu entkommen.
Jedoch wird es ihm kaum gelingen. Seine Despoten
wissen, was sie tun. Die Seile sind nicht dick, aber
fachmännisch angelegt. ›Wo sind sie …?‹
Das Sehvermögen des Mannes ist beträchtlich eingeschränkt, findet jedoch allmählich wieder zu einer
geringen Funktionalität. Nichts ist zu sehen. Nur
grelles Licht. Und diese Geräusche. Diese Geräusche,
die er wahrnimmt, und er weiß: ›Die Schweine sind
hier!‹
Aufmerksam versucht der Mann an den Scheinwerfern vorbei, eine Bewegung zu erhaschen. Eine
Silhouette. Irgendetwas. Er will seine Gegner sehen,
möchte auf den nächsten Angriff vorbereitet sein –
ist bereit für jeglichen Schmerz. Jedenfalls glaubt er
das.
»Im Stilln ein kleines Küsschen?« Da, es ist sie. Sie
redet wieder mit ihm. So, wie sie es stets tut. Eigenartig. Ganz speziell. Unverwechselbar.
»E-ein Küss-chen?«, der Mann bekommt die Worte
kaum über die Lippen, aber er will antworten. Er
muss Kontakt zu ihr haben. ›Vielleicht hat sie Gnade
mit einem Opfer, das redet. Das Sympathie erweckt.
Das Mitleid erregt.‹ Er kann kaum denken, aber ihm
fällt auf: ›Wieder aus Othello. Was soll das Ganze
bloß?‹
»Wer keusch sein will und so was tut, der lädt ein
seine Keuschheit zum Teufelstanz.«
»T-teufels-tanz?«
Im nächsten Augenblick zischt ihm eine Hand entgegen, packt sein Haupthaar, zieht den Kopf in den
7
8
Nacken, und eine männliche Stimme sagt: »Lächle,
Jago!«
›Er ist auch da! Wie sollte ich jetzt lächeln?‹, der Gedanke schwimmt in gleichen Gewässern, wie die
Furcht des Opfers.
»Lächle! Lächle, Jago, als wäre es das letzte Mal.«
Das Opfer begreift zu spät. Sein Brustkorb bebt.
Das Herz stockt eher, als dass es rast. Seine Lunge
leert sich schneller, als er sie wieder füllen kann. Die
Ohnmacht ist nahe, wird jedoch überwunden. Er
fühlt kaltes, geschärftes Metall in seinem Mundwinkel
im vergeblichen Versuch, ein Lächeln aufzubringen.
Nun wird er für immer lächeln …
9
___PROLOG Er duckte sich, als der Schuss über das
Gelände peitschte, über seinen Kopf hinwegsirrte und mit
einem schmatzenden Geräusch einschlug. Der getroffene
Körper erzitterte: Ein leiser Seufzer, dann war die rote Heidi
tot. Aus dem Einschussloch in der Brust quoll ein Rinnsal
und tropfte auf den lehmigen Boden vor dem Holzpfosten,
an den das Opfer gefesselt war.
»Rotfront, verrecke!«, grölte eine Stimme aus dem Hintergrund.
Der nächste Schuss krachte, dann wieder das sägende Geräusch und der Einschlag. Doch diesmal ging es nicht so glatt:
Bubis, der wie die anderen Verurteilten gefesselt an einem
Pfosten hing, lebte noch und wimmerte kläglich. Die Kugel
hatte seinen Unterleib aufgerissen, aus dem sich jetzt, graublau und metallisch schimmernd, die Gedärme zwängten.
»Gib dem Saujuden den Rest!«, brüllte jemand.
Ein neuer Schuss, gefolgt von einem krachenden Echo.
Das Geschoss erwischte Bubis am Kopf und riss ihm Nasenund Augenpartie weg. Dick rann das Blut aus der zerfetzten
Schädelhälfte, in der die Hirnmasse glänzte.
Nun war Brandt an der Reihe. Sie hatten ihm eine Flasche
Weinbrand eingeflößt. Brandt war ein leichtes Ziel und empfing den Todesschuss mitten in die Stirn, ohne sich noch
einmal gegen das unausweichliche Ende aufzubäumen. Bei
Kohl zerplatzte die pralle Wampe und spie einen Nieselregen
aus Blut, Kot und Holzsplittern von sich.
Sie brachen in wieherndes Gelächter aus. Genschers Körper wurde von dem Projektil in der Mitte zerrissen, worauf
sich seine großen Ohren noch einmal kurz aufrichteten. Die
Erschießungen gingen weiter, bis nach einer halben Stunde
alle Verurteilten tot waren. Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, kletterte Sigurd aus dem Graben, von dem aus er
die Exekutionen verfolgt hatte. Sie schnitten die Kadaver los,
legten sie in eine Schubkarre und fuhren sie zu einer vorsorglich ausgehobenen Grube. An eine Weiterverwertung der
Körper war nicht zu denken - zu sehr waren sie von den Ge-
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schossen zersiebt, das Fleisch von den Eingeweiden und deren Inhalt verunreinigt.
›Die Jungs haben die grauen Zellen nicht gerade pfundweise in die Wiege gelegt bekommen‹, dachte Sigurd, ›aber gehorsam sind sie und verlässlich.‹
__KAPITEL 1 Sie hätten auch ihren Nachbarn oder ihre
Verwandten an den Pfosten gefesselt, wenn er es ihnen befohlen hätte. Er hatte ihnen den Vorschlag gemacht, dieses
Mal lebende Kaninchen zu nehmen. Bormännchens Schwester betrieb eine Karnickelzucht. Sie hatten ihr ein Dutzend
abgekauft und in die Fuchsschanze gesperrt. Die Jungs hatten
vor dem Exekutionsspiel nicht so recht gewusst, wie sie mit
den Tieren umgehen sollten, doch am Abend war die Stimmung gestiegen. Der dicke Olebix, ein zwei Meter langer
Bursche, hatte vier Kästen Bier angeschleppt, mit jeder Hand
gleich zwei greifend, als wären es ein paar Tüten Popcorn. Sie
setzten den Kaninchen Salat und Möhren und ein Schälchen
mit frischem Wasser vor.
»Zum Tode Verurteilte soll man in der letzten Nacht
ritterlich behandeln«, brummte Kleifaz, ein kurz gewachsener
stämmiger Schläger.
Olebix schien Gefallen an den Karnickeln zu finden und
nahm eines auf den Schoß, aber als er Bormännchens spöttische Miene sah, ließ er es wieder auf den Boden.
»Nur nicht weich werden, Olebix«, sagte Kleifaz. »Oder
biste jetzt schwul geworden? Das da hinten sieht dir sogar
ähnlich.« Er deutete auf das größte und dickste Kaninchen.
»Ich taufe dich hiermit auf den Namen Olebix!«, sagte er und
malte in Richtung des Tieres ein Kreuz in die Luft.
»Das ist fies, das Vieh nach mir zu nennen!«, protestierte
Olebix. »Ich hab da ’ne bessere Idee: Kohl, Helmut Kohl soll
das Karnickel heißen, wie der Kanzler unsrer Judenrepublik!«
7
»Ja, super! Helmut Kohl, du feister Sack, ich verurteile dich
hiermit zum Tode!«, juchzte Kleifaz und schnappte sich das
Tier.
»Ein Volljude muss noch her!«, brüllte jemand.
»Schau mal, der Hase da mit dem Riesenzinken, das ist
unser Ober-Rabbi Bubis!«, rief ein anderer.
»Und das hier ist die rote Heidi«, sagte Olebix und griff sich
ein Kaninchen mit auffallend rötlichem Fell.
»Wenn wir schon mit den Vaterlandsverrätern aufräumen,
darf doch der Brandt nicht fehlen«, sagte Bormännchen.
»Der da hinten kann nur der Genscher sein«, sagte Kleifaz
und zeigte auf ein Exemplar mit besonders breiten und
schlappen Ohren, »aber ’nen Brandt ham wir noch nicht.«
»Dann basteln wir uns eben einen. Wär doch ein Jammer,
wenn Willy Weinbrandt die Party verpassen würde!« Bormännchen packte das nächste Kaninchen, hatte plötzlich eine
Schnapsflasche in der Hand, schob dem Tier den Flaschenhals in den Schlund und ließ den Inhalt hineingluckern. Dann
setzte er es auf den Boden, wo es schlaff nach vorn hoppelte.
»Guck mal, das Vieh hat schon einen sitzen!«
»Tod den Verrätern!«
»Willy Brandt, an die Wand!«
Sigurd war zufrieden mit dem Verlauf der Aktion. ›Man
muss den Jungs das Gefühl geben, dass sie gebraucht werden‹, dachte er, ›dass jeder bei uns mitmachen kann, solange
er mit uns an einem Strang zieht.‹
Olebix erschien in der offenen Tür der Fuchsschanze und
salutierte mit angewinkeltem Arm: »Melde gehorsamst, Kamerad Sigurd, alle Gewehre entladen und gereinigt! Waffenkammer auf Vollständigkeit überprüft und ins Geheimdepot
verbracht!«
»Danke, wegtreten«, befahl Sigurd.
Er musste schmunzeln, als er sah, wie beflissen Olebix gehorchte und in das Wäldchen hinter dem Gelände trabte.
Dann ging Sigurd in das Arbeitszimmer, das er sich in der
Fuchsschanze eingerichtet hatte und blickte auf die Wand mit
8
der Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937. Sie standen
erst am Anfang, aber er wusste, dass sie auf dem richtigen
Weg waren. Hatten nicht viele Befreiungsbewegungen ihren
Kampf in aussichtsloser Lage aufgenommen? Waren nicht
Märsche durch feindliches Gebiet unter hoffnungslosen Umständen angetreten und dennoch siegreich beendet worden?
Hannibal, der sich über die vereisten Alpen kämpfte und dabei all seine Kriegselefanten bis auf einen verlor. Mao Zedong
auf dem langen Marsch durch China, bei dem nach über
einem Jahr nur noch 9.000 der anfangs 90.000 Mitstreiter am
Leben waren. Fidel Castro, der im Dschungel der Sierra Maestra zwei Jahre lang der Übermacht der Regierungsarmee Batistas trotzte.
Sigurds Blick fiel auf die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹,
die auf dem Schreibtisch lag. Die Hauptmeldung auf der
Titelseite hatte er bereits am Morgen gelesen: UNGARN
ÖFFNET DIE GRENZEN Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt
in Ungarn sind gestern mehrere tausend DDR-Flüchtlinge über Österreich in die Bundesrepublik gekommen. Bereits sechzehn Stunden nach
Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenzübergänge waren alle Lager
in Ungarn geräumt.
Er konnte sich an der Nachricht nicht sattlesen: Die Mauern des Sowjet-Imperiums begannen zu bröckeln - bald würde sich das deutsche Volk ganz von Fremdherrschaft und
Unterdrückung befreien. Sigurd atmete tief durch. Er spürte,
wie die Ereignisse von ihm Besitz ergriffen und in ihm weiter
arbeiteten. Viele Deutsche verhielten sich noch völlig gleichgültig und liefen wie die Lemminge unbeirrt in Richtung
Abgrund, wie es ihnen seit Jahrzehnten eingetrichtert wurde.
Doch er würde ihnen die Augen öffnen, sie wachrütteln,
ihnen in die Ohren schreien: »Deutschland muss wiederauferstehen, und auch du musst mit anpacken, sonst machst du
dich zum Verräter an deinem eigenen Volk!«
Sigurd wusste, dass eine Bewegung, die nur aus senilen
Kriegskameraden, ungehobelten Schlägern und versoffenen
Glatzen bestand, keine Zukunft hatte. Er musste sie entschlacken und von Grund auf neu aufstellen, sie zu einer
9
dynamischen modernen Kampftruppe schmieden, die unter
den Systemparteien Angst und Schrecken verbreiten würde.
Er stellte sich vor den Wandspiegel in seinem Büro, blickte
sich selbst fest in die Augen, ballte seine rechte Hand zur
Faust und sprach halblaut zu seinem Spiegelbild: »Heil
Deutschland!«
Er lauschte seinem Echo noch einige Sekunden nach, ließ
dann die Faust sinken, schnallte das Pistolenhalfter ab und
legte es mitsamt der Waffe in die Schublade des Schreibtisches.
__KAPITEL 2 Der Laut prallte wie ein dicker Wassertropfen auf sein Trommelfell und verhallte in einem heiseren
Hauch.
»Nk-ooooh …« Mario lauschte mit angehaltenem Atem
und versuchte, die Cluster aus Schnalz- und Knacklauten und
dunklen Seufzern zu entschlüsseln. »Pt-aaaah …« Immer
wieder ließ er den Kassettenrekorder zurücklaufen, um die
fremdartigen Klänge auf sich wirken zu lassen. Wie von einer
fernen Galaxie kommend, drangen sie aus den beiden verstaubten Lautsprechern und verloren sich in dem Labyrinth
aus Bücherregalen, exotischen Instrumenten und Wandmasken. »Mp-eeeeeeh …« Unbewusst begannen sich Marios Lippen und Zunge zu bewegen, um sich den ungewohnten Lauten anzunähern.
36! 36 Sprachen hatte sich Mario Mestre im Lauf des letzten Vierteljahrhunderts beigebracht. Nun hatte er sich an die
37. gemacht, wie immer allein in seiner Studierecke, hinter
diversen Bücherstapeln, zwischen die er Kassetten und Tonbänder gestopft hatte: an die Sprache der Khoi-San, der
Khoi-Khoi, der Hottentotten, der San, der Buschmänner in
Namibia, Botswana, Angola und Südafrika. Die fünfzehn
Fälle des Finnischen, die mehr als zwanzig des Ungarischen,
die verzwickten Zischlaute des Russischen und Polnischen,
die Dutzende von Vokalnuancen des Portugiesischen - für
10
Mario gehörte dies alles seit langem zu dem Instrumentarium,
mit dem er sich mit der Welt verständigte. Er konnte nicht
begreifen, dass es Menschen gab, die seine Leidenschaft nicht
teilten. Menschen, die nichts als ihre Muttersprache sprachen,
waren ihm genauso fremd wie solche, die von der Wiege bis
zur Bahre aus ihrem Wohnbezirk, ihrem Dorf oder Kiez nie
hinausgekommen waren.
Selbst in den schwer zu erlernenden außereuropäischen
Kultursprachen konnte sich Mario mühelos verständigen. Er
war imstande ihre Gedichte, ihre Epen und Sagen, die ihn
verzauberten und in fremde Welten entführten, im Original
zu lesen: Das kehlig ausdrucksvolle Arabisch, das melodiös
hüpfende Mandarin, das dunkle, geschmeidige Persisch, das
verhaltene, filigrane Japanisch und das wehmütig quakende
Vietnamesisch waren ihm inzwischen genau so vertraut wie
Englisch oder Französisch.
Doch beim Khoi-San war Mario an eine Grenze gestoßen:
an seine eigene und an die Grenzen der Sprachen überhaupt.
Zum ersten Mal fühlte er sich überfordert. Es gelang ihm
nicht, das Prinzip der Schnalz- und Klicklaute zu knacken.
Lag es daran, dass das Khoi-San wohl die älteste aller Sprachen war? Die menschliche Sprache bildete die Schwelle von
den noch tierähnlichen Hominiden zum Homo sapiens, der
zuerst in Afrika aufgetaucht war. Und es war kein Zufall, dass
sich auch der heutige Mensch bei einer trockenen Wärme von
gleichbleibenden 25 Grad Celsius immer noch am wohlsten
fühlte - was dem Klima der Steppen Ostafrikas entsprach, der
Wiege der Menschheit.
Der Homo sapiens benutzte Mund, Zunge und Zähne –
anders als seine Vorfahren - nicht nur zur Nahrungsaufnahme
oder beim Liebesspiel, sondern zur Weitergabe von Informationen. Mario wurde schwindlig bei der Vorstellung, wie der
Urmensch seine Jagdzüge vorbereitete, auf der Suche nach
Nahrung, nach Wasserlöchern, nach sicheren Rastplätzen; wie
er mit seinen Stammesgefährten sein Lager aufschlug und
nach einer Weile weiterzog, auf der Flucht vor Raubtieren
oder feindlich gesinnten Artgenossen.
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»Ktp-eeeeeh ...« - da hinten, Gazellen! »Nkt-oooooh ...« Vorsicht, Hyänen! »Mpk-aaaaah ...« - Wir werden angegriffen!
Das Wissen der Urzeit trugen diese Jäger und Sammler
durch die Generationen, bis sie mit der Zivilisation zusammenstießen und auf die Farmen der weißen Siedler verschleppt wurden. Eines Tages, Marios Herzschlag beschleunigte sich bei dieser Vorstellung, trat der schwarze Napoleon
gegen die europäischen Eindringlinge an: Jacobus Morenga,
der Anführer der Herero und Nama.
Das wilhelminische Berlin geriet durch den Widerstand von
Morenga und seinen Verbündeten in eine Regierungskrise:
Neuwahlen des Reichstags mussten angesetzt werden, die
sogenannte Hottentottenwahl vom 25. Januar 1907. Der
Reichstagspräsident rief die erhitzten Gemüter zur Ordnung.
Immer wieder musste er zur Glocke greifen, die mit hellem
Klingeln das Stimmengewirr durchdrang. Doch Befürworter
wie Gegner des deutschen Eingreifens auf dem schwarzen
Kontinent stritten weiter: Sollte der Präsident doch bimmeln,
bis er schwarz wurde - schwarz wie die namibischen Hilfstruppen, schwarz wie die verkohlten Reste der von den
Deutschen überrannten Herero-Camps, schwarz wie die afrikanische Nacht, die sich schlagartig über die Savanne senkte.
Wie ein langer dünner Finger kitzelte ein vibrierender Laut
an Marios Trommelfell und versetzte es in helle Schwingungen, ein metallisch umflortes Summen. Plötzlich wurde
ihm klar, dass es von der Wohnungstür kam: Es klingelte.
Mario drückte die Stop-Taste an seinem Rekorder, sprang auf,
eilte zur Tür und öffnete sie.
»Herr … Meesta?« Ein Mann in einem graugrün schimmernden und leicht zerknitterten Anzug stand im Treppenhaus und beugte sich über das Namensschild. »Doktor
Meesta?«
»Mestre«, korrigierte Mario. »Das heißt Meister auf Portugiesisch.«
»Ja, genau, Meister, das will ich doch meinen. Herr Meister,
mein Name ist Wuttke. Ich komme vom Amtsgericht. Wie
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Sie wohl zu wissen geruhen, sind Sie mit einigen Dingen im
Verzug. Sie gestatten?«
Der Mann betrat ohne eine Antwort abzuwarten die Wohnung, schritt durch den Flur, ging in das Arbeitszimmer und
steuerte das Sofa an.
»Ich bin so frei«, sagte er und nahm Platz, nestelte aus der
Innentasche seines Sakkos eine Lesebrille und setzte sie sich
mit einem leisen Seufzer auf. »Herr Dokter«, sagte er, »jetzt
müssen wir mal schauen, was Sie so einbringen können. Es
sind genau, warten Se mal …« Er öffnete seine Ledertasche
und fingerte einige Formulare hervor.
Mario war, als ob es plötzlich nach Lavendel röche, mit
einem Stich Mottenpulver. Es raschelte und knisterte, bevor
Wuttke aufblickte und sagte: »1.773 Mark und 83 Pfennige.«
›Die Krankenkassenbeiträge!‹ Jetzt fiel es Mario wieder ein.
Er hatte den Mahnbescheid vor einiger Zeit bekommen, aber
offenbar nicht bezahlt, sonst würde dieser Wuttke nicht auf
dem Sofa hocken und ihm mit seinem Sermon auf die Nerven gehen. Und die Rechnung für das neue Bücherregal,
dachte er erschrocken, die Reparatur der Taxe, die letzte Rate
für die Waschmaschine?
»Schönes Stück, sehr dekorativ«, sagte Wuttke. Sein Blick
war auf das mit schwarz-weißem Fell bezogene Instrument an
der Wand gegenüber gefallen. »Sie trommeln hin und wieder
selbst, in der Freizeit?«
Mario starrte ihn an. ›Was denkt sich dieser Pleitegeier
überhaupt‹, dachte er, ›dass ich nach Feierabend um den
Tisch herum tanze und mich in Trance versetze, um die Geister meiner Ahnen zusammenzutrommeln?‹
Wuttke schien vom Anblick der Trommel aus Uganda elektrisiert. Er stand auf und näherte sich ihr. Dann ließ er seinen
Zeigefinger dagegenschnellen, und es erklang ein helles, trockenes »Plop«.
»Und danach auf den Kriegspfad«, murmelte Wuttke und
strich mit dem Finger über die rostige Klinge einer Lanze aus
dem Amazonasgebiet. »Aber mich werden Sie doch nicht
gleich auf den Rost spießen, was, Herr Meesta?«, sagte er lau13
nig kieksend und musterte Mario über den Rand seiner Brille
hinweg. »Ich kann im Grunde auch nichts dafür. Wissen Sie,
das ist nicht immer so einfach, wie sich das viele unserer
Mitbürger in ihrer Schwarz-weiß-Denke zusammenreimen.
Ich habe durchaus Verständnis für menschliche Schwächen
und ihre Spätfolgen.« Er zog seine Jacke an den Rockschößen
glatt. »Wenn meine Wenigkeit dann vor der Türe steht, ist das
Kind schon längst in den Brunnen gefallen. Na ja, und sobald
die Kundschaft dann noch meine Visage durchs Guckloch
erspäht, rutscht die Stimmung ganz in den Keller.« Er seufzte.
»Eine tote Party wieder anzuwerfen, ist immer eine undankbare Aufgabe.« Er drehte ein paar Mal an der Kurbel des spanischen Organillo, das in der Ecke stand. Einige krächzende
Töne erklangen, und Staub rieselte von den Kanten des rot
und golden bemalten Orgelkastens. »Herr Mestre – nicht,
dass Sie jetzt als Leierkastenmann durch die Hinterhöfe ziehen müssen. Aber Sie sollten jetzt doch mal die Kohle rüberwachsen lassen, wenn Sie mir die saloppe Ausdrucksweise gestatten.« Er ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer
streifen, griff prüfend an die Fransen eines an der Wand
hängenden kurdischen Kelims und begann, sie zwischen Zeigefinger und Daumen zu zwirbeln. »Es wird nämlich etwas
knifflig werden, hier pfändbare Werte zu identifizieren.«
Wo sollte Mario auf die Schnelle fast 2.000 Mark herbekommen? Einen Freund um Hilfe bitten? Oder seine Eltern?
Unmöglich, er konnte sich ihnen gegenüber nicht noch weiter
erniedrigen. Er musste über seine Schamschwelle springen
und Monika im Büro anrufen.
»Herr Wuttke«, sagte Mario, »ich muss mal kurz telefonieren.« Er wählte Monikas Nummer im Frauenzentrum.
Eine weibliche Stimme meldete sich und sagte, dass Frau
Breiholz noch in einem Gespräch sei. Kurz darauf wurde er
zu ihr durchgestellt. »Monika, ich hab da ’n Problem«, begann
Mario und räusperte sich.
»Wie viel denn, Mario?«, konterte sie kühl.
»1.700, in etwa … «, sagte er und räusperte sich.
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Es raschelte im Hintergrund. Hörte Monika ihm überhaupt
zu?
»1.700 … das ist ein ganz schöner Batzen«, sagte sie nach
einer längeren Pause. »Mario, du musst diese Dinge endlich
mal auf die Reihe bekommen«, fuhr sie fort. »Das lässt man
doch mit einem Funken Weitblick gar nicht so weit kommen.«
Wut stieg in ihm auf, aber er schluckte sie hinunter. »Ich
werde es mir merken, Monika. Danke dir«, sagte er und legte
schnell auf, bevor wieder sein Stottern einsetzte, wie immer,
wenn er sich aufregte.
»Und? Wie stehen die Aktien?« Wuttke fixierte Mario mit
seinen hellblauen Augen. »Kommt jemand mit der Wundertüte vorbei?«
»Herr Wuttke, können wir nicht noch einmal darüber ...?«
Was hatte dieser Wuttke gerade gesagt? Wundertüte? Ja, früher hatte seine Oma ihm immer eine von Rothenburgs Krämerladen an der Ecke mitgebracht. Er hatte plötzlich den
Geschmack des Brausepulvers wieder im Mund. Jetzt fiel ihm
ein, dass er von seiner vor fünf Jahren verstorbenen Großmutter Goldmünzen aus dem Kaiserreich und eine umfangreiche Briefmarkensammlung geerbt hatte. Vor Marios innerem Auge tauchten sie auf, das halbe Dutzend schwerer
Alben, die plötzlich munter wie Rettungsbojen zu hüpfen begannen. Er hatte sie damals in unterschiedliche Regale
gestopft, und er musste erst überlegen, wo sie jetzt steckten.
Ja, das war Rettung im letzten Augenblick!
»Ich denke, Herr Wuttke«, sagte Mario, »dass wir doch
noch zueinanderfinden können.«
__KAPITEL 3 Als Fadime Özal den Hausflur betrat, öffnete sie wie immer den Briefkasten, dann machte sie einen Freudensprung: Der Brief aus Istanbul war da! Sie rannte die drei
Stockwerke hinauf, schlug die Tür hinter sich zu, riss den
Briefumschlag auf, nestelte die Kassette heraus und legte sie
15
_ _Prolog_ _
»… und sie werden die Heilige Stadt zertreten,
zweiundvierzig Monate lang.«
Offenbarung 11,2
Köln | Innenstadt | 10. Februar 2008 | 7.10 Uhr
Marco Baric hüpfte beschwingt durch das Treppenhaus nach oben zu seiner Wohnung. Seinen verstaubten
Rucksack schwang er gut gelaunt neben sich hin und
her. Eine blonde Frau im Hosenanzug drückte sich an
ihm vorbei und eilte die Treppen hinab.
»Guten Morgen, Frau Seiffert«, rief Marco ihr hinterher. »Na, geht’s zur Arbeit, oder wie?«
»Sehr witzig, Marco.« Die untersetzte Mittvierzigerin
hob abfällig ihren Arm und rannte weiter die Stufen herab. »Du hast gut reden um diese Zeit.«
Marco lachte ihr nach. »Ich leg mich dann jetzt mal
ins Bett, Frau Seiffert. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Arbeitstag.«
»Frecher Bengel.« Ruth Seiffert schüttelte grinsend
ihren Kopf und verließ das Appartementhaus.
Marco genoss die neidischen Blicke seiner Nachbarn,
wenn er morgens von der Arbeit nach Hause kam. Vergessen waren für einen Augenblick die Leiden, die er
ertragen musste, wenn er sich abends zum Dienst
schleppte, während seine Kumpels nach dem vierten
Kölsch erst richtig auf Touren kamen.
In seiner Wohnung im fünften Stock schleuderte er
den Rucksack neben den Schreibtisch und warf einen
Blick auf die Straße.
»Viel Spaß, ihr armen Schweine da unten«, rief er
durchs geschlossene Fenster und deutete hinter sich
5
Richtung Schlafzimmer. »Das hier nenn ich ausgleichende Gerechtigkeit.«
Er drückte den Fernseher an und setzte sich einen
Kaffee auf. Entgegen seinem vorlauten Geplapper
konnte er sich nach Feierabend nie direkt ins Bett legen.
Mindestens eine Stunde brauchte er, um herunterzukommen. Kaffee war für diesen Zweck ein perfekter
Begleiter. Gähnend stellte er die Pulverdose in den
Schrank zurück und warf die Tür zu. In diesem Moment
krachte der Hängeschrank auf den Boden und sämtliche
Tassen und Teller krachten vor Marcos Füße. In der
Wand, an der zuvor noch ein Küchenschrank hing,
klaffte ein zwei Meter langer Riss. Marco wich einen
Schritt nach hinten, verlor den Halt und fiel rücklings
gegen den Küchentisch. Der Boden unter ihm schwankte bedrohlich. »Was zum Henker ...?«
Er robbte zum Fenster und zog sich an der Fensterbank nach oben. Ein ohrenbetäubendes Donnern hallte
durch Marcos Wohnung, und die restlichen Schränke
fielen in sich zusammen. Der Weg aus der Küche war
versperrt. Ängstlich drehte er sich um und starrte aus
dem Fenster. Alles ruckelte und bebte und ehe er sich
versah, kam die Straße, auf die er schaute, sekundenschnell auf ihn zu. Verschlungen zwischen Staub und
Schutt stürzte Marco mitsamt dem gesamten Haus in
die Tiefe.
Köln | U-Bahn Baustelle | 10. Februar 2008 | 7.15 Uhr
Jürgen Koch hielt seinen Helm am Kopf fest und
bückte sich durch die Öffnung hindurch in den neuen
Seitenschacht der U-Bahn-Baustelle. »Moin, Jungs! Alles
klar bei euch?«
6
»Moin, Chef«, antworteten ihm die drei Arbeiter einhellig, während sie weiterhin einen Haufen Schutt in
eine Schubkarre schaufelten.
»Wie sieht’s aus, Leute? Bekommt ihr das Ding heute
noch freigeräumt?«
Einer der Arbeiter stellte die Schaufel ab und kratzte
sich an der Seite. »Ich weiß ja auch nicht, Chef, aber das
Zeug rutscht ständig nach und mit dem Bagger kommen
wir hier noch nicht hinein. Vollkommen instabil die
verdammte Kacke. Möglicherweise sollten wir noch einmal mit den Statikern sprechen?«
Jürgen leuchtete mit seiner Taschenlampe die Wände
ab. »Hm, sieht eigentlich alles normal aus, wenn ihr
mich fragt.«
»Dann schauen Sie sich mal die Scheiße vorne beim
Winnie an. Da sind die Stützen bereits abgesackt.«
»Ihr macht Witze.« Jürgen stakste über Werkzeug hinweg und begab sich zu seinem zweiten Trupp im hinteren Bereich des Tunnels. »He, Winnie«, rief er in den
Schacht hinein. »Ich hab gehört, bei euch gibt’s Probleme.«
Er erhielt keine Antwort. Verunsichert strahlte Jürgen
jeden Zentimeter des Bauabschnitts ab, da ertönten aus
dem Dunkeln schnelle Schritte. Er hielt die Lampe nach
vorne und sah drei Schatten auf sich zulaufen. Ohne
ihren Chef anzuschauen, stürmten die Männer an ihm
vorbei. Erst im letzten Moment konnte Jürgen einen der
Arbeiter am Arm packen. »He, Winnie, was ist denn hier
los?«
Dieser riss sich von seinem Boss los und folgte seinen
enteilten Kollegen. »Raus hier, Chef! Raus!«
Jürgen leuchtete irritiert in die Richtung, aus der die
Arbeiter geflüchtet kamen. Das Letzte, was seine Lampe
erfasste, war eine gewaltige Feuerwalze, die über Jürgen
und seine Männer hinwegfegte.
7
Nahe Köln | 13. Februar 2008 | 7.28 Uhr
Das warnende Piepsen der Pulsuhr durchdrang die
behagliche Ruhe des Waldes. Keuchend hetzte Patrick
Gerdes über den in der Morgensonne dampfenden
Waldboden. Mit seinen kräftigen Schritten verscheuchte
er eine Horde Spatzen, die aufgeregt aus dem Dickicht
schossen. Patrick nickte zufrieden. Er wollte, dass sein
Puls derart in die Höhe schnellte. Er wollte seinen Körper spüren. Ständig musste er an den Anruf vor drei Tagen denken.
»Wir haben Ihren Sohn«, hatten sie ihm am Telefon
mitgeteilt. »Ihm geschieht nichts, wenn Sie uns die
Skripte übergeben.«
»Auf was warten wir noch«, hatte er Vicky angeschrien. »Das Leben unseres Sohnes steht auf dem
Spiel.«
»Das verstehst du nicht«, versuchte Vicky, ihn zu beruhigen. »Diese Gemeinschaft ist eine Horde Wahnsinniger! Wir können die Unterlagen nicht einfach so hergeben. Das bin ich meinem Vater schuldig. Außerdem
hab ich sie nicht mal eben in meinem Nachttisch. So
leicht geht das nicht. Mach dir keine Sorgen, wir bekommen unseren Nathan schon zurück. Das verspreche
ich dir. Wir müssen uns nur ein paar Tage gedulden. Mir
fällt schon etwas ein.«
Patrick hüpfte elegant über eine Pfütze. So oft es sein
Terminkalender in der Steuerkanzlei zuließ, absolvierte
er morgens diese Joggingstrecke. Kurze, steile Anstiege,
die gleich darauf wieder rasant abfielen und holprige,
von spitzen Steinen gespickte Pfade sowie zugewachsene Feldwege verlangten seinem bulligen Körper das
Äußerste ab.
Adrenalin jagte ihm durch den Leib. Seine Muskeln
waren zum Bersten angespannt. Nur ein unachtsamer
8
Fehltritt auf dieser morschen Brücke, und er musste den
Heimweg mit gebrochenem Knöchel antreten. Doch
genau einen solchen Kick brauchte er an diesem Morgen. Das Laufen half ihm, endlich einen klaren Gedanken zu fassen.
»Wir müssen uns gedulden. Wir müssen uns gedulden.« Wütend wiederholte er Vickys Worte und ballte
seine Hände zu Fäusten. Zwar war ihm ihre Vergangenheit seit Langem bekannt, sie hatte ihm kurz nach ihrem
Kennenlernen davon berichtet, doch waren ihm die
Ausmaße nie so bewusst, wie in den letzten Tagen. Niemals hätte er geglaubt, dass diese Dokumente eine solche Brisanz für jemanden besaßen. Als Atheist waren
ihm derlei Dinge egal. Zweitausend Jahre alte Aufzeichnungen irgendeines Propheten, damit konnte er nichts
anfangen. Doch seit Jahrhunderten bestimmten die Papiere das Leben von Vickys Familie. Stets darauf bedacht, deren Existenz vor einer skrupellosen Gemeinschaft zu verheimlichen.
Er liebte Vicky, also unterstützte er sie.
Allen Anstrengungen zum Trotz wurde vor wenigen
Wochen ein Beweis ans Licht getragen. Zwar durch Zufall, aber was half das schon? Ein Beweis, der fast jeden
der ihn kannte, in den Wahnsinn trieb. Erst recht hier in
Köln. Deutete die Prophezeiung doch auf eine Vernichtung der Stadt hin. Wenn? … Ja, wenn? … Dafür wollte
die Gemeinschaft das Buch, hatte Vicky ihm erklärt.
Als er heute Morgen dann seine Joggingschuhe aus
der Ecke hervorgeholt hatte, protestierte sie lautstark.
»Ich muss das tun«, hatte er sich gewehrt. »Ich muss
endlich einen klaren Gedanken fassen, und das kann ich
nur im Wald. Nachher im Büro muss ich wieder so tun,
als wäre nichts passiert. Ich habe ein ungutes Gefühl.
Irgendwas scheint dort nicht zu stimmen. Ich hoffe, dir
fällt eine Lösung ein, sonst werde ich bald die Polizei
9
benachrichtigen. Etwas, was wir schon viel früher hätten
tun sollen.«
Ein flüchtiger Kontrollblick auf sein Handgelenk verriet Patrick, dass er seinen Schritt etwas verlangsamen
sollte. Sein Puls explodierte regelrecht. Ein beiläufiger
Blick, der ihn die wachsame Sicht nach vorne, für einen
Moment vergessen ließ. Ein Blick, der ihn nicht bemerken ließ, dass sich im Gebüsch vor ihm ein Schatten
auftat. Ein Blick, der ihm aus dem Augenwinkel heraus
noch schemenhaft ein vertrautes Gesicht erkennen ließ.
Ein Blick, der sein Letzter war.
___KAPITEL 1_ _
»Schreib das, was du siehst in ein Buch,
und schick es an die sieben Gemeinden«
Offenbarung 1,11
Nahe Konstantinopel | 16. April 1204
Am Horizont stiegen seit Tagen dunkle Rauchschwaden über der Stadt auf. Je nach Windrichtung trieben sie
Arusch den Duft von verbranntem Holz oder Fleisch in
die Nase. Wenn er nicht gewusst hätte, um welche Art
von Fleisch es sich handelte, er hätte sogar etwas Appetit bekommen. Doch so verspürte er einfach nur Ekel.
Was er in den letzten Tagen beobachtet hatte, ließ ihn
zweifeln, ob auch nur ein Funken Güte in diesen Rittern
steckte. Viele hatten ihm abgeraten, nach Konstantinopel zu reisen.
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»Dort tut sich nichts Gutes«, hatten sie ihm gesagt.
»Bleib dieser Stadt fern!«
Doch er konnte nicht anders, er hatte es seinem Vater
versprochen. Seit vier Tagen befand er sich nun auf dieser Anhöhe, die ihm als Versteck diente. Sie lag unmittelbar vor der belagerten Stadt, abseits der üblichen Pfade auf einem kleinen Hügel, mit Blick auf eine Lichtung.
Er hatte es zufällig entdeckt, als er sich an den Truppenlagern vorbeigeschlichen hatte und vor einer Reitergruppe in die Hecken springen musste. Geschützt wurde Arusch durch zahlreiche Sträucher am unteren Rand
der Anhöhe sowie von ringsum verstreuten Findlingen.
Zusätzlich versperrten knorrige Bäume am flach ansteigenden Hang die Sicht auf sein Versteck. Zwischen den
Felsen konnte man in Ruhe ein Lager errichten und sogar ein Feuer entzünden. Bei dem nicht enden wollenden Qualm, der über der Stadt schwebte, fiel seine
Flamme nicht weiter auf. Dennoch wurde Arusch ungeduldig. Er musste sich etwas einfallen lassen, wollte er in
die Stadt gelangen. Er hatte seinem Vater versprochen,
nichts unversucht zu lassen.
»Die Zeit ist reif«, hatte dieser vor Monaten am Krankenbett zu ihm gesagt. »Ich bin zu schwach und muss
die Aufgabe nun an dich weiterreichen. Ich war zu meinem Bedauern nie in der Lage dazu und musste es stets
hinauszögern. Krieg und Vertreibung haben mich immer wieder gehindert. Und nun schau mich an …«
Dann hatte er Arusch das Buch des Propheten in die
Hände gedrückt.
»Ich habe dir vor Jahren die Bedeutung des Buches
erläutert«, fuhr er fort. »Uns und unserer Stadt brachte
es bisher nur Tod und Unheil. Die Worte darin sind
mächtig. So mächtig, dass sie Städte zerstören können
und es bereits getan haben. Denke nur an Edessa. Zusammen mit den sechs anderen Büchern können die
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Worte gar die ganze Welt vernichten. So, wie der Prophet es vorausgesagt hat. Doch nur mit diesem Buch
und nur …«, er schüttelte mit dem Kopf, »du kennst die
Prophezeiung. Ich habe sie dir oft genug erzählt.« Anschließend hatte er Arusch von seinem Bett weggeschoben. »Geh nun, denn ich weiß nicht, wie lange wir es
noch schaffen, unseren Aufenthaltsort vor unseren Verfolgern zu verheimlichen. Geh und tue das, wozu mir
stets der Mut gefehlt hat.«
Zunächst hatte Arusch Bedenken geäußert, doch er
wollte sich der Herausforderung stellen. »Ich werde dich
nicht enttäuschen, Vater!«
Durch gellende Schreie wurde Arusch aus seinen Gedanken gerissen. Die schrillen Laute kamen vom Waldweg herauf. Vorsichtig robbte er auf allen Vieren nach
vorne und spähte auf die Lichtung. Fünf Ritter mit gezogenem Schwert trieben zwei Männer und eine Frau
vor sich her, deren Hände sie ihnen auf den Rücken gebunden hatten. Die Soldaten trugen dunkelrote Waffenröcke und abgewetzte beige Beinlinge, die mit Blutspritzern übersät waren. Die Gesichtszüge der Ritter waren
kantig, und ihre Augen wirkten auf Arusch dunkel. Auf
dem Gewand zweier Ritter konnte er ein goldenes
Kreuz erkennen, und die Männer sprachen eine Sprache, die er nicht verstand. Er fand, dass es nasal klang.
Einer der Gefangenen, ein rundlicher kleiner Mann,
redete angsterfüllt auf die fünf Antreiber ein. Sein Gesicht war blutverschmiert, und am gesamten Körper erkannte man offene Wunden. Das Oberhemd war zerrissen und von Fackelstößen versengt. Auch seine Mitgefangenen boten ein ähnlich erbärmliches Bild. Der
schluchzenden Frau hatte man den Großteil ihrer Haare
abgeschnitten. Aus der Ferne konnte man kaum noch
erkennen, ob sie nun blond oder schwarzhaarig gewesen
war. Den Dritten im Bunde zerrten die Männer an
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einem Seil hinter sich her. Aus seinen Augenhöhlen
quoll ein Rinnsal von Blut und Eiter. Arusch musste genauer hinschauen, um festzustellen, dass diesem bereits
die Augen herausgestochen wurden.
»Versteht ihr denn nicht?«, schrie der erste Häftling.
»Ich kann euch zu versteckten Schätzen in der Stadt
führen. Schätze, die ihr mit keinem teilen müsst. Ich
kenne geheime Plätze. Ihr werdet durch mich reich werden! So hört mich doch!«
Doch entweder konnten die Ritter ihn nicht verstehen oder sie wollten es nicht. Sie trieben die Gefesselten laut grölend voran. Ihre Absicht schien eindeutig.
›Das könnte deine Chance sein‹, dachte Arusch und
überlegte, was er tun sollte.
Lange genug hatte er auf eine Möglichkeit gewartet,
um in die Stadt zu gelangen. Mit fünf Männern, die
nicht mit einem Angriff rechneten, konnte er es aufnehmen. Schließlich würde sein Versteck nicht ewig unentdeckt bleiben. Ohne weiter nachzudenken, rutschte er
zwischen den Felsen zurück und griff sich sein Schwert
sowie den Bogen. Aus dem Köcher nahm er lediglich
einen einzigen Pfeil. Den Rest wollte er mit dem
Schwert entscheiden. Sein Lederbündel verbarg er noch
schnell unter einem Steinhaufen, und dann rannte er los.
Es war Eile geboten. Die Schreie der Frau und das
Gejohle der Männer drangen immer lauter zu ihm hinauf. Er glitt geschmeidig zwischen Bäumen und Sträuchern den Hang hinab. Nur wenige Schritte vor der
Gruppe verschanzte er sich hinter einem Baum und beobachtete die Szenerie. Die Männer rissen der Frau die
restlichen Kleider vom Leib und schleuderten sie zu
Boden. Zwei der Ritter zogen ihre Beinlinge hinunter
und warfen sich geifernd über ihr Opfer.
Wild entschlossen und mit einem kurzen Gebet auf
den Lippen legte Arusch seinen Bogen an, um dem
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Treiben ein Ende zu setzen. Er feuerte seinen Pfeil ab,
der sich mitten durch den Hals eines Ritters bohrte. Der
Getroffene fiel rudernd vornüber und landete röchelnd
auf dem Rücken eines seiner entblößten Kameraden.
Unfähig zu schreien, da ihm der Kehlkopf weggerissen
wurde, hauchte der Mann sein Leben aus. Die verbliebenen vier Kreuzritter schauten sich verdutzt um und
sahen nur noch einen jungen Mann mit schwarzem langen Haar und erhobenem Schwert geradewegs auf sich
zustürzen.
___KAPITEL 2_ _
»Und der Engel sagte zu mir:
Diese Worte sind zuverlässig und wahr.
Gott der Herr über den Geist der Propheten hat seinen
Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was bald
geschehen muss.«
Offenbarung 22,6
Köln | 23. Februar 2008
»Frau Kemmerling? - Hallo?«
Emma Kemmerling starrte gedankenverloren auf
ihren Flachbildmonitor.
»Frau Kemmerling!«, hallte es nun lauter im Raum.
»Haben Sie mich verstanden?«
»Wie bitte?«, erwiderte Emma.
Sie blickte ihrer Mandantin, Waltraud Steckel, verwirrt
in die Augen und nickte mechanisch mit dem Kopf.
14
___KAPITEL 1_ »Ehrlich, Silvia, du hast den schärfsten Po
auf der ganzen Messe. Und zwar mit Abstand.«
Silvia Augustin hielt überrascht den Atem an. Sollte das ein
Kompliment sein? In über dreißig Jahren ihres Lebens hatte
noch kein Mann so etwas zu ihr gesagt. Sie hatte keine
Ahnung, was sie auf eine solche Äußerung erwidern sollte.
Darüber hinaus kamen diese Worte nicht von irgendjemandem, sondern von Robin Huth, ihrem direkten Vorgesetzten
und Juniorchef der Firma.
Gemeinsam hatten sie drei Tage lang den Hersteller von
Haarpflegeprodukten auf der Messe vertreten und jede freie
Minute mit wichtigen Kunden verbracht. Aus diesem Grund
hatte Silvia es als angemessen empfunden, als Robin sie an
diesem letzten Abend zum Essen und danach zu einem
Absacker an die Hotelbar eingeladen hatte. Doch jetzt, als sie
nach einem Abstecher zur Damentoilette zu ihrem Platz
zurückkehrte, verfolgten seine Blicke sie quer durch den
Raum. Als sie nun bei ihm angekommen war, raunte er ihr
diesen unerhörten Satz zu: »… du hast den schärfsten Po auf
der ganzen Messe. Und zwar mit Abstand.«
Eine solche Bemerkung hätte sie sich verbitten müssen,
oder sie hätte ihn sitzen lassen und gehen sollen. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen und wusste mit
Anzüglichkeiten umzugehen. Aber Robin war nicht nur ihr
Chef, sondern gleichzeitig ein Kerl wie aus einem HollywoodFilm. Er sah unverschämt gut aus, und er hatte eine erstaunliche Wirkung auf seine Mitmenschen, vor allem auf Frauen.
Wohin er auch kam, er fiel auf und wurde sofort beachtet. Es
war schwer festzustellen, ob das an seiner Größe lag, seinem
durchtrainierten Körper, dem Kontrast zwischen seinen fast
schwarzen Haaren und den leuchtend blauen Augen oder an
der natürlichen Autorität, die er ausstrahlte. Jedenfalls stieß er
in der Regel auf wenig Widerspruch gegen das, was er sagte.
Auch Silvia erwiderte auf seine Dreistigkeit nichts. Weil ihr
zum einen keine passende Antwort einfiel und weil sie sich
zum anderen wider besseres Wissen nicht wehren wollte.
Stattdessen genoss sie insgeheim die Begehrlichkeit, mit der
5
seine Blicke sie abtasteten. Doch obwohl er nicht auf Abwehr
stieß, vertiefte er den Punkt nicht weiter, sondern wechselte
abrupt das Thema. »Ich habe mir in den letzten drei Tagen
die Logos unserer Konkurrenten angeschaut. Dabei ist mir
aufgefallen, dass die meisten inzwischen etwas Neues, Moderneres entwickelt haben. Ich bin der Ansicht, dass wir unseres
auch überarbeiten sollten. Es wirkt altmodisch, leicht verstaubt. Das können wir uns in dieser Branche nicht erlauben.
Was meinst du dazu?«
Silvia nickte leicht benommen, während sie auf ihren Barhocker kletterte. Robin sprach ihr aus der Seele.
»Nicht nur das Logo könnte eine Modernisierung vertragen«, erklärte sie. »Auch der Name ›Huth Haarpflege-Produkte‹ klingt, ehrlich gesagt, etwas altbacken.«
Robin schaute versonnen in seinen Caipirinha. »Damit hast
du recht. Aber ›Huth Hair Care‹ ist auch nichts. Das hört sich
an, wie gewollt und nicht gekonnt.«
»Außerdem hat dein Vater sicher etwas dagegen, wenn die
Produkte englische Namen bekommen, oder? Er sagt doch
immer …«
»Eins nach dem anderen«, unterbrach Robin sie. »Der erste
Schritt ist, eine vernünftige Bezeichnung für unsere Produkte
und einen Entwurf für ein zeitgemäßes Logo zu finden. Meinen Vater von neuen Ideen zu überzeugen ist der zweite
Schritt.«
Es war so, als sei der Satz über ihren Po nie gefallen, und
allmählich gelangte Silvia zu der Überzeugung, sie habe sich
verhört oder Robin falsch verstanden. Sie diskutierten über
verschiedene Möglichkeiten, den Firmennamen aufzupeppen,
zeichneten Logos auf Bierdeckel, bestellten nach dem ersten
Drink einen zweiten und diskutierten weiter. Erst als Silvia
mehrmals hintereinander verstohlen gähnte, packte Robin die
Bierdeckel mit den Entwürfen ein und bezahlte die Getränke.
Er begleitete sie bis zu ihrer Zimmertür, doch als sie sich dort
von ihm verabschieden wollte, fragte er: »Zeigst du ihn mir?«
Verwirrt schaute sie ihn an. »Was soll ich dir zeigen?«
»Deinen String. Muss scharf aussehen, bei deinem Po.«
6
Er musste genau hingesehen haben, um erraten zu können,
was sie unter ihrem Rock trug.
»Woher weißt du ...«, begann sie und biss sich gleich darauf
auf die Lippen. Aber es war zu spät: Sie hatte ihm verraten,
dass er richtig getippt hatte. Wieder war sie weit davon entfernt, empört zu sein, sondern fühlte sich stattdessen geschmeichelt.
Er wartete ab, während sie fieberhaft überlegte, was sie antworten sollte. Schließlich schüttelte sie bedauernd den Kopf.
»Das geht nicht, Robin. Ich bin nicht auf der Suche nach
einem Mann, der mit mir schläft. Den habe ich nämlich zu
Hause.«
Damit öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer. Er ließ die
Schultern sinken, machte aber keinerlei Anstalten, sie zurückzuhalten.
»Ich werde dich nicht zu etwas drängen, was du nicht
willst«, antwortete er bestimmt. »Auch wenn ich es sehr schade finde. Gute Nacht, Silvia.«
Sie hätte ihn gehen lassen können, und nichts wäre geschehen. Im Nachhinein betrachtet, wäre das ein einfacher und
logischer Ausweg gewesen. Doch genau das kam ihr in diesem Moment unmöglich vor. Sie wollte auf keinen Fall, dass
er ging.
»Warte!«, hielt sie ihn zurück. »Ich zeig ihn dir.«
Er lehnte mit der Schulter am Schrank ihres Hotelzimmers
und sah zu, wie sie ihr Kostüm und ihre Bluse auszog. Berauscht von dem Gefühl, die Fäden in der Hand zu halten, an
denen er zappelte, streifte sie langsam die Strumpfhose ab.
Sie hörte, wie er die Luft einzog und anhielt. Als sie sich
wieder aufrichtete, hatte sich der Ausdruck in seinem Gesicht
verändert. Er stieß seine Schulter vom Schrank ab, kam auf
sie zu.
»Komm«, hörte sie ihn sagen. Mehr nicht. Er sprach leise,
und doch war es eine Anordnung, ein Befehl, dem sie sich
nicht widersetzen konnte oder wollte. Nun war nicht mehr sie
es, die die Kontrolle hatte, sondern er. Er nahm sie in seine
Arme, umfasste ihren Po, streifte mit einer wie zufällig wir7
kenden Bewegung die Träger ihres BHs von ihren Schultern.
Als sie auch dagegen keinen Protest erhob, verschwand seine
Kleidung im Handumdrehen, ohne dass er zu irgendeinem
Zeitpunkt hastig gewirkt hätte. Er setzte sich auf das Bett, zog
sie zu sich herunter. Sie spürte seine Haut an ihrer, sein
Daumen strich die Konturen ihrer Lippen entlang und schob
sich in ihren Mund. Sie saugte daran, keinen Moment lang im
Zweifel über die symbolhafte Bedeutung dieser Geste, und
dann gab es nichts mehr, das ihn hätte zurückhalten können.
Sie sah das Siegerlächeln um seinen Mund, das ihr ein wenig höhnisch erschien. Silvia betrachtete seinen muskulösen
Oberkörper und entdeckte einen angriffslustigen Skorpion,
der auf seiner Brust eintätowiert war, knapp oberhalb der Linie, wo die dunklen Haare anfingen. Der Skorpion streckte
ihr seinen Stachel angriffslustig entgegen.
›Eigentlich mag ich weder Tattoos noch Skorpione‹, dachte
sie und wusste, dass sie nicht tun sollte, was sie da vorhatte
… und tat es dennoch.
Er war nicht gerade zärtlich, aber das störte sie nicht. Im
Gegenteil. Die Gier, die aus jeder seiner Berührungen sprach,
steigerte ihre Lust. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals
zuvor als so begehrenswert empfunden zu haben, auch wenn
sich bereits zu diesem Zeitpunkt der bittersüße Beigeschmack
des Verbotenen in ihre Gefühle mischte. Es war ihr klar, dass
es falsch war, Sex mit ihm zu haben. Dennoch genoss sie es,
kostete ihre Begierde aus. Das half allerdings nicht im Geringsten gegen ihre Schuldgefühle, vielmehr vermehrten sie
sich dadurch beträchtlich. Und kaum dass es vorbei war, wurden sie übermächtig.
»Du musst gehen, Robin«, verlangte sie, »jetzt gleich.«
»Aber du hast es doch auch gewollt«, wandte er ein.
»Ich weiß«, gab sie zu. »Das macht es nicht besser. Ich hätte
es einfach nicht tun dürfen. Niemals.«
Es kostete ihn nur ein Achselzucken aufzustehen, sich anzuziehen und ihr Zimmer zu verlassen. Sie quälte sich dagegen mit Gewissensbissen. Das Schlimmste war, dass sie Holger betrogen hatte. Den Mann, mit dem sie seit vier Jahren
8
zusammenlebte. Auch wenn es in ihrer Beziehung Schwachpunkte gab, war das kein Grund und keine Entschuldigung
dafür, mit einem anderen Mann ins Bett zu steigen.
___KAPITEL 2 _ Im Hause Gerhardt herrschte dicke Luft.
Jenny saß auf dem Sofa und bemühte sich, schuldbewusst
auszusehen, in der Hoffnung ihren Vater dadurch zu besänftigen. Aber dieser tigerte rastlos von einem Ende des Wohnzimmers zum anderen. Er unterbrach dieses Hin und Her
nur, um sich immer wieder vor seiner Tochter aufzubauen.
»Wie konntest du nur?«, brüllte er jetzt. »Der Mann ist Vater von zwei kleinen Kindern. Hast du daran auch nur einen
Moment lang gedacht?«
Aus dem Sessel, in dem Jennys Mutter saß, drang ein verzweifeltes Schluchzen, aber weder das noch die Ausbrüche
ihres Vaters rührten Jenny. Sie wollte nur, dass die Strafpredigt endlich vorbei war und das Urteil gesprochen wurde, damit sie erfuhr, was ihr blühte.
Natürlich hatte sie von Jörgs Kindern gewusst, aber denen
wollte sie keineswegs etwas wegnehmen. Er war ein gut aussehender Mann, und sie wollte Sex mit ihm. Mehr nicht. Sie
hatte sich gedacht, dass seiner Frau dafür wenig Lust und
Energie übrig blieb, nachdem sie den ganzen Tag die beiden
kleinen Kinder beaufsichtigt hatte. Jenny hatte ihr Verhältnis
mit Jörg für die ideale Ergänzung zu seiner Ehe gehalten.
Sie musste sich keine große Mühe geben. Dass es zwischen
ihnen knisterte, merkten sie beide. Er war Kundenberater in
derselben Bank, in der sie ihre Lehre begonnen hatte, und sie
war an einem Abend länger geblieben, an dem er bis spät
abends arbeitete. Später hatte er behauptet, er habe geahnt,
was sie vorhatte, und sei deshalb extra geblieben, bis alle anderen gegangen waren. Als nur noch er und Jenny in der
Bank waren, ergab sich der Rest von allein. Ihr Verhältnis
9
geheim zu halten, war weitaus schwieriger, denn sie wohnten
in einer Kleinstadt, in der jeder jeden kannte.
»Wie stehen wir denn jetzt da? Die Leute zeigen mit dem
Finger auf uns, und ich kann es ihnen noch nicht einmal verdenken.« Ihr Vater riss sie aus den Gedanken zurück in die
Realität. Jenny war sich nicht sicher, was ihr unangenehmer
war: seine lautstarken Ausbrüche oder das eisige Schweigen
dazwischen. Ihre Mutter schnäuzte sich. Sie sagte nichts.
Genau wie Jenny.
Ein paar Mal hatten Jörg und sie sich im Wohnwagen ihrer
Eltern getroffen, für den sie den Schlüssel stibitzt hatte. Einmal war sie ihm nach München hinterhergefahren, wo er an
einer Fortbildung teilnahm, und hatte sich in sein Hotelzimmer geschmuggelt. Sie hatten hin und wieder spät abends
ihren Arbeitsplatz für ein Schäferstündchen genutzt. Das
konnten sie nicht oft tun, weil sie sich sonst verdächtig gemacht hätten. Sie waren vorsichtig gewesen, aber nicht vorsichtig genug, denn gestern Abend hatte Jörgs Schwager sie in
flagranti erwischt. Jörg war sofort nach Hause gefahren, hatte
seiner Frau alles gebeichtet und um Verzeihung gebeten.
Jenny dagegen fand nicht, dass sie jemanden um Verzeihung
bitten musste. Jedoch wusste seit heute Morgen jeder in der
Stadt Bescheid, einschließlich ihrer Eltern. Der Filialleiter der
Bank hatte ihr nahegelegt, sich eine andere Lehrstelle zu suchen, weil sie für ihn nicht mehr tragbar sei.
»In der Großstadt geht so etwas vielleicht, Frau Gerhardt«,
hatte er erklärt. »Aber nicht bei uns, wo alle Kunden spätestens morgen darüber im Bilde sind, was hier gelaufen ist.«
Jenny hatte zwar den Verdacht, dass er ihr vor allem übel
nahm, mit Jörg und nicht mit ihm geschlafen zu haben. Da
aber die Sache mit der Banklehre ohnehin eine Idee ihres
Vaters gewesen war, hatte sie ihren Schreibtisch ohne Bedauern geräumt. Ungerecht fand Jenny nur, dass sie nun als
Femme fatale galt, während die meisten Leute mit Jörg eher
Mitleid zu empfinden schienen. Dabei war er es gewesen, der
seine Frau betrogen hatte, während sie sich vor niemandem
rechtfertigen musste, auch nicht vor ihrem Vater.
10
»Du musst von hier verschwinden«, verkündete er, und
Jenny spitzte zum ersten Mal seit Beginn der Strafpredigt die
Ohren. »Wenigstens so lange, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
Als er sich wieder abwandte, wagte sie einen Vorstoß:
»Vielleicht könnte ich nach Frankfurt ziehen?« Dort wohnten
ihre beiden Schwestern Inge und Saskia in einer gemeinsamen
Wohnung. Zwar verstand sie sich mit denen nicht besonders
gut, aber immerhin käme sie auf diese Weise in eine Großstadt mit Universität.
Herr Gerhardt fuhr herum. »Und was willst du dort machen, wenn ich fragen darf?«
Jenny schlug die Augen nieder. »Jura studieren.« Das hatte
sie gleich nach dem Abitur tun wollen, aber ihr Vater hatte
diese Idee für Unsinn gehalten.
»Niemand in unserer Familie hat studiert«, lautete sein Bescheid. Schon dass sie bis zum Abitur das Gymnasium besuchen musste, empfand er als Zeitverschwendung. Ihre
Schwestern waren nach der Mittleren Reife von der Schule
gegangen und hatten kaufmännische Berufe gelernt. Nach der
Prüfung waren beide nach Frankfurt gezogen, angeblich, weil
sie nur dort eine Stelle gefunden hatten. Jenny war aber überzeugt, dass sie der Enge der Kleinstadt und der Kontrolle
ihres Vaters hatten entkommen wollen. Sie gedachte nun, es
ihnen gleich zu tun.
»So ein Studium dauert Jahre«, bellte Herr Gerhardt nach
kurzer Bedenkpause. »Wie lange willst du mir auf der Tasche
liegen? Du bist zwanzig! Als deine Mutter so alt war, war sie
mit mir …«
»Ich werde neben dem Studium arbeiten«, unterbrach Jenny
ihn mutig. Sie wusste, dass ihre Mutter mit zwanzig geheiratet
und mit einundzwanzig das erste Kind bekommen hatte, betrachtete diesen Lebensweg aber keineswegs als leuchtendes
Beispiel.
»Du willst deinen Lebensunterhalt selbst verdienen und nebenher studieren?« Herr Gerhardt verschränkte die Arme vor
der Brust und musterte sie mit einem Blick, der deutlich er11
kennen ließ, dass er das Gelingen eines solchen Vorhabens in
Frage stellte.
Jenny schluckte. »Lass es mich wenigstens versuchen.«
Bislang hatte sie bei ihren Eltern gelebt, ohne etwas dafür
zu bezahlen. Das Geld, das sie bei ihrer Lehrstelle verdiente,
konnte sie als Taschengeld behalten. Wenn sie in Zukunft auf
sich allein gestellt war, würde sie sich erheblich einschränken
müssen.
»Ich soll dich wohl für das belohnen, was du uns angetan
hast«, schnaubte Herr Gerhardt. »Warum sollte ich deine
Hirngespinste unterstützen?«
»Wenn ich die Lehre fortsetzen würde, bräuchte ich dafür
noch mindestens zweieinhalb Jahre«, rechnete Jenny ihm vor.
»Wenn du mir zwei weitere Jahre lang das Geld für Wohnung
und Essen geben würdest, könnte ich das mit dem Studium
hinkriegen. Und als Rechtsanwältin werde ich später wesentlich mehr verdienen als eine Bankangestellte.«
Zu ihrem Glück schien ihr Vater von ihrer Entschlossenheit beeindruckt. »Ich rede mit Saskia«, bestimmte er. »In
der ersten Zeit kannst du bei deinen Schwestern wohnen. Die
Wohnung ist groß genug für drei. Erstens kommt es billiger,
wenn ich zu der Miete etwas dazuschieße, als wenn du dir
etwas Eigenes suchst. Und zweitens wissen deine Mutter und
ich wenigstens, dass jemand auf dich aufpasst. Sonst baust du
gleich den nächsten Blödsinn.«
Er fixierte sie mit seinen kleinen, stechenden, wässrigblauen
Augen und erklärte eindringlich: »Zwei Jahre, Jenny, keinen
Tag länger. Damit das klar ist. Ich finde, dann habe ich meine
Pflicht und Schuldigkeit getan. Noch eine solche Schote wie
die mit diesem Jörg Burgheimer«, an dieser Stelle schluchzte
Jennys Mutter laut auf, »und der Geldhahn ist zu.«
Damit rauschte er aus dem Zimmer, und Jenny atmete auf.
Sie war mit dem Verlauf des Gesprächs zufrieden. Für ein
paar Wochen würde sich das Zusammenleben mit ihren
Schwestern ertragen lassen. Hauptsache, sie kam nach Frankfurt. Wenn sie erst einmal dort war, würde sich wegen der
Wohnung sicher eine Lösung finden lassen. Irgendeinen
12
Mann, der sie finanziell unterstützte, würde sie sich schon angeln. Selbst falls ihr das wider Erwarten nicht gelingen sollte,
war sie sich sicher, dass ihr Vater rein rechtlich gesehen, nicht
einfach ›den Geldhahn zudrehen‹ konnte. Im Jurastudium
würde sie zu diesem Thema bestimmt mehr erfahren.
___KAPITEL 3_ »Uuuund … Basic rechts. Das ist der
Grundschritt. Mit dem rechten Fuß beginnen.«
Ulrike tat ihr Möglichstes, die Kommandos der Trainerin
zu befolgen. Das war aber nicht so leicht, wie es sich anhörte.
Innerlich verfluchte sie ihre Idee, zu diesem Step-AerobicKurs zu gehen. Der Entschluss war voreilig gewesen, eine Panikreaktion. Es war Mitte Mai und als sie probehalber ihren
Bikini angezogen hatte, war ihr klar geworden, dass sie dringend ein paar Pfunde von ihrem Kummerspeck loswerden
musste. Sonst hätte sie sich für ihre Figur in Grund und Boden schämen müssen, wenn sie in diesem Sommer schwimmen gehen wollte.
Als ihr beim Einkaufen jemand den Reklame-Flyer des Fitness-Studios in die Hand drückte, hielt sie das für einen Wink
des Schicksals. Nach einer Viertelstunde Training jedoch hatte ihr Gesicht bereits einen satt tomatenroten Farbton angenommen.
»Erst mal halbes Tempo. Mit dem rechten Fuß rauf auf den
Step, dann mit dem linken. Mit dem rechten wieder runter
und mit dem linken auch. Noch mal langsam. Rechts hoch,
links hoch, rechts runter, links runter. Ja, prima! Und jetzt:
doppelt so schnell.«
Auch Ulrikes Plan, sich möglichst weit hinten im Gymnastik-Saal zu verstecken, war in dem Moment zunichte gemacht worden, als die Trainerin sie entdeckt hatte.
»Du bist neu heute, stimmt’s?«, hatte diese sich vor Beginn
der Stunde erkundigt. Als Ulrike halb bestätigend, halb ent-
13
Als alles seinen Anfang nahm
WIE EIN GLUTROTER FEUERBALL sank die Sonnenscheibe dem Wasserspiegel entgegen. Ihre Strahlen
tauchten die Oberfläche des nur in sanften Wellen dahinplätschernden Meeres und die über ihr in bizarren Formen
treibenden Wolken in ein faszinierendes, kurioses und unbeschreibliches Farbspektrum zwischen Sonnenblumengelb
und dunkelstem Bordeaux. Flammen schienen am Horizont
emporzulodern, den Feuerball einzuhüllen. Wollte die lichtund wärmespendende Kugel mit diesem grandiosen Feuerwerk für immer ihren Abschied nehmen? Tiefer und tiefer
glitt sie, zog die hellen Farbtöne mit sich, verwandelte das
Ende des sichtbaren Himmels in einen Ozean aus Blut und
Lava. Langsam, so langsam, dass die einsame Gestalt, die
reglos auf der höchsten Düne des einsamen Strandes stand,
das Schauspiel in all seiner ehrfurchtgebietenden Schönheit
verfolgen konnte, veränderte sich das Bild. Wie aus den
Unendlichkeiten des Alls schoben sich dunkle Schwaden in
das leuchtende Rot, verwischten es, überdeckten es und
brachten es schließlich ganz zum Erlöschen. Ein letztes aufbegehrendes Auflodern, dann versank die Sonne endgültig
unter den Wasserteppich. Auch ihre sich wie ein aufgeschwungener Fächer zum Halbkreis ausstreckenden Strahlen
konnten das allmähliche Verglimmen nicht verhindern. Die
Dämmerung zog herauf, und wo vor ein paar Minuten noch
ein heftiger Kampf um die Vorherrschaft getobt hatte, setzte sich nun die Nacht mit ihrer alles einschließenden Dunkelheit gegen das Licht des Tages durch. Samtblau mit unendlich vielen Sternen legte sie sich wie eine Decke über das
Land.
Noch immer stand Antalia auf ihrer Düne, einsam, gebannt beobachtend. Aufgewachsen am Fuß der Berge, umgeben von üppigen Wiesen, grünen, rauschenden Wäldern,
zackigen Felsen und gurgelnden Bächen war dieser Sonnen5
untergang ein solch überwältigendes Erlebnis. Es dauerte
noch eine ganze Weile, bis sie das faszinierende Naturschauspiel verarbeitet hatte und mit einem Senken der Augenlider
ein erstes Zeichen von Leben in ihren Körper zurückkehrte.
Vor wenigen Tagen hatte sie ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert. Das Schuljahr hatte seinen Abschluss gefunden,
und der obligatorische Familienurlaub, auf den sich alljährlich jeder bereits zu freuen begann, sobald die Rückreise des
vorangegangenen angetreten werden musste, hatte sie in diesem Jahr erstmals ans Meer geführt. Vater, Mutter und ihre
zwei Brüder hatten es nach der anstrengenden Herfahrt
nicht mehr über sich gebracht, die kleine Blockhütte, die
nun ihr Feriendomizil war, zu verlassen. Antalia jedoch, angetrieben von einer Sehnsucht, die sie sich selbst nicht
erklären konnte, hatte ihre Eltern um Erlaubnis gebeten. Sie
war seltsam elektrisiert dem kleinen Trampelpfad zwischen
den Sandhügeln hindurch gefolgt. Als dieser zum Strand
hinunter führte, war sie links abgebogen und diese Düne
hinaufgeklettert. Ihre Augen hatten die riesige Wasserfläche
noch kaum erfasst, als eine warme Woge wie ein freudiger
Willkommensgruß durch ihren Körper gefahren war.
›Mein Zuhause!‹ Irgendwie kam dieser Gedanke über sie.
Und obwohl Antalia von Natur aus weder grüblerisch veranlagt war noch zu Träumereien neigte, manifestierte er sich
derart nachdrücklich, dass sie nicht umhin konnte, ihm eine
gewisse Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen. Ein Blick auf
die kleine Armbanduhr, die ein Geschenk ihrer Brüder
gewesen war, ließ sie zusammenzucken. Wie schnell doch
die Zeit vergehen konnte, wenn die Sinne gefesselt waren.
Aufseufzend kehrte sie der nun zu einer leicht wogenden,
dunkelgrau gewordenen Wasserfläche den Rücken und trat
den Heimweg an.
Als sie die Tür der Hütte öffnete, schallte ihr aus deren
zwar kleinen, aber gemütlichen Wohn- und Aufenthaltsraum lautes Gelächter entgegen. Im warmen Licht zweier
wie Fackeln geformter Lampen saß ihre Familie. Sie hielten
Spielkarten in den Händen. Auf den beiden sich gegenüber6
stehenden Sofas hatten sie Platz genommen. Jori, ihr ältester
Bruder, setzte ein schelmisches Grinsen auf. Seelenruhig
sortierte er den Stapel aufgenommener Karten in sein eigenes Blatt ein und schrieb sich unglaublich viele Punkte zu.
Toran verdrehte die Augen.
»Neben den setz ich mich nicht mehr!«, brummte er verdrießlich. »Egal, was wir spielen, immer schnappt er mir das
Beste vor der Nase weg!«
Gutmütig legte Jori seinen Arm um dessen Schultern.
»Nimm’s nicht so schwer, Bruderherz. Deine Chance
kommt auch noch.«
»Sahnt er wieder alles ab?«, fragte Antalia näher tretend.
Im Licht der Lampen fiel der Unterschied zwischen ihr
und den anderen Familienmitgliedern noch deutlicher auf
als am Tag. Während deren Haarfarben von dunklem Braun
bis Pechschwarz reichten, waren ihre von einem hellen
Flachsblond, und kleine Flämmchen schienen über sie hinweg zu tanzen, als sie aus der Dämmerung in den Lichtkreis
trat. Auch hatte es den Anschein, als bewegten sie sich in
einer sanften Brise, obwohl in dem Zimmer kein Lüftchen
wehte. Ein paar Strähnen hatten sich aus den Bändern,
Gummis und Spangen gelöst, mit denen sie, wie immer vergeblich, versucht hatte, sie zu bändigen. Sie waren ihr ins
Gesicht gefallen, dessen ebenmäßigen Züge sie beinahe
ätherisch hübsch aussehen ließen. Auch ihre Augen warfen
die Helligkeit in einer Weise zurück, die äußerst ungewöhnlich war. Wie honigfarbener Bernstein funkelten sie heute.
An manchen Tagen jedoch wirkten sie dunkel wie Portwein
oder sanft wie Whisky. Diese Ungewöhnlichkeiten waren, je
älter Antalia geworden war, immer deutlicher zutage getreten, fielen jedoch nur bei längerer, intensiver Beobachtung
auf. Für ihre Familie war es so selbstverständlich, dass auch
an diesem Abend niemand weiter Notiz von ihrer wechselnden Augenfarbe und den ihren Kopf umspielenden
Lichtreflexen nahm.
Ari und Marian rückten ein wenig zusammen. Antalia
setzte sich neben ihre Eltern, verfolgte die bereits laufende
7
Spielrunde ebenso gespannt wie die Spieler und stieg bei der
folgenden Runde problemlos mit ein. Lange noch saßen sie
so zusammen, redeten und lachten, genossen es, unter keinerlei Zeitdruck zu stehen und begaben sich, erst als die
Dämmerung bereits wieder einsetzte, in ihre Betten.
Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit langen Spaziergängen am mit weißem Sand belegten, kilometerlangen
Strand entlang. Baden im glasklaren Wasser. Federball und
Frisbee spielen. Faulenzen. Ruhige, gemeinsame Mahlzeiten
zu sich nehmen. Viele Unternehmungen, an denen alle ihre
Freude hatten.
Obwohl kein Mitglied der Familie wasserscheu war, verbrachte Antalia mit Abstand die meiste Zeit in den Fluten.
Ohne Furcht schwamm sie oft mehrere hundert Meter weit
hinaus. Sie tauchte hinab zu den Korallenbänken, beobachtete das bunte Treiben der Fische, sammelte seltene Muscheln oder ließ sich einfach nur von den Wellen treiben.
Hier befand sie sich in ihrem Element. Schon immer. Seit
sie sich erinnern konnte, liebte sie das Wasser. Nie hielt es
sie in ihrem Zimmer, wenn der Himmel seine Schleusen
öffnete. Kaum dass sie laufen gelernt hatte, war auch das
Schwimmen ein nicht mehr wegzudenkender Teil ihres Lebens geworden. Sie war Mitglied der Schulmannschaft und
nahm regelmäßig an Wettkämpfen teil. Am wohlsten jedoch
fühlte sie sich, wenn man sie sich einfach im Wasser bewegen ließ.
Hier konnte sie diesem Bedürfnis zum ersten Mal in dem
Maße nachgeben, wie sie es als nötig empfand. So blühte sie
regelrecht auf. Ihre Haut bräunte sich, eine tief empfundene
Freude manifestierte sich in ihr, und sie fühlte sich glücklich
wie niemals zuvor. Jeden Abend stieg sie auf ihre Düne
hinauf. Sah sich von hier aus den Sonnenuntergang an. Ließ
sich von den Farbspielen verzaubern. Auch die wenigen
Tage, an denen es stürmte und die Wellen weit den Strand
hinaufrollten, konnten ihrer Euphorie keinen Abbruch tun.
Im Gegenteil. Fast gewaltsam musste sie gegen den Wunsch
ankämpfen, sich nicht geradewegs in die tosenden Fluten zu
8
stürzen, sich mitziehen zu lassen, in den Ozean hineinzugleiten und in den Wassermassen zu versinken. Nur
Jori schien diesen sonderbaren Drang in ihr zu spüren, denn
immer wieder sah er sie warnend an und schüttelte unmerklich den Kopf.
So reihten sich die Tage aneinander. Urplötzlich waren
vier Wochen vorbei. Die Heimreise stand an. Allen schien
diesmal der Abschied schwerer zu fallen als bei den bisherigen Urlauben. Antalia jedoch brach es fast das Herz. Am
letzten Abend stieg sie noch einmal den hohen Sandhügel
hinauf. Ließ sich diesmal, entgegen ihrer Gewohnheit, auf
den staubfeinen Körnchen nieder, und ihr Blick verharrte
noch auf dem Horizont, nachdem die Dunkelheit längst
sämtliche Farben verschluckt hatte.
9
Schleichende Veränderungen
WIEDER ZUHAUSE GENOSS die Familie zwei weite-
re arbeitsfreie Wochen. Dann kehrte für alle wieder der Alltag ein. Jori und Toran nahmen ihre Studien im 500 Kilometer entfernten Colligaris wieder auf. Marian und Ari kehrten
zu ihrer Arbeit als Touristenführer zurück. Antalia trat die
erste Klasse der Oberstufe der Domarillis-Schule in Olayum
an - einem Internat, das vorwiegend sportbegabte Schüler
und Schülerinnen besuchten. Optimale Trainingsmöglichkeiten in vielen verschiedenen Sportarten wurden ihnen dort
geboten und die Chance, in eines der großen Sportteams der
Nation aufgenommen zu werden.
Antalia freute sich über die Rückkehr zur Schule. Sie hatte
eine kleine, aber zuverlässige Gruppe von Freunden, kam im
Unterricht bisher ohne große Anstrengungen mit und sehnte sich in gewisser Weise auch nach dem Training. Die Umstellung nach den Ferien fiel allen in den ersten Tagen noch
etwas schwer, aber nach und nach gewöhnten sie sich wieder an den strukturierten Ablauf. So nahm Antalia auch
zunächst die kleine Veränderung gar nicht recht wahr und
reagierte erstaunt, als ihre Freundin Nerit, die in den meisten
Unterrichtsfächern neben ihr saß, sie eines Morgens leicht
rüttelte. Sie fragte, ob Antalia die Frage, die die Lehrerin
soeben an sie gerichtet hatte, nicht beantworten wolle. Antalia hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie angesprochen worden war. Leicht errötend entschuldigte sie sich, bat
um die Wiederholung der Aufgabe und antwortete dann mit
der gewohnten Sicherheit.
Zunächst nur gelegentlich, aber nach dem Jahreswechsel
zunehmend häufiger, reihten sich solcherlei Geschehnisse
aneinander, und die Ausrede, sie habe wohl vom vorangegangenen Training noch Wasser in den Ohren, verlor allmählich ihre Glaubwürdigkeit. Hatte sich Antalia anfangs
kein bisschen über den augenscheinlichen Verlust ihrer
10
Hörfähigkeit Gedanken gemacht, so begannen diese immer
wiederkehrenden Aussetzer nun doch, sie zu ängstigen.
Hinzu kam, dass sie an manchen Tagen von ihrem Sitzplatz
in der vorletzten Reihe des Klassenzimmers aus kaum in der
Lage war, Texte oder Formeln zu entziffern. Weder ihr optisches noch ihr akustisches Wahrnehmungsvermögen
waren dauerhaft beeinträchtigt. Die stetig sich wiederholenden Defizite jedoch setzten ihr mehr und mehr zu. Sie
versuchte, ihre innere Unruhe zu überspielen, aber weder
Nerit noch Oriri oder Xero konnte sie über ihre wirkliche
Stimmung hinwegtäuschen.
»Geh zu Madame Galidu«, riet ihr Oriri. »Vielleicht sollte
ein Mediziner überprüfen, ob es etwas wirklich Ernstes ist.«
Ergeben nickte Antalia. Auf diese Idee war auch sie schon
gekommen, nur … sie wollte die Diagnose gar nicht hören.
Irgendwo tief in ihr war sie sich sicher, dass ihr auch die
Mediziner nicht würden helfen können. Die Klassenlehrerin,
die zugleich auch die Ansprechpartnerin der Schüler war,
lauschte konzentriert Antalias Ausführungen, machte sich
ein paar Notizen und schickte sie, wie schon erwartet, zu
Redor, einem der drei Heilkundler, die fest an der Schule
angestellt waren. Dieser untersuchte sie gründlich. Stellte ihr
eine Menge Fragen. Überprüfte ihre Augen. Sah in ihre
Ohren, murmelte gelegentlich vor sich hin. Füllte schließlich
einen Überweisungsschein aus und verwies sie an den Optiker des nahe liegenden Städtchens Domar, um ihr eine Brille
anfertigen zu lassen.
»Außer dass deine Linse ein wenig angegriffen ist, kann
ich nichts weiter feststellen«, beruhigte er sie. »Vielleicht
kann eine Brille Entlastung bringen, und der Rest regelt sich
von selbst. Mach dir nicht zu viele Gedanken, Antalia. Richtig krank fühlt sich anders an.«
Mit einem freundlichen Lächeln entließ er sie, und dem
Mädchen fiel ein Stein vom Herzen. So ihrer Sorgen enthoben, verliefen die nächsten Wochen auch tatsächlich ohne
weitere Unannehmlichkeiten. Bis sie eines Morgens beim
Blick in den Spiegel eine kleine Erhebung ähnlich der eines
11
heranreifenden Pickels unter ihrer Kehle entdeckte. Sie versuchte, ihn aufzukratzen oder auszudrücken – erfolglos.
Auch fühlte er sich unter ihren Fingern hart an. Wesentlich
härter als eine gewöhnliche Hautunreinheit. Und dieses
Ding wuchs! Innerhalb weniger Tage schwoll es auf die
Größe ihres kleinen Fingernagels an. Seine Farbe und die
absolut ebenmäßige, glatte Rundung erinnerten an eine perfekte Perle von schimmerndem Perlmutt. Läge jetzt noch
eine Kette um ihren Hals, man hätte sie für ein wundervolles Schmuckstück halten können. Natürlich konnte sie
diese neuerliche Veränderung nicht geheim halten. Dafür lag
die Perle an einer zu offensichtlichen Stelle.
Wieder wurde sie zu Redor geschickt. Diesmal lächelte er
nicht mehr so unbekümmert, nachdem er das Mädchen eingehend untersucht hatte. »Ich kann dir nicht sagen, was das
ist, aber diese Kugel scheint nur der Abschluss zweier durch
sie verbundener Reihen kleinerer zu sein, die sich augenscheinlich noch in einer Art Reifungsprozess befinden. Sie
verlaufen entlang deines Brustbeines, sehen jedoch weder
wie krankhafte Wucherungen aus noch erwecken sie den
Eindruck, als seien sie gefährlich, aber – sie gehören da
nicht hin. Hast du irgendwelche Schmerzen?«
Antalia schüttelte den Kopf.
»Fühlst du dich unwohl? Kraftlos? Empfindest du einen
Druck oder Juckreiz, der vorher nicht da war?«
Wieder verneinte sie.
»Dann lass uns das Ganze vorerst einfach beobachten.
Nicht alles Neue muss auch etwas Schlechtes bedeuten.«
Zum Abschied reichte er ihr die Hand. Als er sie leicht
drückte, meinte Antalia, die Aufrichtigkeit seiner beruhigenden Worte spüren zu können.
12
Träume
DAS JAHR
SCHRITT weiter voran. Schulstunden,
Schwimmtraining, gelegentliche Wettkämpfe, Freizeit, Spaß
und Spiel wechselten miteinander ab. Antalia gewöhnte sich
an die kleinen Veränderungen, nahm sie als gegeben hin,
fand sogar hin und wieder ein paar witzige Erklärungen für
ihre Ausfallerscheinungen und lebte im Großen und Ganzen ihr Leben weiter wie zuvor. Ihre Eltern hatten angekündigt, den diesjährigen Urlaub auf allgemeinen Wunsch
sämtlicher Kinder nochmals am Meer zu verbringen. So
sehnte Antalia das Ende des Schuljahres sehnsüchtiger
herbei als jemals zuvor.
Stürmisch fiel sie ihren Eltern um den Hals, als diese sie
am letzten Schultag abholten. Jori und Toran, die in angemessenem Abstand hinter ihnen hergegangen waren, grinsten einander verschmitzt an und nahmen ihre kleine
Schwester ebenfalls herzlich in die Arme. Stolz präsentierte
Antalia ihr Zeugnis. Dann setzten sich alle gemeinsam in
den Wagen, dieser erhob sich lautlos in die Lüfte, und die
Reise begann.
Hatten sie Domarillis in strahlendem Sonnenschein verlassen, so zogen, je näher sie der Küste kamen, mehr und
mehr Wolken am Himmel auf. Als sie die kleine Hütte, die
auch diesmal wieder ihre Ferienbehausung sein sollte, erreichten, fauchte ein heftiger Wind, trieb die staubfeinen
Sandkörner wie Nebelschwaden über den Boden. Kaum
dass sie alle Gepäckstücke aus dem Schwebewagen in ihre
Unterkunft gebracht hatten, öffneten sich des Himmels
gewaltige Schleusen. Dicke Regentropfen prasselten auf die
Erde herab, als hätten sie die Absicht, alles unter ihren gewaltigen Massen zu begraben. Gebannt stand Antalia am
Fenster. Schon immer hatten sie die Blitze fasziniert, deren
Auftauchen man nicht berechnen konnte, deren Formen nie
gleich und doch wunderschön waren. Ari strich ihr sanft
13
_Prolog_ Jenny ließ sich in ihrem Sitz zurücksinken. Es war
das erste Mal, dass sie erster Klasse flog. Sie fand, dass man
sich daran gewöhnen konnte. Robin saß neben ihr, in seine
Zeitung vertieft. Als er aufblickte, bedachte sie ihn mit einem
strahlenden Lächeln. Er lächelte zwar zurück, wirkte jedoch
verkniffen. Sie wusste warum.
Vor ihnen lagen die Flitterwochen. Zwei Wochen Hawaii,
zwei Wochen ohne seine über alles geliebte Firma. Denn seit
der Geburt ihrer Tochter Rebecca im vergangenen September
gehörten Robin Dreiviertel der Firma Huth. Sein Vater hatte
nur ein Viertel für sich behalten.
Daraufhin hatte Robin sich noch mehr als vorher in die
Arbeit gekniet. Er wollte das Firmen-Image modernisieren
und änderte das Logo, das jetzt statt des Familiennamens
›Huth‹ nur noch ein großes ›H‹ zeigte. Die Produkte hießen
nicht mehr ›Haarpflege‹ sondern ›Hair Cosmetics‹. Die Verpackungen hatten ein neues, moderneres Design bekommen.
Der Erfolg schien Robin recht zu geben: Er hatte eine
holländische Firma, sowie einen kleineren Konkurrenten aufgekauft und in seinem Unternehmen eingegliedert, weil ihm
das eine Erweiterung der Produktpalette ermöglichte. Seit diesen Übernahmen reiste er ständig zwischen den nun drei
Firmen-Standorten hin und her, um nach dem Rechten zu
sehen und, wie er es ausdrückte, den Integrationsprozess zu
überwachen. Ausgerechnet jetzt musste er sein neues Reich
für zwei lange Wochen verlassen, um mit Jenny nach Hawaii
zu fliegen.
Sie gähnte und schaute aus dem Fenster. Tief unter ihr glitt
eine winzige Spielzeugwelt vorüber. Sollte er ruhig den Familienbesitz vermehren. Denn nun gehörte sie zu dieser Familie,
zur besseren Gesellschaft. Sie hatte es geschafft, die Welt lag
ihr buchstäblich zu Füßen.
Deutlich erinnerte sie sich daran, wie sie Robin das erste
Mal gesehen hatte, vom Bürofenster aus. Er hatte es ihr auf
den ersten Blick angetan, selbst aus dieser Entfernung. In
diesem Moment hatte sie beschlossen, dass sie alles daran
setzen wollte, ihn näher kennenzulernen. Zu diesem Zeit-
5
punkt hatte sie allerdings nicht gewusst, dass daraus mehr
werden sollte als eine heiße Affäre.
Dann hatte sie erfahren, an welche Bedingung Robins
Vater die Übergabe der Firma an seinen Sohn geknüpft hatte,
nämlich daran, dass er heiraten und ein Kind zeugen musste
bevor er sein Erbe antreten konnte. Sie hatte ihre Chance
genutzt. Ihr Plan war aufgegangen, denn sie wurde schwanger, und Robin machte ihr einen Heiratsantrag.
Allerdings hatte sie erwartet, dass sich wie im Kino nach
dem Happy-End der Vorhang senken, die Zuschauer nach
Hause gehen und Robin und sie glücklich zusammen leben
würden. Doch es war anders gekommen. Der Film, der nun
ihr Leben war, war weiter gegangen. Der Vorhang hatte sich
nicht gesenkt, die Zuschauer waren noch da.
Sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie viel Robin
arbeitete. Er verließ morgens früh das Haus, bevor sie aufgestanden war und kam abends erst spät wieder. Oder er war
auf Geschäftsreise. Die meiste Zeit war sie allein, abgesehen
von ihrer Tochter, dem Kindermädchen und anderen Dienstboten. Selbst wenn Robin zu Hause war, blieben seine Gedanken in der Firma: Er dachte über berufliche Probleme und
Fragestellungen nach, die ihn beschäftigten, statt Jenny seine
Aufmerksamkeit zu widmen. Oder sie gingen zu offiziellen
Empfängen, Feiern, Vernissagen, Gala-Vorstellungen, weil
man in ihrer gesellschaftlichen Stellung dorthin ging. Ihr
Alltag hatte nicht mehr viel mit den Zeiten zu tun, die sie
früher zusammen verbracht hatten, in denen sie den Rest der
Welt ausgeschlossen und sich nur aufeinander konzentriert
hatten.
Inzwischen war Robin zwar in ihr gemeinsames Schlafzimmer zurückgekehrt, das er verlassen hatte, sobald ihre
Schwangerschaft sichtbar wurde. Aber Jenny wusste, dass er
nichts von ehelicher Treue hielt. Auch hatte er nie einen Ehering getragen. Unmittelbar nachdem sie heute die Kirche verließen, hatte er den Ring wieder abgestreift, den sie ihm
während der Zeremonie auf den Finger gesteckt hatte, und in
seiner Jackentasche verschwinden lassen. Jenny wusste, dass
der Ehering von dort nicht wieder auftauchen würde. Robin
6
hatte eine abgrundtiefe Abneigung gegen dieses sichtbare
äußere Zeichen für seine eingeschränkte Freiheit. Zwar hatte
er »Ja« gesagt, zuerst im Standesamt, dann in der Kirche, aber
in seinen Augen war das kein Grund dafür, ab sofort zu allen
anderen »Nein« zu sagen. Dass er verheiratet war, bedeutete
nicht, dass andere Frauen ihn nicht mehr interessierten.
»Noch ein Glas Champagner, die Dame?«, unterbrach die
freundliche Stewardess Jennys Gedanken und hob die Flasche
fragend in die Höhe.
»Ja, gerne«, antwortete Jenny lächelnd, während sie der Stewardess das leere Glas hinhielt. »Schließlich haben wir doch
einen Grund zum Feiern, nicht wahr, Robin?«
›Einen Grund zum Feiern? Welchen denn? Ach so, das.‹
Robin prostete Jenny zu, lächelte sie an und verschwand
wieder hinter seiner Zeitung. Nicht weil er lesen wollte, sondern weil er auf diese Weise sicher sein konnte, seine Ruhe zu
haben.
Diese Ehe war wie ein Gipsbein, das seine Bewegungsfreiheit vorübergehend einschränkte. Er gedachte es wieder
los zu werden, sobald es seinen Zweck erfüllt hatte. Wenn
ihm das gelungen war, gab es für ihn einen Grund zu feiern,
aber nicht vorher.
»Bis dass der Tod euch scheidet«, hatte der Pfarrer bei der
Trauung gemeint.
Pah! Wenn nicht etwas Unvorhergesehenes passierte, wie
zum Beispiel ein Flugzeugabsturz, würde es mit Sicherheit ein
Familienrichter und nicht der Tod sein, der diese Ehe schied.
Robin hatte während der Zeremonie in Jennys angespanntes
Gesicht geschaut. Mit Mühe hatte er sich das Lachen verbissen. Ihm kam das Ganze vor wie eine Parodie. Dieses bedeutungsschwere Getue konnte doch niemand ernst nehmen.
Oder?
Natürlich hatte er gelogen, als er »Ja« gesagt hatte, aber er
hatte kein schlechtes Gewissen deswegen. Denn der Pfarrer
hatte »Dieter Huth« angesprochen. Das war nicht er. Er hieß
Robin, schon seit seiner Kindheit. Das wusste jeder. Außer
dem Pfarrer.
7
Robin warf einen Blick zu Jenny hinüber, die aus dem
Fenster schaute. Nach wie vor war sie eine Schönheit. Unbestritten. Aber der Zauber des Besonderen war verschwunden.
Eine Weile würde er noch gute Miene zu diesem Spiel
machen. Er hatte die Bedingung seines Vaters erfüllt und
dafür Dreiviertel der Firma überschrieben bekommen. Derzeit ließ er prüfen, ob sein Vater eine Handhabe hatte, die
Überschreibung der Firmenanteile rückgängig zu machen,
wenn Robin sich scheiden ließ. Mit dieser Recherche hatte er
eine junge, hübsche Rechtsanwältin beauftragt, die gegen
seine Scheidung bestimmt keine Einwände erheben würde.
Im Gegenteil.
Einen Moment lang dachte er an Rebecca, Becky, seine
kleine Tochter. Er gab sich Mühe mit der Kleinen und
empfand eine tiefe, unerklärliche Zuneigung für sie. Mit Verwunderung hatte er festgestellt, dass kleine Kinder schon
flirten können. Er amüsierte sich köstlich darüber, wenn
Becky ihm ein entsprechendes Lächeln schenkte. Doch
konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nichts mit
Babys anfangen konnte. Nach wenigen Minuten war sein
Repertoire an Ideen erschöpft, und ihm fiel nichts mehr ein.
Er war sich seiner Verantwortung bewusst, jedoch machte
ihn das nicht zu einem liebevollen und fürsorglichen Vater.
Er würde dafür sorgen, dass es dem Kind an nichts fehlte.
Wenn sie das wollte, würde er ihr beibringen wie man eine
Firma von der Größe von »H - Hair Cosmetics« leitet. Mehr
konnte er nicht für sie tun.
Die Stewardess kam zurück, nahm ihnen die Gläser ab und
fragte, ob es ihnen nun angenehm wäre, etwas zu essen. Sie
war scharf, wirklich! Ihre Beine waren ewig lang und schlank,
und der Po hatte eine handliche Form.
Schräg von unten warf er ihr einen Blick zu, der sie bis
unter die Haarwurzeln erröten ließ. Während er die Zeitung
weglegte, grinste er in sich hinein. Es wäre doch gelacht,
wenn er nicht eine Gelegenheit finden würde, die Stewardess
etwas näher kennenzulernen.
8
_Kapitel 1 ‐ Fünf Jahre später_ Unwillig schob Robin den
Papierstapel von sich weg, stützte die Ellenbogen auf die
Schreibtischplatte, legte den Kopf in die Hände und massierte
sich die schmerzenden Schläfen. Die Zahlen, die er betrachtet
hatte, sahen nicht gut aus. Doch davon, dass er sie seit mehreren Stunden von allen Seiten beleuchtet, nachgerechnet und
hin- und hergeschoben hatte, wurden sie nicht besser. Die
wirtschaftlichen Zeiten waren alles andere als rosig. Das war
auch in der Firma ›H - Hair Cosmetics‹ deutlich spürbar.
Vor über fünf Jahren hatte Robin den Großteil der Firmenanteile von seinem Vater übernommen. Seitdem waren schon
öfter schwierige Situationen aufgetreten, doch die Lage war
zu keinem Zeitpunkt vorher so ernst gewesen wie jetzt. Die
Umsätze der Produkte traten auf der Stelle, einige waren
rückläufig, und keine der bisher eingeleiteten Gegenmaßnahmen hatte einen spürbaren Erfolg gebracht. Robin sträubte
sich zwar, das Wort ›Krise‹ in den Mund zu nehmen, doch
wenn es ihm nicht bald gelang, den Abwärtstrend aufzuhalten, sah es für die Zukunft seiner Firma düster aus.
Bislang war ihm bei auftretenden Schwierigkeiten immer
ein Ausweg eingefallen. Das lag nicht allein an ihm. Er verfügte über einen hervorragenden Führungs- und Beraterstab,
dem auch sein Vater angehörte. Herr Huth senior war nach
wie vor Teilhaber der Firma und seine umfangreiche Erfahrung war für Robin von unschätzbarem Wert.
Die momentane Lage stellte jedoch die bislang größte
Herausforderung dar. Robin hatte alle Register gezogen, die
er kannte. Auch hatte er einige hochqualifizierte Berater befragt und sich ihre Ideen angehört. Er brauchte einen neuen
Einfall - etwas, das zündete. Doch so sehr er sich das Hirn
zermartert hatte, den rettenden Ausweg hatte bislang weder er
noch jemand anderes gefunden.
Es war bereits zehn Uhr. Er war müde. Die Aussichten,
dass er heute Abend noch auf eine Lösung kam oder zumindest auf etwas, das ihn einer Lösung näher brachte, waren
gering. Er seufzte und warf einen letzten Blick auf die zu
oberst liegende Graphik. Diese bot einen der wenigen Lichtblicke, denn sie stellte die schwach positive Umsatz9
entwicklung eines seiner ältesten und erfolgreichsten
Produkte dar: ›Natural Colours‹ war eine Shampoo-Serie, die
mit pflanzlichen Stoffen eine Intensivierung der natürlichen
Haarfarbe bewirkte. Das kam gut an. Wenn er herausfinden
könnte, was den Erfolg dieser Shampoos ausmachte, wäre er
der Problemlösung zumindest einen Schritt näher. Aber auch
an diesem Punkt war Robin trotz langen Grübelns nicht
weiter gekommen: Aufmachung und Werbemaßnahmen von
›Natural Colours‹ unterschieden sich nur unwesentlich von
denen der anderen Produktreihen. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass es sich allein wegen der pflanzlichen Wirkstoffe besser verkaufte als die anderen Haarpflegemittel.
Er griff noch einmal nach der Maus seines Computers und
rief die Verkaufszahlen der neuesten Produktreihe auf. Sie
trug den Namen ›Sports‹ und war im vorigen Herbst eingeführt worden. Das Besondere daran waren die kristallblaue,
durchsichtige Farbe und die Verpackung, deren ungewöhnliche, flache Form an einen schnittigen Sportwagen erinnern
sollte. Obwohl es sich davon abgesehen um normales Shampoo, Spülung und Haargel handelte, zeichneten sich hier
unerwartet hohe Umsatzzahlen ab.
Zum zigsten Mal fragte Robin sich daher, ob es etwas gab,
das ›Natural Colours‹ und ›Sports‹ gemeinsam hatten. Wenn
ja, war es ihm bislang verborgen geblieben. Morgen um neun
Uhr hatte er eine Sitzung mit den Führungskräften seiner
Firma angesetzt, um mit ihnen gemeinsam Auswege aus der
gegenwärtigen Lage zu suchen. Vielleicht kannte einer von
ihnen die Lösung, oder sie konnten gemeinsam etwas entwickeln, wozu sie einzeln nicht in der Lage zu sein schienen.
Jedenfalls wollte er alles an Ideen zusammentragen, was das
Team zu bieten hatte.
Robin zuckte resignierend mit den Schultern. Er beschloss,
die Fortsetzung seiner Lösungssuche auf den kommenden
Morgen zu vertagen. Daher fuhr er den Computer herunter,
schaltete die Schreibtischlampe aus, zog sein Jackett und
seinen Mantel an und verließ sein Büro.
Die Räume der Geschäftsleitung lagen im dritten und damit
obersten Stockwerk des Bürogebäudes. Wie immer benutzte
10
er auf dem Weg nach unten das Treppenhaus. So bemerkte er
das Licht in einem der Büros des Produkt-Managements, als
er am zweiten Stock vorbeikam. Der Abteilungsleiter, Karl
Anger, war einer derjenigen, die an der morgigen Sitzung
teilnehmen sollten. Womöglich war ihm der glänzende Gedanke gekommen, auf den Robin seit Tagen vergebens gewartet hatte, und er bereitete gerade die Präsentation einer
tollen Neuerung vor? Hoffnungsvoll öffnete Robin die Glastür, die das Treppenhaus vom dahinterliegenden Flur trennte.
»Das ist doch nicht zu glauben, du verdammte Schrottkiste!«, hörte er in diesem Augenblick eine weibliche Stimme
laut schimpfen, danach einen dumpfen Schlag, gefolgt von
lautem Scheppern.
Stille.
Dann war dieselbe Stimme erneut zu vernehmen, dieses
Mal wesentlich leiser: »Ach du Scheiße.«
Robin hastete zu der erleuchteten Tür. Er hatte sich geirrt:
Es war nicht Karls Büro, sondern das Sekretariat nebenan.
Mitten im Raum mit dem Rücken zu ihm stand eine Frau,
eine mittelgroße, schlanke Gestalt, die in einem dieser grauen,
nichtssagenden Business-Kostüme steckte, die alle gleich
aussahen. Ihre langen, dunkelblonden Haare hatte sie morgens sicher zu einem ordentlichen Knoten geschlungen und
hochgesteckt, aber im Laufe des Tages hatten sich einige
Strähnen verselbstständigt, die ihr nun lose auf die Schultern
hingen. Die Frau verharrte regungslos, die Augen fest auf
irgendetwas gerichtet, das sich außerhalb von Robins Blickfeld auf der anderen Seite des Schreibtisches befand.
Einer der vielen guten Ratschläge, die Robin von seinem
Vater erhalten und beherzigt hatte, war der, möglichst viele
Mitarbeiter der Firma mit Namen zu kennen. So wusste er
sofort, dass diese Frau nicht Karls Sekretärin Heike Metzner
war, obwohl sie in deren Büro stand, sondern Claudia Neustetter, eine der Produkt-Managerinnen.
»Frau Neustetter«, sprach er sie an. »Ist alles in Ordnung?«
Die Frau fuhr herum. Sie starrte Robin aus schreckgeweiteten Augen an, als sei ihr soeben ein Gespenst erschie-
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nen. Da sie zunächst keinen Ton herausbrachte, hakte er
nach: »Geht es Ihnen gut?«
»Ja, ja, ich bin okay«, stieß sie hastig hervor. Während ihr
Blick wieder in die andere Richtung wanderte, fügte sie hinzu:
»Aber der Drucker ...«
Nun trat Robin durch die Tür in das Büro und stellte sich
neben Claudia Neustetter. Zu ihrem Kostüm trug sie eine
graugrüne Flanellbluse, die hervorragend zur Farbe ihrer Augen passte. Robin registrierte es mit einem Seitenblick, dann
richtete er seine Aufmerksamkeit auf das, worauf Claudia
immer noch entgeistert starrte. Da entdeckte er die Bescherung: Der Drucker lag auf dem Boden, in mehrere Teile
zerborsten.
»Wie ist denn das passiert?«, fragte Robin erstaunt.
Claudia Neustetter straffte ihre Schultern, holte tief Luft,
sah ihren Firmenchef an und bekannte: »Ich hab ihm einen
Tritt verpasst.«
»Was?« Über dieses Geständnis war Robin einigermaßen
fassungslos.
»Es ist ..., nein, es war der totale Klapperkasten«, erklärte
sie. »Ständig ist das Papier darin hängengeblieben, ohne dass
sich ein Grund dafür finden ließ. Wenn ich ihn danach wieder
in Gang gesetzt habe, hat er irgendwelche Hieroglyphen gedruckt, sodass ich von vorne anfangen konnte. Nachdem er
dieses Spielchen gerade dreimal hintereinander mit mir getrieben hat, habe ich vor Wut mit dem Fuß dagegen getreten.
Leider so fest, dass er nach hinten vom Druckertisch gefallen
ist und ... na ja.« Sie hielt inne, hob die Schultern und
betrachtete prüfend Robins Gesichtsausdruck, vermochte ihn
aber nicht zu deuten.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der schwerwiegenden
Probleme, mit denen er sich momentan herumschlug, fand
Robin die Situation urkomisch. Über Claudias Zornesausbruch, ihr kleinlautes Geständnis und das nicht zu übersehende Schuldbewusstsein hätte er am liebsten laut gelacht. Aber
ein wenig wollte er sie noch schmoren lassen. Daher biss er
sich auf die Lippen, um zu verhindern, dass er losprustete. So
konnte er zunächst nichts erwidern.
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»Ich … ich werde den Schaden selbstverständlich ersetzen«,
beteuerte Claudia, unsicher wie sie Robins Schweigen deuten
sollte.
»Hmpf«, machte er. Es gelang ihm noch für ein, zwei Sekunden seine ernste Miene zu bewahren. Doch dann war es
mit seiner Beherrschung vorbei: Er lachte laut los.
Erst sah Claudia Neustetter ihn irritiert an, dann hatte sein
Lachen sie angesteckt. Ihre Wimperntusche war verschmiert,
ihr rechter oberer Schneidezahn stand ein wenig schief, am
unteren Rand fehlte eine kleine Ecke daraus. Auf ihrer Nase
und unter den Augen hatte sie ein paar Sommersprossen.
Wenn sie so wie jetzt lachte, entstanden in ihren Wangen kleine Grübchen. Sie hatte das gewisse Etwas, das ließ sich nicht
leugnen. Das Funkeln in ihren Augen, der warme Klang ihrer
Stimme, ihre aufrechte Haltung, die Art wie sie eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich - mit einem
Mal fand Robin sie ausgesprochen attraktiv.
Diese Feststellung überraschte ihn selbst. Bislang hatte er
niemals zweimal hingesehen, wenn er ihr begegnet war. Die
Situation, in der sie sich in diesem Moment befanden, war
kaum als erotisch einzustufen. Dennoch hatte eben etwas
seine Wahrnehmung von ihr geändert.
Das Merkwürdigste war, dass sie sein Interesse nicht zu
erwidern schien. Nichts an ihrem Verhalten ging über die
normale Achtung vor ihrem Vorgesetzten hinaus. Das war
ungewöhnlich, denn normalerweise hatte Robin mit Frauen
leichtes Spiel. Zum einen lag das an seinem Aussehen: Er war
groß und schlank und machte sowohl in Anzügen als auch in
Freizeitkleidung eine gute Figur. In seine fast schwarzen,
welligen Haare hatten sich erst vereinzelt ein paar graue
Fäden hineingemogelt. Im Kontrast dazu waren seine Augen
von einem unglaublich intensiven Blau. Zum anderen bewegte er sich mit einer selbstverständlichen Lässigkeit, strahlte
mit seinem Auftreten Selbstsicherheit und Autorität aus. Er
hatte die Menschen, mit denen er zu tun hatte, schnell im
Griff, gab den Ton an und die Richtung vor. Er hatte schon
früh begriffen, dass das seine Anziehungskraft auf Frauen
noch erheblich erhöhte.
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Kurzum, es war lange her, dass er sich um eine Frau ernsthaft hatte bemühen müssen. Umso mehr verwunderte es ihn,
dass sein Charme an Claudia Neustetter einfach abzuprallen
schien.
Die hatte mittlerweile ihre Fassung wieder gewonnen. »Das
ist doch schlimmer als ein Albtraum«, meinte sie, während sie
sich eine Lachträne von der Wange wischte. Dabei verschmierte sie ihre Wimperntusche noch ein wenig mehr.
»Was ist schlimmer als ein Albtraum?«
»Na ja, erst verliere ich die Beherrschung, nachdem ich
mich über ein Jahr mit diesem blöden Drucker rumgeärgert
habe. Ich verpasse ihm einen Tritt, das verdammte Teil
rutscht doch tatsächlich vom Tisch und geht kaputt. Und ausgerechnet in diesem Moment, noch dazu mitten in der Nacht,
steht der Firmenchef hinter mir.«
»Dass ich hinter oder vielmehr inzwischen neben Ihnen
stehe, ist also schlimmer als ein Albtraum?«, fragte Robin provozierend. Dabei hielt er ihren Blick fest. »Das ist aber nicht
gerade ein Kompliment, Frau Neustetter.«
Einer seiner vielfach erprobten Tricks. Wenn es ihm gelänge, sie in Verlegenheit zu bringen, hätte er schon halb gewonnen.
Doch sie sah ihm geradewegs in die Augen, lächelte unverbindlich und entgegnete: »Ach, kommen Sie, Herr Huth, Sie
wissen doch genau wie ich das gemeint habe.«
In Gedanken ergänzte sie: ›Als ob du Komplimente von
mir nötig hättest! Oder, um genau zu sein: Komplimente von
irgendjemandem. Du bist doch auch so schon genug von dir
selbst überzeugt.‹
»Ja, stimmt«, bestätigte er in diesem Moment, »ich weiß, wie
es gemeint war.« Nach einem weiteren Blick auf den zerborstenen Drucker meinte er: »Eins müssen Sie mir aber erklären,
Frau Neustetter: Warum arbeiten Sie denn mit dem Drucker
von Frau Metzner, wenn er Ihnen so viele Scherereien
macht?«
»Mit welchem Drucker sollte ich denn sonst arbeiten?«,
erkundigte sie sich erstaunt.
»Mit Ihrem eigenen natürlich.«
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»Aber ich habe keinen eigenen.«
»Wieso denn nicht?«
»Nur Herr Anger hat einen eigenen Drucker. Wir anderen
arbeiten alle ..., ähem, haben alle mit diesem gearbeitet.«
»Das habe ich nicht gewusst«, murmelte Robin mehr zu
sich selbst. »Diesen Zustand sollten wir schleunigst ändern.«
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein«, seufzte Claudia, die
ihrem Abteilungsleiter diesen Vorschlag schon ein Dutzend
Mal unterbreitet hatte, aber auf taube Ohren gestoßen war.
Robin lächelte, dann wies er mit dem Kinn in Richtung des
Scherbenhaufens auf dem Fußboden. »Also, mit dem hier
kann jedenfalls niemand mehr arbeiten. Beseitigen Sie am besten schnell die Bescherung und ... Moment mal!« Er unterbrach sich, als er zwischen den Druckerfragmenten eine bedruckte Papierseite entdeckte. In Bruchteilen von Sekunden
war er wieder ganz der Firmenchef. »Woran haben Sie gerade
gearbeitet?«
Jetzt wurde sie doch verlegen. »Na ja. Ich hatte eine Idee,
die ich ausarbeiten wollte. Vor morgen früh.«
Robin bückte sich, um den Ausdruck aufzuheben und eingehend zu betrachten, der seine plötzliche Aufmerksamkeit
erregt hatte. Ausgerechnet ›Natural Colours‹? Na klar, das war
die Produktreihe, für die Claudia Neustetter zuständig war.
»Meinen Sie, vor unserer Sitzung morgen früh?«, erkundigte
er sich daher äußerst interessiert.
Claudia nickte.
»Wollen Sie das hier dort vorstellen?«
Ȁh, nein, ich wollte sehen, ob ich Herrn Anger dazu
überreden kann, dass er ...«
»Warum denn Herrn Anger dazu überreden?«, unterbrach
Robin. Er musterte sie kritisch. »Ich dachte, es ist Ihre Idee?
Oder fehlt Ihnen der Mut, uns das selbst vorzutragen?«
Zugegeben, das war eine absichtliche Herausforderung. Er
wollte, dass sie die Beherrschung verlor. Diesmal hatte er den
richtigen Nerv getroffen.
»Nein, mir fehlt nicht der Mut, sondern die Einladung zu
dieser Sitzung«, erwiderte sie trotzig.
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»Die haben Sie hiermit«, erklärte er ruhig, während er ihr
das Blatt Papier in die Hand drückte. »Obwohl ich mir sicher
bin, dass Herr Anger Sie auch ohne meine ausdrückliche Erlaubnis mitgenommen hätte, wenn Sie diesen Wunsch geäußert hätten. Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Ausarbeitung bis
morgen früh neun Uhr fertig haben, dann präsentieren Sie
uns Ihre Idee. Persönlich, wenn ich bitten darf.«
Bei ihrer nächsten Antwort hatte sie zu einem geschäftsmäßigen Tonfall zurückgefunden. »Mit dem größten Vergnügen, Herr Huth.«
»Kleiner Sitzungsraum, dritter Stock. Gute Nacht, Frau
Neustetter.«
»Gute Nacht, Herr Huth.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab.
Ihre Gedanken schienen sich auf der gleichen Schiene
bewegt zu haben wie seine eigenen. »Erfolgsfaktoren von
›Natural Colours‹« hatte er auf der ausgedruckten Seite gelesen.
Was sie danach aufgezählt hatte, war zwar nicht neu, aber
immerhin war ihr überhaupt etwas eingefallen. Da wollte er
sich wenigstens die Zeit nehmen, ihr zuzuhören.
Als er das Gebäude verließ, wehte ihm der eiskalte Wind
der Februarnacht entgegen, ein paar einzelne Schneeflocken
mit sich tragend. Robin blieb stehen, zog sich mit einer unwilligen Bewegung die Krawatte vom Hals und stopfte sie in
seine Manteltasche. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss
die Augen, sog die frische Luft einige Male tief durch die
Nase ein, um sie danach langsam durch den Mund wieder
auszuatmen. Dann schlug er den Kragen seines Mantels hoch,
setzte seinen Weg über den Firmenparkplatz hinweg zu seinem Wagen fort. Dabei grinste er in sich hinein.
Der kleine Schlagabtausch hatte bewirkt, dass er für kurze
Zeit seine Sorgen beiseite schieben und an etwas anderes
denken konnte. Diese Frau war eine Herausforderung. Bei ihr
würde er sich etwas einfallen lassen müssen.
Claudia Neustetter ahnte indessen nichts von seinen Gedanken, sondern drückte übermütig ihre Lippen auf das Papier, das sie in der Hand hielt. Vor Freude drehte sie sich mit
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ein paar Tanzschritten um die eigene Achse. Die Seite enthielt
nicht den stärksten Teil ihres Konzepts, aber wenn schon das
Robin Huths Aufmerksamkeit erregt hatte, was würde er
dann erst zu dem Rest sagen?
Nun brauchte sie nur noch ihr Laptop mit der halbfertigen
Präsentation mit nach Hause zu nehmen, um ihr Konzept vor
morgen früh zu vervollständigen. Es musste stimmig und
überzeugend sein, wenn sie es vor dem Führungsteam von ›H
- Hair Cosmetics‹ vortrug. Viel Zeit zum Schlafen würde ihr
in dieser Nacht nicht bleiben. Aber wenn schon! Sie arbeitete
seit vier Jahren für diese Firma, ohne dass jemand bemerkt
hätte, was in ihr steckte. Nun sah es so aus, als würde sie
morgen die Chance bekommen, auf die sie so lange gewartet
hatte. Sie würde sie alle in Erstaunen versetzen. Allen voran
diesen eingebildeten Wichtigtuer, Robin Huth. Einen Augenblick lang hatte er vorhin tatsächlich erreicht, dass sie wütend
wurde. Damit nicht genug: Er hatte ihr Feigheit unterstellt,
auch wenn er das Wort nicht gebraucht hatte. Eine Unverschämtheit!
Obwohl sie zugeben musste, dass er wunderschöne blaue
Augen hatte. Und ein sympathisches Lachen. Sehr sympathisch, wenn man es genau nahm. Na ja, wenn sie so darüber
nachdachte, war er überhaupt ziemlich nett. Er hätte auf den
zerdepperten Drucker auch anders reagieren können.
»Vorsicht«, warnte sie sich selbst. »Fang bloß nicht an, ihn
allzu sympathisch zu finden. Er mag als Firmenchef in Ordnung sein, aber was Frauen angeht, ist er ein Schuft. Weiß
doch jeder.«
_Kapitel 2_ Als Robin die Tür zu seiner Wohnung aufschloss,
genoss er die Stille, die ihn empfing. Die Tatsache, dass niemand auf ihn wartete, empfand er als beruhigend. Hier gab es
niemanden, der Forderungen an ihn stellte, Erwartungen
hatte oder auch nur seine Gedankengänge unterbrach, es sei
denn, Robin hatte jemanden eingeladen oder mitgebracht.
Dies war der Ort, wo er allein sein konnte, wann und so lange
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_Eine Entscheidung reift heran Bebend vor Wut lag Kayana auf ihrem
Bett. Immer wieder schlug sie mit ihren Fäusten erbarmungslos auf ihr
Kissen ein. Was sie vor wenigen Minuten durch Zufall gehört hatte, trieb
glühende Wellen flackernden Zorns durch ihre Adern. Ihr Vater Ellmaat
wollte sie zur nächsten Sonnenwende verheiraten! Nicht nur, dass sie gerade
erst dreizehn Jahre alt war, nein, er wollte sie auch noch einen Mann zur Frau
geben, der ihr Großvater hätte sein können.
Elim von Stacklat, Herr über die an Simion angrenzende Domäne, sollte
ihr Gatte werden. Er lebte in einer düsteren, aus den Felsen herausgehauenen
Burg, die wie eine drohende Faust in den Himmel ragte. Von dort aus
herrschte er mit Strenge und Unnachgiebigkeit. Auch sein aufbrausendes
Temperament und seine Grausamkeit waren weit über die Grenzen seiner
eigenen Besitztümer hinaus bekannt und berüchtigt.
Wieder durchrann sie eine siedend heiße Woge. Selbst wenn sie, weil weiblich, dem Gesetz nach eine rechtlose Kreatur war und ihrem Vater Gehorsam schuldete, würde sie sich dieser Diktatur nicht beugen. Zwar hatte sich
Ellmaat einst rührend um sie, seine erstgeborene, hübsche Tochter gekümmert, als aber Navin das Licht der Welt erblickte, veränderte sich sein Verhalten ihr gegenüber radikal und grundlegend. Von einem Augenblick zum
nächsten war sie Luft für ihn geworden, und die grenzenlose Gleichgültigkeit, die er sie spüren ließ, hatten ihr schon damals fast das kindliche Herz
zerrissen.
Wie oft durfte sie vor der Geburt ihres Bruders auf seinem Schoß sitzen,
auf seinen Knien reiten, ihren Kopf an seine mächtige Brust kuscheln. Seine
kräftigen, schwieligen Finger hatten ihre widerspenstigen Locken gezaust,
und manchmal hatte er sie in seinen Armen in den Schlaf gewiegt. Sie hatte
kaum noch Erinnerungen an diese Zeit und die Wärme, die sie und ihn ehemals verband.
Eigenwillig, wie sie auch im Alter von dreieinhalb Jahren schon gewesen
war, hatte sie den Kampf aufgenommen, versucht, ihre Stellung zurückzuerobern, sich die Zuneigung ihres Vaters zu ertrotzen.
Sie signalisierte, dass auch sie sich für Pferde, Schwerter, Schnitzarbeiten
und Bogenschießen interessierte. Sie lief ihm hinterher, wo immer er hinging
… bis er ihres Buhlens so überdrüssig geworden war, dass er sie für nahezu
zwei Monate in ihrem Zimmer einschloss.
Zu jener Zeit begann sie, ihren Vater zu hassen.
Dimeni, ihre Mutter, wagte nicht, sich gegen seine Befehle aufzulehnen. So
verbrachte Kayana unendlich viele Stunden allein in ihrer Kammer. Nur die
Mahlzeiten, die sie zusammen mit Muyan, einer der Dienstmägde, die Ellmaat zu ihrer Versorgung abgestellt hatte, einnehmen durfte, unterbrachen
ihre Einsamkeit.
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Muyan war damals vierzehn Jahre alt gewesen, aber die schwere Arbeit
hatte sie vorzeitig altern lassen. Sie hatte eine leise, aber wunderschöne Singstimme gehabt, und obwohl ihre Hände rau, ihre Nägel rissig und spröde
waren, konnten sie wunderbar sanft sein. Jeden Abend war Kayana auf
Muyans Schoß geklettert. Bei ihr fand sie mehr Geborgenheit als ihre Mutter
ihr je hatte zukommen lassen. Die gemeinsamen Lieder waren ihr Trost, die
wenigen Stunden der Gemeinsamkeit ihr Rettungsanker gewesen, wenn sie in
den Fluten der Einsamkeit zu ertrinken drohte. Muyan verdankte sie auch
ihre Freilassung.
»Ich werde sie mit ins Gesindehaus nehmen, Herr«, beschwor sie Ellmaat,
»aber lasst sie wieder aus ihrem Zimmer heraus. Sie welkt dahin wie eine
Rose, der man das Sonnenlicht vorenthält.«
Ihr Vater hatte lauthals über diese blumige Beschreibung ihres Zustands
gelacht, sich brüllend auf die Schenkel geschlagen und dann laut gedröhnt:
»Du kannst sie haben, wenn sie mir nur aus den Augen bleibt!«
So war sie mit Muyan ins Haus der Diener und Dienerinnen gezogen, wo
sie zwar von Stund an zu arbeiten gezwungen, aber vorerst vor den Launen
ihres Vaters in Sicherheit war.
Dieser schien sie wahrlich zu vergessen, kaum dass sie aus seinem Blickfeld
verschwand. Dimeni kümmerte sich ebenfalls so gut wie gar nicht um sie.
Schon kurz nach Navins Geburt war sie abermals schwanger. Acht Monate
später gebar sie die Zwillinge Zalit und Liron. Zwei Jahre darauf kam Kiman
zur Welt, und nach weiteren drei Jahren Dalut, Kayanas bislang jüngster
Bruder.
Auch Muyan bekam, nur drei Monate, nachdem die Zwillinge das Licht der
Welt erblickt hatten, ein Kind: Mikaila. Obwohl sie nie mit Kayana darüber
sprach, wusste diese instinktiv, dass Ellmaat auch deren Vater war. Zu den
noch immer unterschwellig vorhandenen Hassgefühlen gesellte sich daraufhin eine Abscheu, die ihr fast den Atem nahm, wann immer sie ihn auch nur
von Ferne sah. Und um dessen Anerkennung hatte sie sich einst bemüht?
Seinetwegen hatte sie nächtelang in ihr Kissen geweint, vor Kummer weder
essen noch schlafen können?
Je älter Kayana wurde, und je mehr sie vom Leben innerhalb der Festungsmauern, die ihr Zuhause waren, mitbekam, desto sicherer wusste sie, dass sie
eher selbst ihrem Leben ein Ende setzen würde, als sich dieser Tyrannei länger auszusetzen, als unvermeidbar war.
Kayana besaß einen scharfen Verstand, ein ausgezeichnetes Beobachtungsvermögen, eine hervorragende Auffassungsgabe sowie ein fast fotografisches
Gedächtnis. Sie lernte schnell, und sie war überaus anpassungsfähig. Im Gesindehaus nahm man ihre Anwesenheit kaum wahr, so geräuschlos und unauffällig konnte sie sich bewegen. Von Anfang an hielt sie sich meist in
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Muyans Nähe auf, erledigte für diese zunächst kleine Handreichungen, die
jedoch nach und nach in ein fast partnerschaftliches Arbeiten übergingen.
Mikaila wurde Kayanas Schwester, ihre einzige Spielgefährtin, ihre Freundin. Sie teilten sich eine Schlafstatt, und in den wenigen Stunden, die ihnen
außerhalb der Arbeitszeit verblieben, erzählte Kayana ihr, meist zu erschöpft,
um irgendetwas anderes zu tun, oft selbsterfundene Geschichten.
Als Mikaila fünf Jahre alt wurde, fing Muyan sich auf sonderbare Weise zu
verändern an. Ihre Gelenke wurden dick, ihr Gesicht quoll auf, ihr Körper
wurde unförmig und schwerfällig, ihre Augen trüb. Nicht selten hörte Kayana sie verzweifelt stöhnen, aber sobald sie sich an das Bett ihrer Ziehmutter
setzte, verstummte diese. Nur die Tränen, die unablässig über ihre bleichen
Wangen liefen, zeigten, dass sie furchtbare Qualen litt.
Eines Nachts, als die beiden Monde zwar voll, jedoch hinter dicken
Sturmwolken verborgen waren, durchschnitt ein markerschütternder Schrei
die drückende Stille. Wie von Furien gehetzt stürzten Mikaila und Kayana an
Muyans Schlafstätte. Das Gesicht der jungen Frau war zu einer grauenhaften
Maske verzerrt, ihr Mund noch immer im verklingenden Schrei geöffnet. Ihr
Körper wand sich in Krämpfen, die Augen stierten in blankem Entsetzen auf
einen Punkt im Rücken der Kinder. In Panik wandten die beiden sich um,
aber nur die Schatten der Nacht leisteten ihnen Gesellschaft. Ein weiterer
Schrei entfloh den Lippen der Gepeinigten. Ein letztes Aufbäumen. Ein
Blutschwall ergoss sich unter ihr. Mit einem langen, erleichterten Seufzen
glitt sie auf ihre Unterlage zurück. Noch einmal sah sie die Mädchen wie um
Verzeihung bittend an, bevor nach einem tiefen Atemzug alles Leben in ihr
erlosch.
Ein leises Wimmern schreckte die beiden auf. In einer Lache aus dunklem
Rot lag ein winziges Wesen. Bläulich, schmierig – schrecklich verunstaltet.
Das Kleine röchelte, rang qualvoll nach Luft, zuckte, wie seine Mutter zuvor,
und erschlaffte dann. Mikaila und Kayana waren mit den beiden Leichen
allein.
Als sie am Morgen entdeckt wurden, eilte Limok, Ellmaats Leibdiener,
schnellen Schrittes in die Gemächer seines Herren, der nur wenig später
lapidar verkünden ließ, man solle die Kadaver verbrennen und als Dung auf
den Feldern verteilen.
Kayanas Augen waren ohne Tränen, als die Flammen Muyans ausgemergelten Körper erfassten. Mikaila schluchzte hemmungslos in ihren Armen.
»Ich werde immer für dich da sein, kleine Schwester!«, flüsterte sie in die
zerzausten Haare der Kleinen. »Und du, Vater«, schwor sie wortlos, »sollst
eines Tages deine Taten bereuen! Durch die Hand einer Frau sollst du deine
gerechte Strafe erfahren!«
Von diesem Tag an begann sie alles zu lernen, was es innerhalb der Gemeinschaft, in die sie hineingeboren war, zu lernen gab, und sie widmete sich
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nicht nur den ›weiblichen Arbeiten‹. Sie folgte den Stallburschen, wenn sie
die Pferde versorgten, sah den Schmieden beim Beschlagen zu, beobachtete,
wie bis spät in die Nacht Schwerter hergestellt wurden. Sie sah den Kriegern
beim Kampftraining ebenso zu wie bei ihren Reitübungen, verinnerlichte
jede Bewegung. Unbeabsichtigt perfektionierte sie ihre Unauffälligkeit, sodass sie selbst dann noch für die meisten unsichtbar blieb, wenn sie direkt
vor ihnen stand.
In vielerlei Hinsicht übernahm sie Muyans Stelle, ohne dass es innerhalb
des Gesamtgefüges irgendwem auffiel.
Sie sah, wenn sie mit den anderen Frauen zum Markt unterwegs war, gelegentlich ihren Vater mit den fünf Brüdern über den Hof schreiten, ihnen die
Stallungen zeigen, sie spielerisch an die Waffen heranführen. Nie versuchte
sie, seine Blicke auf sich zu lenken. Eines Tages jedoch, als sie verschwitzt
und erschöpft aus dem Waschhaus heraustrat, hefteten sich seine Augen auf
sie. Mit voller Absicht verweigerte sie den Kontakt, aber noch am selben
Abend trat Limok an sie heran.
»Der Herr wünscht dich in seinen Gemächern zu sehen«, teilte er ihr mit
unergründlicher Miene mit.
Was das zu bedeuten hatte, wusste Kayana nur allzu gut. Muyan war nicht
die einzige Frau der Dienerschaft, die Ellmaat in unregelmäßigen Abständen
in sein Zimmer bringen ließ. Wollte er es tatsächlich wagen, sich an seiner
eigenen Tochter zu vergehen? Wenngleich Frauen auf Kelor einen so geringen Status innehatten, dass sie den Männern in nahezu allen Bereichen hilflos
ausgeliefert waren, so war doch Inzucht eines der wenigen Dinge, für die
sogar ein Mann mit dem Tod bestraft wurde – wenn man ihm dieses Vergehen denn nachweisen konnte. Das hingegen war schwierig. Denn die Worte einer Frau galten, ohne die Bestätigung eines anderen Mannes, nichts,
absolut gar nichts – auch wenn alle wussten, dass sie der Wahrheit entsprachen. Musste sie sich also in ihr Schicksal fügen und ihrem Vater geben,
wonach er verlangte?
Eisige Verzweiflung und flammender Zorn lieferten sich einen gnadenlosen Kampf, trieben Kayana Schüttelfröste und Schweißausbrüche über den
Körper. Das Bild ihrer Ziehmutter schob sich vor ihre Augen. Die Erinnerung an ihren in unsäglicher Pein verschleierten Blick, ihren aufgedunsenen, unförmigen Leib marterte Kayanas Seele. Benutzt wie ein Spielzeug,
weggeworfen wie ein Stück Dreck.
Oh nein! Mit ihr würde Ellmaat das nicht machen! Sie musste einen Weg
finden, diesem grausamen Übel zu entgehen. Zwar hatte sie keine klare Vorstellung davon, wie sie das anstellen sollte, aber als Limok bei Einbruch der
Dunkelheit in ihre winzige Schlafstube trat, wusste sie mit untrüglicher
Sicherheit, dass sie die Räume ihres Vaters unberührt wieder verlassen
würde.
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Hocherhobenen Hauptes folgte sie dem Leibdiener, den Unterkiefer
trotzig nach vorn geschoben, ein unheilvolles Feuer in den dunkelbraunen
Augen.
Sie hatte sich, wie jeden Abend, nach der Arbeit am Brunnen gereinigt, die
blonden Locken, die sie stets in streng geflochtenen Zöpfen und aufgesteckt
trug, kräftig ausgebürstet und dann das saubere Nachtgewand angezogen.
Mikaila liebte es, ihr vor dem zu Bett gehen einen Pferdeschwanz zu binden.
Zu dieser liebgewordenen Zeremonie war ihnen gerade noch genug Zeit geblieben. Mit einem sanften Kuss verabschiedete sich Kayana von ihrer
Schwester.
»Behalte mich in deinem Herzen«, flüsterte sie der Kleinen ins Ohr, die ihr
mit Tränen in den Augen hinterhersah, als sie die Stube verließ.
Das Klopfen von Fingerknöcheln an Holz riss sie aus ihren Gedanken. Sie
hatten die herrschaftlichen Gemächer erreicht. Mit einem breiten Grinsen
auf dem Gesicht öffnete Limok auf den Zuruf seines Herren die schwere
Pforte, schob das Mädchen hindurch und zog die Tür in ihre Ausgangsposition zurück. Was nun geschah, ging ihn nichts mehr an, obwohl ihn allein die
Vorstellung in Wollust versetzte und er das Blut in seinem Schoß pochen
fühlte.
Nur noch mit dem Untergewand bekleidet stand Ellmaat vor dem großen
Bett, dessen frisch aufgefüllte Strohsäcke den Raum mit einem angenehmen
Duft erfüllten. Kayana war direkt hinter der Tür stehen geblieben und sah
ihrem Vater mit unverhohlener Abscheu entgegen. Anscheinend hatte er
einen demütig gesenkten Kopf erwartet, denn in seiner selbstgefälligen Miene
zuckte es, als ihre Blicke sich trafen.
»Komm her zu mir«, forderte er sie auf. Kayana jedoch verharrte reglos.
»Ich hab gesagt, du sollst herkommen«, herrschte er sie an.
»Mit mir wirst du nichts von dem machen, was du Muyan angetan hast!«,
zischte sie ihm zitternd vor im Zaum gehaltenem Groll entgegen. »Mich
schützt das Gesetz! Solltest du dennoch versuchen, dich an mir zu vergreifen, wirst du es bitter bereuen!«
Ellmaat lachte dröhnend, ging jedoch scheinbar auf ihre Rede ein. »So«,
erwiderte er, »welches Gesetz sollte dich denn schützen?«, fragte er anzüglich.
Diese widerspenstige Person reizte ihn, und das Verhalten, das sich so
grundlegend von dem der anderen Dienstmägde unterschied, steigerte seine
Gier. Diese Blitze schleudernden Augen, die aufbegehrenden Worte, die glutroten Wangen sowie die goldblonden Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, erregten ihn mehr, als williges Entgegenkommen es je vermocht
hatte.
»Ich bin Kayana«, schleuderte sie ihm entgegen, »deine und Dimenis erstgeborene Tochter! Wenn du dich an mir vergreifst, begehst du Inzucht!«
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Einen Moment lang verschlug es Ellmaat tatsächlich die Sprache. Dann
aber trat ein harter Glanz in seine Augen. »Selbst wenn es so wäre«, flüsterte
er nun gefährlich leise, »es ist an dir, das zu beweisen. Und wer wird schon
einer dahergelaufenen Magd Glauben schenken, wenn der Burgherr persönlich die Anschuldigungen dementiert?«
Er trat ein paar Schritte auf sie zu. Sie wich nicht aus. Seine Hände packten
sie grob, rissen sie an sich, zerfetzten in unbeherrschtem Verlangen den spröden Stoff, der ihren Körper nur unzureichend schützte. Mit Leichtigkeit hob
er sie hoch, trug sie die wenigen Meter zu seinem Bett, drückte sie gewaltsam
darauf nieder.
Kayana wehrte sich nicht. Sie versuchte, das erregte Keuchen an ihrem
Hals auszublenden, ebenso wie die glühenden, schweißnassen Hände, die
über ihre Haut glitten. Auf dieselbe Weise wie sie sich immer vorstellte, sie
verschmölze mit dem Mauerwerk oder den hölzernen Palisaden der Stallungen, wenn sie unbemerkt bleiben wollte, visualisierte sie nun mit aller Konzentration eine unsichtbare Barriere, die seinen Körper von ihrem trennte.
Seine verlangenden Berührungen, der heiße Atem und ihr eigener Ekel
machten es ihr fast unmöglich, dieses Bild heraufzubeschwören. Erst als er
mit brutaler Härte ihre Schenkel auseinanderdrängte gelang es ihr in einem
angstvollen Aufbieten aller Kräfte, die Vision zu vervollständigen.
Ellmaat brüllte wie ein Stier, als er in sie einzudringen versuchte und vor
eine brennende Wand prallte. Hastig zog er sich zurück, die Augen schreckgeweitet, seine Züge in plötzlichem Schmerz erblassend. Schweiß, der nichts
mit seiner Erregung zu tun hatte, rann über sein Gesicht, und die Haut seines
Geschlechts warf blutige, hässliche Blasen.
Sein Heulen durchdrang selbst die dicken Steinmauern. Limok, der in
seinem eigenen, an das Ellmaats angrenzenden Schlafzimmer seinen Fantasien nachgegeben und kurz vor dem Höhepunkt gestanden hatte, wurde mit
brachialer Gewalt aus seinem Wachtraum gerissen. Fluchend wischte er die
klebrigen Finger an seinem Laken ab, schloss seine Hose, fuhr in seine
Schuhe und eilte in die Stube seines Herren. Was in Erujons Namen konnte
dort vorgefallen sein, das dessen Kehle solche Laute entlockte?
Als er hastig die schwere Tür aufzog und in das Gemach des Domänenfürsten stürzte, sah er aus dem Augenwinkel, wie dieser sich in Qualen auf
dem Fußboden vor dem Bett krümmte, während das Mädchen mit hasserfülltem Blick auf ihn niedersah.
»Ich hatte dich gewarnt, Vater«, hörte er sie flüstern. »Nicht nur das Gesetz
schützt Töchter vor den inzestuösen Übergriffen ihrer Erzeuger.«
Sie entstieg der Schlafstätte, sammelte ihre zerfetzten Kleider ein, wand
diese notdürftig um ihren Körper und ging, ohne Limok auch nur die geringste Beachtung zu schenken, zurück in die kleine Kammer, in der Mikaila
bebend auf sie wartete. Zitternd klammerten sich die Schwestern aneinander.
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Ihr Puls raste, und es dauerte lange, bis sie sich sicher waren, dass zumindest
vorerst keine weitere Gefahr bestand und sie endlich in einen unruhigen
Schlaf fielen.
Für Ellmaat hingegen war in dieser Nacht an Schlaf nicht zu denken. Sein
Genital brannte, und dessen Anblick ließ ihn mit seinem Mageninhalt
kämpfen. Wimmernd verlangte er nach einer Schüssel kalten Wassers, sauberen Leinentüchern – und absolutem Stillschweigen gegenüber allen.
Limok brachte das Gewünschte, während sein Herr sich mit zusammengebissenen Zähnen in sein Nachthemd kleidete. Stunden verbrachte er, nachdem er seinen Diener wieder fortgeschickt hatte, mit dem Kühlen seines
Schoßes. Aber erst, als schon schales Morgenlicht seine ersten Ausläufer
über die Festungsmauern schickte, sanken die Qualen auf ein erträgliches
Maß, und sein Kopf konnte sich wieder mit etwas anderem als dem Kampf
gegen die Schmerzen beschäftigen.
Etwas Derartiges hatte er noch nie erlebt, geschweige denn, irgendjemanden davon erzählen hören. War diese Magd tatsächlich seine Tochter
gewesen? Dunkel erinnerte er sich an ein kleines, blondgelocktes Mädchen,
das auf seinen Knien geritten war und das er wochenlang eingesperrt hatte,
weil es seinen Platz nicht für Navin hatte räumen wollen.
Lag das wirklich schon so lange zurück, dass diese glutäugige Furie das
Kind von damals sein sollte? Die es wagte, gegen ihn aufzubegehren? Sie,
eine junge Frau, kaum den Kinderschuhen entwachsen.
Er durfte sie nicht mehr dort draußen lassen, wo sie die gesamte Dienerschaft gegen ihn aufwiegeln und sämtliche weiblichen Bediensteten zum
Widerstand aufrufen konnte.
Ellmaat war ein gerissener Taktiker. Er musste diese Kayana, ja, so hieß
sie, schnellstmöglich wieder unter Kontrolle bekommen, wenn er eine Rebellion vermeiden wollte. Er würde sie zurückholen! Als seine Tochter! Dimeni
würde sie in höfischem Leben sowie den dafür nötigen Fertigkeiten unterrichten und dann würde er sie gewinnbringend verheiraten. Am besten mit
einem seiner Nachbarn, um sich damit einen dauerhaften Grenzfrieden zu
sichern. Diese Überlegungen beruhigten ihn ein wenig.
»Ja«, sagte er sich, »das wäre wohl die sinnvollste Lösung für dieses Problem.«
So kam es, dass Kayana schon am darauffolgenden Tag auf Geheiß ihres
Vaters zu ihrer Familie zurückkehrte. Dimeni bemühte sich rührend um ihre
Tochter, und mit der Zeit gelang es Kayana sogar, ihr ihre damalige Untätigkeit zu verzeihen. Oft genug erlebte sie mit, dass Ellmaat auch ihr gegenüber
verachtenswert gleichgültig, anmaßend, besitzergreifend oder bestimmend
war.
Nur oberflächlich ordnete sie sich ihm unter, fügte sich seinen Anweisungen, hielt sich an seine Verbote. Wann immer er mit seinen Mannen das
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Gehöft verließ oder mit sich und seinen Söhnen beschäftigt war, schlich sie
zu den Unterkünften der Dienstboten, traf sich mit Mikaila, ging weiterhin
ihren stillen Beobachtungen nach.
Zunehmend häufiger hatte Kayana das Gefühl, mit den Agierenden zu verschmelzen, wenn sie beispielsweise ihren Brüdern beim Reit- oder Kampfunterricht zusah. Nicht selten vermeinte sie, selbst die Zügel in den Händen,
den Sattel unter ihrem Gesäß oder das Schwert in den Fingern zu spüren.
Dies alles behielt sie für sich. Wer hätte ihr auch geglaubt, wenn sie darüber
berichtete?
Kayana lebte ihr neues Leben, ohne jedoch diejenigen zu vergessen, die ihr
sieben Jahre lang Obdach, Kleidung, Nahrung und Zuwendung gegeben
hatten.
Zwei weitere Jahre gingen ins Land, bevor mit dem unbeabsichtigt belauschten Gespräch der nächste große Umbruch unausweichlich auf sie zukam. Denn das heimtückisch eingefädelte Ränkespiel ihres Vaters, das sich
ihr in jenem Moment offenbarte, als er den Namen Elims von Stacklat als
den ihres zukünftigen Ehemannes nannte, würde sie nicht mitspielen.
Rasend vor Wut warf sie sich auf ihr Bett.
_Die Flucht Zuerst musste sie diesen unbändigen Zorn niederringen, der ihr
das Fassen klarerer Gedanken nahezu unmöglich machte. Wieder einmal
zeigte es sich, dass Ellmaats geheuchelte Anerkennung sowie seine gelegentliche Aufmerksamkeit nach wie vor Schauspiel waren. Abermals bestätigte
sich die unterschwellig stets gegenwärtige bittere Gewissheit, dass ihre fünf
Brüder seine Augensterne waren, sie indessen kaum mehr als ein schmerzendes, eitriges Geschwür. Er wollte sie loswerden, weil ihn ihr Anblick rasend machte, ihm die Furcht vor einer Wiederholung der einstigen Erfahrung
aber Zurückhaltung aufnötigte.
So hatte er seine Fühler ausgestreckt – und in seinem direkten Grenznachbarn den idealen Gatten für seine widerborstige Tochter gefunden.
»Er ist weder mit mir noch mit Dimeni verwandt«, sagte er, »und was auch
immer diese kleine Bestie vor mir beschützt, gegen ihn kann sie es gewiss
nicht anwenden!«
Elim von Stacklat war ein erfahrener Mann, dessen beiden ersten Frauen
zu seinem Leidwesen kinderlos verschieden waren. Er war trotz seines fortgeschrittenen Alters ein drahtiger, agiler, kampferfahrener Hüne, dessen
einstmals rabenschwarze Haare bereits silbergraue Strähnen durchliefen, und
er führte sein Gut mit strenger Hand. Dies alles hatte ihr die Unterhaltung,
die Ellmaat mit Limok führte, aufgezeigt.
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Von: [email protected]
Gesendet: 05.02.09
An: [email protected]
Betreff:
Hi …
Ich möchte eine Geschichte erzählen, die
mir so laut im Kopf umherschwirrt, dass
ich davon Kopfschmerzen bekomme. Ich will
die schmerzende Realität für eine Zeit
verlassen und mich der Fantasie hingeben.
Ich würde mich freuen, wenn du mich
begleitest …
5
Das Konzert
DONNERSTAG.
Seit Tagen freute ich mich auf
diesen Abend. Es sollte mein erstes und wohl auch
letztes Konzert meiner neuen Lieblingsband ›Dark
Tower Alliance‹ werden. Ich hatte mir für den Nachmittag Urlaub genommen, doch es fiel mir schwer,
mich am Morgen auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Aufgeregt und appetitlos ackerte ich mich durch die
Ordner auf meinem Schreibtisch. Gott sei Dank kamen heute nicht so viele E-Mails. Auch das Telefon
nervte mich ausnahmsweise nicht. Mein Kaffeebecher
stand neben der Tastatur. Als ich mich ein Stück vorbeugte, sah ich, dass er noch halb gefüllt war. ›Mist!‹
Da hatte ich mir extra für 3,80 Euro einen Latte
macchiato Karamell gekauft, und jetzt war er einfach
auf meinem Schreibtisch gestorben.
›Hm, ich könnte ihn kurz in die Mikrowelle stellen.
Nein!‹ Ich schüttelte den Kopf.
Das würde jetzt nur Zeit kosten. Ich musste unbedingt den Stapel vor mir los werden, damit ich mit
einem guten Gewissen um eins gehen konnte. Ich
versuchte, mich wieder auf die Daten zu konzentrieren.
Zur Information: Ich arbeite als Sachbearbeiterin
bei einer Versicherung. Wenn sich Kundendaten ändern, Schadensfälle gemeldet werden oder HansJürgen Wischnewski irgendeine Frage zu seinen Tarifen hat, dann tippe ich das in meinen PC. Ich weiß, es
ist nicht der aufregendste Job der Welt, aber er ist
sicher. Pünktlich am Monatsende erhalte ich mein
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Gehalt, und damit komme ich auch gut aus. Dafür
sollte man in der heutigen Zeit dankbar sein, nicht
wahr?!
Ich schaute mich kurz um. Normalerweise waren
wir hier zu viert. Doch Birgit hatte heute Urlaub, und
Claudia war auf einem Lehrgang. Nur Susi saß mir
gegenüber. Sie war ebenfalls damit beschäftigt,
irgendwelche Daten in ihren PC einzugeben. Sie achtete nicht auf mich. Ich nutzte den Moment und öffnete den Ordner ›Nadia Privat‹. Dort klickte ich auf
den Unterordner ›Fotos‹. Normalerweise konnte ich
mich nicht entscheiden, welches Bild ich mir zuerst
ansehen sollte, doch heute war mir das egal. Ich vergrößerte gleich das Erste und schaute in die schönsten braunen Augen der Welt. Sofort zauberte sich dieses dümmliche Grinsen auf mein Gesicht, und ich
legte den Kopf verträumt seitlich auf die Schulter.
Dazu einmal tief ein- und ausatmen. Ich weiß, wie
dämlich das aussieht, doch ich bin absolut machtlos.
Dagegen kann ich mich nicht wehren. Um diese
Augen herum befindet sich das schönste Gesicht der
Welt mit dem schönsten Lächeln, das es geben kann.
Und dieses Gesicht gehört Joshua Streta. Seufz!
Er ist Schlagzeuger einer Band aus Köln, die gerade
dabei ist, in Deutschland richtig durchzustarten. ›Dark
Tower Alliance‹, kurz ›DTA‹ genannt.
Die Band besteht aus fünf Jungs die Anfang bis
Mitte 20 sind. Fünf Freunde. Nicht zusammengecastet. Es war absolut reiner Zufall, dass ich auf diese
Band aufmerksam geworden bin.
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Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Zufall und reinem Zufall?
Als ich letzten Monat mit einer dicken Erkältung
vier Tage krankgeschrieben war, habe ich oft bis drei
Uhr morgens ferngesehen.
Kennt ihr das auch, dass eine Erkältung nachts
immer am schlimmsten ist? Und tagsüber kann man
sich eigentlich ganz gut ausruhen.
Jedenfalls lief da auf einem Musiksender ein Bericht
über Newcomer. Und die Jungs von ›DTA‹ wurden
vorgestellt. Joshua fiel mir sofort auf. Obwohl der
Frontmann und Sänger Sven im Mittelpunkt stand
und alle Fragen geduldig beantwortete, konnte ich
meinen Blick nicht von Joshua wenden. Er stand am
Rand in seinen zerfetzten Jeans und dem roten TShirt. Er trug einen modernen dünnen Schal und
ausgelatschte Chucks. Er lächelte charismatisch in die
Kamera. Zustimmend nickte er, wenn der Reporter
sich an ihn wandte und Bestätigung suchte. Außerdem zwirbelte er unauffällig einen kleinen Faden auf,
der von seinem Shirt zu kommen schien. Interessiert
guckte ich mir den Rest des Beitrages über die Band
an und googelte sie gleich am nächsten Tag. Auf der
Homepage registrierte ich mich in der Community
und las mir das Gästebuch sowie einige Foreneinträge durch. Die Fanbase war noch ziemlich klein,
und der Altersdurchschnitt lag etliche Jahre unter
meinem. Die Jungs hatten Fotos von ihren ersten
beiden Shootings online gestellt, und ich konnte mich
einfach nicht satt sehen. Natürlich kam ich mir dabei
wie ein typischer Teenie-Fan vor, aber das störte
mich wenig. Ich lud eifrig die Bilder auf meinen PC
und bestellte mir im Fanshop gleich das Album und
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einige Fanartikel. Nichts Besonderes, nur einen kleinen Anstecker, ein Schweißband, einen Schlüsselanhänger, ein T-Shirt, einen Kapuzenpullover, eine
Jacke und einen Stringtanga. Selbstverständlich ging
es mir bei der Bestellung nur darum, die Band zu
supporten.
Ich weiß noch genau, wie ich mich freute, als das
Paket endlich ankam. Meine Erkältung war abgeklungen, und ich legte gespannt das Album in meinen
CD-Player. Zuerst spielte ich alle Lieder nur kurz an.
Ich hatte einfach keine Geduld. Nachdem ich überrascht war, was für einen rockigen Sound die Jungs da
fabrizierten, zog ich mir den Kapuzenpulli an und
groovte zu den Nummern durch die Wohnung. Die
Anlage drehte ich voll auf, und mit dem Booklet in
der Hand grölte ich sämtliche Lieder mit. Die Musik
gefiel mir mehr als gut. Um die ganze Stimmung
perfekt zu machen, streifte ich mir das Schweißband
über und zog das T-Shirt unter den Kapuzenpulli.
Zur Sicherheit ließ ich die Jalousien herunter, denn
mein Nachbar, Herr Gartenwein, ist ziemlich neugierig. Ich hüpfte und sprang über eine Stunde in
meiner Wohnung herum, bis ich mit hochrotem Kopf
erschöpft auf die Couch fiel.
Wow, ›DTA‹ infizierte mich vollständig. Ich besuchte regelmäßig die Homepage und schaute mir an,
wo die Jungs auftraten. Als ich sah, dass sie nach Gießen kommen würden, musste ich mir ein Ticket
bestellen.
Keine meiner Freundinnen begleitete mich zu dem
Konzert. Zum einen war es leider mitten in der
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Woche, und zum anderen wussten meine Mädels
nichts von ›DTA‹. Und irgendwie war ich nicht bereit,
diese Jungs mit ihnen zu teilen. Ich wollte dieses aufregende Abenteuer für mich alleine haben.
Um allerdings nicht total alleine auf der Veranstaltung herumzustehen, hatte ich mich im Vorfeld mit
zwei Mädchen aus Fulda verabredet. Die beiden hatte
ich in der ›DTA‹-Community kennengelernt.
Jetzt saß ich also voller Vorfreude im Büro und
starrte Joshua an. Ich würde ihn endlich live sehen.
Das konnte ich kaum glauben. Mit einem breiten
Grinsen schloss ich die Anwendungen auf meinem
Bildschirm, die die Fotos zeigten, und konzentrierte
mich erneut auf meine Arbeit.
Als es endlich soweit war und ich meinen PC herunterfuhr, verstaute ich ungeduldig meine Sachen und
räumte meinen Schreibtisch hektisch auf.
Susi blickte mich verwundert an, doch ich schnatterte ein aufgeregtes: »Ich muss los, … ich muss los!«
Während ich auf den Fahrstuhl wartete drückte ich
tausendmal die Abwärtstaste. Davon kommt der Aufzug nicht schneller, aber irgendwie hat man das Gefühl es würde ihn beeinflussen. Als ob der Fahrstuhl
sich dann denkt: ›Man, die hat es aber eilig! Dann
werde ich sie mal als Erstes befördern!‹
Ist natürlich Quatsch. Erhöht man damit nicht vielleicht sogar die Gefahr, ihn kaputt zu machen? Durch
einen Kurzschluss oder so was?
Als der Fahrstuhl endlich kam, drückte ich genauso
oft die Tiefgaragentaste - wie zuvor die Ruftaste.
Nachdem ich ein gefühltes Jahr später endlich im
Parkhaus ankam, lief ich zu meinem Auto. Per Fern-
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bedienung entriegelte ich die Türen und riss die auf
der Fahrerseite auf. Meine Handtasche flog auf die
Rückbank, und ich ließ mich auf den Sitz fallen. Im
Handschuhfach war mein Navigationsgerät verstaut.
Die Adresse der Halle hatte ich bereits gestern eingetippt. Ich nahm es heraus, steckte das Gerät zittrig in
die Halterung und startete den Wagen. Da hier unten
keine Verbindung zu dem Satelliten hergestellt werden konnte, fuhr ich zur Ausfahrt. Ich fädelte mich in
den zäh fließenden Verkehr ein und wartete auf die
vertraute Frauenstimme. An der ersten Ampel angekommen, sprach sie auch schon zu mir. »An der
nächsten Kreuzung rechts fahren.«
Alles klar. Zur Einstimmung ließ ich das Album
von ›DTA‹ laufen und sang die Lieder mit.
Eine Stunde später rollte ich in die Zielstraße ein
und sah einen großen Parkplatz. Er war bis auf drei
Autos noch völlig leer.
›Tja, von den anderen Fans ist wohl noch niemand
volljährig!‹ Gehässig kicherte ich, stellte meinen Wagen in den Schatten und blieb einen Moment reglos
hinter dem Lenkrad sitzen.
Es war erst früher Nachmittag. Auf der Eintrittskarte stand, dass der Einlass um 19 Uhr beginnen
würde. Ich hatte noch unendlich viel Zeit. Ich stieg
aus und erkundete das Gelände um die Halle herum.
Ob die Band hier schon irgendwo war? Oder ob sie
gerade in der Halle den Soundcheck machte? Angestrengt lauschte ich, konnte aber nichts hören. Lässig
schlenderte ich zur Hauptstraße und guckte mich um.
Vielleicht gab es ja irgendwo ein Café in der Nähe.
Da entdeckte ich ein paar Plakate, die an eine Litfaß-
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säule geklebt waren. Darauf stand, dass ›DTA‹ ab 16
Uhr für eine Autogrammstunde im ›Buyland‹ seien.
Hm, ich wusste zwar nicht wer oder was das ›Buyland‹ war, aber ich hatte eine Vorstellung. Poster oder
andere Gegenstände, die ich mir signieren lassen
konnte, hatte ich nicht mitgenommen. Jedoch besaß
ich meine Kamera und genügend Zeit. Ich schaute
mich um und sah ein älteres Pärchen an einer Bushaltestelle stehen. Als ich mich erkundigte, wo das
›Buyland‹ zu finden sei, wurde ich positiv überrascht.
Zu Fuß waren es nur fünfzehn Minuten, und so
konnte ich mein Auto stehen lassen. Auf dem Weg zu
diesem Kaufhaus, hatte ich ein leichtes Kribbeln im
Bauch. Meine Hände schwitzten. Aber ich würde ja
niemandem die Hand geben müssen. Es dauerte nicht
lange, da konnte ich das Zentrum schon sehen. Bei
der Vorstellung, dass Joshua in dem Gebäude war,
fühlte ich einen eigenartigen Knoten im Magen.
Als ich den klimatisierten Komplex betrat, blieb ich
überrascht stehen. Die Menge der aufgeregten Mädchen erstaunte mich sehr. Da waren Hunderte. Sie
standen alle hintereinander und bildeten eine riesige
Schlange aus Leibern. Ich konnte überall Fotoapparate, CDs und Poster erkennen. Und was absolut
nicht zu übersehen war: der Berg an nackter Haut.
Meine Güte, die Mädchen hatten alle kaum etwas an.
Okay, die waren im Schnitt mit Sicherheit fünf Jahre
jünger als ich, aber in meiner Jeans und dem leichten
Pulli wirkte ich neben denen wie 40 ... und nicht wie
20.
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Als ich den ersten Schock verdaut und meine Gesichtsmimik wieder unter Kontrolle hatte, schlenderte
ich umher und schaute mir alles an. Es gab eine Vielzahl von kleinen Geschäften, Bistros und Cafés. An
allen Seiten führten Rolltreppen und Aufzüge in die
oberen Stockwerke. Das Gebäude bestand überwiegend aus Glas und wirkte dadurch sehr transparent.
Im Untergeschoss, wo ich mich befand, war in der
Mitte ein Podium aufgebaut. Ein langer Tisch mit
fünf Stühlen stand darauf. Ich konnte sehen, dass
dieser Bereich mit dicken, roten Seilen abgesperrt
war. Dort würde in knapp 40 Minuten Joshua sitzen.
Er würde sich im selben Gebäude befinden wie ich.
Die gleiche Luft atmen. Wahnsinn!
Als mein Blick wieder auf den Berg halbnackter
Jungfrauen fiel, fragte ich mich grimmig, woher die
alle von den Jungs wussten. Für mich war die Band
ein ultimativer Geheimtipp, und hier sah ich zig Konkurrentinnen, die sogar Fotos dabei hatten, auf denen
sie mit den Mitgliedern abgelichtet waren. Manno,
wieso hatte ich eigentlich nie Glück? Und wieso waren diese Kinder für mich Konkurrenz? Ich ertappte
mich dabei, wie ich mich da in etwas hineinsteigerte.
›Tief durchatmen, Nadia! Dir gefällt die Musik! Du
stehst nur auf die Musik! Du bist zu alt, um dich in
einen Popstar zu verknallen!‹
Ich lief weiter um das Podium herum und überlegte, wo ich mich postieren könnte. Für ein Autogramm wollte ich mich auf keinen Fall anstellen. Auf
meinem Erkundungstrip entdeckte ich ein kleines
Café. Dort bestellte ich mir einen großen Milchkaffee
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to go. Mit dem warmen Becher in der Hand fühlte ich
mich besser … und erwachsener.
Ganz nach dem Motto: »Seht ihr, ich darf sogar
schon Kaffee trinken!«
Ich durchquerte die Eingangshalle erneut und positionierte mich schließlich seitlich. Von dem Standpunkt aus hatte ich einen guten Blick auf den ganzen
Tisch. Wenn ich Glück haben sollte, würde Joshua
genau an dem Rand sitzen, von dem ich nur wenige
Meter entfernt stand. Überall hörte man aufgeregtes
Geschnatter. Zwischendurch ertönte einer der Vornamen der Jungs, und einige Mädels lachten oder
kreischten. Ich wünschte sie alle weit weg. Ich wollte
die Band für mich alleine haben. Ich konnte nicht
begreifen, wie so junges Gemüse auf erwachsene
Jungs stehen konnte.
»Du bist ja eifersüchtig«, sagte eine kleine innere
Stimme belustigt.
›Ich? Eifersüchtig? Auf die Kids? Quatsch, … nur
tot wären sie mir halt lieber.‹
Ich rümpfte die Nase und dachte mir, dass die
meisten hier die tiefgründigen Texte nicht verstanden.
Pisa-Studie lässt grüßen. Hauptschule auf Wandertag!
In den liebreizenden Gedanken verloren, trank ich
meinen Kaffee. Die Leute um mich herum rückten
mir immer näher auf die Pelle. Ich fühlte mich
irgendwann total eingeengt. Gerade als ich etwas
sagen wollte, trat eine junge Frau mit einem Mikrofon
auf das Podium, und die Menge begann zu kreischen.
Boah, war das laut! Die Frau versuchte einige Minuten lang, die vielen Mädchen zu beruhigen. Als sie es
endlich geschafft hatte, kündigte sie die Band an. Alle
brachen erneut in hysterisches Geschrei aus. Genervt
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hielt ich mir die Ohren zu und bemerkte nicht, dass
ich ganz laut mitschrie. Eine erbärmliche Lightshow
setzte ein, und die Fünf betraten das Podest. ›Huch,
wo sind die denn auf einmal hergekommen?‹
Ein Blitzlichtgewitter regnete auf sie hinab. Ich
stand da und gaffte mit offenem Mund zu Joshua
hinüber. Natürlich saß er genau am anderen Ende des
Tisches. Da ich ja seitlich stand, hatte ich vier berühmte Köpfe im Weg. Ich konnte Joshua nur dann
sehen, wenn er sich gerade vor- oder zurückbeugte
oder die anderen Bandmitglieder sich alle bewegten.
Mit kalten Fingern packte ich meine Kamera aus.
Sven begrüßte die Fans und plapperte fröhlich ins
Mikrofon. »Hallo Gießen, wir freuen uns sehr, hier
bei euch zu sein!«
Er erzählte, was die Jungs bisher erlebt hatten und
spaßte mit den Girls. Dann öffneten Angestellte der
Security das Absperrband und ließen ein Mädchen
nach dem anderen auf das Podest.
›Boah, in dem Tempo dauert die ganze Geschichte
fünf Jahre.‹
Verlegen knipste ich ein paar Bilder. Als ich sie mir
auf dem Display anschaute, bemerkte ich aber, dass
Joshua auf keinem Bild gut zu sehen war. Dafür guckte auf dem letzten Foto der Gitarrist Marco genau zu
mir. Ich blickte wieder zum Tisch, doch jetzt signierte
er gerade Poster.
Ich blieb noch einige Zeit dort stehen und versuchte, mir klar zu machen, dass ich Joshua lebendig vor
mir hatte. So oft hatte ich mir seine Fotos angeschaut.
Jetzt saß er dort. Keine zwölf Meter entfernt. Viele
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der Fans umarmten die Jungs oder gaben ihnen Küsschen auf die Wange. Sie waren alle ganz nahe dran.
Zu jedem Mädchen hatte ich einen passenden Gedanken: ›Fall tot um!‹ - ›Hol dir die Krätze!‹ - ›Krieg
Akne!‹ - ›Friss net so viele Pommes!‹ - ›Uh, bei dir
hätten die Eltern lieber verhüten sollen!‹
Vor Eifersucht kochend entschied ich mich nach
einer Weile, zur Konzerthalle zurückzugehen. Christin und ihre Freundin müssten bald ankommen. Als
ich mich durch die Menge zum Ausgang kämpfte,
kam ich mir wie ein Spartiat vor, der gegen hunderte
von Persern antrat. Genau vor mir waren zwei Mädchen, die Arm in Arm Richtung Ausgang watschelten.
Sie hatten beide hochrote Köpfe, und es war nicht zu
überhören, was sie sagten. Hysterisch fragten sie sich
immer wieder gegenseitig, ob sie wirklich gerade
›DTA‹ umarmt und geküsst hätten.
»Oh, Sven ist so süß, … nein, Josh ist viel süßer!
Uh, aber auch Tom«, … bla bla!
Mann, die stellten sich vielleicht an! Ich legte einen
Zahn zu und überholte die Zwei.
Im Vorbeigehen zischte ich: »Mann, kriegt euch
wieder ein! Oder habt ihr zum ersten Mal ’nen Typen
umarmt?«
Die Eine rempelte ich beim Überholen an. Ich
glaube, dass sie mir noch ein »Blöde Kuh!« hintergerufen hatten, aber da stand ich natürlich voll drüber! ›Das tangiert mich nur periphere, Schätzchen!‹
An der frischen Luft angekommen, atmete ich erst
mal durch und orientierte mich neu. ›Von wo war ich
vorhin noch mal gekommen?‹
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Prolog
MENSCHEN
BRAUCHEN Freunde. Ohne einen
Partner fühlen sich die meisten einsam und allein.
Wer keinen Gefährten an seiner Seite hat, der ist fast
ununterbrochen auf der überflüssigen Suche nach
einem solchen. Am besten verbinden sie diese
Freundschaft dann auch noch mit der wahren großen
Liebe. Herzzerreißend jagen diese bemitleidenswerten
Geschöpfe einer x-beliebigen Person hinterher, die
sie eigentlich nicht kennen. Im Grunde einem
Fremden. Impulse in ihren kleinen, kranken Hirnen
veranlassen diese Menschen, dass sie glauben, in eine
romantische Abhängigkeit geraten zu sein. Sie
schreiben sich gegenseitig Briefe und malen niedliche
Herzchen auf Papier oder basteln etwas, um ihre
Liebe unter Beweis zu stellen. Ich bin auch einmal so
gewesen. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich
glücklicherweise ändern konnte. Ich habe es
geschafft, dort herauszukommen.
Dabei weiß niemand von diesen Geschöpfen, wie
ein menschliches Herz tatsächlich ausschaut. Zwei
Rundungen oben und unten spitz zulaufend? Vergiss
es. Sie haben auch keinen Schimmer, wie es sich
anfühlt, wenn das Herz noch frisch und warm in der
Hand liegt. Dort draußen ist der Großteil der
Menschen ahnungslos. Sie kennen das wahre Leben
doch gar nicht und wissen die Bestandteile ihres
eigenen Körpers gar nicht zu schätzen. Ich weiß
allerdings, was man aus einem menschlichen Leib
alles herausholen kann.
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Wenn ich an meinem großen Topf in meiner Küche
stehe und das Fleisch abkoche, um es leichter von
den Knochen lösen zu können, dann ist das eine
Prozedur, die mich meine innere Ruhe spüren lässt.
Ganz deutlich. Ich höre meinen Puls, meine Atmung
und werde mir bewusst, dass ich in diesem Moment
am Leben bin. Alles andere ist dann unwichtig. So bin
ich ganz bei mir selbst und habe nichts von dem Kerl,
den ich allen während meines Jobs vorgaukeln muss.
Ich tue das daheim, was mir nahegeht. Was mich
erfüllt. Vor mir sprudelt das kochende Wasser, und
mit dem langstieligen Löffel rühre ich ab und an
sämtliche Portionen um. Der Topf ist riesig und
verdeckt die befeuerte Kochstelle vollständig. Fast
eine halbe Sau könnte ich darin einlegen.
Zum Verspeisen sind meine Stücke natürlich nicht
gedacht. Dafür ist das Fleisch in meinen Augen zu
ungenießbar und für meine Begriffe zu zäh. Es will
mir nicht den Schlund hinunter. Vor Jahren hatte ich
es mal probiert, aber Gefallen hatte ich daran nicht
finden können. Es hatte sich zwischen meinen
Schneidezähnen eigenartig angefühlt. Lange hatte ich
versucht, mich an den Geschmack zu gewöhnen, weil
es mir einiges erleichtert hätte. Aber es ging nicht.
Vielleicht bin ich einfach zu sehr vorbelastet.
Psychlogie beeinflusst die Menschen mehr als alles
andere.
Eigentlich schade, denn ein Metzger ernährt sich
doch auch durch seine Tätigkeit. Dieser hat kein
Problem damit, aus dem Blut seiner toten Körper
Wurst und aus den Schenkeln bekömmliche Filets zu
gewinnen. Jedoch habe ich nicht das Fleisch von
Kühen oder Schweinen auf meinem Gabentisch. Ein
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Riegelschwänzchen oder ein Schweinsohr mit einem
sauberen und geübten Schnitt abzutrennen, wäre
keine schwere Aufgabe. Eine Zitze ist auch für den
Metzger nur störendes Beiwerk. Er verarbeitet fast
jedes Körperteil der Sau und wandelt sie dabei in
Geld um. Das macht er gut. Sogar Innereien nutzt er
und verfüttert sie an seine Mitmenschen. Wer einmal
Einblick
in
die
Rezeptur
und
den
Handlungsspielraum eines Metzgers bei der
Zubereitung diverser Wurstwaren hatte, wird sich
hüten, dieses Sammelsurium aus Fleischresten,
Knorpel, Borsten, Haut und anderen Abfällen als
kulinarischen Genuss in Erwägung zu ziehen.
Ich bezweifle allerdings, dass ein Metzger seine
Arbeit mit ebenso viel Hingabe und Leidenschaft
erledigt, wie ich es tue. Wahrscheinlich ist er einst
von seinem Vater dazu gedrängt worden, einen
anständigen Beruf zu erlernen. Nur so kommt er nun
in den Genuss, von der Natur gegebene Körper zu
zerteilen und sich wie deren Herrscher aufzuführen.
Ich habe niemanden gebraucht, der mich zu dieser
Tätigkeit gedrängt hat. In mir machte sich von ganz
alleine der Wille breit, über einen fremden Körper
verfügen zu wollen.
Wie ein Metzger habe ich einen besten Freund oder
besser, eine kleine Freundin. Meine Dotty ist ein
industriell hergestelltes Ausbeinmesser, das mir schon
viele gute Dienste geleistet hat. 24 Zentimeter ragt die
glänzende, eisgehärtete Klinge aus meiner Faust,
wenn ich Dotty im Einsatz habe. Sie wurde von
einem Meister seines Faches an einer eigens dafür
hergestellten Maschine aus einem Stück geschmiedet
und hat mich ein kleines Vermögen gekostet. Sie ist
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jedoch jeden einzelnen Penny wert. Etwas Schärferes,
was zudem so perfekt in der Hand liegt - und speziell
in meiner -, gibt es nirgends. Dotty und ich sind die
perfekte Verbindung. Wir haben geradezu ein inniges
Verhältnis. Wir lieben uns. Wenn ich Dotty brauche,
steht sie mir bei. Es gab noch keinen Moment, in
dem sie nicht ihre Loyalität bewiesen hat. Welcher
Mensch kann dies von seinem Lebenspartner schon
behaupten?
Dotty ist einzigartig. Wie viele Herzen habe ich
damit schon entnommen, um diese dann achtlos auf
den Haufen der anderen Abfälle zu werfen?
Unzählige. Herzen liegen nämlich eigentlich nicht in
meinem Fokus. Ich benötige standhaftes und
robustes Material. Knochen, Zähne, am besten ein
ganzes Gebiss. Unverletzte Haut ist eine Rarität.
Reine Haut, frei von Muttermalen ist heutzutage gar
nicht mehr existent. Im Zeitalter von Bikini, Solarium
und dem Ozonloch, zerpflügen UV-Apperaturen und
die erbarmungslose Sonne die Oberflächen aller
potentiellen und geeigneten Kanditaten. Einige junge
Dinger kommen einer perfekten Haut schon ziemlich
nahe, jedoch sind nur einzelne Körperteile wirklich
frei
von
Malen,
Narben
oder
anderen
Schändlichkeiten. Wenn ich könnte, ich würde Tatoos
verbieten.
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So muss ich eben damit zurechtkommen, was mir
geboten wird. Die Gebeine des Mannes in meinem
Topf sind durchaus brauchbar. Er ist zu Lebzeiten
von größeren Verletzungen verschont geblieben.
Keine Brüche oder Schrammen am Skelett durch
Unfälle, Schusswaffen oder ähnliches. Der junge
Mann war ein guter Fang, auch wenn er ein
Zufallsfund gewesen war. Er lief mir praktisch in die
Arme. Wie ein Köter am Wegesrand.
Ich befand mich vor meinem Haus und genoss die
gute Luft, die von den heißen Quellen herüberwehte.
Bei gutem Wetter ziehen in Hot Springs diese
Dämpfe meilenweit über das Land. Mit meinem
feinen Näschen erhasche ich dann und wann einmal
den zarten Duft. Manch einem Bewohner oder
Besucher dieser Stadt stößt der Geruch negativ auf.
Sie sprechen dann von faulem Gestank. Mich erinnert
diese Note jedoch an meine Leidenschaft, meine
Berufung. Alles, was mich ausmacht, liegt in diesem
Geruch.
»Entschuldigen Sie, ich habe keinen Akku mehr,
und mein Wagen ist liegen geblieben. Könnte ich bei
Ihnen vielleicht kurz telefonieren?« Er winkte
demonstrativ mit seinem Mobiltelefon und erhoffte
sich eine positive Antwort.
Auf meiner Veranda sitzend hob ich den Kopf und
sah ihn an. Im Grunde wollte ich nicht gestört
werden. Für einen kleinen Nebenverdienst würde ich
jedoch eine Ausnahme machen. Sofort fiel mir sein
makelloser Körperbau auf. Durchtrainiert. Groß.
Breite Schultern. Lange und kräftigen Beine. Ein
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gepflegter Mann mit sicherlich ebenso gepflegtem
Gebiss.
»Wer sind Sie denn?«, wollte ich wissen, bevor ich
ihm Einlass in mein Haus gewährte.
»Marty Harmon aus Dallas. Ich bin hier auf der
Durchreise. Naja, eigentlich habe ich mich völlig
verfahren. Und jetzt streiken auch noch mein Telefon
und mein Auto. Wären Sie so freundlich?«
Ich hob in heller Vorfreude meine linke
Augenbraue. »Aber gerne.« Im Geiste malte ich mir
schon aus, wie lange es dauern würde, ihn
auszunehmen, bevor ich mit den brauchbaren Teilen
zur Kür meiner Arbeit kommen würde. »Kommen
Sie rein. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
»Das ist ja echt super«, meinte er begeistert. »In
diesem Ort kam mir schon so einiges ziemlich
eigenartig vor. Allein bei der Durchfahrt entdeckt
man ja schon verschiedene Kuriositäten, die man
nachts lieber nicht sehen möchte.«
»Ja? Finden Sie?«, meinte ich und winkte ihn mit
einer Handbewegung ins Haus. ›Na komm‹, dachte
ich. ›Komm schon rein, Kleiner!‹
»Wenn ich dieses Gebäude dort hinten alleine
schon sehe.« Er deutete in die Ferne, und ich wusste
genau, worauf er hinauswollte.
»Ach, das meinen Sie. Das ist nur unsere Klinik.
Alles halb so schlimm.«
»Das glaube ich Ihnen. Man macht sich ja oft mehr
Gedanken, als nötig wäre«, sagte er dann, als er den
entscheidenden Schritt in mein Haus machte. Hinter
ihm fiel die Tür ins Schloss. »Aber zum Glück bin ich
nun auf einen netten Menschen gestoßen. Ich nehm
dann mal das Telefon hier, ja?«, rief er mir zu, als er
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den Apparat im Flur sah und ich mich in einen der
hinteren Räume begab.
»Ja, sicher, kein Problem.« Nun war ich schon auf
dem Rückweg und eilte heran.
»Danke.« Der junge Mann tippte ein paar
Nummern in die Tasten meines alten Telefons und
fragte: »Wenn ich jemanden erreiche, was kann ich
dann sagen, wo ich bin?«
Im nächsten Moment rammte ich ihm von hinten
mit aller Kraft meine Dotty hinein. Er atmete mit
einem Stoß aus und nicht wieder ein. Ich achtete
darauf, dass ich ihm möglichst das Zwerchfell dabei
durchschnitt. Ich hatte keine Lust auf einen Kampf
oder sonstige Gegenwehr, die leider viel zu häufig
vorkam. Ein sauber und großzügig durchtrenntes
Zwerchfell lässt einen Menschen augenblicklich
zusammensacken, da der Druck innerhalb des
Körpers binnen einer Sekunde abfällt. Das Hirn
schwimmt in einer unkontrollierten Masse herum,
und ein bisschen zischt es aus der Wunde auch, als
würde man ein Ventil öffnen. Dieses Geräusch gehört
neben dem Abziehen von zerkochtem Fleisch von
makelloser Knochenstruktur zu meinen Favoriten. In
diesem Fall traf ich das Zwerchfell sehr sauber, und
ich zog meine Dotty mit dem Sturz seines Körpers in
meinen Flur wieder aus ihm heraus. Das war gute
Arbeit.
»Dr. Love«, antwortete ich meinem überraschenden
Besucher noch. Ich wollte trotz seines ungeplant
längeren Aufenthaltes in meinem Haus, höflich zu
ihm sein. Wer fragt, bekommt eine Antwort. »Sie sind
bei Dr. Love.«
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_KAPITEL 1 – Der Tod_
_
»Elender Feigling«, hallte es über den Waldesstädter Kirmesplatz, gefolgt von: »Du traust dich ja doch nicht, du kleiner
Angstschisser.«
Dreckiges Gelächter vermischte sich mit den schrägen
Tönen der Blaskapelle aus dem Festzelt und den wummernden Bässen der Fahrgeschäfte. Schwache Dunstschwaden
stiegen im Scheinwerferlicht vom regennassen Fußboden auf.
Luisa Reinmüller löste sich aus der lachenden Gruppe und
stieg auf die unterste Stufe der Treppe, die zum Riesenrad
hinaufführte. Sie stemmte ihre Hände mitsamt einem gefüllten Becher in die Hüften. »Ach kommt schon, Jungsch.« Sie
zwinkerte jedem sichtbar zu, hatte aber Mühe, sich auf den
Beinen zu halten. »Dasch war doch nicht euer Ernscht, oder?«
Theatralisch schüttete David Schlüter sein Bier vor sich auf
den Boden und warf das leere Glas Richtung Kirmeszelt.
»Niemand von euch Vollidioten sagt Feigling zu mir, habt ihr
das verstanden?«
Seine Freunde grölten unbeeindruckt weiter und deuteten
auf das sich drehende Riesenrad.
»Haltet die Fresse, ihr Wichsköppe, ich steige ja ein!«, rief
David, machte einen demonstrativen Schritt auf das Kassenhäuschen zu und gab Luisa einen Klaps auf den Hintern. In
diesem Moment verebbte zwar das Gejohle, aber nicht die
Häme auf den Mienen seiner Kameraden.
David blickte an der mächtig angetrunkenen Luisa, die ihn
mit ihren blauen Augen anklimperte, auf und ab und wischte
seine schwitzenden Hände an seinen halblangen brünetten
Haaren ab, indem er sie elegant nach hinten warf. »Aber Leander kommt mit!« Die Worte klangen kläglich, und eine
außenstehende, nüchterne Person hätte sie eindeutig als Ablenkungsmanöver identifiziert, doch hatte sein von Alkoholfahnen umnebeltes Publikum den Sinn für solche subtilen Beobachtungen längst eingebüßt. »Der Spießer hat im Zelt noch
mächtig Töne gespuckt«, fuhr er fort und warf seinem Opfer
einen verächtlichen Blick zu.
5
»Ich … ich hab gar nichts gesagt«, stotterte Leander. »Du
bist der, der große Reden geschwungen hat.«
»Leander muss mit rein! Leander muss mit rein!«, schrie
einer aus der Horde heraus und spielte David zu einhundert
Prozent in die Karten. »Leander! Leander! …«
Leander Hauff stand die Panik offen ins Gesicht geschrieben. Höhenangst schien er jedoch keine zu haben, denn sein
Blick war nur auf David Schlüter gerichtet, der es offensichtlich, wie jedes Jahr auf der Kirmes, auf ihn abgesehen hatte.
So sicher, wie der Herbst dem Sommer folgte und Dieter
Bohlen in einer Samstagabend-Show auftauchte, würde David
sich etwas einfallen lassen, um Leander einen Streich zu
spielen.
Gerade wollte Leander sich umdrehen, um nach einem
Ausweg zu suchen, als Luisa lächelnd auf ihn zukam und er in
seiner Fluchtbewegung erstarrte.
Sie wankte, da sie einen, wenn nicht zwei Wodka Energy zu
viel intus hatte, und wirkte dadurch wenig grazil, doch Leander setzte einen Gesichtsausdruck auf, als würden Heidi
Klum, Angelina Jolie und Dita von Teese im Dreierpack
nackt auf ihn zulaufen. Er schien nur ihre schulterlangen
dunkelblonden Locken, die sie heute offen trug, sowie ihre
gertenschlanke Figur und ihre atemberaubend azurblauen
Augen zu bemerken, sich aber nicht an ihrem überhöhten
Promillewert zu stören.
»Mach doch mit, Leander«, lallte sie mit ihrer leicht angerauten Stimme. »Ischt doch gar nischt ssschlimm. Schind
doch nur fünf Runden oder scho.« Sie umarmte ihn innig.
Dabei reichte sie ihm aufgrund ihrer 1,60 Meter lediglich bis
zum Kinn.
»Hey, ihr Turteltauben, sofort auseinander! Oder muss ich
einen Schlauch holen?«
Lautes Gelächter dröhnte erneut über den Kirmesplatz.
Luisa löste sich von Leander und drehte sich zu der Stimme
um. »Wiescho, Thomasch, … schag nur, du möchtescht auch
mit?«, fragte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag.
6
»Hey, wir haben einen weiteren Freiwilligen gefunden!«
Bernd Kremer reagierte aus der Horde am schnellsten und
erhob demonstrativ sein Bierglas. »Ich glaube, hier möchte jemand seiner Ex-Freundin imponieren.«
Thomas Hartwig zog eine Grimasse und stemmte seine
Hände in die Hüften. »Pah, Kleinigkeit, ich bin schon auf
Dächern von Hochhäusern rumgekraxelt, da kann mir ein
mickriges Riesenrad gar nichts. Außerdem war ich erst gestern drauf.«
Er zog seine beige Camouflage-Cargo-Hose am Gürtel
hoch und trat aus dem Schutz der Gruppe heraus. »Los
geht’s, ihr Weicheier!«
»Aber es muss die Nummer fünf sein!«, schrie einer aus der
Clique.
David verdrehte seine Augen. »Na klar, welche denn sonst?
Die Gondel, die ihr gestern getestet habt. Die, die sich nach
rechts und links drehen lässt.«
Eine Gruppe junger Männer nickte einhellig.
»Und nicht zu vergessen, dass sie dabei leicht eiert, wenn
man nur schnell genug dreht!« Thomas spuckte sich in die
Hände. »Hach, ich liebe unsere Kirmesrituale.«
»Schließlich müssen wir unsere alljährlichen Traditionen
wahren«, skandierte Bernd Kremer. »Wisst ihr noch, wie
David Leander letztes Jahr beim einarmigen Dosenschießen –
ganz aus Versehen – in den Fuß geschossen hat?«
»Ich bezahle die Tickets!« David erhob seine Stimme über
das aufbrausende Gelächter und schielte auf Luisa, um ihre
Reaktion auf seine noble Geste abzuwarten.
Leander wurde aus dem Menschenpulk nach vorne geschoben. Sebastian Borchert wuschelte ihm über den blonden
Seitenscheitel und gab ihm einen zusätzlichen Tritt in den
Hintern. »Auf geht’s, Burschi, du schaffst das schon. Einmal
im Jahr willst du als Steuerberater doch auch mal Spaß haben,
mit uns Biere auf Ex trinken und Schießbudenbetreiber
schikanieren, oder nicht? Schau, … ein paar deiner millionenschweren Kunden stehen dort drüben. Der Speditionsheini
Manuel Speck und der Möbelfuzzi Müller zum Beispiel.
7
Keine Sorge, die sind nicht einen Deut besser als du und
knallen sich selbst die Hucke voll. Also, nur zu.« Sebastian
drehte sich einer Gruppe 50-jähriger Männer zu. »Ist das in
Ordnung, Herr Speck, wenn wir Ihren Steuerberater betrunken in eine der Riesenradgondeln setzen?«
Ein hoch aufgewachsener Mann mit schütterem braunen
Haar und stylischer Brille schüttelte den Kopf. »Geht ruhig
alle hinein, Jungs, wenn ihr wollt. Wir kümmern uns derweil
um eure Freundinnen. Hey, ihr Süßen, schwingt eure Ärsche
rüber, wir geben euch einen aus. Ich lade nachher noch zum
Eierbacken in mein Zweitappartement unten im Ort ein und
wollte heute mein neues Liebesnest gebührend einweihen.
Wird sicher lustig werden, wenn ihr wisst, was ich meine.«
Sebastian wendete sich wieder seinem Steuerberaterfreund
zu. »Siehst du, alle Mann besoffen wie eh und je.«
Leander zuckte mit den Schultern und ergab sich seinem
Schicksal. »Ich, äh, ich kann mein Ticket selbst bezahlen, David«, stammelte er.
»Zu spät, Lea, ich habe schon drei. Los, mitkommen! Das
Rad hält gleich. Hey! …« David stürmte zur Treppe des Fahrgeschäfts. »Hey, du Schiffsschaukelbremser! Wir wollen in die
Fünf.« Er lief auf einen der langhaarigen Männer zu, die die
Plastikchips einsammelten. Dieser missachtete David und
drehte ihm den Rücken zu.
»Hey, du Riesenradclown!« David wurde energischer und
hielt den Langhaarigen an den Schultern fest. »Wir wollen in
die Fünf, hast du mich verstanden?«
»Hab ich verstanden«, nickte der Mann und hielt die Hand
auf. David legte seine drei Chips hinein, doch der Mann
schüttelte sofort den Kopf. »Die zwei Mädels da hinten wollen auch in die Fünf. Nenn mir einen Grund, warum ich die
Hübschen nicht vorlassen sollte?«
David griff in seine blaue Designerjeans und drückte ihm
einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. »Grund genug?«
»Die Fünf geht klar.« Der Ticketsammler grinste, wobei
eine Zahnlücke zum Vorschein kam. Es fehlte der linke obere
Eckzahn. Er steckte den Schein in seine Cordhose und stopp8
te die heraneilenden Mädchen mit einer lässigen Handbewegung. »Ihr kommt in die Drei, Mädels. Die hab ich heute
Morgen extra eingefettet. Die dreht sich nun deutlich
schneller.«
Aus dem Augenwinkel heraus sah der Mann, wie David
kurz zuckte und etwas sagen wollte. »Denk nicht mal dran,
Junge. Ihr habt die Fünf und damit Schluss.«
Die Mädchen setzten sich kichernd in die Drei, danach
wurde eine Familie in die Vier gepfercht, und anschließend
kam die gewünschte Gondel vor David, Leander und Thomas
zum Stehen. David wischte sich die Hände an der Hose ab
und gab Leander einen Stups, sodass dieser nach vorne taumelte und sich gerade noch an der Gondel festhalten konnte.
Aus dem Hintergrund ertönte Gelächter, und David folgte
seinem Opfer in die offene Kabine, nicht ohne sich nochmals
triumphierend nach hinten umzudrehen. In diesem Moment
stellte ihm Thomas ein Bein. David stolperte derart, dass er
sich drehte und rücklings auf die Gondelbank stürzte. Thomas wendete sich seinerseits zu der betrunkenen Masse um,
stülpte sein schwarzes Opel-T-Shirt nach oben, zeigte seinen
Bizeps und stolzierte breitarmig als Letzter in die Gondel.
»Was du kannst, kann ich schon lange, David.« Er lachte und
gesellte sich zu seinen beiden Mitfahrern hinzu.
»Arschloch!«
»Danke für die Blumen.«
»Das zahl ich dir heim.«
»Das will ich hoffen.«
»Nachher wird geschossen.«
Leander zuckte zusammen.
»Ja, klar, lass uns schießen gehen!« Thomas klatschte energisch in die Hände. »Einmal im Leben stößt du nicht nur
heiße Luft aus.«
»Ich stopf dir gleich das Maul.«
»Trau dich.«
»Jungs, Jungs, könnt ihr das klären, wenn wir wieder auf
dem Boden sind?«
»Halt die Fresse, Leander!«, brüllten beide gleichzeitig.
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Leander lehnte sich zurück und blickte auf den Boden.
Das Riesenrad nahm Fahrt auf. Die Menschen unter ihnen
wurden zunehmend kleiner und kurz drauf wieder größer.
Die erste Runde war geschafft. Doch eigentlich war Runde
Nummer zwei das Problem. Dort stoppte das Rad am
höchsten Punkt und blieb für einige Zeit stehen. Zeit, in der
man sich viel Unsinn einfallen lassen konnte. Schon während
der ersten Umdrehung kreischten die Mädels in der Drei und
leierten eifrig am Rad in der Mitte der Gondel, sodass sie sich
um ihre eigene Achse drehten. Animiert von dem Gequieke
ergriff Thomas seinerseits das Rad und drehte daran, so
schnell er konnte.
David hielt unmerklich den Atem an. Sie passierten drehend ihre am Boden gebliebenen Freunde, die ihnen zuprosteten, und stiegen erneut in die Höhe. Kurz vor dem
obersten Punkt kam das Riesenrad zum Stehen. Sämtliche
Insassen sollten die Aussicht genießen und in Ruhe über das
nächtliche Waldesstadt blicken können. Etwas, was David
und Leander vermutlich gerne getan hätten, doch Thomas
hatte die Kurbel für sich gepachtet und machte sich derart
daran zu schaffen, als würde er einen tonnenschweren Anker
binnen einer Minute aus dem Meer heben wollen. Sie wirbelten so schnell herum, dass die Waldesstädter Straßenlaternen nur noch als Lichtstreifen zu erkennen waren. Dann
stoppte Thomas mit aller Kraft das Rad, indem er seinen
Körper dagegenstemmte, und drehte es in die entgegengesetzte Richtung. Wie am gestrigen Tag bereits ausgetestet,
geriet die Gondel bei diesem Manöver ins Schlingern und
wankte. Leander hielt sich an der Begrenzung fest, David
schloss seine Augen.
In der Zwischenzeit nestelte am Boden einer der Zuschauer
in seiner Hosentasche herum. Darin hatte er eine Fernbedienung versteckt. Nichts Dramatisches, keine Bombe, nur
eine Zündvorrichtung hatte er gebastelt. Dass die Gondel
eierte, hatte ihren Grund, das wusste er. Er half mit seiner
Konstruktion lediglich ein wenig nach. Schuld würden die
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TÜV-Abnehmer bekommen, soviel sollte klar sein. Ein
durchgeschmortes, ohnehin schon poröses Kabel, dahinter
würde keiner eine Absicht sehen. Und die zuvor gelöste
Mutter? Nun, auch die würde man der Gesamtsituation zuschreiben.
Er hatte gehofft, dass sich diese Situation ergeben und er
seine Chance bekommen würde. Als die Gondel mit den drei
jungen Männern am obersten Punkt stoppte, griff er in seine
Hosentasche und drückte einen Knopf.
David reckte plötzlich seinen Kopf in die Höhe. »Hey, hier
riecht doch was verschmort?«
Leander runzelte die Stirn. »Ja, ich riech auch was.«
Thomas zog eine Grimasse. »Ach, Quatsch, ihr Weicheier.
Hier riecht nichts. Das ist normal, ich kenn mich mit Kabeln
aus. Das ist zu heiß gewordenes Hydrauliköl, sonst nichts.
Wenn etwas riecht, dann eure vollgeschissenen Hosen.«
Ungeachtet der Bedenken seiner Begleiter kurbelte Thomas
fortwährend an dem Rad. In diesem Moment ruckelte die
Gondel für einen Augenblick, stockte kurz, drehte sich jedoch weiter.
»Halt jetzt, halt!«, schrie David und schlug Thomas’ Hände
von der Drehvorrichtung. »Hör auf mit dem Mist, hier
stimmt was nicht.«
»Hey, niemand schlägt mich, du Wichser!«, blökte Thomas
und erhob sich von seinem Platz, um David eine zu scheuern.
Erneut ruckte die Gondel. Ohrenbetäubendes metallisches
Quietschen übertönte die Bässe der Diskoanlage, gefolgt von
einem Schlag, als hätte jemand eine fünfzehn Kilo schwere
Eisenkugel aus zehn Metern Höhe auf eine Metallplatte
geschleudert. Die Gondel kippte zur Seite und baumelte bedrohlich, sich noch immer um sich selbst drehend.
»Verdammt, was zum …?«
»Halt deinen Mund, Thomas, und setz dich bitte gaaanz
laaaangsam auf meine Seite.« David krallte sich am oberen
Rand der Gondel fest und starrte seinen Mitfahrer durchdringend an. »Sofort! … Hörst du!«
11
Die Gondel wankte mit Schlagseite und wurde nur noch
von einer einzigen Verankerung am Riesenrad festgehalten.
»Du hast mir gar nichts zu befehlen, du …«
David schlug Thomas ins Gesicht. »Hast du es immer noch
nicht gerafft, du Halbaffe? Wir knallen gleich auf den Boden.
Was brauchst du noch, um zu verstehen, dass wir auf halb
acht hängen?«
»Ich hab’s geahnt. Ich hab’s geahnt. Ich sterbe bei dem
Versuch, im alkoholisierten Zustand eine Frau zu beeindrucken und das mit zwei vollkommen degenerierten …«
»Halt die Fresse, Leander!«
»Die hält uns aus.« Thomas winkte ab und setzte sich demonstrativ lässig mit verschränkten Armen auf seinen Platz.
»Die Dinger sind sicher. Ich kenne einen der TÜV-Leute, der
nimmt bei uns auch die Hebebühnen ab. Da oben ist lediglich
eine Halterung herausgesprungen, die zweite hält uns garantiert. Ist Vorschrift.«
»Sicher? Garantiert? Vorschrift?« Davids Stimme schlug in
Panik um. Eine Hand umklammerte den Drehring in der
Mitte, mit seiner anderen krallte er sich selbst ins Bein. »Wir
baumeln in zwanzig Meter Höhe auf der Seite, und du gibst
Garantien ab? Ich sag’s euch, da ist dieser zahnlose Drecksack
dran schuld. Diese unterentwickelten Kirmesbudenheinis sparen doch, wo sie können. Wenn ich den nachher …«
Das Gekreische, das mittlerweile auf dem Boden eingesetzt
hatte, drang nicht bis zu den Dreien nach oben durch. Panisch liefen die Kirmesbesucher auseinander, um unter dem
Riesenrad wegzukommen. In ausreichender Entfernung blieben die meisten jedoch stehen und gafften weiter. Sie zückten
ihre Handys und drückten auf die Aufnahmetasten.
Einer dagegen stand vollkommen regungslos da. Genussvoll blickte er nach oben und beobachtete die Szenerie. Er
sah, wie seine Opfer mit Händen und Füßen gestikulierten,
wie sie sich beschimpften und gleichzeitig versuchten, Oberwasser zu behalten. Sah, wie das Riesenrad sich sachte in Bewegung setzte, damit die Gondel heruntergebracht werden
12
konnte. Sah, wie zwei Sanitäter, die notgedrungen auf der
Kirmes ihren Dienst absaßen, aus dem Zelt herbeistürzten
und wie die Gondel immer bedrohlicher schwankte und sich
zwanzig Meter über dem Boden endgültig aus ihrer Verankerung löste. Er sah, wie die drei Gestalten sich schreiend
dem Boden näherten und wie sie jäh auf dem Asphalt
aufschlugen.
Zufrieden griff er sich ein Bier aus einem Zehnerkorb und
leerte es in einem einzigen Zug.
__
_KAPITEL 2 – Die Auferstehung_
_
Schlagartig öffnete Thomas seine Augenlider, stierte auf eine
holzvertäfelte Decke und kratzte sich am Schädel. »Boah, geil,
ich hab überhaupt keine Kopfschmerzen«, murmelte er, richtete sich auf und schaute sich im Zimmer um.
Der Fußboden war mit einem beigefarbenen Parkett ausgelegt, die Wände mit Mahagoniholz vertäfelt. In allen vier
Seitenwände waren zwei Meter breite, von oben bis unten
vollgestopfte Bücherregale eingelassen. Im Zentrum der
Decke hing ein hell erleuchteter vierreihiger Kronleuchter.
Außer seinem Bett standen noch drei weitere in den Ecken
des etwa dreißig Quadratmeter großen Raumes. Unter zwei
der Bettdecken lugten Köpfe hervor.
Thomas tastete seinen Oberkörper ab und schaute sicherheitshalber an sich herunter. Ein Lächeln huschte über sein
Gesicht. »Ein Körper aus Stahl – wie könnte es anders sein.«
Er stützte sich auf und blinzelte zu den Nachbarbetten.
Gegenüber erkannte er das halblange brünette Haar von David, welches strohig in sämtliche Himmelsrichtungen abstand.
Den anderen Kopf konnte er nicht richtig ausmachen,
glaubte aber, es müsste Leanders blonder Seitenscheitel sein.
Thomas schmunzelte. »Oh Mann, selbst schlafend steht der
Scheitel von dem Spießer wie ’ne Eins.« Er schwang sich
seitwärts aus dem Bett und sprang auf seine Füße. »He! He,
ihr Pisser! Aufwachen! Frühstück!«
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»Noch nicht, Mama. Nur noch fünf Minuten.«
»Ich glaub’s nicht, jetzt ruft er schon nach seiner Mama.«
Thomas lief zu Leander, zog seine Bettdecke auf den Boden
und rüttelte an seinem Oberkörper. »Los, du Lusche, die Kindergartengruppe Plüschhäschen hat mit dem Klötzchenstapeln begonnen. Nicht, dass du was verpasst. Hopp, hopp,
der Sandkasten wartet.«
Leander öffnete die Augen und starrte in Thomas’ lächelndes Gesicht. »Was? Was ist? Wo sind wir?« Er schielte an sich
herab. »Aber … aber wir müssten verletzt …?«
»Das Letzte, woran ich mich erinnere …« David hatte sich
aus dem Bett geschwungen und saß vornüber gebeugt mit
aufgestütztem Kopf auf der Bettkante. Er trug noch sein
petrolblaues Poloshirt vom Kirmesabend. »… ist, dass wir
uns gedreht haben und die Verankerung der Gondel sich gelöst hat.«
»Ja, und?« Thomas winkte ab. »Danach sind wir ohnmächtig geworden, zumindest weiß ich nichts mehr. Der Unterbau
der Gondel muss den Aufprall abgefangen haben.« Er nickte
beflissen und rieb mit den Fingern über sein Kinn. »Das war
bestimmt früher ein Opel-Chassis. Jepp, so muss es gewesen
sein, und jetzt sind wir im Krankenhaus, gleich kommt der
Chefarzt, und danach geht’s nach Hause. Ich hab auch nicht
viel Zeit. Ich muss heute noch an den Rhein zu einem VectraTreffen. Zweihundert Kilometer sind das von Waldesstadt
aus. Wenn ich mich beeile, bin ich in eineinhalb Stunden da.«
Er schielte auf sein Handgelenk. »Hey, wo ist meine Uhr
hin?«
»Sieht nicht nach einem Krankenhaus aus«, meinte Leander
und blickte um sich. »Ich habe noch niemals ein Krankenzimmer gesehen, wo es Bücherregale an den Wänden gab und
Holzvertäfelungen an der Decke. Außerdem haben wir unsere
Sachen von gestern an. Die hätten sie uns eigentlich ausziehen müssen.«
»Spinnst du. Ich lass mich doch nicht von irgendjemanden
ausziehen.«
»Wieso? Bekommt die Schwester dann einen Anfall?«
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»Das hat bestimmt mein Vater organisiert.« David grinste.
»Wir sind Privatpatienten, müsst ihr wissen, und gütigerweise
haben wir euch Unterschichtler eingeladen.« Er stolzierte wie
ein Pfau zum Fenster und sah hinaus. »Wow, ich glaube, die
haben uns in die Schweiz geflogen. Davos würde ich sagen.
An den Ausblick kann ich mich noch gut erinnern. Schaut
mal aus dem Fenster, wir haben das Gipfelkrankenhaus bekommen. Unter uns sind nur Wolken zu sehen.«
Thomas stürzte nach vorne und schubste David beiseite.
»Wie geil ist das denn? Ich hoffe, die haben Skier hier oben,
die wir uns ausleihen können.«
»Ja, vielleicht.« Leander kratzte sich irritiert am Kopf.
»Möglicherweise sogar welche von General Motors.«
»General Motors bauen Skier? Boah, das wusste ich ja gar
nicht. Scheiß aufs Opel-Treffen, ich bleibe hier.« Thomas lief
zu seinem Bett, hechtete hinein und wälzte sich wie ein Hund
auf einer Wiese darin herum.
Leander schielte zu David, der nur mit den Schultern
zuckte.
»Skier von General Motors?«, brummte David. »Oh, Mann,
das kann ja heiter werden. Hoffentlich ist mein Vater bald da
und holt mich hier raus.«
Leander, der mittlerweile aufgestanden war, tastete jeden
Quadratzentimeter seines Körpers ab. »Aber das kann nicht
sein. Das waren mindestens fünfzehn Meter, eher mehr. Ich
habe weder Kopfschmerzen noch eine Schnittwunde, geschweige denn einen blauen Fleck.«
»Wahrscheinlich bist du auf mich gefallen«, rief Thomas
ihm zu, der unter der Bettdecke verschwunden war. Dann
streckte er seinen Kopf wieder aus den Laken hervor und
grinste Leander an. »Mein Körper ist eine Maschine, musst du
wissen. Der kann einen solchen Aufprall locker für zwei aushalten.«
»Ja, genau«, meinte David. »Eine Maschine, in die man die
Platine eines 2/86ers eingebaut hat.«
15
»Hey, sag nichts gegen den B-Manta. Den zwei Liter, den
die 1986 gebaut haben, war ein Mörderteil. Der Toby aus
Weilbach fährt so einen in Metallicblau. Voll aufgemotzt.«
Leander zog eine Augenbraue nach oben.
David wendete sich ab und sah kopfschüttelnd aus dem
Fenster. »Ich geb’s auf. Nicht mal verarschen kann man den
Deppen.«
»Jetzt überlegt mal, Jungs.« Leander lief im Zimmer auf und
ab. »Warum, frage ich euch – warum sollten sie uns über
sechshundert Kilometer in die Schweiz fliegen, wo wir doch
offensichtlich nichts haben? Es gibt die beste Uniklinik
gerade mal 45 Kilometer von Waldesstadt entfernt. Kommt
schon, müssten uns nicht wenigstens ein paar Muskeln
wehtun? Ja, ich weiß, Thomas«, stoppte Leander den
muskelbepackten Opelfan, der gerade Luft geholt hatte, »du
hattest noch niemals Schmerzen. Aber du, David, sag mir,
dass das hier merkwürdig ist.« Er tippte auf sein blau-rot kariertes Baumwollhemd. »Kein Kratzer.« Er rüttelte an seiner
Khakihose. »Kein Riss. Nichts. Und was noch viel sonderbarer ist: Ich habe keine Kopfschmerzen, obwohl ich gestern
mindestens acht Bier getrunken habe. Normalerweise müsste
ich heute kotzen wie Kate Moss zu ihren besten Zeiten.«
»Du bist eben über Nacht zum Mann geworden«, konstatierte Thomas. »Kein Wunder, du hast ja auch mit mir in
einem Zimmer geschlafen. Das springt über.«
David verdrehte die Augen. »Soll ich schnell nach draußen
gehen, damit ihr zwei Süßen euch miteinander beschäftigen
könnt? Vielleicht kannst du Leander ja glücklich machen und
mit ein paar gezielten Stößen endgültig zum Mann werden
lassen. Vielleicht klappt es ja bei ihm mit einem ordentlichen
Ständer. Ich möchte eurem Glück nicht im Wege stehen.«
»Willst du damit sagen, dass ich keinen hoch kriege?«
»Oh, der Herr hat es gerafft. Los, Thomas!« David schwang
demonstrativ mit seiner Hüfte vor und zurück. »Hol deinen
Manta-Fuchsschwanz raus und zeig ihn deinem neuen
Freund. Kein Wunder, dass Luisa mit dir Schluss gemacht
hat.«
16
Thomas sprang blitzartig aus seinem Bett heraus und
erreichte David mit zwei schnellen Schritten. Er schlug dem
überrascht Dreinblickenden mit voller Wucht auf die Nase,
zog ihm mit einem Beinschwinger zu Boden und setzte sich
pfeilschnell auf seine Brust. David versuchte, sich zu wehren,
doch Thomas stemmte sich mit seinen Knien auf dessen
Oberarmen ab, sodass er sich nicht bewegen konnte. David
wollte nach ihm treten, traf ihn jedoch nicht. Thomas holte
erneut aus und scheuerte dem Schönling eine.
Sein Kopf war rot angelaufen. »Als Allererstes: Ich, merk
dir das, ich hab mit Luisa Schluss gemacht!« Er presste die
Lippen zusammen, und eine geballte Faust landete auf Davids
Gesicht. »Die war für Luisa. Und jetzt, los, sag das noch mal,
wenn du dich traust!«
David grinste hämisch. »Kastrat!«
»Na gut, du hast es so gewollt.« Thomas holte weit nach
hinten aus, doch sein Arm blieb regungslos in der Luft stehen. Er schaute zu Leander, der bedröppelt im Raum stand
und den Streithähnen hilflos zuschaute.
»Was ist?«, presste David hervor. »Hat dich der Mumm verlassen? Soll ich mich auf den Bauch drehen? In dieser Position kannst du wahrscheinlich mehr mit mir anfangen.«
Thomas runzelte die Stirn. Seine Hand schwebte noch
immer in der Luft. »Du müsstest bluten.«
»Was?«
»Was?«
»Du müsstest bluten. Bisher hat noch jeder mindestens
beim zweiten Schlag aus der Nase geblutet. Du blutest nicht.«
»Tja, mein lieber Opel-Schlappschwanz. Nicht nur du bist
aus Stahl.«
Thomas ließ seine Faust schwungvoll niedersinken und
schlug David auf die Nasenwurzel.
»Ist das alles, was du drauf hast?«
Thomas löste stirnrunzelnd seine Knie von Davids Oberarmen, erhob sich und drehte sich verwirrt zu Leander um. In
diesem Moment sprang David auf und fiel Thomas von
hinten an den Hals. Dieser griff unbeeindruckt nach den
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Armen seines Gegners und schleuderte ihn mit einem geübten Karategriff über die Schulter nach vorne. David platschte
mit dem Rücken aufs Parkett, wollte erneut aufspringen und
auf Thomas zustürzen, da sprang Leander zwischen die beiden Streithammel.
»Stopp!«, schrie er und hielt seine Hand nach oben.
»Misch dich nicht ein!«, kreischte David. »Ich mach den
Bückling fertig.«
»Tut deine Nase weh?«, fragte Leander.
»Nein, wieso fragst du? Geh mir aus dem Weg!«
Leander holte aus und schlug David ins Gesicht.
»Jetzt reicht’s aber! Habt ihr zwei Hinterlader euch über
Nacht verbündet, oder was?« David griff Leander an den
Schultern und rüttelte ihn durch.
»Tuuut deieieine Naaaaase we-e-e-e-e-h?«, fragte Leander
flehentlich, während er von David durchgeschüttelt wurde.
Dieser blickte verunsichert in Leanders Augen, in denen
der Wahnsinn stand, und ließ ihn dann los.
»Hm?« Thomas fuhr sich über seinen schwarzen Bürstenhaarschnitt, schlurfte zu seinem Bett zurück und setzte sich
auf die Kante. »Stimmt irgendwie.«
»Aha, langsam werden die Herren nachdenklich. Hab ich es
nicht gesagt? Wir müssen …«
»Halt die Fresse, Leander!«
»Aber, Jungs, wenn wir nach solch einem Aufprall keine
Schmerzen spüren, dann müssen wir …«
»Halt die Fresse, Leander!«
»Tot sein?«
Die drei drehten ruckartig ihre Köpfe.
Von ihnen unbemerkt hatte sich die Tür am anderen Ende
des Raumes geöffnet. Sie war aufgrund der Holzvertäfelungen
kaum zu erkennen gewesen. Ein Mann mittleren Alters in
Bluejeans und rotem T-Shirt stand lächelnd im Türrahmen.
Er hatte dunkelblondes bis zur Mitte seines Nackens reichendes Haar und einen ebenso dunkelblonden Oberlippenbart.
»Tot?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt, würde ich
sagen. Definiert den Tod aus eurer Sicht.«
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»Nun ja, der Tod aus wissenschaftlicher Sicht ist, wenn
sämtliche Körperfunktionen außer Kraft gesetzt …«
»Halt die Fresse, Leander!«
»Wie findest du deine Körperfunktionen am heutigen Morgen, Leander?«, fragte der Mann.
»Hm, im Prinzip, wenn Sie so fragen …«
»Wer zum Teufel sind Sie?«
»Teufel?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ein so böses
Wort an diesem Ort. Oh!« Er klatschte freudig in die Hände.
»Das war ein Reim, ist das nicht fein?«
»Willst du uns verarschen, Alter?« Thomas stand auf und
ballte seine Fäuste. »Ich schieb dir gleich deinen Reim dort
hinein, wo sonst nur was rauskommt. Falls du verstehst, was
ich meine.«
David lief zu seinem Bett und setzte sich. »Ich glaub’s
nicht, ich bin in einer Freakshow gelandet. Das muss ein verfluchter Traum sein.« Er deutete drohend auf den dunkelblonden Fremden. »Mein Vater wird Sie auf alles verklagen,
was Sie haben, das kann ich euch versprechen.«
»Nun, das dürfte recht schwierig werden, mein lieber
David.«
David wischte sich nervös mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich wiederhole mich ein letztes Mal«, nuschelte er mit
zusammengebissenen Zähnen hinter seinen Händen hervor.
»Wer, verdammt noch mal, sind Sie?«
»Gabriel, ich heiße Gabriel. Aber nennt mich ruhig Gabe,
so rufen mich alle hier oben. Ich werde für die nächste Zeit
euer Vorgesetzter sein.«
»Oben? Vorgesetzter? Ich versteh nur Bahnhof. Heißt das,
wir bekommen keine Skier von General Motors?«
Gabriel blickte fragend zu Leander, der mit den Schultern
zuckte. »Lange Geschichte, Gabriel.«
»Gabe, bitte.«
»Hey, ich nenn dich Chuck, das gefällt mir besser.«
Gabriel runzelte die Stirn und schaute zu Thomas, der ihn
freudig anstrahlte.
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»Alter, hast du mal in den Spiegel geschaut? Du siehst aus
wie Chuck Norris.« Thomas fing an zu lachen und ließ sich
rücklings aufs Bett fallen. »Ha, ha, ha! Alter, kennst du den?
Chuck Norris ist tot. Er hat es nur noch nicht bemerkt, weil
sich keiner getraut, es ihm zu sagen. Ha, ha, ha!«
»Tot? Gut, dass du das ansprichst, Thomas …«
»Wuah, ich hab’s gewusst.« Leander lief vor seinem Bett im
Kreis wie eine Katze, die versucht, ihren Schwanz zu fangen.
»Ich hab’s gewusst. Ich hab’s gewusst …«
»Halt die Fresse, Leander!«
David erhob sich und stemmte seine Hände in die Hüften.
»Ich glaube nicht, dass mir gefällt, worauf Sie hinauswollen.
Kommen Sie auf den Punkt.«
Gabriel schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf das
freie vierte Bett. »Woran erinnert ihr euch?«
David rollte seine Pupillen so nach oben, dass man nur
noch seine weiße Iris sah. »Kirmes in Waldesstadt, Alkohol
getrunken, Luisa angemacht, Riesenrad gefahren, Gondel löst
sich. Sonst noch was?« Er drehte genervt mit seiner Hand im
Kreis, um zu signalisieren, Gabriel solle fortfahren.
»Wie hoch war die Gondel über dem Boden, David?«
»Spielt das eine Rolle? Fünfzehn Meter, vielleicht zwanzig?«
Gabriel lächelte David an und nickte. »Und?«
»War die Gondel aus dem Chassis eines alten Opels gebaut,
wissen Sie das zufällig?«
»Tot, ihr Hornochsen!« Leander stand Panik in den Augen.
»Rafft ihr es nicht? Wir sind, Scheiße noch mal, tot!«
»Ja, klar, und der Opel Insignia ist ein Ladenhüter.« Thomas ballte zum x-ten Mal an diesem Tag seine Faust und deutete Richtung Leander. »Aber sag noch einmal Hornochse zu
mir, und du bekommst genauso eine gelangt wie David vorhin.«
»Das kriegst du ohnehin zurück. Du schlägst wie ein Mädchen.«
»Das wollen wir doch mal sehen.« Thomas sprang auf,
stürzte mit vorgestrecktem Kopf auf David zu, da schnippte
20
Gabriel mit dem Finger und der schwarzhaarige Angreifer
landete wie an einer Schnur gezogen auf seinem Bett.
»Hey, wie hast du das gemacht?« Thomas erhob sich aus
den Laken, ruckte seinen Gürtel zurecht und lief mit geballten
Fäusten erneut auf David zu. Gabriel schnippte ein weiteres
Mal, und Thomas landete wie zuvor auf seinem Bett.
»Geile Sache, Alter.« Er rappelte sich wiederum auf und
rannte Richtung David. Ein Schnippen ertönte, Thomas lag
auf dem Bett.
Leander schüttelte seinen Kopf. »Oh Mann, Versuchsratten
verstehen es eindeutig schneller.«
Gabriel verzog seinen Mund. »Pit hatte mich zwar vorgewarnt, aber ich sehe trotzdem Potential in euch. Solche Emotionen können wir sehr gut gebrauchen.«
»Wir? Pit? Emotionen? Kommen Sie endlich auf den
Punkt, verdammte Hacke.«
»Wie hast du das gemacht? Kannst du mich nach Detroit
schnippen? Rüsselsheim würde fürs Erste auch genügen.«
»Thoooomaaaas!«
»Nun ja«, sagte Gabriel, als er sich sicher war, dass jeder
ihm zuhörte, »ihr seid das, was man auf der Erde als tot bezeichnen würde. Soll heißen, das Leben, wie ihr es bisher geführt habt, ist vorbei.« Dabei hatte seine Stimme einen selbstverständlichen Singsang, als würde er seinen Schützlingen
offenbaren, dass das Essen auf dem Tisch stand.
Leander würgte, beugte sich seitlich neben sein Bett und
übergab sich.
»Ey, Alter, hast du sie noch alle? Geh raus, wenn du kotzen
musst.«
Leander setzte sich mit hochrotem Kopf wieder auf und
wischte sich über den Mund. Er lächelte gezwungen.
»Schmerzen haben wir keine, aber Übergeben funktioniert,
oder wie?«
Gabriel nickte. »Das war ein Emotionsausbruch, Leander.
Emotionen bleiben, die braucht ihr bei eurer zukünftigen
Aufgabe. Da könnte es nichts Schlimmeres geben, als dass ihr
gleichgültig wäret.«
21
Thomas riss erstaunt die Augen auf. »Wie jetzt, wir sind tot
und müssen auch noch arbeiten?«
David verschränkte seine Arme. »Na, wenigstens hast du
gerafft, dass wir tot sind. Wird ohnehin Zeit, dass du endlich
mal was arbeitest. Wenn nicht im Leben, dann immerhin im
Tod.«
»Du Muttersöhnchen, dir geb ich gleich …«
»Na, na, ich habe doch gesagt, dass tot so schrecklich
klingt. Nicht mehr in Fleisch und Blut auf der Erde wandelnd, würde es besser umschreiben.«
»Mann, Chuck, wo hast du so schwafeln gelernt? Warst du
früher bei einer Zeugen-Jehova-Drückerkolonne, oder was?«
»Ich … ich … ich kann das alles gar nicht glauben.« Leander kratzte sich nervös über beide Arme. »Ich … ich … ich
hatte mir so viele Szenarien für nach dem Leben, dem Tod,
vorgestellt. Ich dachte, ich würde in weißen Leinenklamotten
durch goldene Hallen gehen oder nackt durch einen grünen
Park laufen. Oh Gott, ich bin doch erst 31.«
Gabriel schüttelte mit dem Kopf. »Du warst 31. Vergangenheit, Leander.«
»Nackt? Alter, du wolltest nackt durch einen Park laufen?
Glaub mir, das will keiner sehen. Sag mal, Chuck, habt ihr
hier oben auch Filme anstatt dieser Bücherkacke? Ich sehe
keinen Fernseher. Warum musstet ihr uns ausgerechnet in
eine Bib…, äh, Bibli… Bücherei verfrachten?«
Leander deutete dem Wahnsinn nahe auf Thomas. »Stattdessen bin ich mit diesen Typen, die es wohl nicht zu raffen
scheinen, in einem Albtraum gefangen. Verdammt, ich hatte
noch so viel vor. Ich wollte Juniorpartner werden und den
Wirtschaftsprüfer bestehen, ich wollte heiraten und zwei
Kinder bekommen. Ich …«
»Uäh, wie langweilig«, unterbrach ihn Thomas. »Ich wollte
schon immer mal an der Pokerweltmeisterschaft in Vegas
teilnehmen und mit dem Motorrad über den Grand Canyon
springen. Das sind Pläne, Alter. Mann, was bist du nur für ein
Langweiler, dass du dich darüber ärgerst, keine Prüfung mehr
ablegen zu dürfen?«
22
Leander schaute flehend zu David. »Pokerweltmeisterschaft? Ich glaube nicht, was der da von sich gibt. Ist euch
denn nicht bewusst, dass es vorbei ist? Vorbei! Nada. Niente.
Nichts mehr. Kein Waldesstadt mehr. Und was noch viel
schlimmer ist: Keine Luisa mehr.«
Gabriel schüttelte mit dem Kopf. »Vorbei? Nein, Leander,
für euch fängt es hier gerade erst an.«
Hauptkommissar Gerd Weigel rümpfte die Nase, als er
hörte, dass er aufs Land in ein gewisses Waldesstadt fahren
musste.
»Bitte sag mir, dass ›Stadt‹ in diesem Fall auch wirklich eine
Stadt ist«, flehte er seinen Kollegen Max auf dem Weg zum
Auto an.
Dieser kramte in seinen Unterlagen. »6.000 Einwohner, mit
umliegenden Ortsteilen sind es 10.000. Stadt genug für dich?«
»Ich hab’s geahnt«, stöhnte Weigel. »Mal wieder ein gottverdammter Provinzeinsatz. Es gibt so schöne Verbrechen in
Wiesbaden oder Frankfurt, aber nein, uns schicken sie in die
Walachei.«
»Westerwald.«
»Was?«
»Wir fahren in den Westerwald. Könnte aber ganz interessant werden.« Max studierte weiter die Unterlagen. »Eine
Riesenradgondel mit drei jungen Männern ist zu Boden gestürzt. Keine Überlebenden. Also die drei zumindest nicht.«
Weigel verdrehte die Augen. »Und was sollen wir dort? Die
Typen von der Technik oder die Limburger Kripo sollen das
übernehmen.«
»Haben sie bereits. Sie meinten, Ungereimtheiten bei der
Aufhängung entdeckt zu haben. Möglicherweise oder ziemlich sicher hat jemand daran herumgepfuscht. Bevor eine
Sonderkommission gegründet wird, sollen wir ein bisschen
nachforschen und die Leute aus der Reserve locken.«
»Aus der Reserve locken? In der Provinz? Da kann ich
mich auch gleich in die Fankurve der verbotenen Stadt stellen
23
und fragen, wer von denen mir freundlicherweise in die
Eintrachtkutte helfen würde.«
»Ja, klar, Boss, das könntest du tun. Aber bis wir zum
nächsten Derby nach Offenbach auf den Bieberer Berg reisen, fragen wir uns erst einmal in Waldesstadt durch. Abgemacht?«
»Bist du?«
»Was?«
»Ochsenbach-Fan, natürlich!? Wir, also die, die sich mit
Fußball auskennen, nennen diese Stadt nicht beim Namen.«
»Möchtest du mir damit auf deine überaus subtile Art sagen, dass ich keine Ahnung von Fußball habe?«
Weigel klopfte Max auf die Schulter. »Heute nicht. Warten
wir ab, was uns in Waldstadt erwartet, und ob du dir noch so
einen Fauxpas leistest, dann sehen wir weiter.«
»Waldesstadt. Mit ›ES‹ in der Mitte.«
Gerd Weigel fixierte seinen Kollegen. »Noch so einer und
ich überlege mir meine Aussage von eben.«
Weigel nahm auf den Beifahrersitz Platz und studierte die
spärlichen Informationen, die sie bisher bekommen hatten.
Zwischendurch schaute er mürrisch aus dem Fenster. »Dreistellig! Ich habe es geahnt.«
»Wie, dreistellig?«, fragte Max.
»Je länger die Straßenbezeichnung, desto schlimmer wird
es. A3, A5, B8, das alles sind Straßenkürzel, wie sie mir gefallen. Aber B456, das kann nur Unheil und Starrköpfigkeit
bedeuten. Nachher geht’s auf die L3678, und die Welt ist zu
Ende.«
»Du bist heute ja blendend aufgelegt, du Big-City-Life-Vertreter. Gerd Weigel, der alte Großstadtfuzzi. Sag mal, wann
warst du das letzte Mal in Wiesbaden aus? Oper? Theater?
Ach, lass gepflegte Kultur weg, sagen wir, im Kino?«
»Mach dich nur lustig. Es geht nicht um das Ob, sondern
um das Wenn-ich-es-will-könnte-ich-es. Wir werden ja gleich
sehen. Dann kannst du dich von mir aus mit Leuten rumschlagen, die denken, dass die Welt noch eine Scheibe, der
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Papst unfehlbar und Adolf noch immer an der Macht ist. Ich
gehe derweil in eine Kneipe.«
Max riss entsetzt die Augen auf und trat kurz auf die Bremse, sodass sie für einen Moment in die Gurte gedrückt wurden. »Die Erde ist keine Scheibe? Oh mein Gott, mein Weltbild ist zerstört.«
Laut lachend fuhren sie am Ortseingangsschild von Waldesstadt vorbei in den Ort hinein. Im Hintergrund konnten
sie das Riesenrad erkennen, das über den Dächern emporragte. Max schielte aus dem Fenster. »Ich weiß, warum ich mich
nicht in solche Dinger setze.«
»Zwanzig Euro, dass es einer der Schausteller war. Was
ist?«, fuhr Weigel fort, als er bemerkte, dass Max ihn von der
Seite her musterte. »Versuchst du wieder, in meinem Gesicht
zu lesen, ob ich dich veralbern möchte? Dieser komische
Kurs in Verhörtechnik letzten Monat ist dir ganz schön zu
Kopf gestiegen.«
Max lachte. »Der war echt klasse, hättest ebenfalls hingehen
sollen. Die haben uns ein paar interessante Tipps zur Körpersprache gegeben. Aber sag an, Meister, was treibt dich dazu,
sogar dein ...«, er malte Anführungszeichen in die Luft, »...
sauer verdientes Beamtengehalt für einen Schausteller aufs
Spiel zu setzen?«
»Na, denk doch mal nach. Diese Typen hängen das ganze
Jahr gemeinsam auf diesen Kirmesplätzen herum und bewegen sich nicht gerade – wie soll ich es dezent ausdrücken – in
der Oberschicht unserer Gesellschaft. Du verstehst? Da
kommt es schnell mal zu Streitigkeiten. Und sei es für einen
besseren Stellplatz, oder gar dafür, dass ein Mitkonkurrent
ausgebootet wurde.«
Max nickte. »So gesehen könntest du recht haben.«
»Ach, komm schon, nicht ablenken.« Weigel grinste. »Du
musst schon mitspielen. Deine Quote ist viel besser. Schausteller gibt es vielleicht fünfzehn vor Ort, aber Einwohner,
wie viel? Fünftausend?«
»Nein, sechstausend. Okay, erhöhen wir auf fünfzig Euro.«
»Einverstanden.«
25
_Kapitel 1 ‐ Begegnung ) Es war ein schöner Frühlingsmorgen
mit Sonnenschein und feinen Wolken am Himmel. Weit und
breit war nichts zu hören, vollkommene Stille war über dem Land
eingekehrt. Doch es sollte reges Leben herrschen in Feld, Wiese
und dem kleinen Wald, in dem nicht einmal ein Vogel zwitscherte. Alle Bewohner waren verschwunden.
Flop, ein Zaubertroll, Beschützer aller Waldbewohner, wusste
keinen Ausweg mehr. Seit Stunden schon war er auf der Suche.
Ohne Erfolg. Wohin waren sie bloß alle gegangen und warum?
Er wusste keinen Rat. Verzweifelt und hilflos streifte er durch die
Gegend, ohne auch nur das kleinste Lebewesen anzutreffen.
Langsam kam er an den Rand des Waldes. Dort setzte er sich auf
einen großen Stein, zog die Beine fest an sich, um nicht von dem
glatten, mit frischem Moos bewachsenem Fels herunter zu rutschen, stützte seinen Kopf in die Händen und begann, fürchterlich zu weinen. Erschrocken blickte er auf, als er in der Nähe
ein Rascheln vernahm. Was mochte das gewesen sein? Es war
doch niemand mehr hier!? Ängstlich blickte er sich um und stieg
vorsichtig von dem Stein herab, um sich dahinter zu verstecken.
Gerade rechtzeitig, um nicht von der Elfe, die hinter einem Baum
zum Vorschein kam, gesehen zu werden.
Schon öfter hatte der Troll Geschichten über Elfen gehört,
auch gesehen hatte er schon einige, doch gab es wie bei jedem
Wesen auch bei den Elfen zwei Sorten: Elfen, die tiefer in den
Bergen lebten, als es sich je ein Zaubertroll erträumen würde. Sie
waren sehr unfreundliche und gefürchtete Gesellen. Man ging
ihnen besser aus dem Weg, wenn man einem schrecklichen
Schicksal entgehen wollte. Sie hatten immer schlechte Laune. So
war es stets eine unangenehme Erfahrung, wenn man auf sie traf.
Doch es gab auch gute, wunderbar liebe Elfen. Man konnte
beide Arten aufgrund ihrer Ähnlichkeiten so schwer auseinander
halten. Zu welcher Art wohl diese gehören mochte?
Flop hatte dies noch nicht ganz zu Ende gedacht, da erstarrte
er. So sehr war er in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er
nicht bemerkte, wie sich die Elfe mehr und mehr genähert und
ihn auch entdeckt hatte. Hastig blickte er sich um, überlegte kurz,
in den Wald zurückzufliehen.
Doch die Elfe lächelte ihn an, streckte die Hand nach ihm aus
und sprach: »Fürchte dich nicht, lieber Zaubertroll, ich will dir
5
nichts Böses. Nein, ich bin gekommen, den weiten Weg von Norden bis hier herab, um dich wissen zu lassen, dass wir deine Hilfe
brauchen. Ich habe dich gesucht und endlich auch gefunden.«
Erstaunt schaute der Zaubertroll sie an.
»Wer bist du?«, wollte er wissen.
»Mein Name ist Shaten. Rhakon schickte mich aus, um den
Zaubertroll Flop zu suchen. Er sagte mir, dass ich dich an deinem
Hut erkennen werde.«
Sie lächelte und reichte ihm seinen Hut, den er fallen gelassen
hatte. Erstaunt betrachtete Flop seinen Hut. Was sollte daran so
besonderes sein, dass man ihn daran erkennen könnte?
Doch die Elfe sprach bereits weiter. »Rhakon sagte mir, dass es
nur einen einzigen Zaubertroll gibt, der einen blauen Hut trägt.
Auf meinem Weg hierher bin ich manchem Zaubertroll begegnet,
doch alle trugen sie grüne Hüte. So konnten sie es nicht sein. Du
bist der Letzte, der einen solchen Hut besitzt. Er muss von deinem Vater sein, nicht?«
»Oh ja, woher weißt du das? Er gab ihn mir vor langer Zeit.
Doch gebot er mir, gut darauf acht zu geben, da der Hut etwas
Besonderes wäre. Ich konnte mir nie erklären, was er damit
meinte? Leider war es zu spät, als dass er mir das Geheimnis hätte
erklären können.«
»Unser Volk und deine Familie stehen schon seit Anbeginn der
Zeit in enger Verbindung. Diesen Hut hat deine Familie schon
damals von unserem Ältesten als Geschenk bekommen, damit ein
jeder von uns, der die Hilfe deiner Familie benötigt, sie auch findet. Nun bin ich diesem Weg gefolgt und bitte dich um deine
Hilfe.«
»Wie kann ich dir und deinem Volk behilflich sein? Sag mir,
was dich den weiten Weg hat machen lassen. Ich werde dir sicher
gerne helfen, soweit es in meinen Mächten steht.«
»Lass mich dir von einem Land erzählen, von dem kein anderer
etwas weiß. Von dunklen Mächten und einem Schloss. Das
Schloss ist sehr geheimnisvoll und steckt voller Überraschungen.
An diesem Ort und im Ganzen Land verteilt ist eine schreckliche
Macht am Werk. Wir müssen versuchen, sie aufzuhalten, sonst
werden diese Mächte alles zerstören.«
Neugierig lauschte der Zaubertroll den Worten der Elfe. Sie
hatte so viele schreckliche Dinge zu erzählen, dass die Zeit nur so
dahinzufliegen schien. Die Elfe berichtete von einem ganzen
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Landstrich, der auf einmal nicht mehr da sein sollte. Einfach so
und ohne vorherige Anzeichen wäre nur noch ein riesiges
schwarzes Loch an der Stelle, wo früher einmal ganze Dörfer und
Wälder standen. Niemand konnte sich erklären, was dort passiert
war oder was aus den Bewohnern dort wurde. Egal, wo man hinkam, überall lebte man in Angst.
Flop beschloss, nicht länger zu warten, sondern sich besser
gleich auf den Weg zu machen, um alles selbst anschauen zu können. Die Worte der Elfe waren ihm so sehr unter die Haut gegangen, dass ihm sehr mulmig war. Doch wenn sich niemand fand,
der dem Einhalt gebot, wer wusste, was noch alles geschehen
würde? Diesen Gedanken konnte und wollte Flop nicht ertragen.
_Kapitel 2 ‐ Siby ) Flop rief seinen einzigen und stets treuen
Freund herbei - den Drachen Nobek. Zusammen stiegen Flop
und Shaten auf den Zauberdrachen auf und flogen los. Auf gute
und böse Dimensionen sollten sie stoßen. Was würde sie wohl
alles erwarten?
»Ich werde dich auf diesem Weg vor allen Dämonen beschützen. Allein schon das Gefühl mit dir auf Nobek zu fliegen,
macht mich stark und unbesiegbar«, sagte der Zaubertroll.
»Eine Reise durch die geheimsten und gefährlichsten Orte
dieser Welt kann riskant sein, aber wenn wir zusammenhalten,
durchstoßen wir alle Hindernisse.«
Sie schwebten dahin durch ein Paradies. Die Sonnenstrahlen
kitzelten ihre Nasenspitzen. Der Wind streifte ihre Körper. Als er
plötzlich stärker wurde und die Sonne sich auf einmal hinter
dunklen Wolken versteckte, wurde die Elfe unruhig und war froh,
ihren Beschützer zu haben.
Ganz plötzlich wurden sie von einem Windstoß von dem
Rücken des Tieres getrieben. Nobek drehte eine Kurve, versuchte, sie wieder aufzunehmen, doch sie fielen weiter in die endlose Dunkelheit, die sie gerade überfliegen wollten. Sie fielen tiefer und tiefer. Weit vor ihnen erschien ein kleines lila Licht in der
Ferne. Sie hielten sich an den Händen, um sich nicht zu verlieren.
Gemeinsam steuerten sie auf den leuchtenden Fleck zu. Aus der
kalten, schwarzen Schicht, die sie mittlerweile umgab, entfaltete
sich eine warme, wunderschöne, mit leuchtenden Blumen über7
deckte Landschaft. Sanft landeten sie auf dem mit Blüten bedeckten Boden. Die kleinen lila Blüten verbreiteten einen herrlichen
Duft. Die Zeit schien hier stillzustehen. Neugierig schauten sie
sich um, als Shaten einen kleinen Pfad entdeckte. Sie folgten
diesem Pfad und kamen zu einem alten, verfallenen Turm. Dort
endete der schmale Weg.
Um den Turm herum waren die wunderbaren Blumen verwelkt. Eine Tür, die in die dicke Mauer des Turmes eingelassen
war, stand offen. Flop hatte ein ungutes Gefühl, doch die Neugier ließ ihn weitergehen. Auch Shaten hatte Angst, doch wo sollten sie sonst hingehen? Vielleicht wohnte hier ja jemand, den sie
um Rat fragen konnten. Schließlich wussten weder Flop noch sie
selbst, wo sie sich momentan befanden. Also gingen sie vorsichtig
durch die Tür, die in den Turm hineinführte.
Noch nicht weit im Inneren erstarrten sie vor Schreck. Eine
grausame und furchterregende Gestalt kam aus der Dunkelheit
und baute sich vor ihnen auf. Tiefe gelbe Augen starrten sie an,
und mit dröhnender Stimme fragte diese Gestalt: »Wer seid ihr?
Und was wollt ihr hier?«
Kleinlaut erzählten sie ihm ihre Geschichte und über den Verlust des Drachen.
»Wo sind wir hier?«, fragte Shaten.
Sie hatte bemerkt, dass dieses Wesen zwar furchtbar ausschaute, aber doch friedlich zu sein schien. Offenbar hatte es genauso
viel Angst, wie sie beide selbst.
Das Wesen näherte sich, um sie zu betrachten - womöglich, um
sie zu prüfen. Die schaurige Gestalt war ihnen gegenüber sehr
misstrauisch. Sie mussten versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen.
Doch sprach das Wesen in Rätseln, und es war schwierig, diese
zu verstehen. Als sie ihn um Hilfe baten, lachte es fürchterlich.
Nach kurzem überlegen aber sagte es: »Wenn ihr mir ein bestimmtes Rätsel lösen könnt, dann zeige ich euch den Weg zu
eurem Zauberdrachen.« Es sprach die Aufgabe deutlich und geheimnisvoll aus. »Ihr müsst innerhalb dieser Zahl 11405921 eine
sechsstellige Zahl finden, die, wenn ihr sie durch drei teilt, eine
fünfstellige Zahl ergibt, die vorwärts und rückwärts gelesen gleich
ist.«
»Ha!«, erwiderte Shaten dem Wesen, »solch eine einfache Aufgabe. Hast du nicht etwas mehr Erwartungen an uns? Nun denn,
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_Kapitel 1 – Das Wesen) An einem furchtbar kalten Wintertag, in den Micha all seine Hoffnung steckte, schlug er verzweifelt die Haustür zu. In der Hand trug er noch das Stück
Papier, das er soeben aus dem Briefkasten holte. Warteschleife. So ging es wohl vielen, die sich für ein Studium einschreiben wollten und keinen Eins-Komma-Null-Abschluss
hatten. Vielleicht hätte er eher darüber nachdenken sollen,
einen Plan B zu finden. Etwas, mit dem er die Zeit überbrücken konnte.
Nachdem er sich die Schuhe abgestreift hatte, steuerte er
direkt ins Wohnzimmer. Kaum hob er den Kopf, sah er ihn
schon wieder auf der Couch sitzen: ein merkwürdiger Hund,
der ihn angrinste. Erst gestern hatte Micha versucht, ihn loszuwerden. Er setzte ihn vor die Tür, doch irgendwie kam er
dann doch wieder rein. Vermutlich durchs Fenster.
Micha schloss die Augen und kniff sich in den Arm. Als
er die Lider wieder öffnete, saß ihm das zottelige Wesen
noch immer frech grinsend gegenüber.
›Jetzt reicht’s!‹, schwor sich Micha und ging auf ihn zu. Er
hatte schon genug um die Ohren. Als er den Hund packen
wollte, quiekte er plötzlich los wie ein Schwein, dem er
irgendwie auch ähnlich sah. Er peste auf allen Vieren zur anderen Ecke des Sofas und sprang hinunter. Micha versuchte,
ihn vergebens zu greifen, doch dieser entwischte. Schnell
eilte Micha ihm nach und stieß dabei eine Stehlampe um.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Bleib stehen, du ... du
...! Was zum Henker bist du überhaupt?«
Während der Jagd kam einiges mehr zu Fall: ein Teller, ein
Stuhl und zu guter Letzt Micha selbst. Wutentbrannt richtete er sich auf. »Komm raus, du Teufelsvieh!«
In der Zwischenzeit hatte sich das Tierchen längst aus
dem Staub gemacht. Micha vermutete, dass es sich irgendwo
verkrochen hatte und begann, an jeder erdenklichen Stelle
nach ihm zu suchen: hinter dem Sofa, unterm Bett, in den
Schränken. Ja, selbst im Kühlschrank sah er nach.
Vergebens.
5
Als er alle Räume abgesucht hatte, blieb letztendlich nur
noch das Bad übrig. Micha tastete sich langsam durch die
Tür und zog mit einer schnellen Handbewegung den
Duschvorhang beiseite. Da saß es und verzog die Miene, da
das Stück Seife, auf dem es gerade herumgekaut hatte,
offenbar doch nicht so gut schmeckte.
Micha ergriff die Gelegenheit, um es zu schnappen. Das
merkwürdige Tier trat um sich und versuchte, sich irgendwie
loszuwinden. Doch Micha schwang es mit festem Griff über
seine Schulter. Im Vorbeigehen griff er die Haus- und Autoschlüssel, ehe er die Tür ins Schloss fallen ließ. Wenn es
ohnehin immer wieder einen Weg ins Haus fand, brachte es
nichts, es einfach vor die Tür zu setzen. Micha dachte an
einen geeigneteren Ort, immerhin war es ja eine Art Tier.
Mit dem Schweinehund im Schlepptau ging er zum Auto.
Micha warf ihn auf den Beifahrersitz, schloss die Tür, stieg
ein und fuhr los. Ab und an musterte er seinen Beifahrer
skeptisch. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam das Fahrzeug
endlich zum Stillstand. Micha stieg aus. Der kalte Wind
schlug ihm ins Gesicht und ließ jede Müdigkeit verblassen.
Er trat an das Gebäude heran und klingelte neben dem
Schild mit der Aufschrift ›Tierheim‹. Kurz darauf kam ein
kahlköpfiger Mann mittleren Alters hinunter und öffnete die
Tür.
»Hallo, Müller mein Name, ich bin Betreuer hier. Wie
kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«
»Schmidt«, stellte sich Micha kurz vor und schüttelte die
Hand des Fremden. »Nun, mir ist ein Hund zugelaufen, und
ich möchte ihn hier abgeben.«
Der Mann schien wenig erstaunt, scheinbar kam hier so
etwas öfter vor. »M-hm, verstehe«, äußerte er knapp.
»Er ist im Auto. Ich hole ihn«, erklärte Micha, ehe er die
Beifahrertür öffnete.
Den skeptischen Blick in seinem Nacken bemerkte er
nicht. Das zottelige Tierchen strampelte verängstigt, als er es
hinauf hob. Micha streckte es von sich, um es zu präsentieren. Der Mann legte den Kopf schief und kratzte sich die
6
Glatze. Micha trat näher, überzeugt davon, dass er nur so
verwundert war, weil er etwas Derartiges auch noch nie gesehen hat: ein Hund, der auf zwei Beinen lief und menschlicher zu sein schien, als man anfangs glaubte. Micha schien
irritiert, als Herr Müller plötzlich verärgert blickte und die
Arme vor der Brust verschränkte.
»Hör zu, Jungchen, ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt.
Besser du hörst auf, meine Zeit zu verschwenden.«
Jetzt legte sich auch Michas Stirn in Falten. »Was soll das
jetzt? Das ist doch hier ein Tierheim, nicht wahr? Nehmen
sie meinen Hund schon, oder wollen Sie, dass ich ihn auf
der Straße aussetze? Ist Ihnen das lieber, ja?«
Der Betreuer schüttelte nur verständnislos den Kopf.
»Junge, ich weiß nicht, auf welchem Trip du grad bist, aber
nimm künftig besser weniger davon. Du hältst nichts außer
Luft in den Händen!«
Micha erschrak. Wie konnte das sein? Er spürte doch die
Tritte des Tieres an seinem Arm. »Wa-was?«, stammelte er,
während der Mann ihm schon den Rücken zukehrte.
»Schlaf erst mal aus, Junge, und lass die Finger von solchem Zeug, hörst du!«, tadelte er mit dem Zeigefinger. »Und
wenn du das nächste Mal hier bist, dann bring einen Hund
mit.« Einen Atemzug später fiel auch schon die Tür zu.
Das Wesen nutzte den Augenblick, um sich loszureißen.
Micha blieb noch einen Moment bedeppert stehen, während
es ihn mit großen Augen anblickte. Micha schien zerstreut.
Was sollte das bedeuten? War es etwa tatsächlich so, dass
nur er es sehen konnte? Und wenn ja, hieße das es würde
auf irgendeine schräge Weise zu ihm gehören? Völlig gleich,
ob Micha wollte oder nicht?
Als er schließlich ins Auto einstieg, kletterte es auf den
Beifahrersitz. Micha umschloss das Lenkrad, doch der
Schock saß noch zu tief, um loszufahren. Aufgewühlt
blickte er zu dem Wesen hinüber. Einen Augenblick lang
überlegte er, ob es überhaupt einen Sinn machte, mit ihm zu
reden. Im nächsten Moment versuchte er es einfach. »Heißt
das, nur ich kann dich sehen?«
7
Es nickte, und erneut trat Entsetzen in Michas Gesicht.
Offenbar verstand es ihn sogar.
»Kannst du sprechen?«
Diesmal schüttelte es den Kopf.
Micha grübelte. All die Fragen, die sich ihm aufdrängten,
sollten also unbeantwortet bleiben, da es sich nicht äußern
konnte. »Okay...«, seufzte er ratlos vor sich hin, während
immer mehr Fragen seinen Kopf durchbohrten. Was war
es? Wo kam es her? Warum konnte nur Micha ihn sehen?
Wieso kam es gerade jetzt zu ihm? Wurde es womöglich geschickt, um ihm bei irgendetwas zu helfen oder beizustehen?
Vielleicht bei der Lebensphase, die er gerade durchmachte?
Während Micha noch in Gedanken schwelgte, hatte das
Tierchen die Knöpfe am Radio für sich entdeckt. Die viel zu
laute Musik riss Micha schließlich aus den Gedanken, und
als er seinen Blick zur Seite wandte, tanzte sein Beifahrer bereits ausgelassen. Nein, ein gewöhnliches Tier war es mit
Sicherheit nicht. Soviel wurde Micha nun klar. Für den
Hauch einer Sekunde spielte er mit dem Gedanken, mit dem
Wesen irgendwo aufzutreten. Doch im nächsten Augenblick
erinnerte er sich, dass nur er es sehen konnte und an die
äußerst peinliche Begegnung mit Herrn Müller. Micha drehte das Radio etwas leiser und fuhr los. Der Hund wurde
kurz in den Sitz gepresst, und das Tanzen wurde schließlich
unterbrochen.
»Hast du einen Namen?«, fragte Micha nach einigen Minuten des Schweigens und wandte den Kopf zur Seite, um
die Antwort abzuwarten. Wieder kam eine Verneinung.
In den nächsten Minuten begann sich Micha Namen zu
überlegen. »Wie wär’s mit Goofy?« Kopfschütteln. »So, ...
ähm, na dann … Pluto? – Auch nicht. Okay, gib mir einfach
ein Zeichen, wenn dir einer gefällt: Snoopy, Bello, Strolch,
Pongo, Struppi, Fifi, Fucor? Nein? Fucor auch nicht?!«.
Micha seufzte und setzte schließlich fort. »Idefix, Spike,
Simba, Kermit, Alf? Komm schon, langsam gehen mir die
guten Ideen aus. Wie wär’s mit Gollum? - Auch nicht.
Yoda? Was hast du gegen Yoda? Na gut, vielleicht sollte ich
8
etwas menschlicher werden: Karl, Bob, Bruce, Fred, Edgar«,
plötzlich stupste es ihn an. »Ehrlich? Edgar? Okay, wenn du
meinst. Edgar also ...«. Unterdessen fuhr Micha an der Universität vorbei. Er deutete auf den Campustower. »Siehst du
das, Edgar? Dort hätte ich längst studieren sollen«, bekundete er jammernd.
Viel zu sehr hatte Micha sich schon darauf eingestellt,
Nächte am Schreibtisch zu verbringen, in der Bibliothek
herumzuirren und seinen Wissensdurst zu stillen. Nette Leute kennenzulernen. Den Spagat zwischen Hörsaal und den
angesagtesten Kneipen zu meistern. Doch diesen Traum
musste er auf unbestimmte Zeit aufschieben.
In Momenten wie diesen fragte er sich, ob sein Leben
wohl anders verlaufen würde, wenn er woanders wäre. In
einem ganz anderen Teil der Welt. Vielleicht würde es einem
›Mike Smith‹ in Amerika besser ergehen als einem ›Michael
Schmidt‹ in Frankfurt. Womöglich hätte er sogar schon
einen festen Platz an einer Universität, und womöglich wäre
ihm auch eine Zusammenkunft mit Edgar erspart geblieben.
Er ahnte noch nicht, was ausgerechnet diese Stadt noch
alles für ihn bereithalten würde. In Gedanken fuhr er nach
Hause. Edgar – jemand, an den Micha sich erst noch
gewöhnen musste.
Kaum zu Hause angekommen folgte Edgar ihm auf
Schritt und Tritt. Schon allein, als er den Lichtschalter betätigte, weckte es große Faszination in ihm. Edgar kam gerade
eben so heran und dachte gar nicht daran aufzuhören, das
Licht ständig an- und auszuschalten. Micha konnte sich
ohne Diskogeflacker nicht einmal in Ruhe die Schuhe ausziehen. Erst als er Edgar dort wegholte, ließ dieser vom
Lichtschalter ab.
Allmählich begriff Micha, dass Edgar die Natur eines
Kleinkindes aufwies. Als Micha sich die Zähne putzte,
wollte Edgar es ihm gleichtun und gurgelte mit dem Wasser
aus der Toilette.
Micha versuchte, diesen äußerst schrägen Tag ausklingen
zu lassen, und legte sich ins Bett. Edgar krabbelte zu ihm
9
und fand Gefallen an der Federung. Kaum einen Atemzug
später sprang er wie wild auf dem Bett herum, in dem Micha
gerade versuchte, ein Auge zuzumachen. Nach einer Weile
hörte Edgar auf. Micha schloss in dem Glauben die Augen,
Edgar sei eingeschlafen. Doch nur wenige Sekunden später
ging das Licht an und aus - und an und wieder aus. Genervt
warf Micha die Decke beiseite und sammelte den Quälgeist
ein.
»Okay, du darfst im Bett schlafen. Aber nur diese eine
Nacht«, versprach er und deckte Edgar zu, ehe er sich hinlegte. Als Micha endlich das hatte, was man einen ›leichten
Schlaf‹ nannte, fror er urplötzlich. Edgar hatte die ganze
Decke zu sich gezogen. Micha zog sie ein Stück weit zurück,
um sich wieder zuzudecken. Edgar verstand auch dies als
Spiel und zog sie wieder zu sich. Das Ganze dauerte noch
einige Minuten lang an, bis Edgar keine Lust mehr hatte und
schließlich einschlief.
Dennoch wachte Micha nach einer Weile frierend und
wieder ohne Decke auf. Er blickte verschlafen auf den
Wecker: 4 Uhr morgens. Er forderte sein Stück Decke zurück und legte sich das Kissen über die Ohren, um wieder in
den Schlaf zu finden, obwohl Edgar scharchte wie ein Tier.
_Kapitel 2 ‐ Zwei Wochen später) Merkwürdigerweise hatte
es Micha dennoch irgendwie vollbracht, sich an Edgar zu
gewöhnen. Nach zwei Wochen kam es ihm sogar schon so
vor, als kenne er ihn ewig.
Trotz allem kam er nicht umhin einzusehen, dass Edgar
ihn mit seiner Trägheit immer mehr ansteckte. Micha setzte
nicht mal mehr einen Fuß vor die Tür, wenn es nicht wirklich dringend notwendig war. Auch die Post holte er nur
noch alle paar Tage herein, und den Müll brachte er erst
raus, wenn er schon fast drüberfiel – und das, obwohl Micha
im Erdgeschoss wohnte.
10
Der Koffer
DIE GUTE ISOLDE knatterte durch eine der wenigen
Straßen des kleinen Dorfes. Das Moped, das von
Blasius diesen Namen bekam, stank, machte ungehörigen Krach und sah für moderne Verhältnisse lächerlich aus - was Blasius allerdings nicht störte. Irgendwie
passte dieses motorisierte Zweirad zur Umgebung. Wer
Heftrich als einen unspektakulären Ort bezeichnete, der
beschrieb nur die halbe Wahrheit. Langweilig, überaus
ruhig und ohne einen Hauch von modernem Flair
waren ebenfalls Attribute, die auf dieses Nest zutrafen.
Es gab eine ganz neue Pizzeria. Wow! Und einen neuen
Kunstrasenplatz hatte der kleine Sportverein auch, aber
eigentlich gab es nur ein Event im Ort: den Altenburger
Markt. Dieser fand mehrmals im Jahr statt und sämtliche Anwohner fieberten dem dörflichen Großereignis
immer wieder entgegen, um sich dort im primitiven
Zustand des Alkoholkonsums möglichst zu amüsieren.
Ach ja, fast vergessen: Eine Freiwillige Feuerwehr
konnte dieses Dorf ebenfalls sein Eigen nennen. Da
versiegten die erwähnenswerten Eigenschaften aber
auch schon. Das war Heftrich, und Isolde passte genau
hier hin!
Blasius hatte den Auftrag, für seine Mutter an diesem
Montagnachmittag eine Flasche billigen Weißwein für
die Soße am Abend zu besorgen. Zu Beginn seiner
letzten Urlaubswoche hatte er ohnehin nichts Besseres
zu tun und fuhr so mit seinem Moped zu dem
›Getränkemarkt Justus‹ auf der Hauptstraße des Ortes.
In einer Großstadt wie Frankfurt wäre diese sogenannte
Hauptstraße zwar nichts weiter als eine verkehrsbe-
30
ruhigte Gasse, aber hier war sie eben der meistbefahrene
Weg des Ortes.
»Guude!«, sagte Justus aus reinem Automatismus,
wenn jemand seinen Verkaufsraum betrat - mit Freundlichkeit hatte das wenig gemein. Michael Justus wurde
von kaum jemandem beim Vornamen genannt, er war
für alle einfach nur ›Justus‹.
»Hallo«, antwortete Blasius, denn zu diesem hessischen Dialekt ließ er sich niemals herab. Dies untersagte ihm schon die Erziehung seines Vaters. Der junge
Mann sollte sich wenigstens sprachlich von den anderen
Dorfbewohnern unterscheiden. Von seinen Eltern
bekam Blasius von klein auf beigebracht, möglichst
hochdeutsch zu reden.
»Dialekt macht den Menschen bäuerlich«, sagte Günther Mannhaupt immer, »und Bauern gibt es seit deinem
Großvater mütterlicherseits glücklicherweise keine mehr
in dieser Familie!«
Blasius Mama mahnte stets: »Wenn du platt sprichst,
dann bist du auch ein platter Mensch. Platte Menschen
sind keine Menschen von Welt.«
Diese Leute vergaßen, dass sie dadurch, nur weil sie
sich niemals einen Dialekt aneigneten, kaum weltoffener
wurden. Blasius’ Eltern kannten nicht das spannende
Gefühl, neuen Erfahrungen interessiert entgegenzutreten. Sie verwehrten sich allem, was anders war als
das, was sie aus ihrem näheren Umfeld kannten. Ganz
nach dem Motto: Was der Bauer nicht kennt, frisst er
nicht. Aber Bauern waren sie ja angeblich nicht …
Bevor Justus seine Kunden betreute, ließ er sie stets
eine Weile im Laden herumsuchen. Vielleicht fanden sie
ja von selbst, was sie brauchten. So hatte sich der
Geschäftsbetreiber viel Zeit und Mühen erspart. Even-
31
tuell fand der Kunde zusätzlich noch etwas, das er
zuvor gar nicht hatte kaufen wollen. Faulheit und anfängliches Desinteresse gehörten zu seinem Geschäftsprinzip. Wenn er jedoch angesprochen wurde, kümmerte er sich sogleich um seine Kunden - meistens jedenfalls.
»Sag mal, hast du auch Weißwein da?«, fragte Blasius,
noch in den unübersichtlichen Regalen Ausschau haltend.
»Weißwoi?«, fragte Justus, der sich in den Anfängen
der Dreißiger bewegte, durch seine voluminöse Körperfülle und seine Trägheit aber älter wirkte.
Blasius wusste genau, dass er bereits verstanden wurde
und ahnte, was Justus nun zelebrieren würde. »Ja, Weißwein!«
›Der Dicke will mir doch garantiert gleich wieder blöd
kommen‹, dachte Blasius und wurde sogleich bestätigt.
»Sauf mool en ordentlische Klare oder en Kaste Bier,
dann gehe aach die Pickel fott unn du bekimmst Tinte
uff en Füller!«, behauptete Justus, dem offenbar egal
war, dass Blasius gar keine Pickel hatte - der Spruch
schien ihm einfach zu gefallen.
›Na, ob das eine kundenorientierte fachliche Beratung
ist, wage ich zu bezweifeln‹, überlegte Blasius und
musste im Falle dieses Mannes seinem Vater nun wirklich recht geben: ›Der Dialekt verleiht einem tatsächlich
etwas besonders Bäuerliches.‹
Er schnaufte kurz auf und suchte wortlos weiter in
den Regalen. ›Hat doch eh keinen Wert, mit dem
Dicken zu reden.‹
Die Hände in seiner Latzhose vergraben, schlich Justus zu Blasius und stellte sich fast teilnahmslos neben
ihn.
»Hast du nun Weißwein, oder was?«, fragte Blasius
nun ein weiteres Mal, der den Mann mit dem ausladen32
den Wanst und der monströsen Herrenbrust im Hintergrund erahnte.
»Troggner oder lieblischer?«, fragte Justus verbissen.
»Hm, ich weiß nicht genau. Ist für meine Mutter zum
Kochen. Ich denke, lieblicher Wein sollte es sein!«,
machte Blasius dem Getränkehändler klar.
»Lieblische habb isch kaaner«, stellte Justus fest.
›Dann frag doch nicht so blöd!‹
Blasius dachte nach. Sollte er trockenen Weißwein
mitbringen? Er hatte keine Lust noch nach Idstein, der
nächstgrößeren Stadt, zu fahren. Mit seiner Isolde
würde das 25 Minuten dauern. Das wusste er, da sich
das Postamt in Idstein befand, auf dem er normalerweise arbeitete, wenn er nicht gerade Urlaub hatte. Er
entschied sich, seiner Mutter wenigstens irgendeinen
Weißwein zu präsentieren. Nach Idstein konnte er dann
immer noch fahren.
»Na, dann gib mir doch bitte den trockenen Wein!«,
bat Blasius seinen vermeintlichen Gesprächspartner ausgesprochen höflich, obwohl es dieser gar nicht verdient
hatte.
»Habb isch net!«, sagte dieser ebenso trocken, wie der
Wein sein sollte.
»Wie, hast du nicht?« Blasius richtete seinen Blick
überrascht auf Justus. »Du hast doch gerade gesagt …!«
»Isch habb gar nix gesacht. Isch habb kaan weiße Woi
unn aus!«
Das sollte wohl das Stichwort für Blasius zum Gehen
sein.
Dieser kleine Penner! Der hätte mir mal so dumm
kommen müssen. Ich hätte ihn durch seinen Scheißladen
gedroschen. Aber mit Blasius konnte er es ja machen.
Und warum hat er das gemacht? Hat einen ebenso
klaren, wie bescheuerten Grund: Er konnte Blasius nicht
33
leiden. Es gibt Leute, die können sich einfach nicht ausstehen. Schluss! Das war’s! Das genügte dem dicken
Getränkehändler, Blasius wie ein Stück Scheiße zu
behandeln, obwohl Justus mit einem Stück Scheiße
natürlich niemals gesprochen hätte - hoffe ich für ihn …
Ohne weiter über die unfreundliche Art von Justus
nachzudenken, ging Blasius zu seiner Isolde.
›Wenn ich mit leeren Händen daheim ankomme,
rastet die Mutter aus‹, dachte Blasius. ›Also, ab nach
Idstein!‹
Auf Hochglanz poliert stand das Moped an der Straße
und wartete darauf, dass Blasius es wieder in Betrieb
nahm. Isolde und Blasius, das wurde zu einem Begriff in
dem Ort. Wer die silbergraue Zündapp KS50-WC mit
ganzen fünf Kilowatt Leistung, 50 Kubikzentimeter
Hubraum und Kickstarter sah, wusste: Blasius konnte
nicht weit sein. Isolde kannte er solange er denken
konnte. Von seinem Vater übernahm er das Kleinkraftrad mit der Erstzulassung aus dem Jahre 1979 und
fuhr es nun schon über viele Jahre als stolzer Besitzer.
Mit den Jahren spielte er das ein oder andere Mal mit
dem Gedanken, das Moped zu ersetzen, aber die gute
alte Isolde wegzugeben, das hätte er niemals übers Herz
gebracht.
›So viele Erinnerungen verbinden mich mit dieser
Maschine.‹
Das erste Mädchen umarmte ihn auf diesem Moped,
Karin Donners von nebenan. Näheren Kontakt hatte er
zu seiner Nachbarin natürlich niemals, aber diese Umarmung vergaß Blasius bis heute nicht. Sie war mittlerweile mit irgendeinem Musiker oder Künstler oder so
durchgebrannt. Der kindlichen Umarmung folgte unmittelbar Dörte. Das erste Mal geküsst hatte sie ihn, als
sie sich gemeinsam an Isolde anlehnten.
34
›Und einmal‹, daran konnte sich Blasius auch sehr gut
entsinnen, ›da hatte Isolde sogar unwiderstehliche 90
Sachen auf dem Tacho.‹
Bergab, mit Rückenwind! Diese Tatsache verdrängte
er gerne, wenn er daran zurückdachte. Bis dato die
schnellste Geschwindigkeit, die Blasius mit seinem Moped erreicht hatte.
Natürlich geschah dies, ohne an dem Motor herumgeschraubt zu haben. Das hat Blasius seinem Moped
niemals angetan. An der guten Isolde war immer alles
original.
Wenn ein Mann, und so will ich Blasius jetzt einfach
mal bezeichnen, seinem Moped einen Namen gibt, dann
müssen doch schon alle Alarmglocken angehen. Kein
normaler Mensch gibt seinem Fahrzeug einen ernsthaften Namen. Gut, ich hatte mal einen Van, dessen
Ladefläche ich mit Matratzen zu einer Liegefläche umarbeiten ließ. Dieses Fahrzeug nannte ich auch ›Sexmachine‹, aber doch nur aus gegebenem Anlass. Als die
Bumsflächen durchgenudelt waren, habe ich die blöde
Kiste doch wieder namenlos verkauft. Isolde! Wenn ich
das schon höre, bekomme ich Ausschlag …
›Ich habe keine Lust, nach Idstein zu fahren‹, dachte
Blasius verärgert, als er sich den weißen Integralhelm
über den Kopf zog. ›Bis ich wieder da bin, ist es schon
nach sechs Uhr, und ich wollte heute echt mal nichts
machen!‹
Der junge Mannhaupt schwang sich auf die durchgezogene Sitzbank, drehte den Schlüssel in der Zündung
und trat den Kickstarter kräftig herunter. Kräftiger, als
es nötig war. Den Zorn übertrug er auf sein Moped, was
ihm im selben Moment schon wieder leidtat.
35
›Sorry, Isolde‹, dachte er, obwohl er genau wusste,
dass man mit Mopeds nicht kommuniziert.
Gleichzeitig schnurrte Isolde nicht ganz so leise, aber
gleichmäßig vor sich hin. Im Stand gab sie ein angenehmes Geräusch von sich. Das Moped zeigte sich
startklar für die Fahrt in die Stadt. Mit einem Ruck
betätigte Blasius die Fußschaltung. Der erste Gang
sprang ins Getriebe.
›Also Isolde, gib alles, was du hast, denn ich will
schnell wieder daheim ...‹
»Hey!« Eine Stimme störte Blasius’ Plan.
Als ich Blasius zum ersten Mal begegnete, hatte ich es
mächtig eilig. Ich hatte mich heillos verfahren und kam
durch dieses verlassene Kaff. Irgendwie fand ich einfach
nicht den verfluchten Weg zur Autobahn. Ich konnte
auch kaum noch klar denken. Was sollte ich also noch
länger rumsuchen?
Ich sah diesen Typen auf seinem Moped am Straßenrand und dachte mir: ›Frag den einfach!‹
Dabei hatte ich keine Zeit, um mir einen Eindruck von
ihm oder seinem peinlichen Moped zu verschaffen. Ich
wollte einfach nur weiter, und Blasius war der erstbeste
Depp am Straßenrand …
Als Blasius sich umsah, traute er seinen Augen nicht.
Vor ihm stand ein weinroter Ford Mustang mit Metalliclackierung, dessen äußere Erscheinung anbetungswürdig
war. Vollkommen beeindruckt von dem Wagen übersah
Blasius, dass der Fahrer des Wagens sich in einem
offensichtlich sehr nervösen Zustand befand. Schweiß
stand ihm auf der Stirn, und er fuchtelte wild mit den
Händen.
36
»Hey, du, hör mir doch mal zu!«, rief er, denn das
Auto besaß selbst bei Standgas einen enormen
Geräuschpegel, den es zu übertreffen galt.
Wie in einem Trancezustand drehte Blasius den
Schlüssel in seiner Isolde. Er stieg von der Sitzbank und
ging um den Wagen herum, während sich tiefste
Bewunderung in ihm breit machte.
›Heiliger Strohsack, ist das ein Geschoss!‹, dachte er.
»Hey!« Pit, der Fahrer des Mustangs, verlor Blasius für
einen Moment aus den Augen.
»Ja, ist denn das zu fassen? Wo ist denn dieser
Bauerntrampel?«, sprach Pit und erblickte Blasius im
nächsten Moment schon wieder, der hinter dem Ford
herum an der Beifahrerseite entlang lief, schließlich die
Motorhaube passierte, um wieder zum Fahrer zu
gelangen.
›Wo bekommt man nur so ein heißes Gerät her?‹,
dachte Blasius und fiel in Gedanken regelrecht auf die
Knie. ›Mit so einem Auto ist man ja wohl der King!‹
Okay, ich gebe ja zu, der Mustang gehörte schon zu
einem der geileren Fahrzeuge, die ich jemals gefahren
bin. Immerhin war es ein Shelby GT-350 Baujahr 1965.
Von diesem Rennsportableger des Mustang Fastback
wurden nur 562 Exemplare gebaut. Meine Zwiebel hatte
einen 4,9 Liter V8-Motor bei 306 Pferdeäpfeln. Eine
echte Schwanzverlängerung wie diese sah man nicht
jeden Tag in diesem gottverlassenen Dorf …
»Sag mal, wie komme ich hier zur Autobahn?«, fragte
Pit, dessen Hektik ihm deutlich anzumerken war.
Blasius aber nahm dies leider nicht wahr: »Geile
Karre! Ein Mustang, was?«
37
»Äh, ja, natürlich!«, sagte Pit unsicher, und man
merkte ihm an, dass dies in diesem Augenblick mehr als
unwichtig für ihn war.
Ich weiß, welches Auto Asche bringt. Denn wenn du
eines knackst, musst du wissen, was sich in etwa lohnt
und welche Karren scheiße sind. Dass mein Schlitten ein
Büchsenöffner war, sah ein Blinder mit Krückstock.
Genaue Bezeichnungen für Modelle, die derzeit besonders gefragt waren, bekam ich oftmals von Sydney, dem
fettesten aller Halsabschneider, vermittelt. Die meisten
Autos fuhr ich und musste nicht deren komplette Lebensgeschichte kennen. Mir doch egal! Entweder ein Auto
bringt die Mäuse, und du kannst vorher das ein oder
andere blechgeile Flittchen damit abschleppen, oder
eben nicht …
Blasius’ Gegenüber wurde ungeduldig. Das spürte der
junge Mann nun.
›Was ist denn mit dem?‹, fragte er sich. ›Was macht
der hier so ein Heckmeck?‹
Schweißperlen rannen dem Fahrer des Mustangs die
Schläfe herunter. Erst jetzt wurde Blasius wirklich
bewusst, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmten
konnte.
Der Mann begann zu zittern und sagte stotternd: »Hhör mal, sag mir bitte einfach, wie ich hier am b-besten
zur Autobahn komme. Z-zur Autobahn Richtung
Frankfurt! Okay?«
Natürlich wollte Blasius dem Mann helfen, der in
diesem Dorf außergewöhnlich und deplatziert erschien.
Kaum jemand hier wagte es, sich dem Gerede der Leute
auszusetzen. Man färbte sich seine kurzen, pomadigen
Haare nicht wasserstoffblond. Zudem trug kein Mann
im Ort Ohrringe in beiden Ohren und hatte ein Piercing
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in der Unterlippe. Ein blondierter Ziegenbart allein fiel
schon aus dem Rahmen. Pit war definitiv nicht von hier.
›Der Typ kommt von außerhalb und hat sich noch
niemals zuvor nach Heftrich verirrt‹, dachte Blasius, was
auch aus der Ortsunkenntnis zu schließen war.
»Nun, das ist ganz einfach«, sagte Blasius ruhig und
drehte sich mit ausgestrecktem Arm deutend in Richtung Ortsmitte. »Sie fahren einfach geradeaus, dort
kommt ein kleiner Kreisel. Wenn Sie dann rechts abbiegen, führt die Straße nach Idstein. Dort kann man dann
auf die Autobahn nach …«
Mit diesen Worten drehte sich Blasius wieder zu dem
Fahrer des Mustangs und erschrak.
›Ach du Scheiße!‹ Es durchfuhr ihn ein mächtiger
Schrecken.
Pit zuckte am gesamten Körper, während sein Gesicht
gleichzeitig erstarrte.
›Was ist denn jetzt los?‹ Blasius konnte kaum reagieren.
Der Mann Anfang dreißig legte seinen Kopf verkrampft auf die linke Schulter und konnte sich augenscheinlich nicht mehr artikulieren. Blasius beobachtete
hilflos, wie seinem Gegenüber nach wenigen Sekunden
blutig schaumartiger Speichel aus dem Mund lief.
›Er beißt sich auf die Zunge‹, erschrak Blasius.
Pit gab merkwürdige, röchelnde Laute von sich. Der
Mustang machte einen Satz nach vorn und soff ab.
›Verflucht‹, dachte Blasius, während er sich nach Hilfe
umsah, aber niemanden in der Nähe erblicken konnte.
›Der hat einen Anfall, oder so was!‹
Seit meinem zwölften Lebensjahr habe ich diese scheiß
epileptischen Anfälle. Es sind sogenannte konvulsive
Anfälle, die zu Bewusstseinsverlust, rhythmischen
Zuckungen der Arme und Beine und Verkrampfungen
39
führen. Woher die kommen, weiß ich bis heute nicht.
Wenn ich aber meine Medikamente regelmäßig einnehme und nicht unter Stress gerate, habe ich die
Krankheit unter Kontrolle. In diesem Moment, als Blasius vor mir stand, hatte ich die Einnahme meiner Antiepileptika jedoch schon mehrmals übergangen, und von
normalem Stress konnte schon lange keine Rede mehr
sein. Normalerweise piss ich mir bei meinen Anfällen
auch noch in die Hose. Diesmal hatte ich verdammtes
Glück …
»Hey, Sie, was haben Sie?«, rief Blasius nervös durch
die geöffnete Scheibe des Mustang.
Etwas Geistreicheres wollte ihm in dieser Sekunde
kaum einfallen.
›Hey, Sie, was haben Sie‹, dachte er sofort, ›etwas Blöderes kann man einen, der ohnmächtig ist, wohl nicht
fragen.‹
Blasius Mannhaupt riss die Tür des Automobils auf.
Das hätte er besser nicht getan, denn der Körper von
Pit fiel ihm nun vollkommen erschlafft und unkontrolliert entgegen. Es war ein Krachen zu hören, als
wenn ein Ast durchbrach. Die Herkunft dieses
Geräusches konnte Blasius allerdings nicht sofort lokalisieren. Als er kniend Pit aufzufangen versuchte, sah er
an ihm entlang und erkannte mit Schrecken, dass sein
Bein im Wagen zwischen den Pedalen eingekeilt zu sein
schien.
›Oh verdammt, das war das Krachen!‹, dachte Blasius
und ihm wurde bewusst, dass dies ein Knochen von Pit
gewesen sein musste.
›Ich brauche Hilfe!‹
»Justus!«, schrie Blasius im nächsten Augenblick.
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Der Getränkehändler erschien ihm als der Mensch,
der ihm nun am schnellsten weiterhelfen konnte, denn
die Hauptstraße des Dorfes zeigte sich menschenleer.
»Justus!«, rief Blasius erneut und dachte: ›Wo ist denn
das fette Aas? Wenn man den einmal braucht, bekommt
der seinen dicken, weißen Hintern nicht auf die Straße.‹
Der Ladenbesitzer ließ mit jeglicher Reaktion immer
noch auf sich warten.
»Justus!«, brüllte Blasius abermals und diesmal noch
dramatischer und schriller.
›Wo bleibt denn der Kerl? Der soll endlich herkommen‹, und Blasius wusste, dass sich Justus aufgrund
seiner Rufe nicht im Entferntesten beeilen würde.
Justus musste die Schreie gehört haben - da konnte
sich Blasius, der mittlerweile fast in Panik auszubrechen
drohte, durchaus sicher sein. Dass von dem dicken
Mann nichts zu sehen war, lag einzig und allein an seinem Desinteresse für jegliche Belange Blasius’.
»Juuuustuuuuuus!«, kreischte Blasius ein weiteres Mal.
›Dieser Dreckskerl muss sich doch mal blicken
lassen!‹, dachte Blasius immer zorniger und hielt Pit mit
festem Griff in seinen Armen, während er in den Fenstern und Türen der umherliegenden Häuser nach weiterer Hilfe Ausschau hielt. Nichts!
›Was ist das für ein Ort, wo man am helllichten Tag
und auf offener Straße sterben könnte, und keiner
nimmt davon Notiz?‹
Der junge Mannhaupt konnte sich unter dem Gewicht
des etwa 1,75 Meter großen Mannes nicht rühren.
Lediglich das rechte Bein ragte noch in den Innenraum
des Wagens. Der Oberkörper lastete mit seiner gesamten Wucht auf Blasius.
»Was willste, Blasi?«, schrie Justus aus seinem Verkaufsraum auf die Straße, ließ sich jedoch nicht sehen.
41
Überrascht und froh überhaupt eine Reaktion erhalten
zu haben, keimte in Blasius neue Hoffnung.
»Komm endlich raus, du fettes Stück Scheiße!«, rief er
laut und erschrak selbst über die Wahl seiner Worte.
Sogleich waren die hastigen Schritte von Justus zu
hören. Er stapfte durch die große Eingangstür, und
seine grimmige Miene konnte Blasius vom ersten
Augenblick klar erkennen.
»Wennste mer uff de Sack gehe willst, Blasi, dann
kann isch der aach ei uff dei blääd Maul …« Da sah
Justus Blasius’ Not und erkannte die Situation.
›Wurde auch Zeit‹, dachte Blasius.
Sofort verschwand die Wut des Getränkehändlers,
und er rannte, den Ernst der Lage erkennend, dem Ford
Mustang entgegen, um zu helfen. Die wenigen Meter in
Eile brachten den deutlich übergewichtigen Mann merklich außer Atem.
»Was issn passiert?«, fragte Justus nach Luft japsend,
und er half, den ohnmächtigen Mann vorsichtig aus
seinem Wagen zu ziehen, um ihn in eine stabile Seitenlage auf der Straße zu positionieren.
›Die Mitgliedschaft Justus’ bei der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr zahlt sich erstmals aus‹, dachte Blasius.
Er zuckte mit den Schultern: »Weiß nicht! Von jetzt
auf gleich hatte der Typ einen Anfall, oder so.«
»Wer issn des?«, wollte Justus wissen.
»Keinen blassen Schimmer! Eigentlich hatte er mich
nur nach dem Weg gefragt!«, erklärte Blasius, und plötzlich wurde ihm klar, dass noch kein Notruf ausgelöst
wurde.
»Jetzt ruf doch erst mal einen Krankenwagen, Mann!«,
wies Blasius den Dicken energisch an, der dann sogleich
mit plumpen Schritten in seine Geschäfträume raste was man bei ihm so ›rasen‹ nannte.
42
Bis die Deppen mal einen Arzt kommen lassen haben,
war ich schon längst wieder einigermaßen bei mir.
Natürlich hatte ich noch kleinere Orientierungsschwierigkeiten, aber wer hätte das nicht, dessen Großhirn einmal komplett heruntergefahren ist. Ich musste meine
Systeme erst einmal wieder initialisieren, oder wie das
heißt …
»Der Koffer darf nicht unter die Räder kommen!«,
lallte Pit benommen und verdrehte dabei merkwürdig
die Augen.
Blasius begriff sofort, dass der Mann wieder zu sich
zu kommen schien, aber noch keinen wirklichen Sinn
für die Realität hatte. Dennoch begann Blasius, mit ihm
zu reden, auch wenn er die Thematik nicht verstand.
»Es ist alles in Ordnung. Sie sind in Sicherheit. Gleich
kommt ein Krankenwagen«, erklärte Blasius, rechnete
aber kaum damit, dass seine Worte Anklang fanden.
›Der rafft jetzt sowieso nichts.‹
»Ohne den Koffer kann ich auf keinen Deal eingehen.
Heute Abend muss alles erledigt sein. Ich muss nach
Frankfurt«, plapperte der Blondierte und artikulierte sich
ebenso klar wie überraschend wirr.
›Frankfurt?‹, dachte Blasius. ›Er ist also aus der Stadt.‹
Im Hintergrund hörte man bereits deutlich die Sirene
der Ambulanz. Auch Pit vernahm das Martinshorn, und
es versetzte ihn in weitere Aufregung. Er versuchte, sich
aufzurichten, und ein Schmerz durchfuhr ihn, der von
seinem Fuß herrührte.
Vollkommen verblüfft sah Pit an sich herunter, und
Blasius log in einem ausgewählt ruhigen Ton, um nicht
noch mehr Panik auszulösen: »Der wird wohl leicht
angestaucht sein.«
43
Wenn ich gekonnt hätte, sofort wäre ich in meinen
Mustang gesprungen und verschwunden. Mein dämlicher Fuß machte mir aber einen gewaltigen Strich
durch die Rechnung. Ich musste doch eigentlich nach
Frankfurt. Was wollte ich denn in diesem abgelegenen
Nest oder gar im Krankenhaus? Ich hatte Wichtigeres zu
tun …
Kurz bevor Pit von den Sanitätern auf der Bahre
fixiert wurde, um in das nahe gelegene Unfallkrankenhaus Idstein gebracht zu werden, wandte er sich noch
an Blasius.
»Hier«, rief Pit plötzlich scheinbar vollkommen
geistesgegenwärtig und warf Blasius den Schlüssel des
Mustangs zu, den Blasius ihm kurz zuvor erst in die
Hand gedrückt hatte, »nimm den Wagen an dich und
komm zu mir ins Krankenhaus! Ich muss mit dir reden!«
Blasius stand verdutzt auf der Hauptstraße. Er wurde
von Pit näher zu sich zitiert. Der verletzte Mann auf der
Bahre zog Blasius ganz dicht an sich heran.
Er flüsterte Blasius fast unhörbar ins Ohr: »Komm zu
mir in die Klinik, heute noch, es geht um Leben und
Tod!«
Blasius fuhr ein eiskalter Schauder über den Rücken.
›Leben und Tod? Spinnt der?‹
Die Dramatik in der Stimme des unbekannten
Mannes löste in Blasius ein neues Gefühl aus. Er stand
unter Spannung. Irgendetwas geschah. Etwas Neues!
Etwas Erregendes! Endlich! Für einen kleinen Augenblick wurde das bisher von Eintönigkeit und Trübsal
geprägte Leben von Blasius mächtig interessant. Er
hatte diesen Schlüssel in der Hand, und die Türen des
Krankenwagens schlossen sich. Mit dem Auftrag, Pit zu
folgen und sich um den Wagen zu kümmern, stand
Blasius auf der Straße mitten im Dorf. Wenige Meter
44
entfernt: der dicke Justus, der von Pits Worten nichts
vernehmen konnte und nur sah, dass Blasius der
Schlüssel des Mustangs übergeben worden war. Als der
junge Mannhaupt zu dem Dicken herübersah, ahnte er
dessen missgünstigen Gedanken.
Blasius parkte seine Isolde sicher vor Justus’ Getränkemarkt. ›Wehe, ich komme wieder und an der Isolde
hat jemand rumgefingert. Dann kann der Dicke was
erleben.‹
Umgehend stieg Blasius in den 65er Ford Mustang
Shelby ein.
›Ist das ein scharfes Auto.‹ Blasius war die Begeisterung förmlich anzusehen.
Nachdem er den Schlüssel in der Zündung des
Wagens drehte und dieser sein unnachahmliches
Geräusch abgab, dachte der bisherige passionierte
Mopedfahrer: ›Geil!‹
Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in einem Sportwagen am Steuer saß. Es war zwar nur ein ganz
ordinärer 911er Porsche, aber in meinem zarten Alter
von gerade einmal vierzehn Jahren konnte das Gefühl
nur von dem Luder Peggy Mayer aus der Nachbarschaft
ein halbes Jahr später übertroffen werden. Es war für
uns beide das erste Mal. Ich hatte endlich Verkehr mit
einer Frau, seit Monaten dürstete es mir schon danach,
und sie machte es erstmals für umsonst. Ich musste wohl
niedlich auf sie gewirkt haben. Nachdem ich es mit
Peggy tat, war es lange nicht mehr so gut. Wie hätte es
auch? Peggy kam, wie ihr Vorname schon verrät, aus
dem Osten Deutschlands und erfüllte jedes sexuelle Klischee, das es gab, mit Bravour. Genau wie mit dem
Porsche. Es ist einfach ein geiles Auto. All die Kleinwagen, die ich danach knackte, gaben mir nicht den
geringsten Kick …
45
Als das dunkelrote Fahrzeug in die Hofeinfahrt der
Mannhaupts fuhr, hatte Blasius nur rund 500 Meter
darin zurückgelegt und kam nicht weiter als bis zum
zweiten Gang, aber es vermittelte ihm ein wahnsinniges
Gefühl von Freiheit und Männlichkeit.
›Am liebsten würde ich eine kleine Spritztour machen‹,
schmunzelte Blasius, ›wobei Spitztour bei dem Wagen
und seiner Wirkung auf Frauen sicher wörtlich zu
nehmen wäre.‹
Der Wagen stoppte vor der geschlossenen Garage
von Vater Mannhaupt, und die Mutter des Hauses hatte
schon lange die fremde Karosse bemerkt. Als sie aus
dem Haus trat, um ihren Sohn zur Rede zu stellen,
konnte sie kaum übersehen, wie Blasius das Auto noch
darin sitzend geradezu anhimmelte. ›Dieses Fahrzeug ist
nahezu perfekt!‹
Er strich über das Lenkrad, fühlte den Schaltknüppel
und wanderte zärtlich über die Lederausstattung auf
dem Beifahrersitz. So gefühlvoll hatte er Dörte schon
seit Monaten nicht mehr berührt. ›Wahnsinn. Dich
würde ich am liebsten behalten.‹
Dieses Auto übte in diesem Moment einen deutlich
größeren Reiz auf ihn aus als seine eigene Freundin in
den letzten Jahren. Als Mama Blasi den Mustang
erreichte, klopfte sie unvermittelt an die Seitenscheibe
neben ihrem Sohn. In Gedanken versunken, schrak
Blasius auf und blickte etwas beängstigt zu seiner Mutter
herauf. Erleichtert registrierte er jedoch schließlich ihre
Anwesenheit. ›Mann, hab ich mich erschreckt!‹
Als Blasius die Tür öffnete, begann sie abrupt zu
schnattern: »Wo ist der Wein? Und was ist das für ein
Auto?«
›Halleluja, das hat sie auch gemerkt‹, durchfuhr es den
Sohn.
46
Blasius stieg aus und musste zunächst seine Gedanken
sortieren, ehe er seiner Mutter eine plausibel klingende
Erklärung bot. Er warf sachte die Fahrertür zu und
genoss diesen wunderbaren Klang, der dabei seinen
Gehörgang durchströmte.
›Ich habe mich verliebt!‹, dachte Blasius und lachte
dabei innerlich über sich selbst.
Da seine Mutter keine Antwort von ihrem Sohn erhielt, wurde sie ungehaltener. »Blasius, willst du mir
denn keine Antwort geben?«
›Ich weiß genau, was sie jetzt denkt‹, dachte Blasius,
›ich weiß es ganz genau: ›Das passt so gar nicht zu
meinem Blasius. Dieser Wagen, sein Schweigen, jede
Veränderung in meinem Haus, alles was die Ruhe stört,
den Lauf der geplanten Dinge aus dem Gleichgewicht
zu bringen droht, alles das ist schlecht.‹ Die kocht vor
Wut!‹
»Ich habe dich etwas gefragt, Blasius!«, sagte sie
energisch, und ihr Tonfall hatte etwas von ihrem Ehemann - sie imitierte ihn bewusst ein bisschen, um einen
Teil seines Durchsetzungsvermögens zu erhalten.
Blasius ahnte das unberechtigte Misstrauen, das in
seiner Mutter erweckt wurde. Er fühlte sich grundlos
von ihr angegangen.
›Die soll mir jetzt bloß nicht auf die Nerven gehen!‹
Deswegen zögerte er seine Antwort, die alles hätte
erklären können, vorsätzlich heraus.
»Blasius!«, Mama Blasi wurde biestig, »soll ich deinen
Vater anrufen?«
Das war das Stichwort.
›Alles, nur das nicht!‹, dachte der Sohn.
»Beruhige dich, Mutter! Es ist halb so wild.«
»Ach ja? Und was, bitte? Was ist halb so wild? Wo ist
dieser Wagen her?« Sie ließ einfach nicht locker. Der
Wein interessierte sie gar nicht mehr.
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Mit 22, vielleicht war ich auch 23, kam ich mit einem
erstklassigen Wagen, einem himmelblauen Cadillac
Eldorado Cabriolet Convertible 8,2-Liter, zu meiner
Mutter gefahren. Sie hatte sich damals so wahnsinnig für
mich gefreut, dass wir gleich einen kleinen Ausflug
gemacht haben. So wie Mama Blasi hätte sie niemals
reagiert. Meine Mama hätte auch niemals gefragt, wo
dieser Wagen herstammte. Sie wusste ganz selbstverständlich, dass ich das Auto geklaut hatte, freute sich
aber für den Moment, in dem sie von einem meiner
letzten betrunkenen Stiefväter für eine Weile weg kam …
Blasius richtete sich vor seiner Mutter auf. Es gab
eigentlich keinen Grund, einen Streit mit ihr zu provozieren, aber er wollte einfach nicht derartig mit sich umspringen lassen.
›Immerhin bin ich 25 Jahre alt und kein Kind mehr.‹
Er beschloss: ›Ab heute lasse ich mich nicht mehr wie
ein Kind behandeln.‹
Stark schaute er seiner Mutter tief in die Augen. So
hatte sie ihn noch niemals gesehen, und er fühlte, wie er
sie beeindruckte.
»Ich helfe nur einem Mann, der vor einer halben
Stunde einen epileptischen Anfall im Dorf hatte. Er hat
sich wahrscheinlich den Fuß gebrochen und kann das
Auto nicht mehr fahren. Nun ist er auf dem Weg ins
Krankenhaus, und ich habe mich lediglich um diesen
Wagen gekümmert. Weiter nichts! Okay?« Blasius’
Stimme war voller Trotz.
»Ach so, äh«, stotterte sie. »Und wer ist der Mann?«,
fragte die Mutter schüchtern, nicht mehr mit dem Tonfall ihres Ehemannes.
›Na also, geht doch‹, dachte Blasius, und auch er
beruhigte sich, denn er konnte allmählich nachvollziehen, was seine Mutter gedacht haben musste. ›Man
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kann ja wirklich auf schräge Gedanken kommen, wenn
man mich in dem Mustang sieht.‹
»Weiß ich nicht«, antwortete Blasius seiner Mutter, »er
hatte mich nur nach dem Weg gefragt und bekam dann
den Anfall!«
»Und was passiert jetzt?«
»Ich laufe ins Dorf. Da habe ich Isolde stehen. Ich
werde die Schlüssel dem Mann ins Idsteiner Krankenhaus bringen. Und das war es dann. Wahrscheinlich
wird er den Wagen dann irgendwann hier abholen«,
erklärte er, und selbst für Mutters Ohren klang dies
überzeugend und unbedenklich.
Natürlich erwähnte Blasius nicht die letzen Worte von
Pit, bevor er weggebracht wurde. Hätte seine Mutter die
Worte ›um Leben und Tod‹ vernommen - auf der Stelle
wäre die Polizei alarmiert worden.
Als ich in diesem Krankenhaus lag und darauf wartete,
dass diese bescheuerten Ärzte mir endlich den blöden
Fuß röntgten, ging mir nichts anderes durch den Kopf
als mein Koffer. Der Koffer. Was war bloß mit dem
Koffer? Dem Koffer durfte nichts passieren. War denn
dieser Dorftrottel vertrauenswürdig? Geschissen auf das
Auto. Der Koffer, der sich hinten im Mustang befand,
war wichtiger als alles andere …
»Ich möchte zu dem Mann mit dem epileptischen
Anfall und dem wahrscheinlich gebrochenen Fuß, der
vor etwa einer Stunde mit dem Rettungswagen eingeliefert wurde«, meldete sich Blasius an der Pforte des
Krankenhauses an und wurde zu ihm geschickt.
Als Blasius vor Pit trat, verfiel dieser abermals in
nervöse Hektik.
»Gut, dass du da bist, Junge!«, sagte der blonde Mann
mit dem frischen Gipsfuß, um den gerade eine junge
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Schwester einen blauen Stützverband wickelte. »Vielen
Dank! Du bist Gold wert! Kannst du fahren? Lass uns
los!«
Die Schwester horchte auf. »Sie können hier jetzt
nicht weg!«
›Tja, dann müssen wir wohl hier bleiben‹, dachte der
Dörfler grinsend.
Streng und voller Überzeugung in der Stimme sagte
Pit, dem man nun höchsten Respekt entgegenbringen
musste: »Wer will mich aufhalten? Du, kleine Schwester?«
Betretenes Schweigen durchfuhr den Raum.
›Nun ja‹, bemerkte Blasius richtig, ›dann bleiben wir
doch nicht hier.‹
Die Pflegerin beendete eilig ihre Arbeit am Gipsfuß
und verließ sichtlich beleidigt das Zimmer. Als sich
hinter ihr die Tür schloss, wurde Pit schlagartig freundlicher und wandte sich wieder Blasius zu. »Komm, wir
müssen los!«
Blasius Mannhaupt fühlte sich überrumpelt. Er hob
die Arme und bat somit um Einhalt.
»Wo willst du denn hin?«, fragte er sogleich und
befürchtete: ›Der will mit mir doch nicht etwa nach
Frankfurt?‹
»Nach Frankfurt, ich muss eine wichtige Lieferung
abgeben«, erklärte Pit, »heute noch!«
›War ja klar. Frankfurt. Heute noch? Hat der mal auf
die Uhr geschaut?‹
»Heute noch? Wir haben mittlerweile nach 19 Uhr.
Bis wir da sind, hat da sowieso kein Laden mehr auf.
Und was sollte das Um-Leben-und-Tod-Geschwafel?«
Blasius wollte es nun wissen.
»Ein Laden?«, Pit runzelte verwundert die Stirn.
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Ich hätte es ahnen müssen, dass ich meine meine blöde
Fresse nicht halten konnte. Wäre ja auch das erste Mal
gewesen. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich in meinem
Dämmerzustand so einen Mist erzählt hatte. Aber was
sollte ich machen? Er sollte es eigentlich nicht wissen,
aber es entsprach der Wahrheit. Es ging tatsächlich um
Leben und Tod. Blasius weckte in mir den letzten Funken
Hoffnung, dass alles noch gut ausgehen würde, obwohl
er nicht einmal im Ansatz ahnte, wohin ich wollte. Ein
Laden! Dass ich nicht lache …
»Hör zu, ich erklär dir alles, wenn wir auf dem Weg
sind, okay?«
Blasius bemerkte, wie der Mann versuchte, ihn auf
seine Seite zu ziehen, und der Blondierte flüsterte wieder: »Es ist wirklich enorm wichtig für mich!«
Blasius blickte seinem Gegenüber starr in die Augen.
Er erkannte nervöses und zugleich ängstliches Zucken.
Ein Geheimnis umgab diesen Mann, das nicht nach
dem üblichen Leben roch, das Blasius kannte. Er spürte,
dass da etwas Gefährliches zu drohen schien, wenn er
diesem Mann nicht half.
»Bitte!«, bekräftigte der Mann mit dem Ziegenbart,
»ich schaffe das nicht alleine.«
Er drehte seinen Kopf zu seinem Gipsbein und
blickte enttäuscht. Mit diesem Fuß konnte er sicherlich
nicht den Mustang fahren, das stand fest. Blasius Mannhaupt sah ein, dass sein Gegenüber auf Unterstützung
angewiesen war. Nur konnte Blasius noch nicht beurteilen, ob er ihm diese Hilfe anbieten wollte.
»Gehen wir?«, fragte Pit noch einmal.
»Ich muss erst wissen wohin«, forderte Blasius überzeugend, »vorher geht gar nichts!«
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Pit flüsterte, als würden sie belauscht werden, obwohl
offensichtlich niemand den Raum mit ihnen teilte: »Zu
Barkley, nach Frankfurt auf die Kaiserstraße!«
›Barkley!‹, dachte Blasius, ›hört sich gruselig an.‹
Natürlich hieß in Heftrich niemand Barkley oder so
ähnlich. Solche Namen kannte Blasius nur aus Spielfilmen. Er musste sich selbst eingestehen, dass es in ihm
eine Art innere Spannung auslöste, als er daran dachte,
eventuell auf diesen ominösen Barkley zu treffen.
»Also, was ist nun?«, fragte Pit.
Blasius hatte Interesse an der Sache gefunden.
»Ich muss erst den Wagen holen«, antwortete er.
Der Mann mit dem Gipsfuß schrak auf: »Den Wagen
holen? Wo ist der denn, zum Geier? Ich hatte dir doch
den Schlüssel gegeben.«
»Ja, na klar, ich habe den Mustang auch in unserem
Hof geparkt.«
»Na, dann lass uns da hinfahren!«, forderte Pit.
Glücklicherweise hatte Blasius eine glaubhafte Ausrede: »Ohne zweiten Helm kann ich dich nicht mitnehmen. Bin nur mit dem Moped da!«
»Nur mit dem … was? Moped? Was bist du denn für
ein Typ?«, wunderte sich Pit, vermied es jedoch
bewusst, noch abfälliger über Blasius zu urteilen, denn
er war ja auf ihn angewiesen.
Blasius versicherte Pit, dass er mit dem Mustang so
schnell wie möglich wieder im Krankenhaus sein würde.
»Ich bin umgehend wieder hier.«
Der junge Mannhaupt ahnte, dass Pit kaum eine Wahl
hatte, als auf ihn zu warten. Blasius machte ohnehin den
Eindruck eines ganz braven Dörflers. Er wirkte auf den
Städter vertrauenswürdig, deswegen wollte Pit ihm
Glauben schenken. Jedoch glaubte sich Blasius in
diesem Fall noch nicht mal selbst.
›Komme ich wirklich zurück?‹
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Er war in höchstem Maße verunsichert. Was sollte er
nur tun? In den 25 Minuten, die er benötigte, um wieder
auf dem heimischen Hof anzukommen, dachte Blasius
nach. Die Situation beängstigte ihn.
›Soll ich dem Mann helfen, oder soll ich einfach die
Polizei das Ganze regeln lassen?‹, fuhr es Blasius immer
wieder durch den Kopf. ›Was tue ich nur? Soll ich mitfahren? Nach Frankfurt? Zu Barkley?‹
Ich an Blasius’ Stelle hätte mir auf keinen Fall
geholfen. Ja, wie bescheuert muss man denn sein, einer
so zwielichtigen Person wie mir zu helfen? Nee, im besten Falle hätte ich mir den Wagen vor die Klinik gestellt
und hätte mich verpisst. Blasius war aber nicht ich, denn
er witterte sicherlich endlich mal ein kleines Abenteuer
für sein, sagen wir, überschaubares Leben …
Da lag er, der Koffer.
Als Blasius den Kofferraum des Mustangs öffnete, sah
er ihn. Nun hatte Blasius ihn gefunden und vor sich.
Ein mit braunem Leder überzogener Aktenkoffer. Qualitativ sicher nicht sehr hochwertig, aber er tat, was er
tun sollte.
Gedankenverloren betrachtete Blasius den geheimnisvollen Koffer.
Da rief seine Mutter aus dem Küchenfenster: »Blasius,
komm rein, du hast noch nichts gegessen!«
›Boah, jetzt nervt die Alte aber!‹ Blasius erschrak bei
diesem Gedanken und wunderte sich über sich selbst.
›Alte?‹
Wenn er den Wagen nach Idstein bringen würde, um
dem Fremden zu helfen und mit ihm nach Frankfurt zu
fahren, dann könnte niemand wissen, was an diesem
Tag noch alles passierte. Er war sich unschlüssig.
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›Soll ich nun die blaue oder die rote Pille nehmen?‹,
dachte er nach, so wie ›Neo‹ in Blasius’ Lieblingsfilm,
›die blaue oder die rote Pille?‹
Letzte Woche noch wählte er vor dem Bildschirm die
rote Kapsel und hätte sich so für die tiefsten Tiefen des
Kaninchenbaus entschieden.
»Blasius! Essen! Bitte!«, hörte er noch einmal seine
Mutter rufen.
›Nein‹, sagte er sich, ›heute will ich mir ansehen, was
die Kaninchen machen.‹
Blasius blieb in seinem Abenteuer und wählte die rote
Pille beziehungsweise den roten Mustang. Nachdem er
den Kofferraum des Wagens zuschlug, eilte er durchs
Haus in sein Stockwerk.
Seine Mutter rief von unten herauf: »Blasius, was
machst du denn noch da oben?«
Nun wollte Blasius eine Sicherheit einbauen - für seine
Nerven. Er legte Dörte in einem Umschlag eine Nachricht auf seinen Schreibtisch. Dörte würde die Nachricht sicher finden - früher oder später. Blasius wusste
nicht weswegen, aber diese Nachricht beruhigte ihn
enorm.
Für einen Moment dachte ich, es wäre alles aus und
der Mistkerl hätte sich alles unter den Nagel gerissen.
Ich habe mir schon ausgemalt, wie ich Blasius fertigmachen würde. Über mich selbst geärgert hab ich mich,
dass ich meine Medikamente nicht genommen hatte, dass
mir der Scheiß mit dem Fuß passiert war. Wie konnte ich
nur so dämlich sein? Da stand ich nun vor dieser
bekloppten Klinik irgendwo im Taunus, und der mir
vollkommen fremde Typ kam einfach nicht bei …
Als der Mustang um die Ecke bog, um auf den Hof
der Unfallklinik zu fahren, fiel Pit ein Stein vom nervös
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schlagenden Herzen. Das konnte Blasius ihm sogar im
Dämmerlicht der Krankenhausbeleuchtung ansehen.
Der Heftricher griff noch schnell nach seinem Mobiltelefon in seiner Hosentasche. Er schaltete es ab.
›Wenn ich ungestört bleibe, ist das sicher von Vorteil‹,
dachte Blasius.
Der Mann mit den Krücken sprang von der Bank, auf
der er saß, und humpelte dem Wagen entgegen. Er hatte
es offenkundig eilig, öffnete schnell die Beifahrertür und
setzte sich in das Auto zu Blasius.
»Danke, dass du gekommen bist!«, sagte Pit. »Also, wir
müssen nach Frankfurt. Ab! Auf die Autobahn! Kennst
du den Weg?«
»Japp!«, erwiderte Blasius kurz und fuhr los.
›Dann schauen wir mal, was der Kaninchenbau so zu
bieten hat.‹
Bereits nach wenigen Minuten befanden sie sich auf
der A3, und Blasius drückte ordentlich aufs Gas. Pit
wollte es so. Im Inneren drängte Blasius darauf, mehr
über diese Fahrt zu erfahren.
›Ich muss langsam wissen, was auf mich zukommen
wird.‹
So richtig traute sich Blasius Mannhaupt jedoch nicht,
Pit zu fragen, denn auch dieser schwieg zunächst. Blasius bemerkte, dass Pit nachdachte - ihn beschäftigte
etwas. ›Was der jetzt wohl denkt?‹
Erst nach etwa 20 Minuten brach Pit die Stille: »Wie
heißt du, Mann?«
Blasius schaute Pit verwundert an: »Blasius, und du?«
»Blasius, ja?«
Blasius nickte.
›Ja, Blasius!‹, dachte der Dörfler und fühlte, dass es in
seinem Beifahrer vor Vergnügen brodelte – das
Schmunzeln in seinem Gesicht war klar zu erkennen.
»Ernsthaft?«, fragte Pit nach.
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Als Blasius nickte, prustete Pit los. »Ach du Scheiße,
Mann. Hast du deine Eltern wenigstens verklagt?«
Der junge Mannhaupt wollte die Komik der Situation
nicht erkennen und blieb ernst. Der Mann mit dem
Ziegenbart lachte lauthals, aber bemerkte schnell, dass
dies seinen Helfer störte. Er beruhigte sich nach Luft
schnappend. »Sorry! War nicht so gemeint!«
Blasius zuckte mit den Augenbrauen, als wollte er
sagen: »Kein Problem!«
Er gab jedoch keinen Ton von sich.
»Pit!« Der blondierte Beifahrer streckte seine Hand
aus, um die persönliche Bekanntmachung zu vollenden.
Blasius, der solche Gefühlsausbrüche bei der Offenbarung seines Vornamens schon gewohnt war, blickte
herüber und zögerte für eine Sekunde.
Pit konnte die Gedanken seines Fahrers lesen: ›Ich
muss den Scheiß hier nicht machen. Also, sei freundlich
und geh mir nicht auf die Nerven!‹
Blasius packte dann die Hand und schüttelte sie mit
einem festen Griff, während seine Linke am Lenkrad
blieb.
»Danke, Mann«, sagte Pit sogleich.
Blasius nickte wieder.
»Blasius?«, fragte Pit nochmals. »Echt wahr?«
Blasius nickte abermals wortlos.
Bei der Gelegenheit fasste sich Blasius ein Herz, auch
um das Thema von seinem Vornamen abzulenken: »Sag
mal, wo fahren wir denn hin?«
»Frankfurt, hab ich doch gesagt!«, sagte Pit, glaubte
aber nicht eine Sekunde, dass Blasius sich mit dieser
Aussage zufrieden geben würde.
Blasius schaute möglichst streng: »Erzähl mir keinen
Scheiß, oder ich fahr rechts ran und keinen Meter
weiter.«
Pit atmete tief durch.
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»Kennst du Barkley?«, fragte Pit.
»Nein, ich kenne keinen Barkley.«
Jedem kleinen Ganoven wäre das Herz nun in die
Hose gerutscht. Keiner will mit Barkley mehr zu tun
haben, als unbedingt notwendig, und schon gar nicht,
wenn es um Leben und Tod ging. Daran erkannte ich,
dass Blasius ein unbeschriebenes Blatt sein musste.
Barkley ist ein harter Hund, oder besser, seine Leute
sind harte Hunde, die für ihn die Drecksarbeit machen.
Barkley hat sicherlich noch keinem selbst ein Haar
gekrümmt. Er lässt krümmen. Barkley hatte ein paar
Puffs, machte ab und an seine Drogendeals und sicherlich die einen oder anderen heißen Geschäfte – manchmal auch mit mir. Er hatte aber eine weiße Weste - vor
dem Gesetz. Barkley war sicher nicht die größte Nummer in Frankfurt, war aber groß genug für mich - und
schon lange für Blasius …
›Woher soll ich in meinem kleinen Dorf jemals von
diesem Barkley gehört haben?‹, dachte Blasius Mannhaupt. ›Natürlich sagt mir dieser Name nichts.‹
»Barkley ist ein Puffbesitzer in Frankfurt aus der
ehrenwerten Kaiserstraße.« Bei diesem Worten erstarrte
Blasius, aber Pit berichtete weiter. »Dem schulde ich
etwas Knete. Die muss ich ihm noch heute Abend
vorbeibringen, sonst passieren unschöne Dinge.«
»Unschöne Dinge?«
Pit blickte ungläubig zu Blasius herüber: »Ja, unschöne
Dinge!«
»Was meinst du mit unschönen Dingen?«, fragte Blasius, der jedoch ahnte, was tatsächlich Gegenstand des
Gespräches war.
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»Unschöne Dinge sind, äh, unschöne Dinge eben!« Pit
rang nach Worten. Er wollte seinen Helfer, auf den er
nun angewiesen war, nicht verschrecken.
»Leben-und-Tod-Dinge«, versuchte Blasius, sich
selbst die Frage zu beantworten.
Pit nickte: »Ja, genau, Leben-und-Tod-Dinge! Richtig!«
›Oh Mann, hoffentlich geht der Schuss mit dem blöden Kaninchenbau nicht nach hinten los‹, dachte der
junge Dörfler, und er bekam plötzlich Respekt vor den
›Unschönen Dingen‹, die bislang so gar nicht in seinem
Leben vorkamen.
Jedoch wollte Blasius mehr wissen. »Erzähl es mir!«
»Was?« Pit versuchte, sich nach Kräften dagegen zu
sträuben, die Wahrheit zu sagen.
»Ich will wissen, warum du ihm Geld schuldest.«
Natürlich hätte Pit nun alles Mögliche sagen können.
Er war es gewohnt, nahezu auf Knopfdruck das Blaue
vom Himmel herunterzulügen. Doch er mochte diesen
Dorfmenschen irgendwie. Wahrscheinlich tat es dem
Ganoven Pit auch gut, sich mal seine Sorgen von der
Seele zu reden. Blasius erfuhr weswegen dieser Barkley
Geld forderte.
»Deswegen der Koffer hinten drin?«, meinte anschließend der junge Mannhaupt. Blasius erkannte, wie er Pit
mit dieser Frage überraschte.
»Liegt er noch hinten drin?«, wollte Pit sofort aufgeregt wissen. Als Blasius stumm nickte, hakte Pit angespannt nach: »Hast du ihn geöffnet?«
»M-mmh! Nein! Hab ich nicht. Ich habe nichts angerührt!«, beteuerte Blasius, der Pit keines Blickes würdigte.
»Gut!«, sagte Pit und nahm eines seiner Medikamente,
die er im Krankenhaus erhalten hatte – einen weiteren
Anfall konnte der Mann sich jetzt nicht leisten.
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___KAPITEL 1_ _ Alwin Eichhorn hasste den Regen, weil
er das Wasser hasste. Als ihm an diesem grauen Novembermorgen die Tropfen das Gesicht herunterrannen,
musste er wieder an seinen Vater zurückdenken und an
den denkwürdigen Tag, als dieser ihm das Schwimmen
beibringen wollte. So triefnass, wie Alwin nun war,
glaubte er fast wieder das Chlorwasser zu spüren, das in
seine Lunge eingedrungen war. Kaum sieben Jahre alt
war er in dem 1,80 Meter tiefen Schwimmbecken hinabgesunken. Er fühlte beinahe wieder das Pochen in seinem Kopf, das Gefühl, dieser würde jeden Moment
explodieren.
Nun stand er hier im Regen und hatte nicht den Mut,
einen Schritt weiterzugehen. Er betrachtete das Schild
an der Tür:
›Alwin Eichhorn, Rechtsanwalt‹, dachte Alwin. ›Bald
steht mein Name unter diesem Emil Schimmel.‹
Alwin fasste sich ein Herz und tat den letzten Schritt.
Er ging durch die Tür und lief die Treppe hinauf in den
ersten Stock. Nicht den Aufzug. Alwin hasste Aufzüge.
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Ohne zu klingeln, trat er ein. ›Ich gehöre ja jetzt zum
Haus.‹
Eine ältere Dame um die 60, die an einem rein optisch
hundert Jahre alten Schreibtisch saß, musterte ihn mit
einem unverkennbar missbilligenden Blick.
»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«, fragte sie mit
nasaler Stimme und einem kaum zu überhörenden
strengen Unterton. Dabei hoben und senkten sich die
tiefen Falten in ihrem Gesicht, als würde man ein Stück
Papier zusammenknüllen und wieder auseinanderfalten.
Alwin räusperte sich. »Mein Name ist Alwin Eichhorn«, sagte er mit trotz des Räusperns noch belegter
Stimme. »Ich fange heute hier an.«
Die strenge Miene der Frau erhellte sich. »Hach, der
neue Anwalt«, sagte sie mit einer Freude, die so gekünstelt wirkte, dass es Alwin fast übel wurde. »Ich hätte
Sie gar nicht wiedererkannt. Sie waren ja einer der letzten Bewerber, nicht wahr?«
»Ich war … vor fünf Wochen zum Bewerbungsgespräch hier.«
»Richtig, richtig! Ich weiß schon wieder!«
»Ist Herr Dr. Bier schon hier? Er meinte, ich solle so
gegen …«
»Aber nein!«, schallte es dem Geräusch einer Kreissäge nicht unähnlich aus dem Munde Alwins Gegenübers. »Vor halb zehn ist Herr Dr. Bier selten im Büro.
Im Übrigen ist er heute zu Gericht. Er wird wohl erst
heute Nachmittag wieder im Hause sein.«
»Soll ich solange …«, begann Alwin.
»Ich führe Sie derweil einmal herum und erkläre
Ihnen alles«, unterbrach ihn die Kreissäge in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Zuallererst darf
ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Sybille Friedvoll, Rechtsfachwirtin.«
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›Friedvoll?‹, dachte Alwin. ›Nomen est eben doch
nicht immer omen.‹
»Ich bin sozusagen die Chefsekretärin hier«, fuhr Frau
Friedvoll fort. »Ich arbeite vor allem für Herrn Dr. Bier
persönlich und leite die anderen Sekretärinnen an.«
Bei dem Wort ›Persönlich‹ hob sich ihre magere Brust
fast bis zu ihrem Doppelkinn – was keine Kunst war, da
dieses fast bis zum Kehlkopf hing.
»Wie viele Sekretärinnen sind denn noch im …«,
machte Alwin einen weiteren Versuch, zu Wort zu
kommen.
»Außer mir sind noch zwei Sekretärinnen hier
beschäftigt. Fräulein Tanja Amper, die für Herrn
Rechtsanwalt Schimmel arbeitet und Fräulein Verena
Klein, die für Sie arbeiten wird. Sie hat auch für Ihren
Vorgänger, Herrn Rechtsanwalt König gearbeitet.«
›Fräulein? Hat sie wirklich Fräulein gesagt?‹
»Ich werde bitteschön mit Frau Friedvoll angesprochen, die anderen Sekretärinnen können Sie selbstverständlich mit Vornamen ansprechen. Herr Dr. Bier
und ich haben das immer so gehalten.«
»Sie arbeiten wohl schon lange für Herrn Dr. Bier?«
›Geschafft‹, dachte Alwin. ›Einen Satz in Ihrer Gegenwart zu Ende gebracht.‹
»Schon seit 30 Jahren«, sagte Frau Friedvoll stolz.
Brust traf abermals Doppelkinn. »Im Prinzip, seit er
diese Kanzlei hier gegründet hat.«
»Na, dann sind Sie ja praktisch von Anfang an dabei.«
»Sie sagen es – und damals ... hatte er nur mich«, sagte
sie mit einem verträumten Unterton.
Alwin beschloss, sich gleich gut mit ihr zu stellen.
»Da kann ich mich ja glücklich schätzen, mit so einer
erfahrenen Kraft wie Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen«, meinte er und erstickte fast an dem Schleim, den er
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in seiner Kehle zu spüren glaubte. »Schließlich fange ich
gerade erst an und möchte keine Fehler machen.«
»Weiß ich doch, weiß ich doch. Sie haben erst seit
zwei Monaten das zweite Staatsexamen. Sie haben hier
in München an der Ludwig-Maximilians-Universität studiert und zwei Prädikatsexamina geschrieben. Als Wahlfach hatten Sie Rechtsphilosophie belegt – was Ihnen
das hier bringen soll, weiß ich auch nicht, aber lassen
wir das –, und Sie waren in keiner Studentenverbindung.
Zum Strafrecht sind Sie wohl erst sehr spät gekommen,
schließlich haben Sie all Ihre Praktika in Zivilrechtskanzleien abgelegt. Immerhin aber waren Sie schnell –
Sie sind erst 26 Jahre alt. Ziemlich jung für einen
Rechtsanwalt.«
»Hm«, meinte Alwin und bemühte sich, gleichgültig
zu klingen. »Sie erinnern sich scheinbar doch noch an
mich.«
»Ich bin Herrn Dr. Biers rechte Hand«, meinte Frau
Friedvoll mit einem süffisanten Lächeln. »Ich weiß alles,
was wichtig ist. Ich habe ihm auch empfohlen, Sie einzustellen. Sie machen einen durchsetzungsfähigen Eindruck. Das ist wichtig in einer Kanzlei für Strafverteidigung.«
Darauf wusste Alwin nun wirklich nichts mehr zu
erwidern.
»Nun denn«, meinte Frau Friedvoll. »Dann will ich Sie
mal reihum vorstellen. Wenn Sie mir gleich in den
Nebenraum folgen, dort sitzen die anderen Sekretärinnen.«
Alwin folgte ihr. An einem großen Tisch, der wesentlich moderner aussah als der von Frau Friedvoll, saßen
zwei junge Frauen von etwa Anfang 20. Die eine war
brünett und hatte ihre Haare zu einem streng wirkenden
Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war genau wie
Frau Friedvoll sehr konservativ gekleidet. So konser10
vativ, dass Alwin sich bei ihrem Anblick vorsichtshalber
noch einmal die eigene Krawatte zurechtzog. Sie trug
ein schwarzes Damenjackett mit einer weißen Rüschenbluse darunter, einen schwarzen Rock, der weit über
ihre Knie ging und eine schwarze Feinstrumpfhose.
Ganz anders ihre Kollegin. Sie hatte mittellange, blonde
Haare, die ihr offen über die Schultern hingen. Sie war
mit einem schlichten grauen Damen-T-Shirt mit V-Ausschnitt bekleidet und einer knallrosafarbenen Stoffhose.
Nun bereute Alwin, dass er in ihrer Gegenwart überhaupt eine Krawatte trug.
»Die Dame zur Linken«, sagte Frau Friedvoll und wies
auf die konservativ Gekleidete, »ist Fräulein Tanja Amper, die Sekretärin von Herrn Schimmel. Die Dame zur
Rechten ist Fräulein Verena Klein, die für Sie arbeiten
wird.«
Alwin schüttelte beiden sogleich höflich die Hand.
»Fräulein Verena«, fügte Frau Friedvoll mit einem
strengen Unterton hinzu, »ist sich leider manchmal nicht
ganz über die Kleiderordnung in einer renommierten
Anwaltskanzlei bewusst, wie Sie sicher schon bemerkt
haben. Ihr Vorgänger, Herr König, hat sie hierin immer
gewähren lassen. Ich hoffe sehr, Sie, Herr Eichhorn, lassen ihr in dieser Hinsicht nicht so viel durchgehen.«
Alwin räusperte sich zum zweiten Mal an diesem
Morgen.
»Nun ja«, meinte er, »vielleicht sollte ich mich darüber
später mit … Fräulein Verena … unterhalten. Wen …
können Sie mir denn noch vorstellen?«
»Oh, da wäre natürlich noch Herr Schimmel«, meinte
Frau Friedvoll. »Sie, Fräulein Tanja, sollten uns gleich
folgen, da Sie mit Herrn Schimmel noch seinen Nachmittagstermin vorbereiten müssen. Du, Verena«, die
Anrede an Letztere erfolgte in einem weitaus unfreundlicheren Ton, »kommst in fünf Minuten in Herrn Eich11
horns Büro und stellst dich ihm angemessen vor, sobald
ich mit ihm bei Herrn Schimmel war.«
›Hab ich da ein Bitte überhört?‹, fragte sich Alwin.
Beide Sekretärinnen nickten artig auf Frau Friedvolls
Befehl hin. Fräulein Tanja erhob sich sogleich und
folgte Frau Friedvoll und Alwin. Nachdem Frau
Friedvoll an einer Tür Halt gemacht und geklopft hatte,
führte sie Alwin hinein.
Zunächst liefen sie gegen eine Wand aus Zigarettenrauch. Hinter einem schäbigen Schreibtisch, der an eine
alte Schulbank erinnerte, saß ein Mann, den Alwin auf
Mitte 30 schätzte. Er hatte schütteres, verschwitztes,
semmelblondes Haar und einen hochroten Kopf. Auf
seiner Stirn standen Schweißperlen. In seinen Mundwinkeln hing eine brennende Zigarette, die schon weit
abgebrannt, aber noch nicht abgeascht war. Er trug ein
Hemd, das in sauberem Zustand wohl weiß gewesen
sein konnte und eine beige Krawatte, die sehr locker um
seinen dicken Hals hing. Sein Bauch sprengte fast die
äußerst gefährdet aussehenden Knöpfe seines ›weißen‹
Hemdes. Sein Achselschweiß reichte fast bis zu den
Brustwarzen.
»Nein, Herr Weidenkeller!«, brüllte er gerade mit der
rasselnden Stimme eines Kettenrauchers in den Telefonhörer. »Ihr Sohn kommt nicht vor der Hauptverhandlung auf freien Fuß. Ich kann Ihnen doch nicht
jeden Tag dasselbe sagen. Was? Ja, ich weiß, dass Ihre
Frau Angst um ihn hat! Aber dagegen kann ich auch
nichts machen. Ich kann schließlich keine Wunder vollbringen. Ja. Ja, bis nächste Woche. Wiederhören.«
Als er den Hörer energisch auf die Gabel knallte, fiel
die Asche seiner Zigarette endlich herunter – mitten auf
die beige Krawatte. Er schien es nicht einmal zu bemerken.
12
»Ja, Frau Friedvoll?«, fragte er geistesabwesend, während er sich eine Akte von dem immensen, schon sehr
schief stehenden Stapel auf seinem Schreibtisch nahm.
»Ich möchte Ihnen Herrn Eichhorn vorstellen, Herr
Schimmel«, sagte Frau Friedvoll. »Er fängt heute bei uns
an.«
Herr Schimmel blickte auf und sah Alwin an. Alwin
erwiderte seinen Blick, nachdem er es geschafft hatte,
selbigen endlich von dem überquellenden Aschenbecher
auf Schimmels Schreibtisch abzuwenden.
»Freut mich. Freut mich«, sagte Schimmel, sprang auf
und reichte Alwin die Hand. »Emil Schimmel. Endlich
wieder Verstärkung für unseren Laden, was, Frau Friedvoll?«
»Oh ja«, meinte Frau Friedvoll, wobei sie sich bemühte, Schimmel nicht anzusehen. »Herr Eichhorn wird
im Büro neben Ihnen sitzen. Ich habe Ihnen auch Fräulein Tanja gleich mitgebracht, damit Sie Ihre Nachmittagsbesprechung vorbereiten können.«
»Richtig, richtig«, meinte Schimmel. »Nun, dann einen
guten Start, Herr Kollege. Tanja, kommen Sie doch
gleich mal her.«
Alwin folgte Frau Friedvoll und holte tief Luft, als sie
wieder auf dem rauchfreien Flur standen. Frau Friedvoll
öffnete die Tür des Nebenbüros.
»Dies ist Ihr Reich, Herr Eichhorn«, sagte sie feierlich.
Alwins ›Reich‹ war ein kleiner Raum mit einem
Schreibtisch, der noch schäbiger war als der von Schimmel und einem alten Drehstuhl. Ein paar Regale befanden sich darin, die einem unseriösen Antiquariat zu
entstammen schienen und mit verstaubten Aktenordnern überfüllt waren. Eine welke Zimmerpflanze ebenfalls und ein Laptop, der scheinbar noch aus der
Pionierzeit des Computerzeitalters stammte.
»Wie nett«, meinte Alwin zurückhaltend.
13
»Die drei Akten auf dem Schreibtisch sollen Sie sich
schon einmal ansehen, bis Herr Dr. Bier kommt. Er
wird dann die Fälle mit Ihnen durchsprechen. Fräulein
Verena wird gleich bei Ihnen sein.«
»Vielen Dank, Frau Friedvoll«, sagte Alwin, woraufhin
sie sich entfernte und die Tür hinter sich schloss.
Alwin warf einen weiteren Rundumblick auf sein
neues ›Reich‹, seufzte tief und ließ sich in seinen Stuhl
fallen, der laut knarzte. Ein paar Sekunden später
klopfte es.
»Herein«, sagte Alwin.
Verena Klein betrat sein Büro. »Hallo, Herr Eichhorn«, sagte sie. »Ich wollte mich noch mal richtig vorstellen. Ich bin Verena und werde in Zukunft für Sie
arbeiten.«
»Sehr angenehm«, meinte Alwin und schüttelte ihr
nochmals die Hand. »Setzen Sie sich doch.«
Verena nahm vor seinem Schreibtisch Platz.
»Ich bin noch etwas verwirrt bezüglich der Anrede
hier«, meinte Alwin. »Wie wollen Sie angesprochen
werden? Frau oder Fräulein Klein, Fräulein Verena …?«
»Einfach Verena. Und Sie können mich ruhig duzen.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Alwin irritiert. »Wie alt sind
Sie denn?«
»22.«
»Kein Alter, in dem man noch geduzt werden sollte.«
»Tut hier trotzdem jeder. Dr. Bier, Frau Friedvoll und
auch Herr Schimmel, er hat sich insoweit angepasst. Ich
war schon als Lehrmädchen hier, mit 16. Das ist einfach
erhalten geblieben.«
»Hm, ist mir trotzdem ein bisschen unangenehm.
Wollen wir uns dann nicht besser beide duzen?«
»Auf keinen Fall!«, sagte sie mit gespielter Entrüstung.
»Frau Friedvoll würde mich ohrfeigen, wenn ich einen
Anwalt duzen würde. Ich würd’s ihr zutrauen.«
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»Nun, dann machen wir einen Kompromiss. Ich duze
dich, und du duzt mich nur dann, wenn wir allein sind.«
»Das ist ein guter Kompromiss«, meinte Verena und
schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln.
»Nenn mich einfach Alwin. Frau Friedvoll hat wohl
sehr großen Einfluss auf Herrn Dr. Bier?«
»Mach dir keine Illusionen über Frau Friedvoll«, sagte
Verena und rollte mit den Augen. »Sie ist hier der Boss.
Dr. Bier stellt ein, wen sie will, und er entlässt, wen sie
will.«
»Wie kommt es dann«, meinte Alwin, »dass du dich
mit deiner … Kleiderordnung durchgesetzt hast?«
Verena lachte herzlich und hielt sich die Hand vor
den Mund.
»Meine letzte Bastion gegen die Alte«, meinte sie. »Sie
flippt fast aus, wenn ich in so einem Aufzug zur Arbeit
komme. Ich mach es allerdings nur manchmal, um sie
zu ärgern.«
»Und sie lässt dir das durchgehen? Ich denke, sie ist
der Boss hier?«
»Ist sie auch«, meinte sie mit einem Augenzwinkern.
»Aber Dr. Bier hat im Laufe der Zeit einfach einen
Narren an mir gefressen und lässt mich gewähren.
Dagegen kann nicht einmal sie etwas machen. Ich hab
mich da immer nach Herrn König, deinem Vorgänger,
gerichtet. Er hatte kein Problem damit, wenn ich
manchmal so gekommen bin. Wenn du also möchtest,
dass ich mich konservativer kleide – du bist jetzt mein
Chef.«
»Nun, ich gebe zu, die rosa Hose ist etwas gewöhnungsbedürftig. Aber im Prinzip kannst du kommen,
wie du willst.«
»Danke«, sagte sie und schenkte ihm abermals das
zauberhafte Lächeln. »Das wird die alte Friedvoll in den
Wahnsinn treiben. Aber jetzt lass ich dich besser mit
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deinen Akten allein. Herr Dr. Bier wird Wert darauf
legen, dass du heute Nachmittag Bescheid weißt.«
»Alles klar, dann mach ich mich mal an die Arbeit«,
seufzte Alwin und nahm sich die erste der drei roten
Akten.
Als sie hinausging, erhaschte er noch einen flüchtigen
Blick auf ihren Hintern und kam zu dem Schluss, dass
er sich richtig entschieden hatte. ›Er ist zu hübsch, um
in so konservative Kleidung wie die von Fräulein Tanja
gesteckt zu werden.‹
Zufrieden mit seiner ersten wichtigen Entscheidung
als Rechtsanwalt schlug er eine Akte auf.
___KAPITEL 2 _ Etwa drei Stunden später, Alwin hatte
die dritte Akte zur Hälfte durch, klopfte es an seiner
Tür. Schimmel steckte seinen Kopf in den Raum hinein.
»Wie sieht’s aus, Kollege?«, fragte er, während der
Schweiß von seiner Stirn auf Alwins Teppich tropfte.
»Zeit für ein gemeinsames Mittagessen?«
»Nichts lieber als das«, sagte Alwin und legte die Akte
weg. »Ich bin für jede Ablenkung dankbar.«
»Wunderbar. Es gibt einen netten Italiener hier, gleich
um die Ecke.«
Alwin warf sich seinen Mantel über und ging Schimmel hinterher, der für einen Mann seines Umfangs ein
faszinierendes Tempo vorlegte.
»Sind Sie aus München?«, fragte Schimmel, als sie
unten auf die Straße traten.
»Ja«, meinte Alwin. »Ursprünglich aus Giesing, aber
jetzt wohn ich in Haidhausen.«
»Verheiratet?«
»Nein. Sie?«
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_FEBRUAR 2010_ Sophie bummelte durch die Kölner
Altstadt. Es wurde bereits dämmrig, und der kalte Wind ließ
lauter Atemwolken durch die Stadt tanzen. Die anderen Passanten stürmten mit gesenkten Köpfen an ihr vorbei. Jeder
versuchte, sein Ziel möglichst schnell zu erreichen, um dem
unangenehmen Wetter zu entfliehen. Sie erspähte einen
Laden, der schöne Wollmützen verkaufte. Sophie nahm die
Hände aus den Manteltaschen und betrat ihn. Doch so richtige Shoppinglust kam nicht auf. Sie schaute auf ihre Uhr. Es
war erst halb fünf. Joshua würde mit den anderen noch zwei
Stunden im Proberaum sein. Sophie dachte an den Morgen
zurück. Vergeblich hatte sie versucht, die Jungs davon zu
überzeugen, dass sie bei der Organisation des Streetteams
Hilfe brauchte.
»Leute, ich meine das ernst. Ihr müsst mich da einfach ein
bisschen mehr unterstützen«, müde blickte Sophie in die Gesichter der Jungs.
Sie saß mit ihnen um den Küchentisch herum. Die Reste
vom Frühstück zierten den robusten Holztisch. Die rotweiße
Tischdecke war Sophies Idee gewesen. Mittlerweile war sie
fleckig und hing schief vom Tisch herunter. In der Kaffeemaschine blubberte es eifrig.
»Das Streetteam zu leiten, ist echt viel Arbeit. Wir kriegen
täglich an die dreißig Bewerbungen, und ich muss sie alle
alleine lesen und bewerten«, fuhr sie ernst fort.
Unter dem Tisch kitzelte Joshua ihr Bein. Er war nicht besonders an dem Thema interessiert. Seine Hilfe bot er jedenfalls nicht an. Intensiv blickte sie ihren Freund an. »Joshua,
möchtest du vielleicht …«
»Hm? Ich? No way, meine Süße, ich passe.« Er hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
Sophie zog beleidigt eine Schnute.
»Guck mich nicht so an«, sagte Jo sanft. »Ich hab mit den
Fanmails, der Webseite und dem Newsletter echt schon genug an der Backe. Aber Gott sei Dank bin ich ja nicht der
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Einzige hier.« Mit großen Augen blickte er von einem zum
anderen.
Tom schüttelte den Kopf und gab sich selbst mit Daumen
und Zeigefinger einen Kopfschuss. Sophie grunzte missbilligend.
»Ich weiß nicht mal, was du da genau machst und wozu das
Streetteam wirklich da ist. Sind da geile Ischen?« Sven war
auch keine Hilfe und zupfte die Tischdecke noch schiefer.
»Ich würde dir ja echt gerne helfen, aber ich schreibe derzeit wirklich intensiv an neuen Songs. Wenn ich da jetzt nicht
dranbleibe, verliere ich den Faden.« Somit schied auch Marco
aus.
Sophie seufzte. Alle Köpfe drehten sich zu Nick. Sie blickte
ihn mit großen Hundeaugen an. »Schon gut, schon gut. Kein
Grund, hier gleich den Welpenangriff zu starten. Ich werde
dir helfen. Sag mir einfach, was ich tun kann.« Er stand auf,
um den fertigen Kaffee zu holen. Glücklich sprang Sophie
von ihrem Stuhl und umarmte den Bassisten. Nachdem er
sich neben sie gesetzt hatte, klappte sie den Laptop auf und
zeigte ihm, was er tun konnte. Die anderen verließen die
Küche und widmeten sich ihren eigenen Aufgaben.
Nachdem Nicklas über alles ins Bild gesetzt war, lobte er
Sophies Arbeit. Er war beeindruckt. Sie hatte sich sehr viel
Mühe gegeben. »Danach werden die E-Mail-Adressen in
diesen Verteiler hier hinzugefügt. Da schicke ich dann regelmäßig Anweisungen, News oder neue Termine per E-Mail an
alle Member und beauftrage sie mit der Werbung. Und so
funktioniert das Ganze dann«, beendete sie.
»Cool! Ich hab gar nicht gewusst, dass du das so gut organisiert hast. Eine tolle Sache. Schneeballprinzip.« Es war wirklich nicht selbstverständlich, dass sie das tat.
Sophie freute sich. »Die meisten denken, dass sie mit euch
in Kontakt stehen.«
»Ach, echt? Woran erkennst du das?«, wollte Nicklas wissen. Er schob den Laptop ein Stückchen beiseite.
Sophie grinste verschmitzt. »Das erkennt man einfach. Sie
schreiben eine Mail mit einer Frage, und ich schicke eine Ant6
wort. Sofort bedanken sie sich überschwänglich. Wenn ich
dann zum Beispiel ›keine Ursache‹ oder so zurück schreibe,
dann kommt wieder eine Nachricht, wo ganz beiläufig gefragt
wird, bei wem genau sie sich eigentlich bedanken.«
Nick lachte. »Tja, sie hoffen immer, dass wir uns tatsächlich
mit ihnen auseinander setzen.«
Sophie zuckte die Schultern. »Ich habe es ja auch gehofft.
Damals.« Sie trank einen Schluck Saft.
Nick legte seine Hand auf ihren Arm. »Dass Jo es damals
gemacht hat, war die beste Entscheidung. die er je getroffen
hat. Wir sind alle sehr froh, dass du hier bei uns bist.«
Dankend schaute Sophie ihn an.
»Wirklich Sophie, du bist so inspirierend für uns.«
Sie drückte seine Hand. »Danke, aber zurück an die Arbeit.«
Nach einer Weile kochte Nicklas eine Kanne Kaffee. Der
Duft lockte die anderen vier Jungs in die Küche. Josh schlenderte lässig zu Sophie auf die Eckbank am Küchentisch, umarmte sie fest und küsste sie. Seinen Haaren nach zu urteilen,
hatte er ein Nickerchen gemacht. »Na, meine Süße, hat Nick
sich ordentlich angestellt?« Er gähnte.
»Oh, ja, das hat er«, antwortete sie ernst. »Er stiehlt sich
jedenfalls nicht aus der Affäre.«
»Ach, komm schon …«, Jo küsste ihre Stirn, ihre Nase, ihre
Wangen und ihren Hals. »Ich mache doch genug andere
Sachen.«
Sophie konnte nicht lange auf ihn böse sein und lächelt ihn
besänftigt an.
»Habt ihr kein Zimmer für so etwas?« Tom setzte sich mit
seinem Becher an den Tisch. Josh drückte sich dichter an
Sophie heran. Er vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Atmete
tief ein. »Hm, wenn du wissen würdest, wie sie riecht und wie
sie schmeckt, könntest du auch nie damit aufhören.«
Tom würgte gekünstelt.
»Sei mal der Lady gegenüber nicht so unverschämt«, schaltete Marco sich ein.
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Tom trank einen Schluck Kaffee. »Bin ich nicht«, meinte er,
»ich habe mir nur gerade vorgestellt wie es sich anfühlen
würde, wenn Josh mich überall vollschlabbert.«
Die anderen Jungs mussten lachen, auch Sophie kicherte.
Tom trank noch einen Schluck Kaffee und schnupperte an
der Tasse. »Außerdem … riecht und schmeckt der Kaffee
auch wundervoll. Pass bloß auf, Joshi, dass ich nicht
versuche, an der Person zu naschen, die ihn gekocht hat.«
Sophie brach in lautes Lachen aus. Nicklas grinste schweigend und schaute in seinen Becher.
»Ach, ich wäre Julia wohl nicht Romeo genug?«, deutete
Tom Sophies Lachen gekränkt.
»Darüber habe ich wirklich noch nie nachgedacht«, antwortete Sophie noch immer kichernd. »Aber diesmal wurde
der Kaffee von Nicklas gekocht.«
Nun fingen alle an zu lachen.
»Na, das würde ich aber gerne mal sehen, wie du an ihm
naschst.« Josh wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln.
»Hä, hä«, äffte Tom die anderen nach, stand auf und nahm
seinen Becher mit. An der Tür drehte er sich noch einmal um
und meinte: »So gut schmeckt er nun auch nicht.«
»Was steht denn eigentlich die kommende Woche an?«,
fragte Sven, als sich alle wieder beruhigt hatten.
Nick öffnete den Wochenplan auf dem Laptop und schaute
sich die zweite Februarwoche an. »Also …«, begann er,
»nächsten Dienstag haben Sven und Tom das Radiointerview.
Am Mittwoch gehen Sven und ich zu diesem neuen Kindersender, und Donnerstag haben wir alle einen Pressetermin
mit dem Musikmagazin ›Visions‹. Die wollen einen Artikel
plus Fotostrecke. Das wird ein langer Tag.«
Sven stöhnte. »Ich hab wieder am meisten Stress.«
»Tja, das ist das Los des Frontmannes. Dafür finden dich ja
auch die meisten Weiber geil«, konterte Marco.
Sven winkte ab. »Wenn die wenigstens alle so geil wären …
ach, na ja.«
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»Nur keinen Neid. Marco und ich müssen dafür mit Mark
und der Booking Agentur gemeinsam die Tourdaten abstimmen. Es gibt wohl kaum etwas Langweiligeres«, warf Joshua
ein.
»Ach, kommt, Leute …«, munterte Sophie auf, »… eure
Tournee startet in drei Wochen. Zehn Wochen On Tour in
ganz Deutschland. Sogar in Luxemburg und in Österreich
wurdet ihr gebucht.«
»Vergiss die Schweiz nicht, Süße«, warf Jo ein.
»Genau! Das wird eure Zeit, ihr könnt euch aus zwei Alben
bedienen und eine total coole Show abliefern. Eure Proben
verliefen alle ohne Probleme. Die Vorbereitung schafft ihr
jetzt auch noch.«
Joshua schaute seine Freundin an. Er stand auf und zog sie
mit sich. »Ist sie nicht großartig?« Er gab ihr einen Klaps auf
den Hintern. »Ohne meine Süße wären wir echt ohne Motor.
Aber jetzt hab ich was vor, dass ich wirklich lieber auf dem
Zimmer mache.«
»Mensch, Jo …«, Sophie bekam einen roten Kopf.
Doch er klopfte ihr unbeeindruckt weiter auf das Gesäß
und schob sie vor sich durch die Küchentür.
Schließlich waren die Jungs zu ihrer Probe aufgebrochen.
Da Sophie sich zuhause langweilte, beschloss sie, in die Kölner Innenstadt zu fahren. Sie verließ den Laden mit den Mützen. Es war keine dabei, die ihr gefiel. Sophie war noch
immer etwas gekränkt, dass Joshua ihr nicht mit dem Streetteam helfen wollte. Sie hätte sich sehr gefreut, etwas mehr
Zeit mit ihm zu verbringen. Da die Tour kurz bevor stand,
merkte sie, dass es nicht immer nur schön war, mit einem
Rockstar zusammen zu sein. Sie kaufte sich einen warmen
Karamell Macchiato und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Bevor ihre Krankheit wirklich schlimm geworden war,
hatte sie sich einige Male vorgestellt wie es wohl sein könnte,
wenn aus dem E-Mail-Kontakt mit Joshua mehr werden würde. Wie es sein würde, bei einem Konzert in der Halle unter
den vielen Fans zu stehen, aber hinterher mit ihm nach Hause
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zu gehen. Wie es sein würde, wenn er sich nach einem tollen
Abend auf der Bühne abends im Bett an sie schmiegen würde. Wie es sich wohl anfühlen würde, seinen Freund in Zeitschriften, Magazinen und im Fernsehen zu sehen. Doch
nüchtern musste sie feststellen, dass es nicht unbedingt supertoll war. Josh war nach etlichen Konzerten mit den Jungs und
einigen Fans unterwegs. Die Band sollte auf anraten des PRCoaches weiterhin erreichbar wirken. Sie sollte mit ausgewählten Girls ein paar Bier trinken und Normalität vermitteln. Wenn er nicht mehr ausging, war er so müde, dass er zu
Hause fast sofort einschlief. Und Joshua war kein Kuschelschläfer. Lieber wollte er mit einer eigenen Decke, die er sich
nach Belieben um die Beine schlingen konnte, auf seiner Seite
liegen. Wenn er richtig erschöpft war, schnarchte er.
Zu Hause angekommen drehte Sophie die Heizung im Bad
und in der Küche höher. Sie schaltete im Flur und in Joshuas
Zimmer die indirekte Beleuchtung ein. Anschließend kochte
Sophie für alle Spagetti Bolognese und öffnete eine Flasche
Wein. Den Tisch deckte sie für alle fünf ein. Sie suchte einen
passenden Sender im Radio und zündete zwei Kerzen an. Die
Jungs kamen gut gelaunt von der Probe und freuten sich über
das Essen. Über die behagliche Wärme und das angenehme
Ambiente verlor niemand ein Wort. Dennoch fühlte Sophie
sich wohl und fand es super, mit der Band zusammen zu
wohnen. Die Geschichten, die am Tisch ausgetauscht
wurden, waren interessant, und sie fühlte sich in dieser
Männerunde gut aufgehoben.
Später am Abend, als Sophie und Joshua im Bett lagen,
griff sie das Thema um das Streetteam noch einmal auf. »Ich
finde es schon schade, dass du das nicht mit mir zusammen
machen willst. Wir könnten uns ganz einfach abstimmen,
oder es zusammen im Bett erledigen.« Verführerisch schaute
sie ihren Freund an.
Doch Joshua ging nicht darauf ein. »Ach, Süße, nicht schon
wieder das Thema. Ich habe keine Lust auf noch mehr Berührungspunkte mit Fans. Die Fanpost ist mir echt genug.«
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»Das verstehe ich ja, aber …«, setzte sie an, doch Jo unterbrach sie genervt. »Nee, kein Aber. Ich habe darauf einfach
keinen Bock. Das wusstest du jedoch auch schon vor drei
Monaten, als du das Team gegründet hast. Es ist schön, wenn
es gut läuft, weil es für die Band ist, aber lass dir von Nick
helfen.«
Er drehte sich müde auf die Seite, und Sophie wusste, dass
dieses Gespräch beendet war. Beleidigt lag sie neben ihm und
starrte an die Decke. Joshua konnte so ein Sturkopf sein.
Außerdem war er immer so direkt. Stur und direkt. Grauenhaft.
»Du bist gemein!«, motzte Sophie.
»Bin ich nicht«, gähnte Joshua. »Ich mache dir halt nix vor.
Ich habe auf die Arbeit keinen Bock, und auch dir zu Liebe
kann ich mich nicht überwinden. So, Baby, ich schlaf jetzt.«
Es folgte ein akustischer Gute-Nacht-Kuss.
Sophie löschte das Licht auf dem Nachttisch und starrte
weiter in die Dunkelheit. Sie erinnerte sich an ihre Nächte im
Krankenhaus. Dort hatte sie ebenfalls oft in die Dunkelheit
gestarrt. Der Tag an dem Joshua sie zum ersten Mal besuchen
kam, war nur vage in ihrem Gedächtnis geblieben, doch er
hatte ihn hunderte Male erzählt.
Josh war aufgeregt gewesen, als er im Zug nach Frankfurt
saß. Da er nicht wusste, wie lange er bleiben würde, hatte er
lediglich einen Rucksack dabei, der zwischen seinen Knien
stand. Die Übelkeit war neu für ihn. Er wusste, es hatte nichts
mit dem Essen zu tun. Es war die Aufregung. Die Vorfreude.
Vom Frankfurter Hauptbahnhof fuhr er direkt in die Uniklinik. Sophies Zimmernummer wusste er bereits.
Als er auf dem Gelände der Klinik stand, war er allerdings
verloren. Zig Gebäude, teilweise Baustellen, kein Plan in
Sicht. Er hielt Ausschau nach jemandem, den er nach dem
Weg fragen konnte. Doch die vereinzelten Fußgänger eilten
beschäftigt und mürrisch an ihm vorbei. Hätte er doch bloß
vorher im Internet nach einem Lageplan geschaut. Josh sah
eine Frau auf sich zukommen, die einen langen weißen Kittel
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trug. Sie müsste sich doch hier auskennen. Schnell trat er auf
sie zu. »Verzeihung, aber ich möchte jemanden besuchen, der
sich derzeit in der Neurochirurgie aufhält. Im Zimmer
Nummer …«
»Oh«, unterbrach sie ihn, »ich bin Laborantin und hab’s
gerade sehr eilig. Gehen Sie doch ins Hauptgebäude, Haus 23
C, dort ist der Besucherempfang, und die helfen Ihnen bestimmt weiter. Gehen Sie einfach direkt da vorne durch die
große Tür.« Und noch bevor Jo etwas erwidern konnte, eilte
sie davon. Er schulterte seinen Rucksack und stiefelte auf die
Tür zu.
Joshua trat an den Tresen. Er kam sich vor wie in einer der
etlichen Arztserien. Die Einrichtung war ganz typisch Krankenhaus. Deprimierende graue, beige und weinrote Farben,
dazu ein Linoleum-Boden. Viele Schilder, Treppenauf- und
abgänge, Fahrstühle, Menschen in Rollstühlen und geschäftige Pfleger rundeten den Eindruck ab. Der sterile Geruch in
der Luft signalisierte sogar Blinden wo sie waren. Jo räusperte
sich, und eine rothaarige junge Frau begrüßte ihn freundlich.
Er fragte nach dem Weg zu Sophies Zimmer, und sie erklärte
ihn ausführlich.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, hakte sie nach.
»Ähm …, ich glaube nicht.« Jo verstand die Frage nicht.
»Suchen Sie vielleicht noch ein Hotelzimmer oder benötigen Sie später ein Taxi?«, bot sie an.
»Ach so.« Jetzt verstand Josh. »Ich, ähm …, ich glaube ja.
Aber ich komme dann einfach später noch mal wieder.«
»Wie Sie meinen. Ich habe heute noch bis 22.00 Uhr
Dienst.« Sie zwinkerte ihm zu. »Bezüglich einer Unterkunft
könnte ich bestimmt behilflich sein.«
Charmant lächelte Joshua sie an, ohne etwas zu antworten,
und machte sich auf den Weg zu Sophie. Im Fahrstuhl schüttelte er den Kopf und dachte: ›Manche Dinge ändern sich
wohl nicht so schnell.‹
Er war im richtigen Flur. Außer ihm war niemand auf dem
schmalen Gang mit den unpersönlichen Türen. Keine
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Namen, nur Nummern. Joshua hatte Krankenhäuser noch nie
gemocht. ›Aber wer mag die schon?‹, fragte er sich.
Ihre Zimmertür war geschlossen, unsicher stand er davor.
Vielleicht schlief sie gerade. Vielleicht waren ihre Eltern zu
Besuch. Vielleicht waren Freunde zu Besuch. Erst jetzt fiel
ihm auf, dass er überhaupt nichts für sie mitgebracht hatte.
Verdammt, daran hatte er einfach gar nicht mehr gedacht.
Hatte Nick ihn erinnert? Er schaute den Flur entlang, doch es
gab nichts in Sichtweite, was sein Problem hätte lösen können. Er hob die Hand. Kurz bevor er anklopfte, entschied er,
erst zu lauschen. Konnte er Stimmen hören? Er legte sein
Ohr an die dicke Tür. Nichts.
»Kann ich ihnen helfen?« Eine junge Schwester stand wie
aus dem Nichts neben ihm.
Jo zuckte zusammen. »Uih, na, Sie haben mich aber erschreckt.«
»Tut mir sehr leid, Herr Streta. Das war nicht meine Absicht.« Kokett sah sie ihm in die Augen.
»Oh, Sie … Sie … kennen wir uns?« Irritiert schaute er die
Schwester ein zweites Mal an.
»Ja. Ich meine, nein. Wir kennen uns nicht wirklich. Ich bin
ein großer Fan von ›Dark Tower Alliance‹. Ich stehe bei Konzerten immer in der ersten Reihe. Einmal habe ich Ihren Stick
gefangen. Würden Sie mir ein Autogramm geben?« Sie zückte
einen Filzstift.
Jetzt verstand Josh. »Ah, ja, natürlich. Wir können uns gerne duzen. Ich bin Joshua.« Er streckte ihr die Hand hin.
»Ich bin Jessy.« Sie ließ seine Hand nicht los.
Jo fühlte sich unbehaglich. Zum einen stand er hier vor der
Tür zum Zimmer seiner Freundin, und zum anderen waren
seine Hände vor Aufregung feucht. Er zog sie bewusst zurück
und glitschig entglitt sie ihrer.
»Freut mich«, hauchte sie. Während sie langsam ihren Kittel
aufknöpfte erklärte sie: »Leider habe ich jetzt kein Papier zur
Hand. Vielleicht kannst du mir ja hier eine Unterschrift drauf
geben.«
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__YURO__ Vorsichtig kroch Yuro aus der kleinen Schlafnische, die er einst mit viel Mühe in den roten Felsen gehauen
hatte, die seitdem sein einziger Rückzugsort war. Stille war
um ihn herum, denn war tiefste Nacht. Außer ihm selbst gab
es in diesen Mauern wohl keinen, der den Mut aufgebracht
hätte, die Gesetze der Bruderschaft zu missachten und die
Schlafstelle zu verlassen.
Es war weder das erste noch das zweite Mal, dass Yuro
gegen die hiesigen Regeln verstieß. Er tat dies nicht, weil er
die Mönche ärgern oder die herrschende Disziplin untergraben wollte, sondern weil er nicht anders konnte. Lange Zeit
hatte er versucht, sich an die Gebote des Klosters zu halten,
dies aber war ihm zunehmend unmöglich geworden, besonders nachts.
Immer häufiger war er aus dem Schlaf geschreckt, die Bilder seiner Träume beständig vor Augen. Immer seltener war
es ihm gelungen, durch Meditation die nötige Ruhe zurückzuerlangen, um wieder einschlafen zu können. So war er, es
musste Jahre her sein, eines Nachts zitternd aus seiner Nische
gekrochen, den langen Gang entlanggeschlichen und durch
das schwere, hölzerne Tor geschlüpft, das auf den weitläufigen Hof hinaus führte. Moruk, Ilar und Pun, die drei Monde, die den Planeten Innis umkreisten, hatten in ihrer ganzen
Pracht am Firmament gestanden. Ihr weiches Licht hatte ihn
gestreichelt, ihre Beständigkeit ihn beruhigt – und irgendetwas hatte ihn berührt. Seitdem zog es ihn immer wieder in
die Dunkelheit.
Yuro hatte versucht, mit Meister Uruma über seine Empfindungen zu reden. Dieser hatte ihm zwar aufmerksam zugehört, aber kein Verständnis für die daraus resultierenden
Verstöße aufzuwenden vermocht und seine innere Zerrissenheit schließlich mit seinem schlechten Gewissen begründet.
Stundenlange Meditationsübungen waren die Sanktion gewesen, der er sich daraufhin unterwerfen musste. So hatte Yuro
Abstand davon genommen, den Brüdern, wie er es eigentlich
gewohnt war, von seinem Gemütszustand zu berichten.
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Es war schwer für ihn geworden, sich wie immer innerhalb
der Gemeinschaft zu bewegen. Von Tag zu Tag fühlte er die
Veränderungen und seine Andersartigkeit deutlicher. Alles,
was während seiner Kindheit so einfach und selbstverständlich erschien, begann, ihm mehr und mehr Kraft abzuverlangen. Er konnte die Dogmen des Klosterlebens nicht mehr
hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. Viele Rituale verloren
ihren Sinn, spendeten weder Geborgenheit noch Trost oder
Ruhe, sondern brachten etwas in ihm zum Schwingen, das er
erst nach und nach als Rebellion und Wut einzuordnen im
Stande war. Alles in ihm begann, sich gegen die klaren Linien
und das vorgezeichnete Leben innerhalb dieser Mauern zu
wehren. Je mehr er sich bemühte, den inneren Trotz in den
Griff zu bekommen und ihn zu unterdrücken, desto brachialer suchte dieser sich einen Weg nach außen, verleitete ihn zu
Handlungen, die allem, was er bisher erlernt hatte, zuwider
liefen. Einzig harte körperliche Arbeit vermochte ihm, Ablenkung zu verschaffen. Deren meist gleichförmige, monotone,
sich beständig wiederholende Abfolge brachte gelegentlich
auch seinem Geist ein wenig von der Ruhe zurück, die er
mehr und mehr entfliehen fühlte.
Ob seinen Mitbrüdern dies alles tatsächlich entging?
Manchmal glaubte Yuro, die Augen des alten Katal sorgenvoll auf sich gerichtet zu spüren, und Solus, seinem Freund
aus Kindertagen, schien sein Wandel ebenfalls nicht zu entgehen.
Als Yuro diesmal das große Tor behutsam aufschob – es
war nie verschlossen, gleich so, als sei es unmöglich, die
Grundsätze des Konvents zu brechen – fühlte er einen Gegendruck. Eine Helligkeit, die er noch nicht erwartet hatte,
blendete ihn geradezu. Früher als gewöhnlich war der Winter
hereingebrochen und hatte den Hof mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Nicht, dass die Kälte Yuro irgendetwas
ausgemacht hätte.
Er war durch eine harte Schule der Selbstdisziplinierung gegangen, hatte gelernt, seinen Körper seinem Willen zu unterwerfen, Kälte und Hitze zu trotzen, Durst und Hunger über
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lange Zeit hinweg zu unterdrücken und Dinge wahrzunehmen, die anderen verschlossen blieben.
So trat er, nur mit einem dünnen Schlafgewand bekleidet,
hinaus in die weiße Herrlichkeit. Wie zarte Federn fiel der
Schnee aus den tiefhängenden Wolken. Er begrenzte sein
Sichtfeld auf wenige Meter und umhüllte ihn wie ein Kokon.
Bereits nach kurzer Zeit waren auch Yuros Haare mit einer
feinen Schicht bedeckt. Sein Atem schwebte wie dichter
Nebel vor ihm her, seine Wimpern und Augenbrauen überzogen sich mit glitzerndem Raureif.
Er spürte es nicht. Er lauschte der wunderbaren Melodie,
die er jedes Mal vernahm, wenn die Flocken sanft zur Erde
schwebten und die Kälte alle anderen Geräusche wie unter
einer Decke begrub. Die Reinheit der Luft erweiterte seine
Sinne auf unglaubliche Weise. Er liebte diese Winternächte.
Sie schienen ihm etwas zu sagen, dessen Sinn sich ihm bisher
nicht erschloss, das ihn jedoch mit Gefühlen durchdrang, die
er tief in seinem Herzen erfassen, aber nicht benennen
konnte.
Dies alles ging ihm durch den Kopf, während er langsam
durch den verschneiten Hof schritt. Er kannte dessen Abmessungen so genau, dass er selbst mit geschlossenen Augen weder dessen Umfriedung berühren noch gegen die gemauerten
Wände des Brunnenschachtes stoßen würde. Seine Füße hinterließen nur schwache Abdrücke, die der stetig fallende
Schnee schnell wieder verwischte. Die sanften Klänge der
sphärischen Musik hüllten ihn ein, umschmeichelten ihn –
und doch verstand er noch immer nicht, was sie ihm mitteilen
wollten.
Der satte Ton der Morgenglocke riss ihn aus dem Schlaf.
Kein Lichtschimmer drang in seine Nische, der Sonnenaufgang lag noch in weiter Ferne. Für die Mönche jedoch begann
jeder Tag mit der vierten Stunde. Um den Körper geschmeidig und den Geist wach zu halten, versammelten sie sich stets
zur gleichen Zeit in der Großen Halle, wo sie gemeinsam
durch ritualisierte Bewegungen, Atemübungen und Gesänge
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ihre inneren Energien weckten und den Morgen begrüßten.
Diesem Brauch hatte sich Yuro noch nie entzogen, und auch
heute kleidete er sich an und folgte dem Ruf der Glocke.
Wortlos reihte er sich in die Prozession der schweigend dahin
schreitenden Brüder ein, stellte sich an seinen Platz, senkte
ausatmend den Kopf, hob ihn einatmend wie alle anderen an
und formte den tiefen, wohlklingenden Ton, der die Lichtsteine in den Wänden zum Leuchten brachte.
Es gab viele Töne, die irgendetwas bewirkten. Einige entfachten Feuer, manche brachten die Flammen zum Erlöschen, weitere öffneten verborgene Türen oder beruhigten
den Wind, wenn er gar zu heftig durch die langen Gänge
pfiff. Yuro kannte sie alle. Er war ein eifriger Schüler gewesen, und das nicht, um seine Lehrer für sich einzunehmen
oder sich über die anderen zu stellen, sondern weil er nur
damit den Schmerz verdrängen konnte, den die abrupte Trennung von seinen Eltern in ihm ausgelöst hatte.
An einem regnerischen Tag – er wusste nicht mehr genau
vor wie vielen Jahren – waren sie in die kleine Hütte eingedrungen, die er zusammen mit ihnen bewohnt hatte, hatten
ihn gepackt und mitgenommen. Wer sie gewesen waren, das
wusste er bis heute nicht, aber weder seine Mutter noch sein
Vater hatten versucht, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Sie
hatten lediglich mit Verzweiflung in den Augen zugesehen,
wie sie ihren einzigen Sohn entführt hatten. Er hatte geschrien, gefleht, um sich geschlagen – erfolglos. Die Graugewandeten hatten ihm ein mit einer stechend riechenden
Substanz getränktes Tuch aufs Gesicht gepresst. Anschließend erinnerte er sich für eine unbestimmbare Zeit an gar
nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, war ihm die ihn umgebende Landschaft vollkommen fremd gewesen. Die sanften
Wellen der grünen Wiesen, die weiten Felder und rauschenden Wälder waren zerklüfteten Felswänden, steilen Abhängen und rauen Steinpfaden gewichen.
Er lag über dem Rücken eines Kajolas, dessen leicht
schwankender, aber sicherer Gang ihn ein wenig durch8
rüttelte. Die Graugewandeten unterhielten sich so ungeniert,
als sei seine Anwesenheit eine Selbstverständlichkeit, aber von
keiner großen Bedeutung. Sie gingen anscheinend davon aus,
dass er ihre Sprache sowieso nicht verstand und diskutierten
lautstark darüber, für welchen Preis sie ihn auf dem großen
Markt von Rey an die Agenten der Forschungsabteilung verkaufen konnten, die für eine solche Rarität wohl tief in die
Taschen zu greifen gewillt wären.
Yuro war aus diesen Worten nicht schlau geworden. Nur,
dass er augenscheinlich etwas Besonderes darstellte, erschloss
sich sogar seinem kindlichen Auffassungsvermögen. Lange
waren sie unterwegs. Er versuchte, mit den Leuten in den langen, grauen Tuniken zu reden, aber ihm gegenüber schwiegen
sie beharrlich, und so waren all seine Fragen unbeantwortet
geblieben.
Er hatte weder hungern noch dürsten müssen. Sie hatten
ihn mit Kleidung versorgt, ihn sogar den größten Teil der
Strecke reiten lassen, aber ansonsten war er eher wie ein Gepäckstück denn wie ein Mensch behandelt worden. Schon damals hatte Yuro instinktiv die Gefahr gespürt, die die Airin
für ihn darstellten, und so jung er gewesen war, hatte er doch
die erste sich bietende Gelegenheit zur Flucht genutzt.
Als sie den Wenala-Canyon hinter sich gelassen hatten –
damals wusste er natürlich nicht, wo sie sich befanden – und
sich allmählich in die ersten Ausläufer der einsamen GrafillaBerge vorarbeiteten, hatte er sich behutsam aus der Umarmung seines Leibwächters gewunden. Seine Entführer bemerkten es nicht, denn sie gaben sich nach einem anstrengenden Tag dem Schlaf der Erschöpfung hin. Er hatte sich
eine der Vorratstaschen, die sie immer auf ihren Rücken
trugen, gegriffen, leise ein paar Kleidungsstücke hineingestopft und das Zelt verlassen, in dem alle gemeinsam nächtigten. Der Wachtposten an dessen Eingang hatte ihn zwar mit
großen Augen angesehen, jedoch keine Anstalten gemacht,
ihn aufzuhalten.
Zügig aber lautlos war er aus dem Lager verschwunden,
ohne sich ein einziges Mal umzusehen um herauszufinden, ob
9
ihm jemand folgte. Tagelang war er durch die Berge geirrt,
hatte steile Pfade erklommen, auf schwingenden Brücken
tiefe Schluchten überquert, aus klaren Bächen getrunken, sich
von Beeren, Wurzeln und Insekten ernährt. Über welchen
Zeitraum sich diese Odyssee erstreckte wusste Yuro nicht,
aber seine kindlichen Kräfte waren schneller aufgebraucht, als
er dachte. Die Verzweiflung, die ihn bisher vorangetrieben
hatte, konnte der Ermattung nicht mehr entgegenwirken.
Ausgelaugt und jenseits aller Hoffnung auf Überleben war er
zusammengebrochen und in einem Raum erwacht, den er
nach seiner Genesung nie wieder betreten hatte. So war er zu
dieser Klostergemeinschaft gekommen und hatte sie bis heute
nicht wieder verlassen.
Anfangs war sein Geist von einer gnädigen Amnesie umnachtet gewesen. Je länger er sich jedoch in der Gesellschaft
der Mönche befand, desto mehr Erinnerungen kehrten zurück. Er versuchte, ihnen zu erklären, wer er war, woher er
kam, was ihm widerfahren war. Aber Zelut, der Prior, hatte
ihm unmissverständlich erklärt, dass das Schicksal ihn hierher
geleitet habe, er die Vergangenheit vergessen müsse und fortan sein Leben den hiesigen Gegebenheiten unterzuordnen
habe. Yuros Protest und sein Aufbegehren waren an ihm und
den Mönchen abgeprallt. Ihre beständige Gleichmütigkeit
hatte seine Aufsässigkeit erlahmen, und schließlich verstummen lassen. Er hatte sich angepasst, sich den Regeln des Konvents gebeugt – wenn zunächst auch nur äußerlich – und gelernt, was immer die Brüder von ihm verlangt hatten.
Ganz allmählich löste sich auch seine innere Abwehrhaltung, und eine ruhige Zufriedenheit hielt Einzug in seine
Seele. Er fand in Solus einen treuen Freund, die Bruderschaft
wurde seine Familie. Im Großen und Ganzen war er hier
glücklich, bis mit der Pubertät die Veränderungen begannen
und er sich der abermals in ihm auflodernden Rebellion nicht
mehr widersetzen konnte. So hatte er begonnen, ein geheimes
Doppelleben zu führen. Tagsüber verhielt er sich, soweit es
ihm möglich war, weiterhin wie ein integriertes Mitglied der
Bruderschaft. Des Nachts jedoch wanderte er umher und
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bemühte sich zu ergründen, was die Stimmen, die anscheinend nur er vernahm, ihm zu sagen versuchten.
Routiniert absolvierte Yuro die morgendlichen Übungen,
deren Ablauf sich in all den Jahren ebenso wenig verändert
hatte wie das daran anschließende Frühstück, welches seit
dem Tag seiner Ankunft aus einer Schale heißen Haferbreies
mit Nüssen und Honig bestand. Seine Bewegungen gingen
fließend ineinander über, sein Atem war tief, ruhig und
gleichmäßig. Nach und nach verblassten die Eindrücke der
vergangenen Nacht. Die Sorgen um die Entdeckung seiner
Fußspuren rückten in den Hintergrund. Er gab sich ganz der
Harmonie, dem Zusammenwirken von Körper, Geist und
Stimme hin.
Den Abschluss dieses Trainings bildete der Klangregenbogen, und erst, seit er zur Gemeinschaft gestoßen war, erstrahlte auch das Ultraviolett, für dessen Erzeugung der Bruderschaft bis dahin der absolute Ton gefehlt hatte.
Nach einer kurzen, aber gründlichen Körperreinigung trafen abermals alle zusammen, um im Speiseraum die Morgenmahlzeit zu sich zu nehmen. Vin, der Küchenleiter, hatte mit
seinen Helfern Jul, Bran, Ann und Kimon den Brei zubereitet, die Schalen bereitgestellt und den obligatorischen
Kräutersud angesetzt. Heiß zum Frühstück schmeckte er
Yuro am besten. So füllte er sich seinen Tonkrug und trug ihn
zusammen mit seiner Schale zum Tisch.
Die Mahlzeiten waren das Vergnüglichste, was das Klosterleben zu bieten hatte, denn einzig hierbei war ein reger und
uneingeschränkter Austausch erlaubt. Auch gab es keine feste
Sitzordnung, sodass die freie Platzwahl das Kontakthalten
untereinander durchaus begünstigte. Er und Solus waren
bereits in ein tiefschürfendes Gespräch über die Inhalte des
Großen Buches der Weisheit vertieft, das sie derzeit studierten, als sich Örim, der Lebensmittelverwalter, zu ihnen gesellte und ihre Unterhaltung nach einer Weile mit einem wenig dezenten Hüsteln unterbrach.
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»Unser Milchvorrat geht zur Neige. Das Los hat euch beide
dazu ausersehen, nach den Karu Ausschau zu halten und ein
paar Liter dieses unabdingbaren Grundnahrungsmittels in unser trautes Heim zu bringen.«
Die Karu waren wilde, freilebende, gämsenähnliche Gebirgstiere, deren Milch reich an Vitaminen und überaus nahrhaft war. Die Mönche hatten die Karu nicht domestiziert, jedoch hatte die Herde, während der harten Wintermonate geduldig und gewissenhaft gefüttert, ihre Scheu ihnen gegenüber abgebaut. Behutsame Annäherung hatte schließlich dazu
geführt, dass die Karu-Weibchen sich, wenn die Milch nicht
mehr für den eigenen Nachwuchs benötigt wurde, gelegentlich von den Brüdern melken ließen. Im Gegenzug trugen
diese Sorge dafür, dass die vereinzelt herumstreunenden Lemori die Herde nicht über Gebühr dezimierten. Dieses Verhältnis wurde von beiden Seiten seit Generationen gepflegt,
und nicht einmal der alte Gedoram hätte zu sagen vermocht,
ob es je anders gewesen war.
Mit resigniertem Gesichtsausdruck wandte Solus seinen
Blick dem Älteren zu. Er wusste nur zu genau, dass Örim keineswegs in die Lostrommel gegriffen hatte, sondern seine
Wahl allein dem bisherigen Erfolg der beiden geschuldet war.
Sowohl er als auch Yuro schienen einen außergewöhnlich
guten Draht zu den Tieren zu haben. Niemals hatten sie sich
vor ihnen verborgen, und nicht ein einziges Mal waren die
Jungen unverrichteter Dinge in die Klostermauern zurückgekehrt, weil ihnen die zur Milchabnahme nötigen Berührungen verweigert wurden.
Die beiden wussten, dass ihnen damit eine wichtige Aufgabe übertragen wurde, und so wenig man sich im Allgemeinen um diesen Dienst riss, so notwendig war er, besonders im
Winter. Seufzend bekundete auch Yuro seine Zustimmung.
Nachdem die Schalen geleert, die Krüge ausgetrunken und
die Utensilien zum Spülstein getragen waren, schlüpften die
beiden in ihre Fellstiefel, banden die Mäntel um und verließen, vier leere Milchschläuche auf ihren Rücken tragend,
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das Klostergelände, um sich auf die Suche nach den Karu zu
begeben.
__SOLUS__ Der Wind Pfiff um die scharfkantigen Felsen,
die den Eingang zum Klosterhof flankierten. Der schmale
Pfad, der am Rande des Abhanges entlang steil nach unten
führte, war unter den Schneeverwehungen kaum noch zu erkennen. Der Abstieg war alles andere als ein harmloser Spaziergang. Die beiden Jungen mussten all ihr Können und ihre
Konzentration einsetzen, um von den orkanartigen Windböen nicht gegen die Felswände gedrückt oder in den Abgrund geschleudert zu werden. Obwohl es nur etwa 200 Meter bis zur Alm waren und der Höhenunterschied weniger als
50 Meter betrug, hätten es der Zeit nach, die sie für den
Abstieg benötigten, auch viele Kilometer sein können. Als sie
endlich den weniger tückischen Boden der Bergweide unter
ihren Füßen spürten, waren sie erleichtert.
Die feinkörnigen Schneekristalle fegten wie Sandkörner
über ihre Wangen, stachen wie tausend hauchdünne Nadeln
in ihre Gesichtshaut. Der Blick reichte auch hier nicht weit,
und so mussten sie sich, in der Hoffnung, die Karu aufzuspüren, auf ihre Ortskenntnis und ihren Orientierungssinn
verlassen.
Solus ließ Yuro vorangehen. Obwohl er sich gerne mit dem
Freund unterhalten hätte, schwieg er, da er wusste, dass der
Wind ihm die Worte bereits vom Mund gerissen hätte, noch
ehe sie geformt waren. Seit einiger Zeit schon fiel ihm auf,
dass die Aura der Gelassenheit, die Yuro gewöhnlich umgab,
seit er als 6-Jähriger seinen Widerstand gegen die Direktive
des Priors aufgegeben hatte, Risse zeigte und gelegentlich in
sich zusammenbrach. Obwohl Yuro bemüht war, seinen
inneren Aufruhr vor der Gemeinschaft zu verbergen, stand
Solus seinem Freund nahe genug, um die Unruhe hinter
seiner Maske zu erkennen. Er bemerkte sowohl das nervöse
Flattern seiner Augenlider als auch die oftmals zusam13
Absturz
Ich bin kein großer Mann von Welt.
Bin in meinem Leben mein eigener Held.
Am Himmel der nicht allzu helle Stern,
Nur einer von allen - gar nicht so fern.
Des Besonderen nicht unbedingt wert,
Bin ich es, der Dich hiermit für immer verehrt ...
ES WAR SAMSTAG, der 26. Juni 1982, als ich sie zum ersten Mal traf. Ich saß an einem meiner Lieblingsplätze, und
sie kam mit dem Fahrrad ihrer Oma die Straße herunter geradelt. Natürlich wusste ich damals noch nichts von Omas
Fahrrad. Aber sie so in meiner Erinnerung zu sehen und zu
wissen, dass es ein altes, wirklich schäbiges Damenrad war,
amüsiert mich noch immer. Es hatte einen Speichenschutz
aus kleinen Gummiseilen über dem Hinterrad, war mattschwarz lackiert und besaß einen so gigantischen Gepäckträger, dass auf ihm vermutlich drei bis acht Kinder Platz
fanden. Es quietschte bei jeder Bodenwelle auf der alten
Betonstraße, die zur Schweinefarm führte. Das lag überwiegend an den drei rostigen Federn unter dem abgeriebenen Sattel. Am Lenker konnte ich schon von Weitem
den kleinen, halb verrosteten Korb erkennen. Ich erinnere
mich, dass man ihn abnehmen und damit einkaufen gehen
konnte. Das Rad besaß nur einen Gang, der immer irgendwie unpassend war. Zu schwer für einen Anstieg, zu leicht
für hinunter. Und ich erinnere mich auch sehr genau an
diese schreckliche Klingel. Ein schwarzes Ding mit einem
stark oxydierten Hebel, der verdammt schwergängig war.
Schaffte man es - natürlich nie in einer Notsituation, denn
damit zu klingeln bedeutete eine Menge Kraft und Konzentration aufbringen zu müssen, um den Hebel nach hin7
ten zu pressen - schrillte das Klingeln, ich schwöre, dann bis
nach Eisenberg.
Später wurde es zu ihrem Zeichen. Sie klingelte, und ich
wusste, das konnte nur meine Iris sein.
Heute weiß ich, dass sie von der Schweinefarm kam und
bei dem Bauern Fett geholt hatte, mit dem man Leder geschmeidig hielt. Eine Bonbondose für Fruchtdrops hüpfte
mit jeder Unebenheit wie ein aufgeregter Frosch in dem
Korb hoch und runter, als versuchte sie, aus dem Korb zu
springen. Wie fantastisch lebendig solche Bilder in der
Erinnerung sein können ...
Auf dem Sattel saß ein Mädchen mit langen, braunen
Haaren. Die Sonne stand über ihr, der Schatten huschte mit
ihr über die alte Straße.
Der Sommertag war damals sehr warm. Meiner Erinnerung nach muss es kurz vor 16 Uhr gewesen sein, als ich
in den Kirschbaum kletterte. Sie kam mit dem Rad den Weg
entlang, da war es beinahe 17 Uhr vorbei. Und es war noch
fast so warm wie um die Mittagszeit. Es blies ein leichter
Wind, der mich mit dem Ast, auf dem ich saß, leicht hin
und her wiegte. Die Blätter um mich herum rauschten sanft.
Ein herrlicher Ort für einen wunderbaren Tag.
Ich war dort oben, um meine ›Obst-Klau-Saison‹ zu
eröffnen. Das tat ich immer Ende Juni - wobei ›immer‹ ein
gewaltig übertriebener Begriff ist, davon ausgehend, dass
ich 1982 kurz vor meinem 16. Geburtstag stand. Ich klaute
jedenfalls Kirschen, die erst seit ein paar Tagen richtig reif
waren. Der Baum, über der Ponykoppel am Ende der Gartenstraße, trug die Früchte als Erster. Vor allen anderen, die
ich kannte und zu denen ich unverletzt und unbeobachtet
gelangen konnte. Das Klettern glich einer eingeübten Choreografie. Vom Koppelgatter aus, mit einem beherzten
Sprung erreichte ich den ersten Ast, an dem ich mich einfach hochziehen konnte. Eine Drehung um den dicken
Stamm, und der Rest wurde zu einem Spaziergang. Wie
leicht das Leben sein konnte, wenn man jung war. Ich
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mochte den Baum. Immerhin erntete ich schon das vierte
Jahr davon. So war meine Lieblingsstelle weit oben auf
einem Ast, der bis auf die Straße hinaus ragte. Dort wuchs
einer der abstehenden Äste fast gerade gen Himmel. Setzte
man sich auf den dickeren Ast, konnte man sich hervorragend anlehnen, hatte die Straße im Blick und die Kirschen
in bequemer Reichweite. Eine wundervolle Version eines
bescheidenen Schlaraffenlandes.
Natürlich saß ich da nicht nur zum Essen - in Wahrheit
frönte ich dort oben meinem Hobby: Ich malte. Von oben,
ich glaube, es waren beinahe acht oder neun Meter über der
Straße, besaß man einen fantastischen Ausblick auf das kleine Dorf, in dem ich wohnte. Die Kirche, die alle Häuser
überragte. Die Felder rechts und links des Betonweges. Und
streckte man sich etwas, konnte man sogar gerade noch die
Schweinefarm erkennen. Ich war auch wegen der Ponys da.
Zu der Zeit fertigte ich für mein Leben gern Bleistiftzeichnungen von Pferdeköpfen an.
Noch heute besitze ich einige Zeichnungen aus dieser
Zeit, die ich mir immer wieder und gerne betrachte.
Erst beim zweiten Blick beachtete ich Iris bewusst. Ich
unterbrach das Zeichnen und sah zur Straße, auf der sie mit
dem Rad fuhr. Der Wind spielte mit ihren Haaren, die im
Licht der Sonne hinter ihr glänzten. Ihr Gesicht war gut zu
erkennen, auch deshalb, weil sie kein Pony über der Stirn
trug. Ich beobachtete sie, ließ sie näher herankommen. Mit
der Sicherheit, dass sie mich nicht sehen konnte, sollte sie an
mir vorbei und unter mir hindurchfahren. Die Blätter verbargen mich. Mit den braunen Hosen und dem dunklen TShirt – ich weiß noch genau, was ich damals trug – war ich
recht gut an den Baum angepasst.
Eigentlich wollte ich nur sehen, wer sie war, weil ich sie
nicht erkannte.
Iris trug Jeans, darüber eine Bluse oder ein Jäckchen aus
dünner Wolle und über dieser noch eine Jeansjacke, die von
Weitem verlebt wirkte. Um den Hals trug sie eines dieser
9
Tücher, die heute wieder modern geworden sind. Ich kann
nicht sagen, wie sie heißen, aber Jassir Arafat band sich die
Dinger um den Kopf, bis er 2004 starb. Es verwunderte
mich, dass sie dieses Tuch trug, denn es waren bestimmt
über 25 Grad.
Als sie näher kam, konnte ich erkennen, dass ihr die Jeansjacke zu groß war. Die Ärmel waren umgeschlagen. Und es
gab noch etwas, das ich an diesem ersten Anblick nie vergessen werde: Über einer der seitlichen Jackentaschen
prangten schätzungsweise tausend bunte, provokative Buttons. ›Arbeiten ist Scheiße!‹, ›Leck mich, Popper‹, ›Lieber
Arm dran, als Arm ab‹, ›Ich steh auf Rock‹, ›Deff Leppard‹,
die Friedenstaube und ein Button von Greenpeace. Kleine
Sticker mit Symbolen, zudem ein Tuch am Arm, wie eine
Binde gewickelt. Ich weiß nicht mehr, was noch alles an der
Jacke hing. Es waren unheimlich viele Anstecker.
Selbst für die damalige Zeit war ihre ganze Erscheinung
schlichtweg ungewöhnlich. Heute frage ich mich oft, was es
schließlich war, das mich an sie fesselte, mich dazu brachte,
ihr nachzusehen und was mich neugierig gemacht hat.
Irgendetwas faszinierte mich. Und heute danke ich Gott,
dem Zufall oder wem auch immer dafür, dass es passierte.
Sie war nie auffallend hübsch gewesen, beurteilte man sie
nach allgemein anerkannten Schönheitsidealen. Das klingt
nach einer so langen Zeit vielleicht hart. Gerade heute, in
einer Zeit in der standardisierte Schönheit das stereotype
Gebet aus Werbeindustrie und Langeweile ist. Aber damals
waren in meiner Vorstellung Frauen erst dann wirklich
schön, wenn sie Beine bis zum Hals hatten und Brüste, in
denen man sich verstecken konnte. Dazu stand ich auf
Puppengesichter. Also, genau diese Frauen, die heute ihren
Geschlechtsgenossinnen aus Magazinen heraus erklären, wie
dünn man sein soll, wie glatt die Haut sein muss und wie
fein das Gesicht strahlen kann. Tatsache ist, das habe ich
viele Jahre später erst verstanden, dass diese Frauen nur in
Magazinen und der Werbung existieren. Im realen Leben
10
laufen die normalen, makelbehafteten Menschen wie du und
ich herum. Das ist eben so!
In meinem Fall bedeutete das übrigens, dass ich auch mit
15 Jahren keinen Waschbrettbauch zeigen konnte und nur
mäßig ausgebildete Muskeln vorzuweisen hatte. Ich bändigte
meine blonden Haare, die ständig zu lang waren und irgendwie eine halbe Popperfrisur bildeten, entweder mit dem
Haarspray meiner Mutter – nicht lachen - oder einem Stirnband à la Ivan Lendl. Mein Gesicht hatte mehr die Züge
eines Mädchens. Für den gefährlich, männlich herben Ausdruck fehlten mir die typischen Kanten und Ecken am
Kinn. Bartwuchs kannte ich noch nicht und glücklicherweise
ließ der auch noch gut fünf Jahre auf sich warten. Ich war
nicht groß gewachsen. Ich habe auch heute noch einen recht
durchschnittlichen M-Körper. Einen, mit dem man problemlos in jedem Laden von der Stange kaufen kann. Das ist
praktisch, aber eben keinesfalls aufregend.
Sie war nicht hässlich. Ich glaube, dafür gibt es, wie für
›hübsch‹, eine unbewusste Art der allgemeinen Definition.
Eine Frau mit schiefer Nase, einer zu hohen Stirn, vorstehendem Kinn und großen Glubschaugen wird niemand
äußerlich hübsch nennen. Höchstens die Menschen, für die
die Schönen unerreichbar scheinen. Genauso, wie man eine
anerkannt schöne Frau mit perfekten Maßen, ideal harmonischem Gesicht, schlank, mit den geometrischen Grundvoraussetzungen eben entsprechend nie hässlich nennen
wird.
Nach fast 30 Jahren ringe ich um die richtigen Worte, sie
zu beschreiben. Um den genauen Eindruck wiederzugeben,
den sie bei mir in dieser einen Sekunde unauslöschlich hinterlassen hatte. Alles, was mir einfällt ist, dass sie interessant
schön war.
Es ist so, als würde man spontan sagen: »Hey, wer ist denn
das?«
Und dann will man sie kennenlernen, weil da etwas ist, das
einen berührt, von dem man einfach so weiß, dass man es
11
mögen kann. Weil in uns in solchen Momenten eine unverständliche Chemie jene Mixtur zusammenbraut, die uns
blind für Tatsachen werden lässt, die man sonst nie übersehen würde. Taub, für gut gemeinte Ratschläge, die man
sonst ohne Zögern annimmt. Eine Mixtur, die uns ohne Zögern über Klippen springen lässt. Es ist und bleibt eine verwirrende Sache, zu beschreiben, wie sich die Liebe auf den
ersten Blick anfühlt. Vielleicht ist das gut so - schon alleine
aus der Angst heraus, die Medizin könnte mit einer perfekten Beschreibung eine Pille erfinden, die uns diese Augenblicke um ihre Einzigartigkeit berauben.
Viele Eindrücke erreichen mich über die Augen. Auch
heute schaue ich Frauen zuerst in die ihren. Erst dann lasse
ich meinen männlichen Genen die Genugtuung, den Rest
des weiblichen Körpers für die instinktive Partnervorauswahl zu selektieren. Damals konnte ich von ihren Augen
nicht viel sehen. Diese Begegnung verlief in vielerlei Beziehung anders.
Ich habe tiefblaue Augen. Vermutlich das Einzige an mir,
bei dem ich in all den Jahren die Erfahrung gemacht habe,
dass es in der Tat auffallend ist. Magisch blaue Augen, die
ich von meinem Vater habe - sein Anteil an mir. Auch das
Mädchen unter mir, auf dem Fahrrad, sollte sich in diese
Augen verlieben.
Ich hockte in meinem Baum, kaute eine Kirsche und
bereitete den Kern zum Ausspucken vor. Mein bester Tagestreffer war ein Stein in dem verwilderten Garten auf der
gegenüberliegenden Straßenseite. Auf meinem Schoß lag
mein Block. Die Beine übereinandergeschlagen, einen Bleistift in der Hand, saß ich mit dem Rücken an den geraden
Ast gelehnt, als sie bremste. Das grässliche Geräusch der
Bremse ließ eine Zahnfüllung in meinem Gebiss vibrieren.
Sie lehnte das Rad direkt unter mir an den Koppelzaun. Die
Ponys setzten sich in Bewegung. Sie trotteten auf sie zu,
während sie ihr Rad abschloss, die Dose aus dem Einkaufs-
12
korb nahm und zum Gatter ging. Dort kramte sie einen
Schlüssel aus ihrer Jackentasche.
Diese Bilder gleiten heute mühelos an meinem inneren
Auge vorbei, als könnte ich sie erneut erleben.
Ich beugte mich zur Seite und versuchte zu erkennen, was
sie da tat. Der Bleistift, übrigens waren meine Bleistifte
immer sehr dünn an beiden Enden zugespitzt, lag in meiner
Hand, eine Seite zwischen den Fingern und das andere
Ende in der Handinnenfläche. Sie begann mit den Ponys zu
sprechen - ich weiß nicht mehr, was sie sagte. Ich wollte unbedingt mehr von dem Mädchen sehen und bog meinen
leicht pummligen Körper so, dass ich sie besser erkennen
konnte.
Dann passierte es.
Das Erste, was Iris von mir, ihrer späteren ersten, großen
Liebe hörte, war ein erstickter Schrei, gefolgt von fünf oder
sechs dumpfen »Uffs« und »Urgs«. Ich rutschte seitwärts
vom Ast. Schnell versuchte ich, irgendetwas zu greifen,
knallte mit dem Rücken auf einen anderen Ast und wurde
nach vorne an den dicken Stamm geworfen. An dem erlebte
ich einen schmerzhaft, dumpfen Aufprall, federte ab, wie ein
bescheuerter Gummiball und schlug wieder tiefer auf einem
Ast quer auf. Den rutschte ich ein paar Zentimeter entlang,
glitt am Stamm vorbei und fiel, wild nach Halt rudernd, in
die Tiefe. Das waren dann glücklicherweise nur zwei Meter.
Aber zwei Meter, die schmerzhaft im stinkenden Pferdemist
endeten. Das Geräusch meines Aufpralls kann ich noch
heute hören.
Ich landete mit dem Gesicht neben und mit dem Bauch
auf den Pferdeäpfeln. Ich prellte mir die Schulter und bohrte mir den Bleistift mitten durch die Hand, sodass dieser auf
der Oberseite der Handfläche herausstach. Übrigens eine
Stelle, an der sich immer noch eine kleine Narbe befindet.
Die ersten Sekunden fühlte ich mich wie weggetreten. Der
Sturz hatte wohl alle Schubladen in meinem Oberstübchen
herausgeschleudert. In der Zeit, in der sich mein Hirn um
13
fachgerechtes Einräumen bemühte, rollte ich mit den
Augen, lag da und stöhnte. Ich war noch nie von einem
Baum gefallen. Später purzelte ich drei Mal in unterschiedlichster Weise von einem Dach, einmal mit dem Rad mehrere Treppenstufen und in unserem alten Haus kopfüber die
Kellertreppe hinunter - aber nie wieder fiel ich von einem
Baum.
Ganz langsam drehte ich mich auf den Rücken und sah
auf meine Hand und den darin steckenden Bleistift. Ich
weiß noch genau, wie ich mich fragte, wie das in Gottes
Namen möglich war. Die Antwort bekam ich prompt, zusammen mit den einsetzenden Schmerzen, die wie ein DZug ungebremst in meinen Körper rasten. Neben ein paar
Schürfwunden und der geprellten Schulter blieb ich sonst
unverletzt.
Neben mir landete mein Zeichenblock mit dem begonnen
Ponykopf obenauf. Sascha hieß das Tier, wie ich noch erfahren sollte. Hinzu kamen einige Kirschen mit kleinen
Zweigen daran. So lag ich dort auf dem Boden, einen Bleistift durch die Hand gebohrt, im Mist der Ponys, stöhnte
und wand mich hin und her.
Für diesen ersten Eindruck, den ich bei ihr hinterlassen
hatte, gab es nun wirklich keine zweite Chance.
Und was tat sie? Sie lachte.
Iris stand hinter dem geschlossenen Gatter. Die Ponys
waren erschrocken einige Schritte weggetrabt. Die Sonne
stach mir in die Augen, und ich konnte Iris nicht richtig
sehen. Aber ich hörte sie lachen, so ungezwungen und echt,
wahrlich amüsiert, keine Sekunde voller Hohn oder Schadenfreude. Vielleicht war es auch das Lachen? Heute glaube
ich daran. Ich glaube, dass es eine Mischung aus allem war,
was da geschah.
Iris stand plötzlich über mir. Die Sonne direkt hinter
ihrem Kopf. Ich sah ihre Augen, ihre haselnussbraunen
leuchtenden Augen, die mich anstrahlten. Ohne eine Spur
14
Mitleid, und doch mit dem Blick eines Menschen, von dem
man Hilfe erwarten konnte.
Feine Züge spielten um ihren Mund, die mit ihrem
Lachen kleine Fältchen warfen. Ihre Nase war klein und
spitz. Die Brauen dünn über die Augen gezogen. Sie war
auf dem Weg eine Frau zu werden, stand genau in diesem
unbeschreibbaren Umbruch zwischen zwei Lebensbereichen. Noch das süße Mädchen in sich, aber auch schon
etwas Erwachsenes, schwer Erkennbares. Diese Eindrücke,
und wie ihre Haare in Strähnen neben ihrem Gesicht hingen, ist mir bis heute kristallklar in Erinnerung geblieben. So
vieles habe ich wirklich vergessen, diesen Anblick jedoch
habe ich fest in mir behalten.
Ich ergriff mit meiner gesunden ihre Hand, die sich mir
entgegenstreckte. Sie zog mich hoch und half mir auf die
Beine. Erst dann fiel ihr auf, dass mein Bleistift in der anderen Hand steckte. Ihr Lachen erstarb und wich jähem Entsetzen.
Ich habe sie nie gefragt, was sie in diesem Moment dachte.
Nie! Ist das nicht seltsam?
Wir speichern alle wichtigen Momente in unserem Leben
als Wendepunkte oder Markierungen ab, an die wir uns
immer wieder zurückerinnern können. Nicht selten sind es
andere Menschen, mit denen wir diese Augenblicke teilen.
In keinem dieser Momente habe ich gefragt, was die Menschen davon in Erinnerung behalten haben. Wahrscheinlich,
weil ich verhindern wollte, dass sie sich nicht mehr erinnern.
Oder weil ich nicht hören wollte, dass es für sie kein besonderer Augenblick war. Nun ja, Zweifel ist leichter zu ertragen als Enttäuschung.
»Mein Gott!«, sagte sie mit dem gleichen Entsetzten in der
Stimme, das man an den Tag legt, wenn bei einem Unfall
der beste Freund gestorben ist.
»Nein«, keuchte ich. »Der nicht. Nur Ronny«, entgegnete
ich mit gequältem Grinsen. »Ich bin Ronny!«
15
Dann schaute ich auf die Hand, auf meinen Stift, blickte
in den Baum und dann zu ihr.
»Ich komme von da oben, ich glaube, ich habe eben eine
irre Abkürzung gefunden!«
Iris starrte mich einige Sekunden tatenlos an. Das kann
einem sehr lange vorkommen. Doch schließlich ergriff sie
meine ›Hand mit Stift‹–Konstruktion und zerrte sie fest zu
sich.
»Scheiße, das muss doch höllisch wehtun!«, rief sie.
Ich zuckte mit den Schultern. Es schmerzte noch nicht.
Die Schulter pochte, okay, wie Galeerentreiber, die auf
Trommeln droschen. Die Schürfwunden brannten, weil sie
voller Dreck waren - doch der Stift inmitten meiner Hand
tat kaum weh.
Ich wuchs zu einer Zeit auf, da war es beinahe etwas Besonders, unverletzt nach Hause zu kommen. Die Kinder
wachsen heute zumeist in einer wohlbehüteten Umgebung
auf. Wenn meine kleine Tochter zu mir kommt, mit einem
Mikrosplitter im Finger, fahre ich sofort die große Apotheke
auf: Jod, Verband, Pflaster oder doch besser gleich den Notarzt! Aber damals …!?
Ich erinnere mich gut an eine Szene mit meiner Oma. Ich
hatte mir an der Holzleiter im alten Hof einen Splitter in die
Hand getrieben. Das Ding eiterte, und die Wunde glühte
gefährlich rot. Also ging ich zu meiner Oma - meinem Teilzeitkindermädchen. Sie nahm den Arm, drehte ihn wenig
zärtlich nach außen und riet mir, falls ich da unten, sie tippte
mit ihrem dicken Finger ohne Rücksicht auf die geschwollene Stelle, einen roten Strich sehen würde, sollte ich
wiederkommen. Dann würde sie den Splitter mit dem Kartoffelmesser rausschneiden. Heute weiß ich, dass sie meinte,
ich solle auf die Zeichen einer Blutvergiftung achten. Das
Kartoffelmesser, ein dünnes, in vielen Jahren oft geschärftes
kurzes Messer mit einem verschlissenen Holzgriff, zwang
mich dazu, selbst den Splitter zu entfernen. Und das gelang
16
mir auch. Hat man einmal im Leben mit einer glühenden
Stopfnadel, in und unter der Haut nach Holz gesucht, sind
danach garantiert viele Schmerzen auf der hauseigenen
Skala weit nach unten gerutscht.
»Geht so - muss ich aber nicht noch mal haben«, versuchte ich, witzig zu klingen.
»Idiot!« war alles, was sie sagte. ›Idiot‹ - wie sollte mich das
kleine, unscheinbare Wort noch verfolgen.
Sie zog mich am Handgelenk zu einer kleinen Hütte am
Ende der Koppel. Iris maß gerade mal eineinhalb Meter.
Aber dafür hatte sie einen recht kräftigen Zug am Leib. Sie
schob mich energisch in die kleine Hütte.
»Setzt dich da hin!«, befahl sie mir.
Ich erkannte eine Kiste und nahm gehorsam Platz. Als sie
sich wieder zu mir drehte, hielt sie eine kleine Metallkiste in
der Hand. Aus ihr holte sie ein Fläschchen und eine Rolle
Mull. Was man so alles auf einer Koppel finden konnte?
»Willst du ihn raus ziehen, oder soll ich das machen?«,
fragte sie mit einem Blick, in den ich mich auf der Stelle verliebte.
Eine Augenbraue zog sie leicht nach oben, kniff die
Augen zusammen und legte den Kopf schief. Ich weiß, es
klingt nach billigem Kitschroman, aber die treffen manchmal die Realität wie der sprichwörtliche Hammer den Nagel
auf den Kopf.
›Wow!‹, dachte ich und streckte ihr wortlos die Hand hin.
Sie sah mich an, nahm meine Hand - fast schon zärtlich und ergriff den Bleistift. Ein toller Trick, wenn es einer
wäre, so einen Stift aus der Handmitte kommen zu sehen.
Sie holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche, das
genau so aussah, wie es aussehen musste, wenn es seit
Tagen, was sage ich, Wochen in der Tasche hin und her
gerutscht war.
»Das wird wehtun, Ronny«, sagte sie, und ein Lächeln
umspielte ihre Lippen.
17
›Wow, was für ein Mund, was für ein Mädchen, was für ein
Anblick.‹
»Ach was!« erwiderte ich gelassen, mehr als ich es war.
Und dann zog sie.
Einmal sprang ich bei meinem Opa in der Scheune in eine
Heugabel. Ja, ich weiß, so etwas sollte man nicht tun. Aber
zu meiner eigenen Entschuldigung muss ich vorbringen,
dass ich das nicht absichtlich getan habe. Eine Leitersprosse
konnte meinen Erwartungen hinsichtlich der Stabilität nicht
gerecht werden. Ein langer, rostiger Zinken der Heugabel
bohrte sich durch meine Wade. Mühelos wie durch Butter,
nur eben deutlich schmerzvoller. Ich schrie wie am Spieß.
Mein Opa, ein Mann, der im Krieg Offizier gewesen war,
kam gemächlich in die Scheune, sah mich, erkannte, was er
sah und lachte. Von da an musste es wohl zur Gewohnheit
werden, dass die Menschen meine Tollpatschigkeit mit Lachen quittierten. Er zog die Heugabel einfach heraus. Das Gefühl spüre ich noch heute wie ein Ziehen in den Knochen.
Aber es hatte erst wirklich wehgetan, als der Metalldorn
entfernt war. Und es blutete pulsierend wie bei einem abgestochenen Schwein die aufgeschnittene Halsschlagader.
So glaubte ich mich also vorbereitet auf die ›Operation
Bleistift‹. Leider traf das nicht annährend zu. Heute bin ich
sicher, dass der Stift einen Nerv getroffen hatte oder an
einem Knochen der Hand rieb, gibt ja genug davon unter
der Haut. Jedenfalls schrie ich auf und zerrte die Hand in
einem Reflex zurück. Der Stift rutschte heraus. So weit, so
gut. Erschrocken hielt Iris das blutverschmierte Ding in
ihren Händen. Instinktiv zog ich die Hand zu mir, und mein
Blut schoss regelrecht aus der Handmitte. Ich versaute mir
den Pulli, versaute den Boden der kleinen Hütte, meine Hosen und die fast neuen Turnschuhe. Iris sprang zu mir, packte meine Hand und zog sie zu sich. Also versaute ich noch
ihren Pulli und die Jeansjacke, die, wie ich später erfuhr,
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dann zum ersten Mal gewaschen werden musste. Das Blut
spritze auf ihre Hand, den Arm, eigentlich überall hin.
»Du Vollidiot. Jetzt halt doch mal still!«, blaffte sie mich
an und drückte mit erboster Mine, den Blick starr auf die
verfluchte Hand gerichtet, das Papiertaschentuch in die
Wunde.
Geschickt öffnete sie mit dem Mund die Flasche Jod. So
schnell, dass ich keine Zeit hatte, darüber nachzudenken,
schüttete sie das Zeug in meine Handmitte, drehte sie und
verteilte den Kram auf der Handoberseite. Jahre später erfuhr ich von ihr, dass es Jod für Tiere war. Nun ja, mir sind
keine Hufe gewachsen, und die Hand ist noch dran. Was
schlimm war: das Feuer, das da wie ein Flächenbrand durch
die Wunde raste. Iris drückte fester das blutgetränkte Papiertaschentuch in die Wunde, packte die Mullbinde und begann, die Hand geschickt zu verbinden. Wie die Fesselbeine
eines Ponys.
Ich verfluchte irgendetwas, stöhnte und wand mich. Doch
Iris’ harter Griff verankerte meine Hand in der ihren. Am
Ende beugte sie sich herunter, riss mit den Zähnen den
Stoff der Binde durch und knotete die beiden Enden zusammen. Dann erst, und mir kam es widerwillig vor, entließ
sie meine Hand aus ihrem Schraubstockgriff.
»So, Memme!«, sagte sie und lächelte wieder.
Ihre Augen lachten noch vor ihrem Mund. Irgendwie
löste sich ein Pfropfen, und wir lachten beide. Iris setzte sich
zu mir und betrachtete unsere Klamotten. Diese blutige
Sauerei.
Ich folgte ihrem Blick und sah auf meine Hand, als sei es
die Pranke eines Außerirdischen. Sie hatte in der Tat mehr
davon, im Vergleich zu meiner anderen, menschlichen
Hand. Der Verband begann bereits durchzubluten, die Finger, braun vom Jod, bildeten einen schönen Kontrast zum
Weiß der Binde.
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»Himmel, du blutest ja wie ein Schwein«, sagte sie nach
einer Weile und wischte sich dabei eine Lachträne aus den
Augenwinkeln.
Ich schaute sie an.
»Wie heißt du?« fragte ich und atmete hörbar auf.
Die Schulter pochte im Wettstreit mit der Hand, unter
dem Pulli brannten die vermutlich hundert Schürfwunden.
Aber alles war erträglich. Lachen kann Schmerzen gut verdrängen.
»Iris!«
»Iris?«, wiederholte ich dümmlich. »Danke, … Iris.«
»Gern geschehen. Immerhin fallen nicht jeden Tag Jungs
aus den Bäumen, wenn ich zu meinem Sascha komme.«
Ich schaute durch die Hütte, hoch zu dem Baum und
nickte unwissend. »Sascha?«
Sie zeigte auf das Pony, das neugierig und inzwischen mutiger zur Hütte vorgerückt war.
»Das ist Sascha, und da hinten sind Jamai und Liselotte.«
Sie schaute mich an. »Meine drei Lieblinge.«
Ich nickte. »Deine?«
Sie lachte. »Nein, die sind von Heinrichs. Denen gehört
die Koppel. Ich kümmere mich nur um sie.«
Ich nickte wieder. Wenn das so weiterginge, bekam ich
gute Ähnlichkeit mit einem dieser Wackeldackel, die auf den
Mercedes-Benz Hutablagen neben den umhäkelten Klopapierrollen sitzen mussten. Ich musste das ändern.
»Was machst du denn auf dem Baum?«, fragte sie mich
plötzlich.
Ich sah nach oben, als könnte ich dort eine Antwort finden.
›Mein Gott‹, dachte ich, ›ich bin beinahe neun Meter in die
Tiefe gepoltert, wie eine Flipperkugel und habe mir nichts
gebrochen. Wenn das kein Zeichen ist.‹
»Gemalt.«
Sie starrte mich verständnislos an.
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»Kannst du auch in ganzen Sätzen sprechen, Ronny von
wo auch immer? Oder stammelst du stets so daher?«
Ich war entrüstet. »Hey, ich bin eben vom Baum gefallen.
Also gib mir die Zeit, mich zu sortieren«, fuhr ich sie an,
wurde aber sofort wieder sanfter in meiner Tonart. »Ich
habe Kirschen gestohlen und dabei gemalt. Da, deinen
Sascha.« Ich zeigte auf eines der Tier. »Ist das eigentlich ein
Er oder eine Sie?«
»Sascha ist eine Sie. Echt? Du malst Ponys?«
Ich wollte wieder nicken, erinnerte mich an die Hutablage
und sagte: »Ja, ist so eine Art Hobby von mir.«
Sie war es nun, die nickte. »Kann ich mal sehen?«
Ich deutete mit dem Kopf nach draußen. »Der Block liegt
vermutlich da, irgendwo im Dreck - so wie ich vorhin.«
Sie stand auf und lief zu der Stelle. Ich trottete hinter ihr
nach draußen und setzte mich auf eine alte, mit Moos und
Efeu überwucherte Bank - oder was davon im Laufe der
Jahre übrig geblieben war. Iris blätterte in meinem Block
herum, betrachtete meine Zeichnungen und setzte sich zu
mir. Um uns war es angenehm still geworden. Sascha und
die anderen Ponys standen ungeduldig vor uns. Sie hatten
Iris erkannt und erwarteten wohl Futter. Iris drehte den
Block einige Mal hin und her und gab ihn mir mit anerkennendem Blick. Ich legte ihn neben mich auf den Boden.
Dreckig war er so und so schon.
»Toll, du kannst gut malen. Fast so gut, wie vom Baum
fallen«, fügte sie süffisant hinzu.
Ich lachte ehrlich erleichtert. Vielleicht, weil es ein Kompliment war, von einem Pferdekenner zu hören, dass die
Zeichnungen wie Ponys und nicht wie degenerierte Hunde
aussahen. Vielleicht aber auch, weil ich mich in diesen Momenten verliebt hatte? Ich weiß es nicht.
Sie grinste mich an. Die Ponys waren nun ganz nahe zu
uns herangekommen. Iris stand auf, streichelte Liselotte
über den Kopf und klopfte Sascha auf die Flanke.
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Bei Ponys oder Pferden sieht man nicht unmittelbar, ob
ihnen das gefällt. Meine Katze schließt die Augen und
brummt wie ein V8-Motor, wenn ich sie zwischen den
Ohren kraule. Aber wer will schon ein Pferd neben sich auf
dem Sofa haben, das grunzt und brummt?
»Danke!«, sagte ich und wollte aufstehen, sackte aber
zurück.
Mir tat mein Fuß weh, was für ein Mist. Ich war mit dem
Rad hier, wenn der Fuß nicht wollte, war das ein echtes Problem.
Iris kam zu mir. Ich schaute sie an, und erneut war ihr
Kopf vor der untergehenden Sonne. Ihre Augen strahlten
mich an wie kleine Bernsteine, gebettet in helles Weiß. Eine
Haarsträhne hing ihr übers Gesicht, und sie blies sie ganz
nebenbei zur Seite. Ich sah ihre Hand, die sie mir reichte.
Und so ergriff ich sie. Mit einem Ruck war ich auf den Beinen. Sie zog mich zu feste hoch, und so stolperte ich ihr
entgegen. Sascha machte einen enormen Satz, Liselotte
schnaubte laut. Iris aber fing meinen Sturz nach vorne mit
beiden Händen an meiner Brust ab und verhinderte, dass
ich in ihren Armen landete.
Noch heute glaube ich, ihre warmen Hände durch mein
T-Shirt gespürt zu haben. Es sind so kleine Dinge, die mich
tiefer und tiefer in meine Erinnerung ziehen. Die mich nicht
loslassen und immer mehr glasklare Bilder vor meinem
inneren Auge erscheinen lassen.
So standen wir uns damals gegenüber. Eine Sekunde reglos, schweigend. Genau diese magische, alles erklärende Sekunde, in der das Leben einen völlig neuen Weg einschlug.
Ich wusste das, und heute kann ich sagen, dass Iris es auch
gewusst hatte.
»Upps«, entfuhr es mir, »sorry!«
Iris zuckte die Schultern. »Nix passiert.«
Nein, das stimmte nicht, und das war uns beiden klar. Es
war etwas passiert. Ihr und mein Leben hatten einen Weg
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gefunden, sich zu kreuzen. Das war geschehen. Nicht mehr
und keinesfalls weniger.
Ich bin nie der stürmische Typ gewesen. Wahrscheinlich
hätte ich uns viel Zeit erspart, wenn ich ihr in diesem
Augenblick einfach einen Kuss gegeben hätte. Heute würde
ich es vermutlich tun. Ich bin ein kleiner Feigling in Sachen
Liebe und erste Schritte gewesen. Es war mir bewusst, dass
die Mädchen aus meiner Altersklasse auf mich standen.
Irgendwie war ich auf meine Art der Typ ›süß‹. Eine Bekannte, die ich unlängst traf, und mit der ich in alten Zeiten
schwelgte, bezeichnete mich so. Kein typischer MädchenAbschlepper. Ich wollte erobert werden, zweifellos nur, weil
ich mir somit sicher war, dass das Mädchen wirklich auf
mich stand. Wie gesagt, das Verhalten eines klassischen
Feiglings. Wer kein Risiko eingeht, der wird auch nicht enttäuscht und muss nur mit dem Was-wäre-wenn leben. Das
ist erträglicher als unerwiderte Liebe.
Nun, ich küsste sie nicht. Verlegen und mit zunehmend
schmerzenden Knochen stand ich da. Also sah ich auf die
Uhr. Es war fast sechs Uhr durch. Ich musste nach Hause.
Bald. Nicht zwingend sofort.
»Na ja!«, druckste ich herum, »dann danke noch mal, für
das hier!« Damit hob ich die inzwischen tonnenschwere
Hand. »Ich muss dann mal wieder losfliegen«, sagte ich mit
einem breiten Grinsen und war mir nicht sicher, ob sie diese
Anspielung verstanden hatte.
»Oh, ja klar«, sagte sie und trat mir aus dem Weg.
Ich nickte, hob die andere Hand zum schwachen Gruß
und war mir sofort bewusst, wie bescheuert das aussehen
musste. Ich lief zum Gatter, fummelte es umständlich auf
und hinter mir wieder zu. Sie sah mir nach. Also schenkte
ich ihr noch einen dieser bescheuerten Winker und floh zu
meinem Fahrrad.
Ja, ich bin damals geflohen. Geflohen vor dem Gefühl
»Was war denn das hier?«. Geflohen vor ihr und weiteren
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schwachen Dialogen. Geflohen vor dem Moment, dessen
Wucht mich zu erdrücken drohte.
Iris winkte zurück, hatte das offene Lachen in ihrem Gesicht. Erst als ich aus ihrer Sichtweite war, mein Rad stand
etwas entfernt an einer Baumreihe, spürte ich ihren Blick
nicht mehr auf mir liegen.
Ich fuhr unter Schmerzen nach Hause und landete früh
im Bett. Ich war müde. So im Bett liegend lauschte ich auf
die Schmerzen in meinem Körper und erinnerte ich mich an
ihr Gesicht. Ich sah sie durch die Sonne zu mir herunter
blicken.
›Iris ...‹
Ich dachte mir, dass dies erst mal okay wäre. Immerhin
hatte ich damals noch Manuela als lockere Freundin. Eine
Zweckbeziehung. Ich war darauf eingegangen, weil ich
gerne angehimmelt werden wollte. Selbst wenn es von dicklichen, pubertierenden Mädchen kam, die viel Schminke
brauchten, um die Pickel zu begraben. Sie war die Tochter
eines Nachbarn neben dem Tennisplatz, auf dem meine Familie damals spielte. Solche Plätze schossen in den 80ern
wie Pilze aus dem Boden. Alle waren im Becker-Rausch, der
eben dabei war, durch die Rangliste ganz nach oben zu stürmen. Während mein Bruder und mein Vater Tennis spielten,
musste ich ja auch irgendwie beschäftig werden.
Also verbrachte ich die Zeit beim Nachbarn, schob meine
Zunge in den Hals von Manuela, ließ mich anhimmeln und
vergrub meine Hände unter ihrem Shirt in ihren gigantischen Brüsten. Wir knutschten die immer wiederkehrenden 45
Minuten, dann fuhr ich mit meinem Vater und meinem Bruder nach Hause.
Ich erinnere mich, als ich einmal mit Manu aus dem Kino
kam, entschloss ich mich ganz spontan, dass es Zeit wurde,
der Sache ein Ende zu machen. Alles nur aus einem Grund.
Ich lag damals noch lange wach in meinem Bett.
Wegen Iris.
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Telefonanruf
Tausend Worte gesammelt hab ich für Dich.
Gefallen will’s mir nicht.
So schweige ich und hoffe sehr,
Du erkennst, Liebe macht mir die Zunge schwer ...
ZWEI WOCHEN LANG passierte nichts. Nichts bedeutete: Ich hatte viel um die Ohren, und meine Hand heilte.
Heute würde jeder vernünftige Mensch, dessen Hand von
einem Stift perforiert wurde, zu einem Arzt gehen. Ich
dagegen schlich mich ins Haus, die Hand mit Verband in die
Hosentasche gequetscht, um kein Aufsehen zu erregen. Im
Keller lagen mein Zimmer und ein kleines Bad. Dort entfernte ich den Verband und wusch Jod und Blutreste säuberlich ab. Das Loch, ich schaute es mir angewidert an, klebte ich oben und unten mit einem Pflaster ab. Kein Schmerzmittel, keine Antibiotika, kein komplizierter Verband – nur
Pflaster.
Wie auch immer heilte die Hand schnell.
Es war der letzte Monat vor den Sommerferien 1982. Ich
besuchte die achte Klasse und befand mich im vollen Stress
der Zeugnisnoten. Meine schulischen Leistungen will ich an
der Stelle als klassischen Unterdurchschnitt betrachten. Die
sechste Klasse hatte ich zweimal machen dürfen, dank meiner Schwäche in Sprachen. Die siebte und achte Klasse bot
neuen Stoff, der von mir nur schwer erlernbar war. Na ja,
ich lernte eigentlich nicht, ich versuchte, mich wie Strom zu
verhalten. Suchte den Weg des geringsten Widerstandes. So
mogelte ich mich mehr schlecht als recht durch die Realschule. Das bedeutete in jeder Endphase eines Schuljahres
Sporen geben und die noch möglichen Fünfer vermeiden.
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Prolog
MACHT
IST EIN ERHABENES Gefühl, wenn
man sie inne hat. Man wendet seinen Blick auf sein
Opfer, sieht dessen Leiden und weiß, dass der eigene
Wille das einzig Entscheidende ist. In größter
Abhängigkeit kriecht dieses unterlegene Wesen am
Hacken des Stiefels entlang und winselt um Gnade.
Winselt um die Gunst seines Herren. Die Ausübung
dieser Macht kann Leib und Seele vollkommen
vereinnahmen und erfüllt den Sinn des Daseins. Man
spielt ein wenig Gott und ignoriert dessen Existenz.
Die Macht zieht allerdings eigenartige Kreise, wenn
man sie plötzlich aus der Hand geben muss. Wenn
sich das Vieh, das sich stets im Schatten bewegt hat,
nun plötzlich wider seiner Natur aufbäumt. Der
eigentliche Herr muss seiner Kraft erneut Nachdruck
verleihen, auch wenn er dies bereits wieder und
wieder getan hat. Doch nun erhebt sich der Dreck aus
dem Staub und ist gewillt, jeglichen gebrochenen
Widerstandskräften zum Trotz ein Leben in
Selbstbestimmung zu führen. Macht kann bröckeln,
wenn der Herr nachlässig wird.
In dem tiefen Loch liegt die zuvor mächtigste Frau
der Gruppe. Sie hat die Zügel in der Hand gehabt, hat
allen gezeigt, wozu sie fähig gewesen ist. Keiner hat es
gewagt, an ihr zu zweifeln. Doch Jackie hat einen
Fehler begangen. Einen Fehler, der ihr in diesem
Loch erst bewusst wird. Sie atmet schwer. Staub legt
sich auf ihre Lunge, und Blut tränkt ihr Gewand. Sie
ist verletzt. Verletzungen zugefügt durch ihre eigene
Gefolgschaft.
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6
»So werdet ihr es mir büßen!«, ruft sie hinauf. »Jeder
Einzelne von euch wird sein hageres Leben lassen
müssen!«
Doch erreicht Jackie die Meute mit ihren Worten
nicht. Stumm sehen sie zu ihr hinunter, umrunden
allmählich in abgehackten Schritten das Loch in der
Mitte des nahen Waldes, das sie zuvor gegraben
hatten. Von ihnen ist nichts als ein Murmeln, ein
Stöhnen zu hören. Zu sprechen sind sie seit langem
nicht mehr fähig. Diese Gabe hatte Jackie ihnen
nehmen lassen. Unbarmherzig und mit eiserner Faust.
Dieses Loch soll nun die letzte Ruhestätte der Herrin
sein. Die Sklaven Jackies haben ihren Aufstand nicht
geplant, doch waren sie zu viele, als dass die Herrin
sich hätte länger wehren können.
Bleiern legt sich der Schmutz auf Jackies Stimme.
Noch ist es nur Staub, der auf sie herniederfällt. Bald
werden es jedoch die ersten Erdbrocken sein, die
ihren Körper bedecken sollen.
»Ihr seid nutzlose Tiere!«, kreischt Jackie.
»Abschaum, der es nicht wert gewesen ist, am Leben
erhalten zu werden!«
Sie sucht den Blickkontakt zu ihren ehemaligen
Lieblingspuppen. Ruby und Scarlett haben ihr
immerzu zur Seite gestanden, doch nun gehören sie
nicht mehr ihr. Sie haben sich von ihrer Herrin
abgewendet. Jackie ist entmachtet. Besitzt lediglich
den blutverschmierten Fetzen auf ihrem Leib, hat
keine Gewalt mehr über ihre Schar.
Ruby wühlt mit ihrem Stiefel Blätter und Erde in
das Loch. Langsam, ohne Eile - wie es ihre Herrin
gern hatte, wenn sie ihre Sklaven quälte. Mit
sichtbarem Genuss starrt Ruby auf das gebrochene
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Erscheinungsbild ihrer Herrin. Sie zahlt ihr nun heim,
was ihr selbst angetan wurde, auch wenn Ruby keine
direkten Erinnerungen inne trägt, nur instinktiv
handelt.
Doch ist noch nicht der Wille Jackies gebrochen.
Ein weiteres Mal rappelt sie sich auf, und Lehm gräbt
sich tief unter ihre Fingernägel, als sie versucht, den
Rand des Lochs zu erklimmen. Scarlett erkennt das
Vorhaben als Erste und reagiert. Mit ihren Sohlen
tritt sie auf die Kuppen der Finger und genießt den
aufkeimenden Schrei Jackies. Wie oft hat Scarlett
ebenfalls so geschrien? Wie oft musste sie unter der
Herrin leiden? Dies ist nun vorbei.
»Ihr seid alle des Todes!« Die spitzen Flüche Jackies
verhallen in den Wipfeln der Bäume und erreichen
keine Menschenseele.
Haben diese Kreaturen noch eine Seele? Leer und
ohne klaren Gedanken, nur auf konturlose Rache aus,
schlurfen sie über den kleinen Friedhof im Wald.
Ohne erkennbare Struktur, ohne einen Anführer,
ohne jegliche Kommunikation. Aus den Tiefen ihres
Inneren gräbt sich nun der Hass und krallt sich in den
Köpfen der Puppen fest. Die Besessenheit nach
Genugtuung. Sie wollen Jackie leiden sehen. Wollen
ihre Herrin dem Erdboden gleichmachen. Es soll
endlich ein Ende haben.
Scarlett schnappt erregt nach Luft, als Jackie
rücklings wieder zu Boden fällt, und umrundet
gemächlich weiterhin im Kreis der Meute das
auserwählte Grab Jackies. Immer mehr der Puppen
gesellen sich hinzu. Die blassen Gesichter der
erbarmungslosen Wesen zeigen kaum eine Regung.
Weitere Kreaturen kommen hinzu. Es werden mehr
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und mehr. Alles Sklaven von Jackie. Nichts als ein
leises Murmeln ist zu hören.
Dann erscheint er. Jackie hat auf ihn gewartet. Er
ist ihre letzte Hoffnung. Zarte Freude über sein
Erscheinen zeichnet sich auf ihren Lippen ab. Er ist
immer die geballte Faust, ihr Peitschenhieb, ihre
Klinge und das Grauen ihrer Gefolgschaft gewesen.
Nun schaut er auf sie hinab. Sie erwartet, dass er
handelt – wie er es immer für seine Herrin getan hat.
Doch wirft er ihr lediglich das Kleid entgegen, dass
sie noch im Theater getragen hat. Reglos. Machtlos.
Zeigt kein Anzeichen von Reue. Es soll ihr
Leichentuch sein. Auch der Puppenbauer ordnet sich
in die Reihen des Gesindels ein, das das Ende der
Herrin sucht.
»Puppenbauer!« Jackie realisiert, dass er nicht mehr
ihre Marionette ist, wagt jedoch einen letzten
Versuch, ihm einen Befehl zu erteilen. »Puppenbauer!
So wehre er sich! Schlage sie nieder! Sie haben es
nicht besser verdient. Puppenbauer, deine Herrin
spricht hier!«
Aber er ist es, der im nächsten Moment den ersten
Brocken der herumliegenden Erde auf sie
niedergehen lässt. Der Puppenbauer beginnt, und die
Puppen, die Resultate seiner Gewalt, folgen ihm. Auf
die Gesichter von Ruby und Scarlett legt sich ein
bescheidenes Lächeln, welches gleichermaßen in
Jackies Gesicht erlischt. Die Lieblingspuppen wähnen
sich am Ziel angelangt. Die Herrin wird nun tief im
Wald begraben. Für immer.
Immer mehr Lehm, Geäst, Steine und Erde fällt auf
Jackie herab. Sie hält sich das Kleid des Puppenbauers
vor das Gesicht, kann sich jedoch nicht erwehren.
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Unter dem wachsenden Gewicht des Materials
ersterben ihre hastigen Bewegungen. Erde fällt von
allen Seiten in das Loch. Das Murmeln wird leiser, je
weiter sich die mühevoll geschlagene Schneise füllt.
Bis schließlich vollkommene Stille herrscht.
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