Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse

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Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse
Konrad oder Das Kind aus
der Konservenbüchse
Materialsammlung
Spielzeit 2013/14
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»Auf die Idee, Kinderbücher zu schreiben, bin ich überhaupt nie gekommen. Ich wollte, weil mir zu
Hause mit den zwei Kindern so langweilig war, ein Kinderbuch malen. Dazu habe ich aber eine
Geschichte gebraucht. Die habe ich mir erfunden und aufgeschrieben. Und wie dann das
Kinderbuch fertig war, hat den Leuten meine Geschichte besser gefallen als meine Bilder. Da habe
ich mir gedacht: Na schön! Dann male ich halt nicht! Dann schreibe ich eben!«
Christine Nöstlinger
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INHALT
Interview mit Christine Nöstlinger
Die Autorin Christine Nöstlinger
Nicht-Kindsein ist komisch
Der Nöstlinger ihre Verlegerin
»Der Neger bleibt ein Neger«
Auszüge aus einem Interview mit Christine Nöstlinger zu
»Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse«
Leben aus dem Reagenzglas
Die Familie im Werk Christine Nöstlingers
Jungs kleben an traditionellen Familienmodellen
Womit hab’ ich das verdient?
Elternfallen in der Erziehung
Fragwürdiges Beispiel für »musterhaftes Verhalten«
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Interview mit Christine Nöstlinger
von Katharina Nöstlinger, Fotos von Katarina Šoškić, Juli 2013
Wenn ich früher damit angegeben habe, dass meine Tante die »Geschichten vom Franz« und
»Mini« geschrieben hat, haben mir die Kinder immer unterstellt zu lügen. Jetzt bleibt diese
Information denen vorbehalten, die mich, wenn ich meinen Nachnamen sage, nach den
Verwandtschaftsverhältnissen fragen. So wie im Büro, wo die Augen in der Hoffnung auf
Connections zu einer der bekanntesten Kinderbuchautorinnen gleich zu funkeln begannen. Ganz
glücklich war ich nicht über den Vorschlag, ein Interview mit Christine Nöstlinger zu führen, da die
Verwandtschaft zwar vorhanden war, aber meinerseits nicht unbedingt gepflegt wurde. Als ich zum
Studieren nach Wien gezogen bin, hat sie mir ihre Telefonnummer gegeben und mich zum Essen
eingeladen. Ich habe nie angerufen. Ich war immer viel zu beschäftigt damit, mir in meiner ersten
eigenen Wohnung und der großen Stadt die Nächte um die Ohren zu schlagen. Umso schlechter
war das Gewissen, als ich mich schließlich drei Jahre später doch bei ihr meldete. Aber ihre
Einladung war nicht verfallen. Sie nimmt es mir auch nicht übel. Denke ich. Es ist genau das
Verständnis für junge Menschen, das ihre Buchhelden und -heldinnen so einzigartig und
authentisch macht. Mich beeindruckt, wie treffend die kleinen Ungerechtigkeiten, die einem als
Kind widerfahren, in den »Wischerbriefen« auf den Punkt gebracht werden. Oder die Krise des LukiLive, der in seiner Unzufriedenheit mit der Gesellschaft verloren geht und mit dem der Prototyp des
Hipsters schon vor 20 Jahren erfunden wurde. Ich habe ihre Bücher geliebt, wahrscheinlich habe
ich fast alle gelesen. Fast, denn es sind doch schon über 160 Stück, die Erwachsenenliteratur
mitgezählt. Nach dem Treffen mit Christine Nöstlinger, meiner Tante und Autorin, habe ich mir zwei
Dinge vorgenommen. Erstens werde ich die Bücher lesen, die mir auf die 160 fehlen. Zweitens
werde ich sie wieder besuchen.
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VICE: Es ist mir klar, dass das ein Gefallen ist, den du mir tust, danke!
Christine Nöstlinger: Na, das ist ja wohl wurscht.
Passiert dir das oft, dass dich Freunde und Bekannte um einen Gefallen bitten?
Naja, meistens ist der Gefallen eine Lesung. Das mache ich manchmal nicht oder nur ungern. Ich
kann diese ganzen Wünsche nicht erfüllen, weil ich sonst dreimal in der Woche für Gottes Lohn in
irgendwelche Schulen gehen würde, wo Enkelkinder oder Kinder von Bekannten oder Freunden
sitzen.
Also wenn dich etwas nervt, sagst du schon nein.
Ja, aber es fällt mir nie leicht. Ich bin eine eher konfliktscheue Person. So ein striktes Nein sage ich
ungern. Meistens komme ich mit Antworten wie »ich habe leider keine Zeit«, »jetzt nicht, vielleicht
später einmal« oder so.
Sehr höflich! Letztes Mal habe ich dich gefragt, ob du vielleicht einen unveröffentlichten Text
für die Ausgabe hättest. Und da hast du gleich gesagt: »Nein, ich hab nichts herumliegen, ich
schreibe nicht für die Lade.« Da habe ich mich gefragt, ob du eigentlich noch gerne schreibst?
Das ist verschieden. An manchen Tagen, wenn ich beim Schreiben das Gefühl habe, jetzt geht’s gut,
dann mach ich es gern. Aber es gibt auch Zeiten, in denen ich meinen Rechner umschleiche, als ob
er mein Feind wäre. Da will ich ihn nicht einmal hochstarten. Aber in meinem Alter kann ich mir
auch leisten, nicht mehr so emsig zu arbeiten wie früher. Ich habe jahrzehntelang 70 Stunden pro
Woche geschrieben. Jetzt komme ich wahrscheinlich auf nicht mehr als 25 Stunden oder 30.
O.k., aber hast du früher 70 Stunden geschrieben, weil es dir Spaß gemacht hat oder du dir
gedacht hast: »Das hab ich jetzt im Kopf, das muss ich sofort aufschreiben.«?
Ich hab so viel geschrieben, weil ich jemandem zugesagt habe. Ich habe eine Zeit lang in einer
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Riesenwohnung in der Piaristengasse gewohnt. Da hatte ich drei Schreibtische. Auf einem lag das
Buch, an dem ich gerade geschrieben hab, auf dem zweiten Schreibtisch lag die Arbeit für die
tägliche Zeitungskolumne und auf dem dritten Schreibtisch lagen die Sachen, die ich für den
Hörfunk gemacht habe oder Drehbücher fürs Fernsehen. Das musste ich auf drei Schreibtische
aufteilen, weil ich sonst in meinem Chaos überhaupt nie zurechtgekommen wäre.
Du hast dir also immer sehr viel Arbeit aufgehalst.
Ja, ich bin kein Mensch, der aus einem inneren Drang heraus unbedingt schreiben muss. Wenn sich
niemand für meine Bücher interessiert hätte, dann hätte ich wahrscheinlich zu schreiben aufgehört
und mir etwas anderes gesucht.
Es ist dir also auch nicht unbedingt ein Anliegen, den Kindern und Jugendlichen, für die du
hauptsächlich schreibst, etwas mitzugeben?
Na sicher ist es mir ein Anliegen! Egal, ob ich für Kinder, für Achtzigjährige oder für Fünfzigjährige
schreibe, will ich es so gut als möglich erledigen. Da fließt natürlich auch meine Weltanschauung
mit ein, worüber ich mich ärgere oder was ich für richtig halte. Aber einen wahnsinnig großen
Mitteilungsdrang habe ich nicht. Es würde mir auch reichen, am Abend mit Freunden
zusammenzusitzen und über Missstände zu schimpfen.
Das Buch »Maikäfer flieg« hat mir zum Beispiel deshalb so gefallen, weil es auf eine unnervige
Art lehrreich war.
Ich glaube, jeder Mensch hat irgendwelche Dinge erlebt, die so heftig waren, dass sie ihn noch viele
Jahrzehnte beschäftigen. »Maikäfer flieg« wollte ich schon schreiben, weil es ein Stück aus meiner
Kindheit ist. Außerdem habe ich gemerkt, dass Kinder von dieser Zeit eigentlich sehr wenig Ahnung
haben. Alles erklären kann man eh nicht. Wenn man Kindern alles erklären würde, was damals
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passiert ist, dann hätte man ein dickes Geschichtsbuch und keine Erzählung für Kinder. Also muss
man auch sehr viel weglassen. Ein Kind will nicht ganz genau wissen, wer und was eigentlich die
Gestapo oder die SS war. Man kann es anmerken, aber dafür müssen die Eltern oder andere
Menschen aus dem Umfeld schon ganz ehrlich und offen mit dem Thema umgegangen sein. Ein
Kinderbuch kann nur eine gewisse Stimmung vermitteln.
Bücher haben also auch eine erzieherische Funktion.
Naja, dümmer werden sie nicht davon. Mit Büchern setzt man flankierende Maßnahmen zur
Bewusstseinsbildung. »Maikäfer flieg« ist ja schon ziemlich alt, und als es erschienen ist, gab es
noch Kinder aus Nazifamilien, die ein grausiges Weltbild über die Hitlerzeit hatten. Diesen Kindern
wurde vermittelt, dass der Hitler eh ein guter Mensch war und Autobahnen gebaut hat. Also wenn
so ein Kind das Buch liest, wird sich seine Haltung wahrscheinlich nicht verändern. Die konnten
auch nichts dafür, dass sie so erzogen wurden. Wenn du von klein auf von deinen Eltern und
Großeltern hörst, dass das alles ganz anders war und die SSler eh ganz herrliche Menschen waren,
glaubst du das. Als Kind bist du einer solchen Erziehung hilflos ausgeliefert.
Es gibt auch viele Kinder, die außer dem Fernseher gar niemanden haben, der ihnen etwas
erzählt.
Ich hab nichts gegen das Fernsehen. Manchmal erfährt man im Fernsehen wesentlich gescheitere
Sachen als von den Eltern. Kommt darauf an, was man sich anschaut. Ich bin prinzipiell gegen
überhaupt kein Medium. Es hängt davon ab, wie dieses Medium benutzt wird. Sowohl von denen,
die es füttern, als auch von denen, die das dann konsumieren.
Beim Weltfrauentag vor zwei Jahren hast du erklärt, dass du eher pessimistisch in die Zukunft
blickst, wenn du dir deine Enkelin anschaust.
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Ich bin generell kein besonders optimistischer Mensch, ich bin ein heiterer Pessimist. Eigentlich
sehe ich alles von meinem Hirn her ziemlich pessimistisch und ich befürchte, ich hab damit gar
nicht so unrecht. Aber vom Gefühl her bin ich bei Gott nicht depressiv, sondern eigentlich ein recht
heiterer Mensch.
Du hast aber auch gesagt, dass du hoffst, dass das wieder ganz anders ausschaut, wenn sie 18
ist. Deine Enkelin ist jetzt fast 18. Hat es sich etwas zum Guten gewendet?
Es ist nichts anders. Aber sie sagt: »Das wird schon noch kommen, lasst mich in Ruhe!« Das ist
eine berechtigte Haltung. Ich bin 77 Jahre alt, ich kann mich in den Kopf einer Siebzehnjährigen
nicht adäquat hineinversetzen. Aber eines ist mir natürlich klar: Immer sind irgendwelche
Siebenundsiebzigjährigen dagesessen und haben den Kopf geschüttelt und gefunden: »So wie die
Jugend ist, das gefällt uns nicht.« Das hat es immer schon gegeben und wahrscheinlich bin ich
genauso. Aber um noch einmal zum Pessimismus zurückzukommen: Ich glaube, dass ein
vernunftbegabter Mensch früher oder später auch tatsächlich zur Vernunft kommt. Diejenigen, die
schon als Jugendliche nachgedacht und sich engagiert haben, waren immer schon in der
Minderheit. Das war nie die große Menge. Wenn ich mit 17 Jahren im Gymnasium Schriftsteller
gelesen habe, die mich fasziniert haben, und das den anderen nahebringen wollte, bin ich auf taube
Ohren gestoßen. Da ich ein beliebtes Kind war, haben sie sich das halt geduldig angehört, aber
dass deswegen wer Tucholsky, Hasenclever oder Ossietzky gelesen hätte, bezweifle ich.
Als beliebtes Kind hat man es leichter. Das ist ja auch oft Thema in deinen Büchern.
Ja, sicher. Aber ich glaube, es ist jetzt schlimmer. Menschen sind anscheinend von Natur aus sehr
feige. Und Mobbing über ein Medium zu betreiben, in dem man anonym ist, fällt den Menschen
einfach leichter als Face to Face. Das hat es ja früher nicht gegeben.
Du hast einmal gesagt, du warst ein fieses Kind.
Wenn ich von mir selber gesagt habe, dass ich ein fieses Kind war, dann gehe ich schon streng mit
mir um. Ich war natürlich kein sehr freundliches Kind. Wie man so schön sagt: Für eine gute Pointe
verkauft’s die Großmutter. Ich war nicht sehr liebreizend oder besonders geduldig und hatte eher
einen Hang zu leicht sarkastischen Gehässigkeiten. Aber ich war eigentlich immer recht beliebt,
also kann es nicht so arg gewesen sein.
Wenn wir — und ich glaube, da spreche ich für eine ganze Generation — am Computer sitzen,
passieren immer tausend Dinge gleichzeitig. Geht dir das auch so? Surfst du viel herum?
Nein. Letztens habe ich die Gebrauchsanweisung für meine Waschmaschine im Internet gelesen,
weil ich die gedruckte nicht mehr gefunden habe. Das ist praktisch. Aber sonst surf ich eigentlich
wenig. Aus Jux und Tollerei überhaupt nicht. Und wenn ich etwas nachschauen will, nehme ich
noch immer lieber ein Lexikon in die Hand. Ich hasse es, wenn ich mit einer oder mehreren meiner
Töchter am Tisch sitze und beim geringsten Schas im Wald wird sofort nachgeschaut. Das würde
mir nie einfallen.
Und zur Unterhaltung?
Ich lese viel und wenn ich sehr müde bin, dann schaue ich blöde Sachen im Fernsehen. So richtigen
Blödsinn. Da zapp ich zwischen den Sendern herum und irgendwo bleibe ich hängen. Manchmal
verfolge ich, völlig hirnrissig, vier verschiedene Programme, weil mich eigentlich keines interessiert,
ich aber dann doch wissen will, wie es weitergeht. Das kann ein Western sein, ein depperter Hans
Moser Film oder eine hirnrissige Komödie — ganz egal. Ich will dann auch gar nichts wirklich
Ernsthaftes sehen, sondern es geht mir um die Bilder.
Das heißt, beim Lesen kannst du dich weniger gut entspannen?
Das kommt wie beim Fernsehen ganz drauf an, was man liest. Zum Beispiel ist der Donnerstag fast
ausschließlich für DIE ZEIT reserviert. Zuerst löse ich im Magazin das Kreuzworträtsel. Ohne geht’s
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nicht. Das muss ich auch bis Freitag fertig haben, denn da kommt meistens der Anruf eines uralten
Freundes meines Ehemannes: »Und was ist neunundzwanzig senkrecht?« Dann bespreche ich mit
ihm das Kreuzworträtsel, weil er immer Angst hat, dass er schon von Alzheimer bedroht ist. Dafür
muss man schon das Hirn anstrengen, weshalb auch immer der halbe Tag vergeht, bis ich es gelöst
habe. Da arbeite ich dann auch meistens nicht mehr, höchstens eine Kleinigkeit.
Gibt es eine österreichische Tageszeitung, die du gerne liest?
Normalerweise, als ich nicht gerade gehbehindert war und jeden Tag außer Haus ging, habe ich mir
immer den Standard gekauft. Aber ich komme drauf, ich brauche ihn eigentlich nicht. Ö1 höre ich
sehr gerne und fühle mich auch sehr gut informiert. Was ich dann im Standard lese, das hab ich ja
am Tag davor schon im Abendjournal gehört. Und mein Gott, ganz übel ist die Presse auch nicht,
aber alles andere brauche ich eigentlich schon gar nicht. Und im Standard interessiert mich dann
im Höchstfall, wenn vernünftige Leute was schreiben, der »Kommentar der anderen«. Und das kann
man auch online lesen.
Der Computer ist also doch nicht ausschließlich für die Arbeit und Bedienungsanleitungen da?
Nein, natürlich nicht. Ich finde es auch toll, dass man mit Menschen schreiben kann, ohne einen
Brief zu verschicken. Obwohl ich sehr schlecht im Beantworten von Mails bin. Viele Leute sind total
erschüttert, weil ich nur alle zwei oder drei Tage meine Mails anschaue. Die können das nicht
glauben und rufen mich dann an: »Hast du mein Mail nicht bekommen?« Aber ich habe es natürlich
bekommen, ich lasse mich nur nicht zum Sklaven von hundert Mails am Tag machen. Ich habe
schon früher die Briefe nicht beantwortet, warum soll ich jetzt die Mails beantworten? Gut, Mails zu
beantworten ist ein bisschen einfacher als Briefe zu schreiben. Man muss sie nicht ausdrucken,
man muss sie in kein Kuvert stecken, man muss keine Briefmarke draufpicken, man muss nicht
zum nächsten Postkasten rennen, der jetzt eh schon ganz weit weg ist, weil man sie alle
abmontiert hat.
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Liest du eigentlich E-Books?
Ich hatte ein Kindle, aber das mag ich nicht. Ich blättere gerne, ich liebe gewisse Bücher auch
wegen der Papierqualität und des richtigen Satzspiegels. Es gibt natürlich auch hässliche Bücher,
aber die schönen habe ich gern in der Hand.
Aber Kinderbücher eher nicht.
Nein, ich lese keine Kinderbücher. Hin und wieder, wenn mir ein Verlag, bei dem ich bin, etwas
schickt, blättere ich es durch, aber ich habe keine Sehnsucht danach zu lesen, was meine Kollegen
zu erzählen haben.
Apropos Kollegen. Warum ist Thomas Brezina auf dich beleidigt?
Der ist beleidigt, weil er sich von mir sozusagen gemobbt fühlt. Aber ich schwöre, das war nicht ich.
Das war wer anderer, der so auf ihn losgegangen ist. Nur finde ich es nicht der Mühe wert, ihm das
auseinanderzusetzen. Und in Wirklichkeit ist er wahrscheinlich beleidigt, weil er nie Preise kriegt.
Aber ich habe überhaupt nie öffentlich über ihn geschimpft. Von mir aus soll jeder schreiben, was
er will, in der Qualität, zu der er im Stande ist. Ich gehöre auch nicht zu diesen Kinderbuchautoren,
die gegen jedes Buch, das einem nicht gefällt — ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt —,
wettern und sagen, dass das Schund sei. Außerdem finde ich, auch Kinder haben ein Anrecht
darauf, einfache Unterhaltungsgeschichten zu lesen. Die wollen sich ja auch ausrasten.
Da ist also gar keine spannende Geschichte dahinter?
Nein, ich kenne seine Bücher auch gar nicht näher. Irgendwann einmal habe ich eines gelesen.
Gefallen hat es mir nicht, aber es ist das gute Recht eines jeden Kindes, sich irgendwo zwei
Stunden zu entspannen und so ein Buch zu lesen. Wir Erwachsenen lesen ja manchmal auch
irgendwas, das nicht gerade das Gelbe vom Ei ist. Ich schaue halt blöd fern, ist auch nicht besser.
Wobei Unterhaltung und Entspannung nicht im Widerspruch zu guter Literatur stehen müssen.
Nein, überhaupt nicht. Ich habe jetzt nur das Wort »seicht« vermieden, um den Brezina nicht wieder
zu kränken. Man muss halt auch sagen, dass ich es leicht habe, weil ich Bücher schreibe, die von
der Kritik anerkannt sind, und ich trotzdem mein gutes Einkommen und somit ein gutes
Auskommen habe. Es gibt natürlich viele Kinderbuchautoren, die sehr gute Bücher schreiben, und
trotzdem bleibt der Erfolg aus. Es ist aber auch verständlich, dass die dann natürlich grantig sind,
wenn jemand, der sich nicht so plagt, etwas schreibt, das offensichtlich nicht so gute Literatur ist,
und trotzdem viel Geld verdient.
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Du hast schon des Öfteren gesagt, dass du dein Geld gerne ausgibst, und ich kann das
bestätigen, denn von dir habe ich immer die großzügigsten Spenden bekommen.
Peanuts.
Für mich damals als Kind waren das unglaubliche Beträge. Du wohnst aber trotzdem hier im 20.
Bezirk. Wenn ich dich besuche, fühle ich mich ein bisschen wie im Urlaub.
Im Spaß sage ich auch oft, dass ich schon immer im Ausland leben wollte. Das ist der eine Punkt.
Der wesentliche Punkt ist, dass meine Tochter zwei Gassen weiter wohnt. In meinem Alter habe ich
ganz gerne jemanden, der hin und wieder auf mich und meine Wohnung schaut. Außerdem hatte
ich es satt, dass ich immer, wenn ich meine Ansichten über Integration und Zuwanderer äußerte,
zu hören bekam: »Ja Sie haben’s ja leicht, Sie wohnen im 8. Bezirk — oder in Hietzing.« Einzig die
Infrastruktur lässt etwas zu wünschen übrig. Das ist aber auch klar, in einer Gegend, in der sehr
viele Türken wohnen, sperren langsam die österreichischen Läden zu und die türkischen machen
auf. Es ist halt hier etwas üppiger, man findet an jeder Ecke einen Ein-Euro-Shop, man kann in jeder
Gasse studieren, wie türkische Hochzeitskleider ausschauen, und es gibt erstaunlich viele
Handyshops. Aber stören tun mich die Türken überhaupt nicht. Manchmal stören mich die Wiener
Ureinwohner, die auf die Türken schimpfen.
Du bist im Penny Markt bei dir ums Eck überfallen worden.
Zielpunkt. Aber bitte, meine Tochter ist in Hietzing überfallen worden. Also was soll das, man kann
in ganz Wien überfallen werden. Das würde ich nicht diesem Bezirk anlasten.
Zurzeit gehst du ohnehin nicht viel raus, weil du einen Unfall hattest.
Ja, ich habe vergessen, in welchem Alter ich bin, und bin, um den Weg zum Taxi abzukürzen, über
einen mit Schnee bedeckten Eishaufen geturnt und saß dann im Herrenspagat auf dem Eishaufen.
Der Taxler war sehr erschrocken: »Gnä’ Frau, gnä’ Frau, is Ihna was passiert?« In dem Schock bin
ich aufgestanden und hab mir gedacht, »gut is’ gegangen, nix is’ gschehn«, bin noch in das Taxi
gestiegen und nach Hause gefahren. Wie ich dann im Lift gestanden bin, habe ich gemerkt, hoppla,
da tut aber doch einiges weh. Ich gehe schon raus, aber das ist mir lieber in Begleitung. Wenn man
auf zwei Krücken geht, kann man ja nichts tragen. Da kannst du nicht einmal ein Kaffeehäferl
transportieren. Ich brauche im Moment noch jemanden, der für mich einkauft. Aber sonst komme
ich zurecht. Es sind oft die winzigen Kleinigkeiten, zum Beispiel das Haustor unten geht streng auf.
Dann stehst du da mit zwei Krücken, innen beim Haustor, musst die Krücken in ein Eck lehnen,
aufpassen, dass die nicht umfallen. Dann musst du die Tür ein bisschen aufmachen, einen Fuß
reinstellen, dann mit einer Schulter die Tür aufdrücken, dann wieder nach den Krücken greifen. Es
geht, aber es ist mühselig.
Du erzählst das so gelassen, siehst du es mit Humor?
Na aber sicher. Man kann ja auch gleichzeitig frustriert sein und trotzdem das Komische an einer
Situation sehen.
Wenn du wieder ganz fit bist, was wirst du machen? Dich mit Freunden treffen?
Ja natürlich, ich habe viele Freunde. Es kommen auch jetzt viele zu mir, ich vereinsame also nicht.
Ich kann mir auch jetzt schon ein Taxi bestellen, mit den Krücken runterhumpeln, dann eben
mühselig das Haustor aufmachen und mich ins Taxisetzen und in ein Kaffeehaus oder in ein
Restaurant fahren. Dazu kommt, dass ich nie ein sehr beweglicher Mensch war. Ich bin eher ein
sitzender Mensch. Daher geht mir auch gar nicht so viel ab. Mein Mann ist im Waldviertel, wo wir ein
Haus haben, jeden Tag spazieren gegangen, manchmal drei Stunden. Er hat mich nie überreden
können, obwohl ich da nicht gehbehindert war, auch nur eine Stunde durchs Waldviertel zu
spazieren.
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Schon immer Stadtkind, niemals Landkind.
Immer Stadtkind. Mein Mann hat das Haus sehr gern gehabt und ich bin halt mitgefahren. Ob ich im
Waldviertel oder in Wien schreibe, war mir egal. Aber die Natur, ja, in der Sonne auf einem
Liegestuhl, okay, aber das ist schon alles, was ich an Natur brauche.
Du hast also im Waldviertel auch gearbeitet.
Ja, oft sogar viel mehr, weil die Ablenkung nicht so groß war.Im Waldviertel kommt man nicht in die
Versuchung, sich jeden Abend mit jemandem zu treffen oder jemanden einzuladen.
Bist du ein geselliger Mensch?
Ja. Aber ich bin kein Partytyp, der irgendwo hingeht, um mit zwanzig Leuten Smalltalk zu führen.
Ich habe bemerkt, dass ich zu Events mit hundert Leuten gehe und dann immer mit den drei
gleichen irgendwo in einer Ecke sitze. Da hätte ich nicht auf die Party gehen müssen, sondern hätte
mich einfach mit den drei treffen können. So gesellig, dass ich immer wieder neue Menschen
kennenlernen will, bin ich nicht. Ich bin ein eher treuer Mensch. Die richtig guten Freunde, die ich
habe, die habe ich seit fünfzig, sechzig Jahren. Viele natürlich sind jetzt schon weggestorben. Die
Männer, die Frauen gibt’s noch, wie das halt so ist. Es wird dünner rundherum.
Du hast auch Kochbücher geschrieben, ich habe sie zugegebenermaßen nicht gelesen, weil ich
nicht gerne koche. Ich weiß aber, dass du sehr gut kochst.
Das habe ich, glaube ich, schon verlernt. Kochen ist vor allem eine Sache der Routine. Mein
Ehemann hat wirklich gerne gegessen, da habe ich jeden Tag gekocht. Wenn du jeden Tag kochst,
dann kriegst du Routine und es geht dir geschwind von der Hand. Ich habe öfter für acht Leute drei
Gänge in zweieinhalb Stunden erledigt, und das hat mich nicht gestresst. Wenn ich heute
Menschen einlade und für die was zu essen mache, dann hole ich das Dessert aus dem Oberlaa
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und für das andere berechne ich den ganzen Nachmittag. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie
ich im Kochbuch nachschaue.
Hast du auch gekocht, weil du selbst gerne isst? Oder eher weil du dich freust, wenn es den
Bekochten schmeckt?
Ich esse überhaupt nicht gerne. Ich habe vor allem wegen meines Mannes gekocht. Außerdem für
Freunde, weil so viel Lob für so wenig Einsatz heimst man ganz selten ein. Ich habe schon andere
Sachen für Menschen getan, die mir viel mehr Mühe gemacht haben als Kochen, und bin nicht auf
so begeisterte Gesichter gestoßen. Anscheinend werde ich gerne gelobt.
Du erzählst öfter von den Schönheitsoperationen von Bekannten, und in deinen Büchern gibt es
zum Beispiel das übergewichtige Gretchen Sackmeier oder das Ameisenbär- Mädchen mit der
riesigen Nase und ohne Kinn. Wie wichtig ist das Aussehen einer Person?
Natürlich ist für ein Mädchen das Aussehen, durch alle Generationen hindurch, unheimlich wichtig.
Und die mit der großen Nase, ich bin mit so einer in die Schule gegangen, dieses arme Mädchen
hatte eine sehr große Nase. Allerdings nicht so groß, wie sie geglaubt hat. Und wenig Kinn. Die hat
sich immer die Hand auf die Nase gehalten, weil sie die Nase verdecken wollte. Man hat kaum
verstanden, was sie da drunter gememmelt hat. Da hatte ich auch ein lustiges, nein, eigentlich ein
trauriges Erlebnis. Ich war einmal in einer Schule und habe aus dem Buch vorgelesen. Ich habe
dann gefragt, was man da macht, und daraufhin hat die Klasse unisono gesagt: »Na eine gute Idee
wär’ doch, dass sie sich in einen Blinden verliebt!« Da sieht man, wie wichtig ordentliche Nasen
sind.
In dem Buch ist es nicht möglich, dem Mädchen die Nase zu operieren. Findest du
Schönheitsoperationen in bestimmten Fällen in Ordnung?
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Wenn die Nase sehr groß ist und es wäre meine Tochter, würde ich wahrscheinlich das Geld
herausrücken, aber prinzipiell finde ich es falsch. Ich weiß auch, dass es meistens nicht die mit den
großen Nasen sind, die sich dann wirklich operieren lassen. Ein Freund von mir, der plastischer
Chirurg ist, hat mir auch erzählt, dass das bei jungen Mädchen zu einer Sucht wird. Erst kommen
sie wegen der Ohren, dann wegen der Nasen, dann brauchen sie die Fettabsaugung an den
Oberschenkeln. Die wollen sich in ein Barbiepuppenwesen verwandeln. Und ich glaube, es ist noch
niemand zufriedener oder glücklicher geworden, wenn er operiert war. Zum Glück gibt es jetzt ein
Gesetz, dass man zumindest 16 oder 18 sein muss. Das halte ich für sehr vernünftig.
Ist man mit 18 erwachsen?
Manche müssen schon mit 14 erwachsen sein, manche Menschen sind es aber auch mit 70 noch
immer nicht.
Und du? Du hast gesagt, du warst für die 68er zu alt. Da warst du knapp über 30.
Ja, wenn man verheiratet ist, Kinder und einen Beruf hat, hat man keine Zeit für sowas. Das ist von
Studenten ausgegangen, jüngere, sehr linke Freunde von mir, die sind dreimal in der Woche am
Abend in einem Arbeitskreis gesessen und haben die außerparlamentarische Opposition diskutiert.
Ich bin daheim gesessen und habe meine Kinder gehütet.
Die dann selbst Arbeitskreise im Keller veranstaltet haben.
Das war aber später. Und auch nur eine war wirklich beinharte Maoistin. Das ist ja wieder ganz was
anderes im Vergleich zu den 68ern. Ich glaube, man nennt sowas Kaderpartei, die sich immer
wieder gespalten hat, bis es nur mehr zehn waren.
Wirst du eigentlich oft auf der Straße erkannt?
Nein, und da in der Gegend schon überhaupt nicht. Wenn, dann sind das meistens Frauen um die
Fünfzig, die mir dann nachrennen, mich anschauen und fragen: »San Sie’s?« Was sagst du auf
sowas? Ich weiß doch gar nicht, wen sie meint. Gibt ja auch Verwechslungen. Als ich in der
Josefstadt gewohnt habe, hat eine alte Frau immer zu mir gesagt: »Guten Tag, Frau Burkhard!« Die
Frau Burkhard ist die Schauspielerin, die Mundls Ehefrau gespielt hat. Ich bin da nie eingeschritten.
Einmal, bei irgendeinem Theaterstück, in dem die Burkhard mitgespielt hat, sagt sie nach der
Vorstellung zu mir: Ȇbrigens, in der Josefstadt ist eine, die verwechselt mich mit Ihnen. Die sagt
immer zu mir: »Guten Tag, Frau Nöstlinger.«« Ist wahrscheinlich dieselbe Alte gewesen.
Fühlst du dich geschmeichelt bei der Verwechslung oder eher nicht?
Das ist nicht schlecht. Wir haben uns beide nicht empört, sie ist eine gute Schauspielerin, ich bin
eine halbwegs gute Autorin, da kann man schon verwechselt werden. Auch wenn wir uns überhaupt
nicht ähnlich schauen. Das hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass sie die Frau vom Mundl
gespielt hat und ich Mundartgedichte verfasst hab. Da dürfte sich im Kopf dieser Dame halt einiges
verknotet haben.
In »Villa Henriette« hast du auch selbst eine kleine Rolle übernommen.
Ja, ich habe eine Hausmeisterin gespielt.
Hat dir das Spaß gemacht?
Nein, überhaupt nicht. Filmen macht keinen Spaß und dauert ewig. Da sitzt man den ganzen Tag
für einen Satz herum. Einmal stimmt das Licht nicht, einmal hört der Tonmeister etwas, das nicht
dazugehört, dann sieht man wieder den Schatten vom Mikrophon. Filmen bedeutet herumsitzen
und warten. Aber das sind halt so Gags von Filmregisseuren, dass sie selbst oder der Autor
irgendwo im Film kurz auftritt. So wie bei Hitchcock, der ja auch oft als Statist dabei war.
http://www.vice.com/alps/read/christine-noestlinger-interview-v7-n6?Contentpage=-1
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Die Autorin Christine Nöstlinger
Christine Nöstlinger zählt zu den bekanntesten deutschsprachigen Kinder- und
JugendbuchautorInnen. Ihre zahlreichen Erzählungen und Romane wurden in mehr als zwanzig
Sprachen übersetzt und mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 2003 erhielt sie den
renommierten Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis für Literatur, die ehrenvollste Auszeichnung im
Kinder- und Jugendliteraturbereich.
Die Erzählungen der Wiener Autorin bewegen sich im Radius von Familie, Schule und
Nachbarschaft. Im Zentrum steht dabei oft das Durchschnittliche und scheinbar Banale. Innerhalb
des begrenzten Sujets von Familienleben und Mittelschichtalltag arrangiert Nöstlinger jedoch eine
Vielzahl an Reibungsflächen. Der sozialkritische Realismus, die unbeschönigende Darstellung von
Familienleben und Kindheit, emanzipatorische Ideen und die Verwendung von Dialekt in ihrem
Sprachgebrauch haben Christine Nöstlinger so mitunter die Kategorisierung als „Tabubrecherin“
verschafft.
Dabei schreibt Christine Nöstlinger vor allem auch gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und
Diskriminierung an; sie stellt sich auf die Seite der Schwachen, Ängstlichen, Schüchternen und
Außenseiter: „In Christine Nöstlingers Geschichten ist nicht von den „Großen“ und ihren Erfolgen
die Rede sondern vom Alltag der „Kleinen“: ihrer Ohnmacht, ihrem Klein-gemacht-Werden, ihrer
Handlungsunfähigkeit, aber auch über ihren „Widerstand“, ihre Wut und ihren Zorn (über die
Erwachsenen, die nicht und nichts verstehen).“1
Christine Nöstlinger geht es darum, mit ihren Geschichten Mut zu machen, auch wenn dies nicht
zwangsläufig mit einem klassischen Happy End einhergehen muss: „Ich gab den Versuch, an einem
Heilungsprozess teilzunehmen, auf und legte mir einen Handel mit Heftpflastern zu. Das Gewerbe
des Heftpflasteraufklebens soll man nicht verachten! Trostpflaster, zum Beispiel, haben ihren
guten Sinn. Und Trostpflaster gegen die herrschende Kälte im zwischenmenschlichen Bereich tun
wohl. Auch ein wenig Zusammenhänge erklären, weil man besser lebt, wenn man den „Durchblick“
hat, und ein wenig Anstacheln zum Aufmüpfen, weil man sich besser fühlt, wenn man sich nicht
dauernd duckt, und ein wenig zum einander liebhaben bieten, weil man so das Wissen und das
Aufmüpfen besser durchsteht, gehören zum Heftpflaster-Handel.“2
Bekanntheit und Beliebtheit ihrer zahlreichen Geschichten und Romane sind vielleicht darauf
zurückzuführen, dass Christine Nöstlinger es schafft, die Welt der Kinder und Erwachsenen dabei
auf humorvolle und gänzlich unpathetische Art zu schildern.
1 Peter Malina: Zu Christine Nöstlingers Zeit-Geschichten. In: Sabine Fuchs, Ernst Seibert (Hrsg.): »...weil die Kinder
nicht ernst genommen werden. Zum Werk von Christine Nöstlinger.« Wien: Edition Praesens, 2003. S.52.
2 Christine Nöstlinger: Die Richtung der Hoffnung. Rede anlässlich der Verleihung des Hans Christian Andersen Preises.
In: Christine Nöstlinger: Geplant habe ich gar nichts. Aufsätze, Reden, Interviews. Wien: Dachs, 1998. S. 43 f.
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Nicht-Kindsein ist komisch
Das »Austauschkind« beschließt den Optimismus der lernfähigen Familie. Fortan handeln
Nöstlingers Romane fast durchweg von der gestörten Familie. Einige Bücher tragen nun den
Untertitel »Familienroman« und signalisieren damit die parodistische Komik. [...] Diesen Romanen
fehlt die für die konventionelle Familienhandlung obligate Konfrontation der Generationen. Der für
das Kinderbuch der 80-er Jahre oft verwendete soziologische Terminus der „Entdramatisierung des
Generationenkonflikts“ suggeriert, dass nach theatralisch überhitzten Kämpfen (etwas
Hysterisches schwingt dabei mit) der 70er Jahre eine „normale“ Konfliktlage eingetreten ist. Davon
kann in Nöstlingers Romanen nicht die Rede sein. Denn die Figuren beziehen sich zwar in
vielfältiger Weise aufeinander, beziehen dabei aber nicht die Position einer Generation. Erziehung
findet nicht mehr statt.
Die Grundsituation der „Familienromane“ ist die Abwesenheit der Eltern, sei es physisch oder
mental. Sie bringt die Kinder in eine defizitäre Lage, in der es nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder
sich aufzugeben - die Konstellation im Problembuch - oder eine Stärke zu entwickeln, die das
Elternversagen kompensiert, ja die Erwachsenen überhaupt substituiert. Die Substitution der
Erwachsenen, die sich abgemeldet haben, ist allerdings kein triumphaler Akt. Sie ist die Notlösung.
Eine Notlösung stellt immer eine Inkongruenz dar, sie ist das Unangemessene per se. Damit ist sie
potentiell ein komischer Gegenstand. Die Kinderfiguren, die im biographischen Wirrwarr der Großen
einen Platz suchen, wo sie ohne die Eltern beeinträchtigen zu müssen, doch nicht zu kurz kommen,
- diese vernünftigen Kinder sind komisch mit all ihren Lösungskonstruktionen und -strategien. Sie
scheinen zu weite Kleider zu tragen, in denen sie immer ein bisschen verschwinden. Es ist nicht
mehr auszumachen, was erwachsen ist und ob es das noch gibt. Wenn es aber keine Menschen
mehr gibt, die Verantwortung für ihren Nachwuchs tragen, gibt es auch nicht mehr so etwas wie
Kinder. Diese Absurdität deutet sich - sehr verhalten - in Nöstlingers Komik an. [...] Das Komische
lebt von deutlich kontrastierenden Kontexten und von ihrer Verrückung; auf Nöstlingers spätere
Romane bezogen: vom Eltern-Kind-Rollentausch. Diese Verkehrung hat Eindeutigkeit. Sie ist
zudem von grundlegendem Ernst, insofern sie von der Verbindlichkeit der Begriffskonstellation
Eltern / Kinder ausgeht. Nöstlinger hält an diesem Ernst und dieser Verbindlichkeit fest und
unterscheidet sich dadurch von leichtem Spaß, der sich in der Beliebigkeit von Rollenspielen
erschöpft. [...]
Aus: Maria Lypp: Kindsein ist komisch. Zum Lachen bei Christine Nöstlinger. In: Sabine Fuchs, Ernst
Seibert (Hrsg.): „...weil die Kinder nicht ernst genommen werden. Zum Werk von Christine
Nöstlinger.“ Edition Praesens, 2003.
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Der Nöstlinger ihre Verlegerin
Über die Zusammenarbeit mit einer Autorin, wie sie sich jeder Verleger wünscht
von Silke Weitendorf
Vor mehr als dreißig Jahren, da gab es noch das »sternchen«, die Kinderbeilage der Illustrierten
»Stern«. Und dort sollte damals, 1970, der zweite Roman einer jungen österreichischen Autorin als
Vorabdruck erscheinen. Eine Geschichte von ganz sonderbaren Dingen, die geschehen, als Oma
Seifertiz die Ratschläge des Mr. Bat befolgt, der die größte Erfindung aller Zeiten gemacht hat … Es
war ein Science-Fiction-Märchen, auf das die Redakteurin der Zeitschrift uns damals aufmerksam
machte – frisch und unkonventionell, wenngleich auch in teilweise ungewohnt österreichischer
Tonlage.
»Mr. Bats Meisterstück oder Die total verjüngte Oma« wurde 1971 der erste Titel, den Christine
Nöstlinger im Oetinger Verlag veröffentlichte. Es folgten unter anderem die Trilogie von Gretchen
Sackmeier, die Franz-Geschichten, Luki-Live, Ilse Janda 14, Olfi Obermeier und viele mehr. 30
Bücher in dreißig Jahren. Bücher, in denen sie die Wirklichkeit mit all ihren Freuden, Sorgen und
Nöten so schildert, dass der Leser sich ernst genommen fühlt. Bücher, in denen sie
schwerwiegende Probleme behandelt, verzwickte Familienverhältnisse, Scheidung und Ehekrise,
Frustration und Flucht, Frauen- und Männerrollen, Schulprobleme, Umweltschutz und immer wieder
ein Plädoyer für die Selbstbestimmung des Kindes hält – am schönsten dargestellt in der herrlich
verrückten und humorvollen Satire von Konrad, dem Kind aus der Konservenbüchse, das sich vom
fabrikmäßig hergestellten Anpasser zum aufmüpfigen antiautoritären Jungen entwickelt. Nie
fehlen bei ihr jedoch der köstliche Humor und die Ironie, die jedes Buch zu einem reinen
Lesevergnügen werden lassen. Und es ist gerade ihre Sprache mit den vielen Wortschöpfungen und
Neuzusammensetzungen, die das absolut ungewöhnlich Frische und Besondere an ihren Büchern
ausmachen. Dabei war gerade die Sprache am Anfang unserer Zusammenarbeit noch ein Problem.
»Ich nehm dem Papa sein Rad« zum Beispiel ist zwar »echt Nöstlinger«, hätte aber Eltern und
Lehrer in Deutschland aufschreien lassen. Also wurde daraus »Ich nehm das Rad vom Papa«.
»Papas Rad« aber wäre unmöglich gewesen, hätte Christine nicht gefallen und wäre nicht ihre
Sprache gewesen. Aber alles, was sich aus dem Text erklärt, haben wir gelassen und so wissen
unzählige Kinder in Deutschland nun, dass Tomaten auch »Paradeiser« heißen können und ein
Kasten manchmal kein Kasten, sondern ein Schrank ist.
Zu meinen absoluten Lieblingsfiguren gehört der piepsstimmige, mit Ringellocken bekränzte Franz,
der auf ganz einfache Weise alle diese Nöstlinger-Qualitäten vereint. Als 1979 die Erstlesereihe
»Sonne, Mond und Sterne« startete, fragten wir Christine, ob sie nicht Lust hätte, für die Reihe zu
schreiben. Zunächst erschienen ihr die Vorgaben zu didaktisch, aber sie wollte es versuchen. 1983
überraschte sie uns dann mit dem ersten Band der »Geschichten vom Franz«, diesem idealen
Buch-Charakter, der so ideenreich sein Kinderleben lebt und den sie mit ihrem unverwechselbaren
Charme und mit viel Humor zum Leben erweckt hat und von dem es mittlerweile elf Bände gibt. Ich
weiß nicht, wie oft ich schon die Geschichte vom »Muttertagshut« laut vorgelesen habe – am
besten vor jungen Eltern – und immer wieder spontane Begeisterung erntete. Denn am »Franz«
zeigt sich ein typisches Nöstlinger-Phänomen besonders deutlich: Die Geschichten gefallen sowohl
Kindern als auch Erwachsenen. Sie lachen zwar nicht an den gleichen Stellen, aber sie lachen.
Christine Nöstlinger möchte nämlich, dass der Erwachsene auch etwas von der Geschichte hat, die
er seinen Kindern vorliest. Sie selbst dagegen liest gar nicht gerne vor – obwohl sie es hervorragend
gut kann. Denn Christine Nöstlinger versteht es nicht nur beim geschriebenen, sondern auch beim
gesprochenen Wort so anschaulich, unprätentiös und mit trockenem Humor zu erzählen, dass man
gar nicht aufhören möchte mit ihr zu sprechen. Sie ist ein heiterer, positiv eingestellter Mensch,
geht mit sich selbst robust um und lässt es kaum zu, dass man sie bedauert oder tröstet. Sie ist
eigentlich die Ideal-Autorin, die sich jeder Verleger wünscht. Christine Nöstlinger ist eine äußerst
unkomplizierte Autorin, »pflegeleicht« sagt sie selbst. Ein Profi, bei dem man als Verleger wirklich
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noch das Gefühl hat, sich gegenseitig zu ergänzen, um für beide Seiten das Optimale zu erreichen.
Wenn wir sie um ein neues Buch baten, dann sagte sie ganz einfach: »Ja, mein Schatz, das kriegst
du«. Und es kam tatsächlich. Und sicher hätte es auch weniger Franz-Geschichten gegeben, wenn
wir nicht immer wieder neue Themen angeregt hätten: Reisegeschichten,
Freundschaftsgeschichten, Umweltgeschichten und andere. Nur – und das ist auch typisch
Christine – war das nächste Manuskript dann gar keines aus dem vorgeschlagenen Themenkreis,
nein, dann kam etwas überraschend anderes. Und an die Fußballgeschichten mag sie sich noch
nicht herantasten, das Wagnis sei ihr zu groß, da sie nichts vom Fußball verstehe. Mit oder ohne
Fußballgeschichten – wir wünschen uns, dass wir mit Christine noch viele gute Jahre
zusammenarbeiten werden, freuen uns auf ihre nächsten Bücher und Ideen und wünschen Ihr,
dass Sie auch in Zukunft so optimistisch, humorvoll und unabhängig bleibt wie bisher!
http://www.1001buch.at/bibliothek/autoren/noestlinger.html#roeder
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»Der Neger bleibt ein Neger«
Die preisgekrönte Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger will keine Wörter verhaften, um üble
Gesinnung zu bekämpfen.
von Christine Nöstlinger, 24. Januar 2013
Illustration zur "Mohren"-Geschichte aus dem "Struwwelpeter" (Heinrich Hoffmann, 1858)
Was in Deutschland gerade »angesagtes Thema« ist, bläst der sanfte Ostwind stets mit einiger
Verzögerung wienwärts. Drum las ich mich vergangenen Donnerstag leicht verblüfft durch die drei
ZEIT-Seiten, welche die neueste Aufregung, Kinderbücher betreffend, abhandeln. Und murmelte
hernach, Pippi Langstrumpf ein Häuchlein variierend: »Man bekommt allerhand zu lesen, bevor
einem die Augen aus dem Kopf fallen!« Worum geht’s? Es geht darum, ob man Kinderbuchklassiker
von allen Wörtern und auch Szenen, die heutiger Political Correctness nicht entsprechen, säubern
darf oder ob das unzulässige Zensur ist. Es geht um »Neger« und »Mohr«, um lügende Afrikaner,
um Faschingskostüme, alles in allem um »weißes Dominanzdenken« und »Kolonialrassismus«. Ja,
ja, die Political-Correctness-Sheriffs leisten ganze Arbeit! Kinderbuchautoren sind ja nun daran
gewöhnt, dass ihre Texte nicht nur von den jungen Lesern, für die sie geschrieben wurden, beurteilt
werden, sondern auch von jeder Menge erwachsener Leute, die zu wissen meinen, welche Lektüre
»kindgerecht« sei. Eltern, Omas, Lehrer, Bibliothekare, alle reden da mit und drein. Und da
Kinderbücher nur selten vom kindlichen Leser selbst gekauft werden, sondern von Eltern, Omas,
Lehrern und Bibliothekaren, nehmen die meisten Kinderbuchverlage ein bisschen Rücksicht auf die
Meinungen dieser »kindertümlich befassten« Personengruppen. Und die Autoren, die ihre Bücher
ebenfalls gern gut verkauft wissen wollen, sehen das meistens ein. Das Fahnden nach politisch
Unkorrektem ist sichtlich ein neuer Trend. In den vergangenen Jahrzehnten ging es um: zu viel
Erotik, zu viel Aufmüpfigkeit, zu wenig gesittete Ausdrucksweise, zu wenig heile Welt und zu
negativ beschriebene Lehrer und Mamas. Jetzt weht der Protestwind halt aus einer anderen
Richtung. Aber ob nun Wind von rechts oder links, ganz gleichgültig, das geschieht, weil
Kinderbücher nicht als richtige Literatur gelten, sondern als so etwas Ähnliches wie
Erziehungspillen, eingewickelt in buntes G’schichterlpapier. Und je nachdem, wie die Dreinreder
Kinder erzogen und zugerichtet haben wollen, sind eben ihre Vorstellungen von brauchbarer
Lektüre für Kinder. Was meine eigenen Bücher angeht, habe ich keine Ahnung, wie oft ich vor 40, 30
Jahren gegen das, was heutzutage als politisch korrekt gilt, verstoßen habe. Ich weiß auch nicht,
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ob ein Verlag bei einer Neuauflage »verbessernd« tätig geworden ist, ohne mich darüber zu
informieren. Ich verbringe meine Tage ja nicht damit, die neuen Auflagen meiner Bücher zu lesen.
Aber ich glaube nicht, dass bei meinen Verlagen Lektoren derart selbstherrlich mit Texten
umgehen. Jedenfalls erinnere ich mich an einen einzigen »Neger«, der sich bei der Neuauflage in
einen »Schwarzen« wandelte, wodurch allerdings ein kurzer Absatz entfallen musste, in welchem
ich seinen Sohn »Halbneger« und seinen schönen Enkel »Viertelneger« nannte und damit meine
Leser auf den absurden Unsinn von Rassenideologie aufmerksam machen wollte. Aber so gut war
der kleine Spaß nun auch wieder nicht, dass ich meinte, nicht auf ihn verzichten zu können. Obwohl
mir ein Sternchen beim »Neger« und dazu der Hinweis, dass dieser Ausdruck vor 30 Jahren nicht
als diskriminierend galt, auch gereicht hätte. Mit Kindern kann man nämlich sehr vernünftig reden.
So wie sie verstehen, dass in einem Buch, das vor 30 Jahren geschrieben wurde, die Kinder kein
Handy, aber einen Plattenspieler haben, so würden sie auch verstehen, dass damals das Wort
»Neger« üblich war und verändertes Bewusstsein veränderte Sprache bringt. Was mit meinen
Büchern passiert, wenn sie übersetzt werden, kann ich nicht kontrollieren. Ich fürchte, da passiert
einiges, was mir sehr gegen den Strich ginge, wüsste ich davon. Vor vielen Jahren etwa, sagte mir
die Chefin des italienischen Verlages, der ein paar Bücher von mir im Programm hatte, in aller
Seelenruhe: »Also, die erotischen Stellen haben wir weggelassen, unsere italienischen Kinder sind
da noch nicht so weit!« Was in Russland, Polen, Korea, China oder der Türkei von Verlagen für
»kindgerecht« gehalten wird, will ich mir lieber gar nicht ausmalen. Ich kann ja ohnehin nichts
dagegen tun. Soll ich vielleicht alle meine Bücher aus mehr als dreißig Sprachen auf eigene Kosten
rückübersetzen lassen, um sie hernach auf Werktreue zu kontrollieren? Also, erstens nehme ich
mich nicht so ernst, dass ich das für angebracht hielte, zweitens verdiene ich nicht so viel, dass ich
mir das leisten könnte, und drittens habe ich nicht den Marktwert von Astrid Lindgren, deren Protest
gegen eine Veränderung reuige Zerknirschung bewirkte. Ich würde bloß als »schwierige Person«
gelten, deren Bücher man besser gar nicht übersetzt. Außerdem bin ich in Sachen Protest ohnehin
damit ausgelastet, meine Muttersprache, das Österreichische, bei deutschen Verlagen nicht völlig
ramponieren zu lassen; was mir oft, aber nicht immer gelingt. Doch diese Sorte von Dreinreden wird
vor Erscheinen der Bücher letztlich einvernehmlich beendet, da ist es nicht angebracht, hinterher
zu jammern. Und mit Political Correctness hat es auch nichts zu tun, wenn ein deutscher Verlag,
weil er viele rügende Briefe von Lehrern bekommen hat, darauf besteht, dass jemand nicht
»gesessen ist«, sondern »gesessen hat«. Bis auf den einen eliminierten »Neger« habe ich also
anscheinend eine politisch korrekte weiße Weste! Könnte aber sein, dass die demnächst einen
dunklen Fleck bekommt. Literatur ist, sehr simpel gesagt, ein Stück Welt, in Sprache umgesetzt.
Und es könnte leicht sein, dass in dem Stück Welt, das ich gerade in Sprache umsetze, mein
Großvater im Herbst 1945 heimkommt und stolz und aufgeregt meiner Großmutter berichtet: »Jetzt
hab ich zum ersten Mal im Leben einen Neger gesehen!« Tut mir leid, aber exakt so hat er es gesagt
und es kein bisschen böse gemeint. Und so werde ich es hinschreiben. Und meine Leser werden
weder meinen Großvater für einen Rassisten halten, noch beschließen, ab jetzt Menschen mit
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schwarzer Haut Neger zu nennen. All das, was ich sonst noch von meinem Großvater erzähle,
schließt nämlich den Rassismusverdacht völlig aus, und Kinder, zu deren Sprachgebrauch »Neger«
zählt, haben das nicht aus Kinderbüchern, sondern von ihren Bezugspersonen. Von denen haben
sie gelernt, über Minderheiten verächtlich zu reden. Rassismus ist eine Gesinnung, an der sich
leider wenig ändert, wenn man Wörter abschafft. Die Struwwelpeter-Geschichte vom »Mohren«
etwa könnte man wohl als rassistisch bezeichnen. Aber nicht, weil der schwarze Bub »Mohr«
genannt wird, sondern, weil die spottenden Buben mit schwarzer Haut bestraft werden. Und das –
könnte man sagen – hieße doch, dass eine weiße Haut besser als eine schwarze sei. Sonst wäre es
keine Strafe, kohlrabenschwarz geworden zu sein. Könnte man sagen, muss man aber nicht. Und
ich tue es auch nicht. Ich habe einfach keine Lust, Sheriff zu spielen und in alten Geschichten, die
keinem Kind geschadet haben, Wörter zu verhaften. Kinderbücher sind keine Pflichtlektüre. Wer
meint, ein bestimmtes Buch könnte einen Schaden in Kinderseelen anrichten oder Minderheiten
verletzen, muss es nicht erwerben. Und Bücher, die nicht gekauft werden, sind schnell weg vom
Markt. Womit sich dann der Fall sang- und klanglos erledigt hätte. Doch möglicherweise sehe ich
das zu locker und zu unernst. Dass dem so sein könnte, ist nicht von der Hand zu weisen.
Schließlich leiste ich mir auch, auf das politisch korrekte Binnen-I zu pfeifen, bloß weil ich finde,
dass man nicht hinschreiben kann, was man nicht aussprechen kann. Aber bei allen Lesern, die das
Binnen-I in diesem Beitrag schmerzlich entbehrt haben, entschuldige ich mich natürlich
zerknirscht. Eben habe ich mit meiner Tochter, die in Antwerpen lebt, telefoniert. Sie hat mir
erzählt, dass sich in Antwerpen neuerdings viele junge selbstbewusste Schwarze stolz erhobenen
Hauptes Neger nennen. Keine Ahnung, wie und wo ich das jetzt einordnen soll.
http://www.zeit.de/2013/05/Kinderbuecher-Sprache-Political-Correctness-Christine-Noestlinger
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Auszüge aus einem Interview mit Christine Nöstlinger zu »Konrad oder Das Kind aus der
Konservenbüchse«
Der Konrad erinnert ja erschreckend an aktuelle Debatten um das Bestellen des perfekten,
künstlich erzeugten Kindes. Spüren Sie einen politischen Auftrag mit Ihren Büchern?
Was ist Literatur? Ein Stück Welt in Sprache umsetzen. Wenn ich das für Kinder mache ist das
natürlich auch politisch. Früher habe ich am Rande konkrete Dinge hineingebracht. Bei „Maikäfer
flieg!“ erfahren Kinder anderes über russische Soldaten als das, was ihre Großväter und Väter
vielleicht erzählt haben, es ist ein humanerer Blick. Und die Rosa Riedl ist ja auch ein
Arbeitergespenst und kein hochherrschaftliches.
Es wohnt auf dem Dachboden. Ein wichtiger Ort für die Kindheit, wie der Keller?
Der Keller war für mich ein Angstort. Wir haben dort viel aufbewahrt, die Milch im Sommer, den Rest
vom Braten, mit einem Stein darauf, damit die Mäuse nicht rankamen. Wenn die Mutter mich
runtergeschickt hat, um Milch zu holen, habe ich jede Ausrede gefunden, nicht runterzumüssen.
Für Kriegskinder ist das natürlich ein Ort des Schreckens, beim Bombenangriff haben wir immer
unten gesessen. Auch wenn es einem nicht bewusst war, es hat einen sehr verstört.
Beschäftigt Sie diese Zeit heute noch?
Es ist eine Zeit, die mir besser in Erinnerung ist als vieles andere. Das Kriegsende, da erinnere ich
mich noch an jeden einzelnen Tag. Wie bei den Soldaten. Das ging einem ja immer auf die Nerven,
wenn die Männer dauernd vom Krieg erzählt haben. Aber das sind Dinge, die sich festsetzen.
Was ist das prägende Gefühl aus dieser Zeit? Die Unberechenbarkeit?
Kinder sind im Leben überhaupt verunsichert. Weil sie machtlos und abhängig sind. Es gibt aber
schon Charakterzüge, die sich da festgesetzt haben: das Gefühl, dass ich zu einer Minderheit
gehöre. Einer Familie, die in der Nazizeit gegen die Nazis war. Dass man gewisse Sachen nicht
sagen darf, aber doch recht hat. Und dann etwas, das ist immer noch in mir: das es im Leben so
ungerecht zugeht. Ich war fest davon überzeugt, die Nazis würden nach dem Krieg bestraft. Ich
habe die ja alle gekannt, die nebenan wohnten, vor denen sich meine Oma fürchtete. Dann war der
Krieg aus, und die Herrschaften wurden entnazifiziert. Das war die bitterste Enttäuschung meines
Kinderlebens. Ich war empört, dass meine Eltern das hinnehmen. Als Kind hält man seine Eltern ja
für mächtig. Ich sah meine Mutter mit einer Nazi-Frau reden und dachte: Warum redet sie mit der?
Das hat mich von meiner Mutter entfernt.
Wie kommen Sie auf Ihre Geschichten?
Da kommt eine Zeile in meinen Kopf. Die kann beim Zwiebelschneiden, beim Autofahren kommen,
das kann der Ausspruch eines Kindes sein. Gerade schreibe ich an etwas. Eine Freundin hat mir
erzählt, dass ihr kleiner Enkel zwei Drachen hat, einen guten und einen bösen Drachen. Wenn er
etwas nicht will, sagt er, ich kann heute nicht zum Zahnarzt, ein Drache ist krank. Das sind Dinge,
bei denen ich zum Nachdenken anfange, mir wirklich den Kopf zerbreche: wie ist das, wenn ein
Fünfjähriger zwei Drachen hat. Sieht er die wirklich, oder erzählt er nur von denen? Mithilfe dieser
beiden Drachen bringt der Junge seiner Familie bei, wie ihm zumute ist.
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Wie sind eigentlich Ihre Töchter aufgewachsen?
Ich habe meine Töchter nie erzogen. Ich habe immer darauf gesetzt, dass ihnen das Humane von
selbst zuwächst. Und habe Recht behalten. Wenn eine Sechsjährige mit vierzig Grad Fieber sich
weigert, eine Tablette zu schlucken, muss man natürlich etwas machen.
Aber richtig erzogen?
Nein. Da hatte ich als Motto immer den schönen Satz, ich glaube von Karl Valentin: »Was nutzt die
ganze Erziehung, die Kinder machen einem doch eh alles nach!?«
Frau Nöstlinger, was ist für Sie das Wesentliche einer guten Geschichte?
Für mich ist das nicht die Geschichte, sondern die Sprache.
Wie soll die sein?
Die soll so sein, dass der Leser spürt, was der Autor ausdrücken will. Ich habe so einen schönen
Satz, der steht in großen Buchstaben auf einer roten Kuscheldecke, die ich mal geschenkt
bekommen habe: »Gute Bücher bringen der Welt einen Platz im Kind und dem Kind einen Platz in
der Welt.« Das sagt alles.
Interview von Carmen Stephan für die Zeitschrift NIDO
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Leben aus dem Reagenzglas
Seit 30 Jahren (Artikel wurde im April 2012 veröffentlicht) gibt es in Deutschland die künstliche
Befruchtung. Zu Beginn war der Eingriff gewagt und umstritten – heute wird er tausendfach
praktiziert. Kritik kommt vor allem von der katholischen Kirche.
Maria W. streichelt ihren Sohn Oliver, das erste deutsche Baby, das nach künstlicher Befruchtung zur Welt
kam. Er feiert am Montag seinen 30. Geburtstag. Foto: dpa
Als Oliver W. am 16. April 1982 im Universitätsklinikum Erlangen per Kaiserschnitt zur Welt kam, war
seine Geburt eine Sensation: Der kleine Junge, 4150 Gramm schwer, war das erste deutsche
Retortenbaby, wie es damals hieß. Er war durch eine künstliche Befruchtung im Reagenzglas
entstanden. Viel mehr erfuhr man damals vor 30 Jahren nicht über ihn, denn seine Eltern aus
Langensendelbach in Oberfranken hatten der Klinik strenge Zurückhaltung verordnet. Auch heute
ist über den pressescheuen Mann nur bekannt, dass er Installateur geworden ist.
Weltweit war Oliver das fünfte Kind, das nach einer sogenannten In-vitro-Fertilisation das Licht der
Welt erblickte. Das erste war Louise Brown, die im Juli 1978 im englischen Oldham geboren wurde.
Weltweit sollen nach Schätzungen seitdem mehr als drei Millionen Kinder durch künstliche
Befruchtung entstanden sein, in Deutschland sind es etwa 150 000. Doch als Oliver W. zur Welt
kam, herrschte lange nicht überall Jubelstimmung. Viele Menschen waren empört. "Feministinnen
haben uns das Haus eingerannt, und auch der Vatikan war dagegen", sagte der behandelnde Arzt
Siegfried Trotnow später im Rückblick. Sogar Morddrohungen trafen in der Klinik ein.
"Heute ist künstliche Befruchtung vollkommen akzeptiert", urteilt Ralf Dittrich, wissenschaftlicher
Leiter der Reproduktionsmedizin am Uniklinikum Erlangen. "Das ist heute auch kein Tabuthema
mehr". Mittlerweile erzählten Paare ganz offen im Bekanntenkreis, dass sie sich einer In-vitroFertilisation unterzögen. Dabei werden der Frau reife Eizellen entnommen, im Labor mit Spermien
befruchtet und anschließend wieder eingepflanzt.
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Auch medizinisch hat sich in 30 Jahren einiges geändert. "Früher wurden die Eizellen mittels einer
Bauchspiegelung entnommen", sagt Reproduktionsmediziner Jan-Steffen Krüssel, der das
Kinderwunschzentrum "Unikid" an der Uniklinik Düsseldorf leitet. "Heute kann man sie sich per
Sonde ansehen und dann mit einer Nadel durch die Scheide entnehmen".
Ein weiterer bedeutender Fortschritt besteht darin, dass nun auch Paaren geholfen werden kann,
bei denen der Mann nur eingeschränkt fruchtbar ist, was in etwa der Hälfte aller Fälle so ist.
Während man vor 30 Jahren etwa 150 000 gesunde, zappelnde Spermien pro Eizelle für eine
Reagenzglasbefruchtung benötigte, reicht heute ein einziges lahmes Spermium aus, das direkt in
die Eizelle gebracht wird.
Die Aussichten, mit Hilfe einer künstlichen Befruchtung schwanger zu werden, sind gut: "Bei jungen
Frauen unter 30 liegen die Chancen bei 40 Prozent pro Zyklus", sagt Krüssel. Das sei sogar besser
als bei einer natürlichen Empfängnis. Allerdings nehmen die Aussichten mit steigendem Alter der
Frau deutlich ab. Ihren Höhepunkt erreichte die künstliche Befruchtung in Deutschland im Jahr
2003 mit fast 106 000 Behandlungen, wie im Jahrbuch des Deutschen IVF-Register nachzulesen
ist. Mit der Einführung der Gesundheitsreform brachen die Zahlen 2004 auf knapp 60 000
Behandlungen ein. "Denn seitdem mussten die Paare die Hälfte der Behandlungskosten selbst
tragen, und das sind 1200 bis 1500 Euro pro Zyklus", sagt Krüssel. Im Jahr 2010 gab es wieder 76
000 Behandlungen.
Nach Lehrmeinung der katholischen Kirche bleibt das Verfahren der künstlichen Befruchtung nach
wie vor unmoralisch. Problematisch ist aus Sicht vieler Theologen vor allem, dass in einigen Fällen
mehr befruchtete Eizellen erzeugt als in die Gebärmutter eingepflanzt werden. In Deutschland
regelt das Embryonenschutzgesetz die künstliche Befruchtung. Die Verwendung des Embryos zu
anderen Zwecken als zur Herbeiführung einer Schwangerschaft ist ebenso verboten wie
Leihmutterschaft oder Klonen.
http://www.badische-zeitung.de/panorama/leben-aus-dem-reagenzglas-30-jahre-kuenstlichebefruchtung--58244791.html
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Die Familie im Werk Christine Nöstlingers
Natürlich hatte der Denker auch einen Vater, einen, der sich angeblich auch sehr viele Gedanken
machte. Ob das stimmte, konnte der Denker nicht feststellen, weil sein Vater in der Schweiz lebte.
Laut Scheidungsurkunde hatte der Vater das Anrecht, seinen Sohn einmal pro Woche und im
Sommer zwei Monate zu sehen. Aber der Vater nahm dieses Anrecht nicht in Anspruch. Und da in
der Scheidungsurkunde nichts davon stand, daß auch der Sohn ein Recht darauf habe, den Vater
zu sehen, hatten sich die beiden seit fast neun Jahren nicht mehr getroffen (»Der Denker greift
ein«, S. 41/2).
Der Eltern-Kind-Konflikt
Die Familie und ihre Welt sind Christine Nöstlingers ewiges Thema. Sie stellt die Familie als eine
verzwickte »,Lebensgemeinschaft« dar, in der Kinder und Erwachsene auf der Suche nach dem
einen Weg sind, der ein Zusammenleben ermöglicht. Es liegt in der Sache selbst, d.h. dem
Nebeneinander von verschiedenen Persönlichkeiten, Lebenserfahrungen, autoritären Strukturen,
dem Loslösungsprozess von den Eltern u. dgl., dass die Familie kein konfliktfreier Raum sein kann,
sondern höchstens Zeiten beinhaltet, in denen dies der Fall ist (oder es zumindest so scheint).
Harzmeyer hält fest, dass sich die »bürgerliche Kernfamilie« in heilloser Auflösung befindet – und
dies nicht nur bei Christine Nöstlinger, sondern auch außerhalb ihrer Romanwelten. Dies ist für das
Miteinander von Eltern und Kindern um so problemrelevanter, da die Familie immer noch die
grundlegende »Sozialisationsinstanz« des Menschen ist. Die neue Zusammensetzung der Familien
(patchwork familiy), und die Funktion der Eltern auch in geschiedenen Ehen (soweit diese
wahrgenommen wird und sich nicht auf den/die allein Erziehende/n reduziert) sehen sich neuen
Konflikten gegenüber, ohne dass diese die alten abgelöst haben.
Der Mutter-Kind-Konflikt
In ihrer autobiografischen Erzählung »Zwei Wochen im Mai« erzählt Christine Nöstlinger folgendes
über eine (von vielen) Konfliktsituationen; einen Machtkampf, der sich zwischen ihrer Mutter und ihr
zutrug: Meine Mutter litt. Sie wollte mich durch totales Schweigen strafen. Totales Schweigen war
die größte Strafe, die sie kannte. Aber sie wollte mich auch zum Weggehen zwingen. Sie fühlte sich
für mein pünktliches Eintreffen in der Schule verantwortlich. Ich genoß ihr Leiden. Ich wollte ihr
zeigen, daß sie nicht fähig war, die 'größte Strafe' anzuwenden. Ich wußte, daß ich sie zum Reden
zwingen konnte (S. 74/75). Auch in ihrer zweiten autobiografischen Erzählung »Maikäfer flieg!«
stellt sie immer wieder das trotz aller Liebe gespannte Verhältnis zu ihrer Mutter dar: Und dann
schrie ich weiter 'Arsch, Arsch, Arsch', so lange, bis meine Mutter mir eine Ohrfeige gab (S. 135).
Diese beiden Beispiele sind nur zwei von vielen für den Mutter-Kind-Konflikt, die Christine
Nöstlinger aus ihrer Erinnerung heraus beschreibt. Es erging ihr nicht anders als den Kindern vor ihr
und nach ihr, nicht anders als ihren Romanfiguren. Die Pubertät bildet den Auslöser, der dem Kind
hilft seine Konflikte für sich zu formulieren, nach außen zu artikulieren und zu agieren. Dabei ist es
primär für das Kind nicht wichtig zu wissen, was es will, sondern, was es nicht will. Das Kind
befindet sich in einem Identitätskonflikt, es versucht seine soziale (hier: Mitglied der Familie als
Tochter und Schwester) und persönliche (sich selbst) Identität zu einander in Bezug zu setzen und
stellt dabei fortwährend seine Umwelt und sich selbst in Frage. Abnabelung, Distanzierung,
Selbstbestimmung, die Suche nach Auseinandersetzung, die Entmystifizierung der Eltern, die
Erkenntnis ihrer Fehlbarkeit sind die Motoren des Konflikts. Lösungen stehen bei Christine
Nöstlinger nicht notwendigerweise am Ende eines jeden Konfliktes. Weit öfter haben wir ein
Openend oder der Konflikt schwelt – scheinbar gelöst – unter der Oberfläche weiter und kann
jederzeit wieder hervorbrechen. […] Konflikte mit Müttern sind bei Christine Nöstlinger eher ein
Erscheinungsbild in deren Beziehungen zu ihren Töchtern. Söhne scheinen bei ihr besser mit ihren
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Müttern leben zu können. Dabei ist es nicht relevant, ob es sich dabei um Söhne aus »normalen«
Familien handelt oder um Scheidungskinder. Das soll jedoch nicht heißen, dass es sowohl in dem
einen als auch in dem andern Miteinander keine Probleme und Ungereimtheiten gibt […].
Der Vater-Kind-Konflikt
,,Eigenartigerweise fühlen sich Scheidungskinder bei Nöstlinger meist stärker zum Vater als zur
Mutter hingezogen" (aus: M. Dahrendorf, 1996, S. 3). Obwohl M. Dahrendorf seine Erkenntnis mit
einigen Beispielen aus Nöstlinger Büchern untermauert, kann ich dieser Aussage nicht zustimmen.
Nach meiner Lektüre würde ich auf keinen Fall die Meinung vertreten, Scheidungskinder würden
sich meist stärker zum Vater hingezogen fühlen. Wie sollten sie auch. Sind doch vorherrschende
Elemente ihrer Existenz ihre Nicht-Anwesenheit, ihre Nicht-Erziehungs- und Beziehungsarbeit und
oft spärliche oder nicht vorhandene Unterhaltszahlungen. Sicherlich zeigt Christine Nöstlinger
auch Kinder, die ihren Vater vermissen, doch dieses »Vermissen« hat meinem Eindruck nach
seinen Ursprung in den kindlichen Vorstellungen einer Person, die so nicht existiert oder existiert
hat. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist deshalb auch häufig ein Inhalt in Nöstlingerschen Büchern. In
diesem Zusammenhang habe ich auch Probleme Aussagen Christine Nöstlingers zu verstehen, die
in die Richtung M. Dahrendorfs zielen:
G. Wenk: Die positiven Vaterfiguren in ihren Büchern: Sind sie Erinnerungen an die eigene Kindheit
oder eher Wunschvorstellungen?
Ch. Nöstlinger: Das sind Erinnerungen, besonders die warmen Gefühle. Ich hab` unendliche
Schwierigkeiten – ich mein`, ich hab′s ein paarmal gemacht – einen nicht sehr lieben Vater
darzustellen. Das ist mir fast unmöglich.
G. Wenk: War ihr Vater so sympathisch?
Ch. Nöstlinger: Ja, mir schon sehr. Ödipus läßt grüßen, ich mein`, er war – da gibt ′s nix – es war die
Liebe meines Lebens. Deshalb: Väter negativ hinzukriegen, das kann ich aufgrund dieser Erfahrung
kaum. Auch Großväter – der war genauso lieb.
G. Wenk: Also sind ihre Erfahrungen so, daß die Männer sympathischer waren als die Frauen, die sie
erlebt haben.
Ch. Nöstlinger: Ja, durchgehend.
Aus: Bernd Harzmeyer: Über den Umgang mit Konflikten in den Kinder- und Jugendbüchern
Christine Nöstlingers, Examensarbeit Germanistik – Neuere Deutsche Literatur, 2000.
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Jungs kleben an traditionellen Familienmodellen
Abschlussbericht des Beirats für Jungenpolitik
von Lena Jakat, 25. Juni 2013
Die Frau bleibt bei den Kindern, der Mann geht arbeiten: Jungs kleben an traditionellen
Familienbildern.
Job und Familie irgendwie miteinander in Einklang bringen - in dieser Diskussion geht es meistens
um Frauen: ihre Karriere, ihre Vorstellungen, ihre Betreuungswünsche, ihren Spagat zwischen Büro
und Heim. Ganz so, als spielten Männer beim Kinderkriegen allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Wie wenig präsent die Diskussion zum Beispiel bei den Vätern von morgen ist, zeigt nun der
Abschlussbericht, den der Beirat Jungenpolitik dem Bundesfamilienministerium vorgelegt hat. Die
Diskussion um Geschlechterrollen und Familienentwürfe komme in der Lebensphase, in der sich
diese Rollenbilder formen, bei Jungen kaum an, heißt es dort.
Die Sozialwissenschaftler Marc Calmbach und Katharina Debus, die für den Beirat Mädchen und
Jungen zwischen 14 und 17 Jahren befragt haben, kommen zu dem Schluss, dass die meisten
Jugendlichen sich zwar Familie wünschen, über die Zusammenhänge von Familiengründung und
Beruf jedoch kaum nachdächten – und zwar die Jungen noch weniger als die Mädchen.
Das mag wenig verwunderlich sein, in einem Alter, in dem die Jugendlichen statistisch gesehen
noch etwa 15 Jahre von der Geburt des ersten Kindes trennen. Was aber erschreckt sind die "auf
den ersten Blick überraschend traditionellen" Rollenbilder, wie es in dem Bericht formuliert wird,
die sich die Jugendlichen zu eigen gemacht haben:
• Der Mann verdient das Geld, die Frau kümmert sich um die Kinder. Viele Jugendliche
ziehen ein Alleinverdiener-Modell – zumindest vorübergehend – vor. Besonders Jungs
sprechen sich in einigen Fällen vordergründig zwar für ein gleichberechtigtes
Familienmodell aus, rationalisieren dann aber, warum die Frau zurückstecken muss - denn
sie wird wohl weniger verdienen, ist ja klar. "Explizit bzw. implizit traditionalisierende
Relativierung symmetrischer Modelle", heißt das im schönen SozialwissenschaftlerDeutsch des Berichts.
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• Die Kinder gehören zur Mutter. Darauf läuft es hinaus, wenn Jugendliche, vor allem Jungs,
unter Bezugnahme auf das Kindeswohl argumentieren, warum die Frau zuhause bleiben und
das Kind nicht etwa in die Kita gehen sollte.
• Der Job steht an erster Stelle. Die Familie über das berufliche Fortkommen zu stellen, ist
vor allem für Jungs nicht vorstellbar.
• Mädchen sind in Sachen Familienplanung pessimistischer. Sie sind eher interessiert an
gleichberechtigten Familienmodellen, gehen aber oft davon aus, dass aus diesen Plänen
sowieso nichts wird, weil der Partner nicht mitmacht.
• Jungen denken weniger differenziert über Familienmodelle nach als Mädchen.
Der letzte Punkt ist wohl der entscheidende. Jungen machen sich weniger Gedanken. Sie wünschen
sich Familie, denken aber kaum drüber nach, wie sich dieser Wunsch (von der Zeugung mal
abgesehen) konkret umsetzen lässt.
Calmbach und Debus schreiben in dem Bericht für Familienministerin Kristina Schröder (CDU), den
Jungen fehle es "anzunehmenderweise teilweise an Reflexionsräumen und Austausch zu Vor- und
Nachteilen verschiedener Modelle bzw. zu möglichen Problemen und Umgangsweisen mit diesen".
Einfacher gesagt: Die Männer, die schon Väter sind, und auch die Mütter und andere
Bezugspersonen, drücken sich darum, die Problematik mit ihren Söhnen zu besprechen. Und die
jungen Männer untereinander entziehen sich dem Thema ebenfalls – womöglich, aus Angst, als
uncool oder unmännlich wahrgenommen zu werden.
Die Konsequenz, die sich aus diesem Kapitel des 222 umfassenden Abschlussberichts des Beirats
für Jungenpolitik ziehen lässt ist ein Plädoyer, ein Appell an Eltern, Lehrer, Betreuer: Sprecht mit
den Jungs! Bringt sie zum Nachdenken! Schafft ebendiese Reflexionsräume, die ihnen fehlen.
Sonst werden die Mädchen, die in 15 Jahren genau wissen werden, was sie wollen, noch immer mit
ähnlich verunsicherten Männern konfrontiert sein wie die 30-Jährigen von heute.
http://www.sueddeutsche.de/leben/abschlussbericht-des-beirats-fuer-jungenpolitik-jungskleben-an-traditionellen-familienmodellen-1.1705360
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Womit hab’ ich das verdient?
So eine Scheiße: Jetzt wird mein Junge konservativ
von Chris Johnson
Wo bleibt Max nur? Vor fast einer Stunde ist er im Badezimmer verschwunden und hat die Tür hinter
sich verschlossen. Ab und zu höre ich den dröhnenden Föhn: an und aus und wieder an und aus.
Ansonsten dringt kein Ton nach draußen.
Endlich! Die Tür öffnet sich, und die Treppe herunter kommt ein gescheitelter, gegelter 12-Jähriger
mit akkurat sitzendem Hemd und grauer Anzughose – die Bügelfalte messerscharf, die schwarzen
Halbschuhe blitzeblank. „Max, bist du’s wirklich?“, frage ich meinen Sohn.
Statt einer Antwort mustert er mich missbilligend. „So willst du jetzt nicht wirklich mit mir zu dem
Vorstellungsgespräch gehen, oder?“ Ich trage Jeans, Pullover und eine Lederjacke und hatte nicht
vor, mich am Samstagvormittag zu verkleiden, um meinen Sohn zum Aufnahmegespräch in ein
katholisches Gymnasium zu begleiten. Kurz vor den Sommerferien hatte Max meiner Frau und mir
mitgeteilt, dass er von seiner bisherigen liberalen reformpädagogischen Schule auf ein
katholisches Gymnasium wechseln will. Ich betone: Er will!
Als er meiner Frau und mir seine schon im Internet recherchierten Hamburger Schulen
präsentierte, haben wir zunächst geschmunzelt. Ehrlich gesagt, wir haben seine Idee nicht so ganz
ernst genommen. Meine Frau versuchte sich und mich zu beruhigen: „Max ist nicht getauft, du bist
Protestant, und ich bin aus der Kirche ausgetreten. Die nehmen ihn niemals.“
Ein mulmiges Gefühl überkam uns trotzdem. Hatte Max doch in den vergangenen Monaten einen
eigenartigen Wandel vollzogen. Er ist politisch in Opposition zur Familie gegangen, kritisiert ständig
meine „fürchterlich grüne Einstellung“ und die Mitgliedschaft meiner Frau in einer „ätzenden linken
Gewerkschaft“. Irgendwann ist er dann nach der Schule mit dem Buch „Deutschland schafft sich
ab“ von Thilo Sarrazin nach Hause gekommen. Er hatte es sich von seinem Taschengeld gekauft.
„Wenn ich es durchhabe, solltest du es mal lesen“, riet er mir mit verschwörerischem Lächeln. Sein
autodidaktisches Polit-Bildungsprogramm sieht seit Monaten in etwa so aus: Auf YouTube guckt er
sich Auftritte des Rechtspopulisten Geert Wilders an, und er surft mit Begeisterung auf den Seiten
islamfeindlicher Parteien wie der Schweizer SVP oder der italienischen Lega Nord. „Die schützen
das christliche Abendland“, sagt Max.
Ich habe mir Max’ eigenwilligen Blick auf die Welt bis dahin mit einer vorübergehenden pubertären
Auflehnung gegen seine Eltern erklärt – bis zu dem Tag, an dem er zum Telefonhörer griff, um einen
Vorstellungstermin in der katholischen Schule zu vereinbaren.
Während ich mit Max nun im Vorzimmer der Vizedirektorin sitze, frage ich ihn das erste Mal, ob er
sich sicher sei, dass es eine katholische Schule sein soll.
„Ja, ich will auch so erfolgreich, einflussreich und wohlhabend wie Opa in Florenz werden. Und der
war auf einer katholischen Schule und spendet immer noch ganz viel für die kirchlichen Schulen.“
„Ja, Opa Francesco ist katholisch und wohlhabend, aber was hat das miteinander zu tun?“
„Katholiken halten zusammen, und außerdem helfen sie sich gegenseitig mit Aufträgen und Jobs,
hat Opa mir erzählt.“
Mein Einwand, dass seine Mutter doch aber aus der Kirche ausgetreten sei und keine guten
Erinnerungen an ihre katholische Erziehung habe, kontert Max mit einem knappen und pastoralen
„Mama hat sich verirrt, aber sie wird auch noch auf den rechten Weg zurückfinden.“
Jetzt weiß ich also Bescheid. Mein italienischer Schwiegervater steckt hinter der Aktion, hat er sich
doch von Anfang an daran gestört, dass seine Tochter einen Protestanten geheiratet hat und ihr
Kind nach der Geburt nicht katholisch taufen ließ. Und nun sitze ich hier mit genau diesem Kind in
einem katholischen Hamburger Schulhaus.
Endlich bittet uns die Vizedirektorin in ihr Zimmer. Sie sieht so aus, wie ich mir eine Nonne in Zivil
vorstelle: Mireille-Mathieu-Frisur, eine hoch geschlossene Bluse, darüber eine unmodische,
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dunkelbraune Kostümjacke. Der Rock, dessen Farbe so unscheinbar ist, dass ich mich später nicht
mehr daran erinnern kann, reicht bis über die Knie und verdeckt damit immerhin einen großen Teil
der schrecklich hautfarbenen Strumpfhosen. Dagegen wirken ihre dunkelbraunen Pumps
einigermaßen schick und modern.
Selbstbewusst nimmt Max den ihm zugewiesenen Platz ein. Ich setze mich lautlos neben ihn. Ich
fühle mich ein bisschen wie früher auf dem Sofa meiner Tante: beklommen und streng gemustert.
Sie vermittelt etwas von: „Bitte sprechen Sie nur, wenn ich Sie etwas frage“, aber erst mal will sie
von mir auch gar nichts wissen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit voll auf Max. Und bei dem, was ich
von ihm höre, komme ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Auf die Frage, warum er denn auf eine katholische Schule wechseln wolle, kommt eine gespielt
nachdenkliche und in meinen Ohren ziemlich altklug klingende Erklärung. „Wenn ich meinen Opa in
der Toskana besuche, erzählt er mir viel von Jesus und der Kirche. Jetzt weiß ich, was wirklich
wichtig im Leben ist, und ich glaube, dass hier die richtigen Werte vermittelt werden. Nicht so wie in
meiner alten Schule, wo es ja nicht mal katholischen Religionsunterricht gibt.“
Die Vizedirektorin schaut ihn mitfühlend an. „Das arme Kind“, denke ich auch fast, so überzeugend
spielt Max seine Rolle. Auch auf die Frage, warum er denn nicht getauft sei, hat er eine schlüssige
Antwort parat. „Ich halte das für einen Fehler meiner Eltern, aber ich konnte mich als Kind ja nicht
dagegen wehren. Da mein Vater evangelisch und meine Mutter katholisch ist, wollten sie, dass ich
als Jugendlicher selbst entscheide, ob ich mich taufen lassen will.“
So wie Max „evangelisch“ betont, klingt es wie „ungläubig“. Und dass meine Frau aus der
katholischen Kirche ausgetreten ist, lässt er einfach unter den Tisch fallen. Und er setzt noch einen
drauf: „Ich bin ja in allen Ferien in Italien. Dann gehe ich mit meiner Mutter und meinen Großeltern
immer zur Messe.“ Gut, dass die Vize-Schulleiterin die ganze Zeit wohlwollend Max anschaut.
Sonst wäre ihr sicher aufgefallen, dass mir einen Moment lang der Mund vor Staunen offen stand.
Ist mir da etwas entgangen? Hat sich Max, der Langschläfer, im Urlaub morgens unbemerkt aus
dem Haus geschlichen, um mit meinen Schwiegereltern in die Kirche zu gehen, oder warum tischt
er der Oberlehrerin hier eine glatte Lüge auf?
Mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn mein Sohn läuft zur Höchstform auf. Mehr und
mehr erliegt die Nonne dem unverschämten Charme meines 12-jährigen Christenkindes. Als er die
Frage, wie viel Zeit er denn am Computer verbringe, beantworten soll, scheint er genau zu wissen,
was eine fromme Pädagogin milde stimmt. „Den Computer benutze ich nur, wenn ich
Informationen für meine Hausarbeiten oder Referate suche. Ansonsten treffe ich mich eigentlich
immer mit meinen Freunden draußen im Park zum Spielen“, erzählt er mit Lämmchenblick.
Kein Wort erwähnt er dagegen von den Ballerspielen, die ihm sein streng katholischer Opa
regelmäßig schenkt. Stundenlang jagt Max virtuelle Gangster und ist danach kaum noch
ansprechbar. Und: Wann hat er eigentlich das letzte Mal draußen im Park Fußball gespielt? Ich kann
mich nicht daran erinnern.
Als die Mirelle-Mathieu-Kopie dann noch etwas über sein soziales Engagement wissen möchte, bin
ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob der gescheitelte 12-jährige Snob, der hier vor einem
großen Holzkreuz neben mir sitzt, wirklich mein Sohn ist. Max berichtet stolz, dass er an seiner
jetzigen Schule „Konfliktlotse“ sei. Er schlichte Streits zwischen Schülern und vermittle bei
Konflikten zwischen seinen Klassenkameraden und Lehrern. Die Vizedirektorin nickt zustimmend
und lächelt.
So geht das Frage- und Antwortspiel noch rund eine Viertelstunde weiter. Ich schwanke – zwischen
Zweifeln, ob es gut gewesen ist, Max die Erlaubnis zu geben, sich bei einer katholischen Schule zu
bewerben, und Stolz. Stolz auf meinen Sohn, der sich als zielstrebiger Stratege und brillanter
Schauspieler entpuppt.
Am Ende des Gesprächs verabschiedet uns die Vizedirektorin mit der Zusicherung, meiner Frau
und mir in wenigen Tagen Bescheid zu geben, ob es mit einem Platz für Max klappt.
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Als wir das Schulgebäude verlassen haben, frage ich Max, ob er mit sich zufrieden sei. „Ja, nur bei
der Frage nach dem Computerkram wollte ich eigentlich noch sagen, dass ich mich regelmäßig auf
Katholisch.de informiere. Das habe ich total vergessen“, antwortet er selbstkritisch. Es verschlägt
mir die Sprache.
Als ich vier Tage später vom Joggen nach Hause komme, steht Max schon an der Gartentür. „Die
Schulleiterin hat gerade mit Mama telefoniert, sie nimmt mich. Ich muss mich jetzt nur noch
katholisch taufen lassen“, ruft er triumphierend.
Zwei Wochen später wechselt Max die Schule, drei Monate später wird er getauft. Zur Messe geht er
sonntags aber immer noch nicht. Dafür hat er jetzt neue Pläne. „Mit 14 trete ich in die Junge Union
ein“, kündigt er an. Zum Glück vergehen bis dahin noch anderthalb Jahre. Und ich muss nicht mit
zum Aufnahmegespräch.
http://www.dummy-magazin.de/issues/33-familie/articles/649
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Elternfallen in der Erziehung
Manche Ideen in der Erziehung sind längst überholt und psychologisch widerlegt, andere sind
moderner aber dennoch nutzlos oder sogar kontraproduktiv. Natürlich kommt es auch auf das Alter
des Kindes an und auf das Ziel, welches mittels Erziehung erreicht werden soll. Was beim Teenager
angebracht sein mag, schadet dem Kleinkind.
Das Gros der Eltern möchte seine Kinder zu selbstbewussten Menschen erziehen, die in der
Gesellschaft erfolgreich bestehen können und derselben nicht unangenehm zur Last fallen. Die
folgende Liste soll nur eine Anregung zur kritischen Selbstüberprüfung auf dem Weg zu diesem
Ziel sein.
Wir wissen: Jedes Kind ist anders, bringt sein eigenes Temperament in die Familie ein und braucht
bei Problemen entsprechend individuelle Lösungen. Dennoch gibt es bei der Erziehung, welche im
zweiten Lebensjahr langsam beginnt, Grundlegendes zu wissen, damit man seine Energie nicht in
die falsche Sache investiert. Das Wichtigste ist dabei sicher, dass ein Kind auch bei Konflikten über
die Liebe und Verlässlichkeit seiner Eltern Gewissheit hat.
Sinnlos: Endlos schimpfen und maßregeln
Ihr Kind hat etwas angestellt und nun wird es einem emotional vorgetragenen Redeschwall über
Verantwortung, Sicherheit, Vertrauen, Strafe, Konsequenz, Enttäuschung, ... ausgesetzt? Seien Sie
versichert dass Ihr Kind schon nach wenigen Sekunden abgeschaltet hat, Sie nur noch groß
anschaut und Ihr ganzer Vortrag im Nichts verhallt.
Das ist vom Kind nicht böse gemeint und auch keine Respektlosigkeit aber Kinder werden durch
diese Art von Strafbeschallung allenfalls »Mutter-taub« / »Vater-taub«.
Besser:
Suchen Sie das Gespräch, indem sie möglichst wenig reden und um so mehr zuhören. Fragen Sie
statt nach dem Warum immer nach dem »Wie«: »Wie kam es dazu, dass ...« – Sie werden
vermutlich überrascht sein, mit welchen (zumindest aus Kindersicht) nachvollziehbaren
Erklärungen Ihr Kind sein Verhalten begründet.
Beispiel:
Mutter: »Wie kam es dazu, dass Du mit den Stiften an der Wand gemalt hast?«
Antwort: »Also das war so, ich habe da auf dem Papier gemalt und wollte eine Kirche malen aber
die hat da nicht drauf gepasst weil ja der Turm so hoch ist - viel höher als ich! Und dann habe ich
gedacht dass ich das auf der Wand besser malen kann weil die Tapete ja auch aus Papier ist und du
das Bild doch sowieso an die Wand gehängt hättest ...«
Bringt nichts: Drohen
Drohen Sie niemals mit Konsequenzen die Sie nicht wirklich durchführen wollen - besser noch:
Vermeiden Sie Drohungen ganz. Sie bewirken wenig und lassen zudem einen unangebrachten
Verhandlungsspielraum.
Besser:
Sagen Sie genau was Sie erwarten. Wenn Ihr Kind dem nicht nachkommt, muss die Konsequenz in
erkennbarem Zusammenhang mit dem Konflikt-Thema erfolgen. Sie muss sich als logische Folge
daraus ergeben.
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Beispiel:
Tim (4 Jahre) macht morgens immer Theater weil er sich nicht anziehen lassen will. Seine Mutter
sagt: »Ich möchte dass du dich jetzt anziehen lässt weil der Kindergarten gleich beginnt.« Tim
bockt weiter. Also bringt seine Mutter ihn ohne weiteren Kommentar im Pyjama in den Kindergarten
(warme Kleidung hat sie allerdings in einer Tasche dabei).
Geht nach hinten los: Wettstreit
Vermeiden Sie Konkurrenz zwischen Ihren Kindern. Kind A zu loben damit sich Kind B mehr
anstrengt um auch Lob zu erhalten? Sie werden feststellen, dass das Gegenteil passiert! Kind A
wird sich noch mehr bemühen noch besser zu werden und Kind B sieht seine einzige Chance auf
Beachtung darin, sein negatives Verhalten zu verstärken und auf diese Weise vielleicht wenigstens
eine Form von Macht oder Stellung zu erhalten.
Besser:
Sorgen Sie lieber dafür, dass die Kinder sich als Team sehen und verhalten.
Beispiel:
Lena und Katrin sollen den Tisch decken, später will die Familie ins Kino gehen. Ihre Mutter sagt:
»Deckt jetzt beide schnell den Tisch, danach könnt ihr zusammen einen Kinofilm aussuchen.«
Kein Gefallen: Übertriebenes Mitleid
Wenn ein Kind sich verletzt hat oder durch andere verärgert wurde, gestehen Sie ihm seine
negativen Gefühle zu aber vermeiden Sie großes Mitleid. Ständiges Mitleid führt langfristig zu
Selbstmitleid und Ihr Kind erhält vielleicht den Eindruck dass es ein Anrecht darauf hat, immer
glücklich zu sein.
Besser:
Bleiben Sie mitfühlend aber vermeiden Sie Mitleid. Nehmen Sie die unangenehmen Situationen
respektvoll zur Kenntnis, spenden Sie bei Bedarf etwas Trost aber belassen Sie es dabei – Mitgefühl
statt Mitleid.
Beispiel:
Kira ist aufs Knie gefallen und hat jetzt eine kleine Schramme. Sie ist außer sich und weint und
schreit. Ihre Mutter bleibt ruhig und sagt in normalem Tonfall: »Ja, so etwas tut wirklich weh! Es ist
mir als Kind auch oft passiert und war zum Glück immer schnell wieder vorbei. Wenn Du möchtest
kann ich Dir ein Pflaster geben.«
Kontraproduktiv: Zu viel Fürsorge
Kinder brauchen Sicherheit und Eltern tragen natürlich die Verantwortung und Aufsichtspflicht.
Aber zu viel Fürsorge wirkt für Kinder entmutigend. Eltern haben manchmal Angst, Ihr Kind
loszulassen. Sie erhoffen sich davon vielleicht auch mehr Sicherheit für ihr Kind. Doch ein Kind
dass selbstständig ist und sich auch ohne Hilfe gut zurecht findet, lebt meistens viel sicherer.
Wenn Sie ihrem fünfjährigen Kind am Klettergerüst noch Hilfestellung geben, obwohl es längst
klettern kann, demütigen Sie es und stellen sein Können in Frage.
Besser:
Geben Sie Ihrem Kind die Chance Sie von seinem Können zu überzeugen und zeigen Sie dann
Vertrauen in seine Fähigkeiten.
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Beispiel:
Annika (6 Jahre) möchte bei der Ampel allein über die Straße gehen. Ihr Vater möchte sie lieber
begleiten aber er lässt sich von Annika erst erklären und dann zeigen, wie gut sie die Regeln beim
Überqueren der Straße kennt und erlaubt ihr dann, allein zu gehen.
Unfair: Leistungsdruck
Nachbars Hans kann schon mit vier Jahren das Alphabet aufsagen, Ihr Kind hingegen weiß nicht
einmal was ein Alphabet ist? Dann sollten Sie keinesfalls ein Buchstabentraining einplanen solange
Ihr Kind nicht danach verlangt, denn Ihr Kind hat ganz sicher in einem anderen Gebiet die Nase
vorn. Jeder Mensch entwickelt seine vielen Fähigkeiten nach seinem eigenen Zeitplan - Sie sollten
bis dahin Geduld haben.
Besser:
Betonen Sie lieber die erlangten Fähigkeiten und Erfahrungen Ihres Kindes statt es mit anderen zu
vergleichen.
Beispiel:
Franz (4 Jahre) ist noch nicht zuverlässig trocken. Im Gespräch mit anderen Eltern kommt dies zu
Sprache - Franz hört aus der Ferne interessiert zu. Statt sich über ihre Ratlosigkeit bezüglich dieses
Themas auszulassen, bringt seine Mutter das Thema auf etwas Positives: "Franz wird das schaffen
wenn er soweit ist aber viel wichtiger ist mir, dass er im Kindergarten schon einen Freund hat, mit
dem er sich sehr gut versteht!"
Unrealistisch: Übertriebene Aufmerksamkeit
Kinder brauchen Aufmerksamkeit. Wenn Sie davon zu wenig bekommen verhalten sie sich
auffällig. Aber eine Überdosis Beachtung führt dazu, dass das Kind sich nicht realistisch
einschätzen kann. Spätestens wenn es aus dem familiären Umfeld heraus in Kindergarten oder
Schule kommt, wird es feststellen, dass es anderswo weniger beachtet wird. Das führt zu Konflikten
mit seiner Umwelt.
Besser:
Leben Sie Ihrem Kind vor, dass man auf andere Rücksicht nimmt, dass jeder manchmal warten
muss bis er dran ist und dass Bedürfnisse von Menschen verschieden aber gleichwertig sind.
Beispiel:
Luisa möchte ein Eis haben. Die Mutter geht mir ihr zum Eiscafé, dort ist eine lange Schlange. Luisa
jammert dass sie das Eis sofort haben möchte und quengelt bis jemand anbietet, sie vor zu lassen.
Ihre Mutter lehnt dies dankend ab. Sie erklärt Luisa in wenigen Worten, dass alle Menschen in
dieser Schlange ihr Eis möglichst schnell haben möchten, dass aber jeder warten muss bis er dran
ist.
Verstaubt: Klassische Strafen
Sie bringen nichts und stehen nie in einem logischen Zusammenhang mit dem Auslöser - oder
haben Sie eine Idee was eine eingeschlagene Fensterscheibe mit folgenden Bestrafungen zu tun
hat? Solche Strafen sind sinnlos, ein Ausdruck elterlicher Macht, beinhalten vielleicht sogar Rache
und demütigen das Kind:
Zur Strafe gehst du ohne Abendbrot ins Bett! – Kind: Aha, Essen ist ein Mittel der Bestrafung. Wenn
ich auf mich oder andere böse bin, reagiere ich zukünftig mit Nahrungsverweigerung oder
Fressattacken!
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Merke: Essen sollte das bleiben was es ist: Ernährung! Nicht mehr und nicht weniger
Eine Woche Fernsehverbot! - Kind: Oh nein, wie sehr ich den Fernseher doch liebe. Wenn ich wieder
gucken darf, muss ich das alles nachholen und schaue um so mehr. Denn wer weiß wann ich wieder
Fernsehverbot bekomme.
Merke: Der Fernseher (ebenso Computer, Gameboy, Playstation, ...) bekommt durch Strafen eine
viel zu große Bedeutung und wird so langfristig zum Zankapfel.
Morgen hast Du Stubenarrest! - Kind: Prima, dann muss ich nicht den Müll raus bringen oder den
Hasenkäfig sauber machen. Ich werde den ganzen Tag in Ruhe spielen können, meine CD's alle
anhören, usw.
Merke: Aktivitäten mit anderen Kindern sind für die Entwicklung wichtig und sollte gefördert werden
damit die Kinder keine Eigenbrötler werden, deren Kontakte sich auf virtuelle Figuren beschränken.
Weitere sinnlose Klassiker die wir so oder ähnlich vielleicht aus unserer Kindheit kennen:
Nächste Woche bekommst du kein Taschengeld!
Reiten gehen kannst du die nächsten zwei Wochen vergessen!
Zur Strafe schreibst Du 100 Mal "Ich soll nicht widersprechen"!
Stell Dich in die Ecke und schäm Dich! - Setz Dich auf den stillen Stuhl ...
Besser:
Nutzen Sie statt einer künstlich herbeigeführten Strafe lieber die natürliche Folge aus dem Handeln
des Kindes. Diese Folge darf für das Kind unangenehm sein, jedoch nicht schädlich.
Beispiel:
Madlen möchte trotz Regenwetters ihre Regenhose nicht anziehen und geht nur in Jeans hinaus
zum Spielen. Am nächsten Tag ist ihre Hose noch nass und die anderen Hosen sind in der Wäsche.
Sie muss im Haus bleiben während ihre Freundinnen draußen spielen. Madlen erkennt, dass es
besser ist, wenn sie ihre Regenhose bei nassem Wetter anzieht.
Selbst schuld: Unangebracht belohnen
Manche Unart eines Kindes haben Eltern selbst herbeigeführt. Unangebrachtes Verhalten eines
Kindes zu belohnen führt selten zu einer positiven Verhaltensänderung.
Besser:
Auch hier sollte das Kind die logische, natürliche Folge aus seiner Handlung erfahren.
Beispiel:
Ralf nörgelt beim Mittagessen an allem herum, nichts schmeckt ihm und er lässt sein Essen
unberührt. Die Eltern beachten beim Essen seine Nörgelei nicht, sondern räumen nach der
gemeinsamen Mahlzeit den Tisch ab. Ralfs logische Folge ist Hunger – wenige Minuten später
erklärt Ralf, dass er etwas essen will und verlangt ein Marmeladenbrot. Die Eltern bieten ihm keine
alternative Mahlzeit an, allenfalls das verschmähte Mittagessen.
http://www.hallo-eltern.de/m_kleinkind/erziehungsfallen.htm
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Fragwürdiges Beispiel für »musterhaftes Verhalten«
Zum Abendbrot hat mir Mutti extra noch mal Wackelpudding gemacht. Allerdings roten, weil kein
grüner mehr da war. Den roten esse ich auch gern, aber den grünen liebe ich. Normalerweise.
Normalerweise brauche ich auch keinen Appetit für Wackelpudding. Für roten sowieso, aber erst
recht für grünen. Also ich meine: nicht.
Aber ich wollte trotzdem nichts essen. Mutti brachte den Wackelpudding (eine ziemlich große
Schüssel) zurück in den Kühlschrank. Alle waren sehr besorgt um mich. Tee und Zwieback mußte
ich zur mir nehmen.
»Wir haben deiner Schwester einen Brief geschrieben«, sagte Papi plötzlich und zog einen
Umschlag aus dem Jackett. Dann mußte ich Annettes Nachnamen und Adresse nennen. Papi
schrieb es auf den Umschlag. Eine Briefmarke war schon drauf. Nachher sah ich, dass der Brief
auch schon zugeklebt war. Mutti erklärte mir, ich sollte den Inhalt nicht erfahren, ich brauchte Ruhe
und Schonung.
»Aber ich bin doch so neugierig«, bettelte ich . »Ihr könnt gar nichts Besseres gegen meine Unruhe
tun, als mir zu sagen, was ihr geschrieben habt.« Mutti sah Papi an. Der sagte, irgendwie zwischen
ärgerlich und tröstend: »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir haben Elena nur den
Schwarzen Peter zurückgegeben.« Mir schoß etwas durch den Kopf. Was wäre, wenn mein Vater
mich jetzt zum Briefkasten schicken würde? Wäre ich schon gut genug erzogen, um den Brief nicht
heimlich aufzumachen und zu lesen?
Meine Mutter hat mich öfters so auf die Probe gestellt. Zum Beispiel läßt sie manchmal ihre Tasche
offen herumstehen oder das Portemonnaie. Sie hat es sogar zugegeben. Als kleines Kind habe ich
ihr nämlich mal ein paar Mark stibitzt. Als sie mich damals erwischte und so unheimlich tragischtraurig anschaute (einfaches Ausschimpfen kommt für eine richtige Erzieherin natürlich nicht in
Frage!), war ich so verzweifelt, daß sie mich schließlich sogar tröstete und meinte, sie hätte selbst
verführt. Später habe ich dann einmal einen Zettel in ihre Tasche gelegt, auf den ich geschrieben
hatte: Liebe Mutti! Willst Du mich wieder zum Stehlen verführen?
Ich glaube, das war das erste Mal, daß wir uns ausführlich über das Vertrauen zwischen Eltern und
Kindern unterhalten haben. Mutti erklärte mir, daß sie großes Vertrauen zu mir hat, aber
selbstverständlich kein blindes Vertrauen. Sie kann mich ja nicht andauernd überwachen. Also
stellt sie mich ab und zu auf die Probe. Einfach um zu sehen, wie weit mein Gewissen schon
entwickelt ist. Man kann einem Menschen ja nicht von außen ansehen, wie viel Vertrauen er
verdient.
Auf diese Weise hat meine Mutter mich so weit gefördert, daß ich normalerweise, das kann ich
ehrlich sagen, überhaupt nicht mehr stehlen, lügen oder etwas anderes Unrechtes tun kann. Nur in
diesem Fall weis ich nicht genau, was passiert wäre. Die Neugierde war sooo groß! Glücklicherweise
hält mein Vater von solchen Pädagogentricks nicht viel. Er marschierte höchstpersönlich zum
Briefkasten.
Als er draußen war, sagte meine Mutter: »Papi hat den Brief geschrieben. Es war seine Idee. Erst
wollte er nur seine ganze Wut rauslassen. Da habe ich widersprochen. Jetzt ist der Brief so, daß
deine Schwester es vielleicht verstehen kann. es hängt ganz von ihr ab. Wir haben jedenfalls das
Tischtuch nicht endgültig zerschnitten.«
Aus: Ekkehard von Braunmühl, »Musterkind« – Tagebuch eines minderjährigen Menschen. Tologo
Verlag 2007.
erstellt von Eva Bormann, Februar 2014
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