HOHE LUFT 0613
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HOHE LUFT 0613
GHU)DOOZHLQLQJHU DER HEILIGE, DAS WEIB UND DAS BÖSE Mit 23 Jahren hat er sich umgebracht. Sein Buch »Geschlecht und Charakter« halten viele für ein Pandämonium des Frauenhasses. Doch in Wahrheit rang der junge Philosoph mit zutiefst persönlichen Konflikten. TEXT : THOMAS VAŠEK; ILLUSTRATION: CHRISTOPHER DARLING Am Morgen des 3. Oktober 1903 mietet Otto Weininger ein Zimmer in Beethovens Sterbehaus in der Wiener Schwarzspanierstraße 15. Dann verlässt er das Haus wieder und kehrt erst gegen 22 Uhr zurück. Der Vermieterin trägt er auf, dass er nicht gestört zu werden wünsche, er habe noch zu arbeiten und gehe erst spät zu Bett. Als sie am nächsten Morgen an die Zimmertür klopft, öffnet Weininger nicht. Zur gleichen Zeit kommt sein Bruder Richard ins Haus gestürmt. In der Morgenpost hat er einen Abschiedsbrief gefunden. Ein Schlosser öffnet die Tür. Otto Weininger liegt bewusstlos auf dem Boden, vollständig bekleidet, mit einer klaffenden Wunde in der linken Brust, neben ihm ein Revolver. Die Ambulanz bringt ihn ins Wiener Allgemeine Krankenhaus. Um 10.30 Uhr stirbt Weininger an den Folgen seiner Schussverletzung. Die Ärzte verzichten auf eine Obduktion. Es gibt keine Zweifel: Otto Weininger, 23 Jahre alt, Doktor der Philosophie, hat sich umgebracht. ie Nachricht verbreitet sich wie D ein Lauffeuer in den Wiener Kaffeehäusern, bei den Literaten und Intellektuellen. Weiningers Beerdigung wird zum Ereignis. Der Schriftsteller Stefan Zweig (1881– 1942) und der Kritiker Karl Kraus (1874–1936), Herausgeber der berühmten Wiener Kulturzeitschrift »Die Fackel«, folgen dem Sarg. Der schwedische Dramatiker August Strindberg (1849–1912) schickt einen Kranz – gewidmet »einem tapferen männlichen Denker«. Unter den Trauergästen ist angeblich auch der 14-jährige Wiener Industriellensohn Ludwig Wittgenstein (1889–1951). Weiningers Buch »Geschlecht und Charakter« ist erst wenige Monate zuvor erschienen. Auf 460 Seiten, gefolgt von 130 Seiten Anmerkungen, entfaltet der junge Philosoph, selbst jüdischer Herkunft, eine frauenfeindliche und antisemitische Theorie, wie es sie bislang nicht gegeben hat: Das »Weib« sei nichts als Sexualität, so lautet eine der Thesen. Es habe keine Logik, kein Ich, keine Moral. Besonders heftige Passagen sind fett gedruckt, etwa wenn Weininger behauptet: »Der tiefststehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe.« Weiningers Buch wird zwar mit Interesse zur Kenntnis genommen und sogar vereinzelt positiv 69 +2+(/8)7 GHUIDOOZHLQLQJHU der Moderne. Aber die Weininger-Forscher sind auch auf faszi- »DIE WELT DES GLÜCKLICHEN IST EINE ANDERE ALS DIE DES UNGLÜCKLICHEN.« nierende Bezüge und Parallelen gestoßen, etwa zum Werk des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan – und vor allem zu Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus«. »Geschlecht und Charakter« ist mehr als bloß ein frauenfeindliches und antisemitisches Pamphlet. So abstoßend Ludw ig Wi ttgenstei n und abstrus viele von Weiningers Thesen wirken: Nur vordergründig geht es um Frauen- und Judenhass. Dahinter steht ein philosophisches Ringen mit tiefen inneren Konflikten, die Weininger sein Leben lang beschäftigen. m 3. April 1880 wird Otto Weininger A geboren, als zweites von sieben Kindern besprochen. Doch es ist keine Sensation. Erst der Selbstmord einer ungarisch-jüdischen Wiener Familie. macht Weininger zum Mythos, sein Buch zum Bestseller. Vater Leopold ist ein angesehener Bis zum Jahr 1932 erscheint es in 28 Auflagen. Trotz seiner Kunsthandwerker, der mit seinen Arbeiten antisemitischen Thesen wird es unter den Nazis verboten. sogar den kaiserlichen Hof beliefert. Der Autodidakt gilt als höchst gebildeter Mann IN DEN KAFFEEHÄUSERN redet man sich die Köpfe heiß mit starker Persönlichkeit, aber auch als über Weiningers skandalöse Thesen, über den spektakulären sittenstrenger Patriarch und Antisemit. Suizid und seine Motive. Die einen halten sein Buch für ein Otto ist ein hochbegabtes Kind. In der Pandämonium des Frauen- und Judenhasses, die anderen für Schule glänzt er, vor allem in den sprachlichen Fächern. Doch er das bahnbrechende Werk eines frühreifen Genies, das die fällt auch auf durch Überheblichkeit. Von seinen Mitschülern »Frauenfrage« philosophisch gelöst habe. sondert er sich ab, die Lehrer behandelt er herablassend. Es fällt Zu Weiningers Bewunderern gehören neben Karl Kraus und August Strindberg auch der Komponist Arnold Schönberg ihm schwer, sich anzupassen. Gegenüber anderen versucht er, und der Schriftsteller Heimito von Doderer (1896–1966), seinen Willen durchzusetzen. Als ihn der Vater zur Ausbildung der ihn in seinem Roman »Die Dämonen« den »glorreichen an die Konsularakademie schicken will, weigert sich Otto Weininger« nennt. Der Maler Alfred Kubin (1877–1959) hält ihn prompt – und immatrikuliert sich an der Universität Wien, um gar für den »größten Menschen des Jahrhunderts«. Und Ludwig Philosophie zu studieren. Otto Weininger ist ein hoch aufgeschossener, magerer Wittgenstein zählt Weininger zu seinen geistigen Einflüssen, er nennt ihn in einer Reihe mit Arthur Schopenhauer sowie junger Mann mit ernsthaften Gesichtszügen, der sich etwas Gottlob Frege und Bertrand Russell. linkisch und unbeholfen bewegt, die Hand meist zur Faust geballt. Sein Äußeres sei wenig anziehend gewesen, erinnern Um Weininger ranken sich bald Mythen und Legenden. Seine Freunde und Bewunderer verehren den toten Philosophen sich Freunde. Man habe ihn kaum lächeln gesehen. Lachen nie. Stefan Zweig beschreibt ihn wenig schmeichelhaft: wie einen Heiligen, einer versteigt sich gar zur Behauptung, dass während des Leichenbegängnisses »eine partielle Mondfinsternis »Er sah immer aus wie nach einer dreißigstündigen Bahnfahrt, stattfand, die genau in dem Moment endigte, als sein Leib in die schmutzig, ermüdet, zerknittert, ging schief und verlegen Erde gesenkt wurde«. Andere erklären Weininger posthum für herum, sich gleichsam an eine unsichtbare Wand drückend, und verrückt. Man attestiert ihm unter anderem eine »hysterische sein Mund unter dem dünnen Schnurrbärtchen quälte sich Geistesstörung mit manisch-depressivem Charakter« und irgendwie schief herab. Seine Augen (erzählten mir später die paranoide Schizophrenie, manche spekulieren sogar über Freunde) sollen schöne gewesen sein: Ich habe sie nie gesehen, sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Über Jahre hindurch denn er blickte immer an einem vorbei ...« In rasendem Tempo eignet sich Weininger ungeheures wird man lustvoll die Seele des toten Philosophen sezieren, oft Wissen aus den verschiedensten Bereichen an. Weininger mit bescheidenem Erkenntnisgewinn. hört nicht nur Philosophie und Psychologie, sondern auch Man hat Weiningers Werk als typisch Wienerisches Dekadenz-Phänomen gesehen, als Ausdruck von jüdischem Vorlesungen aus Mathematik, Physik, Biologie und Medizin. »Selbsthass« wie als Symptom einer tiefen moralischen Krise Er interessiert sich offenbar für alles. Es gibt kaum ein Buch, 70 +2+(/8)7 GHUIDOOZHLQLQJHU B I O G RA FI E kein Theaterstück, das er nicht kommentiert, kein Ereignis, das er nicht zu ergründen versucht. Selbst Kleinigkeiten gewinnen für ihn Bedeutung. Man beschreibt ihn als feinsinnigen Natur- JACQUES LACAN beobachter und Musikpsychologen, der jeder Melodie ein Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) verband die Psychoanalyse mit sprachtheoretischen Ansätzen. Berühmt wurde unter anderem Lacans Diktum »Es gibt kein Geschlechterverhältnis«. Das Männliche und das Weibliche sind bei Lacan symbolische Positionen, die gewissermaßen nicht direkt miteinander interagieren können. Der Unterschied hat allerdings nicht mit Biologie zu tun, wie bei Weininger, sondern mit dem »Anderen«, der Sprache, die gleichsam zwischen den Geschlechtern steht. Männer haben einen (symbolischen) Phallus, Frauen nicht. Mann und Frau können einander daher nicht geben, was das jeweils andere Geschlecht nicht hat. psychisches Phänomen zuordnen kann. Richard Wagner hält er für den größten Menschen seit Jesus Christus, den »Parsifal« für die tiefste Dichtung der Weltliteratur. Er fährt sogar nach Bayreuth, um Wagners Erlösungsdrama vor Ort zu erleben. Schon in der Studienzeit betreibt Weininger fortwährende Selbstbeobachtung. Akribisch registriert er alle Erlebnisse und Eindrücke. Wo er gerade ist, mit wem er gesprochen, was er getan oder unterlassen hat. Ständig prüft er sein Leben, belauert sich, was immer er gerade tut. Manche seiner Freunde schwärmen von Weiningers »an Heiligkeit streifenden Seelengüte«, seiner Wahrheitsliebe, seiner sanftmütigen und hilfsbereiten Art. Niemals sei er über eine Wiese gegangen, bloß um keinen Grashalm zu zertreten. Oder er habe vor Bettlern, denen er etwas gab, den Hut gezogen, um diese nicht zu beschämen – eine Behauptung, die Weiningers Vater später dementieren wird, um der Idealisierung seines Sohnes entgegenzutreten. Schon früh sei Weininger überzeugt gewesen, dass es ihm gelingen werde, neue Wahrheiten zu finden, erinnert sich sein Freund Arthur Gerber. Weininger habe die Biografien bedeutender Männer studiert und in ihren Werken WEININGERS NACHT nach Charakterzügen geforscht, die auch er besaß. Der junge Anfang der 80er-Jahre stieß auch der israelische Dramatiker Joshua Sobol – durch Erzählungen jüdischer Emigranten – auf Weiningers Werk. 1982 wurde sein Stück »The Soul of a Jew« (Weiningers Nacht) in Haifa uraufgeführt, drei Jahre später brachte Peter Zadek das Stück ans Hamburger Schauspielhaus, mit dem Wiener Schauspieler Paulus Manker in der Titelrolle. Eine vielbejubelte MankerInszenierung von »Weiningers Nacht« folgte 1988 am Wiener Volkstheater. Das Stück wurde auch verfilmt. Manker erwog sogar eine Kinoversion mit Woody Allen. Philosoph tendiert anscheinend zum Größenwahn. In seinen persönlichen Aufzeichnungen notiert er später, seine Geisteskräfte seien solcher Art, dass er »in gewissem Sinne Löser für alle Probleme geworden wäre«. VON INTIMEN BEZIEHUNGEN zu Frauen ist nichts bekannt. Aus Weiningers Briefen geht aber hervor, dass er durchaus am anderen Geschlecht interessiert war. »Ich wäre sehr erfreut, dieses Mädchen Meyer zu treffen«, schreibt er einmal an seine Schwester. Tatsächlich kommt das Treffen zustande, es dauert angeblich eine Stunde. Danach schreibt Fräulein Meyer eine Postkarte an Ottos Schwester: »Ich bin Jesus Christus begegnet.« In Gedichten schreibt er von traumatischen Begegnungen mit Straßenprostituierten (»Gib dem Laster rote Wangen, dass ich ihm angstlos frönen kann«). Einer seiner Briefe deutet auf eine unterdrückte homosexuelle Neigung hin. Jahrelang suchen die Psychologen nach dem Schlüsselerlebnis, nach der entscheidenden Kränkung, die seinen Frauen- und Judenhass erklärt. Doch für weiterreichende Schlussfolgerungen sind die biografischen Fakten zu dünn. Sicher scheint nur: Weininger leidet unter schweren inneren Konflikten. Es habe ihn zerrissen zwischen ethischen Ansprüchen und sexuellem Begehren, 71 +2+(/8)7 GHUIDOOZHLQLQJHU sagen viele Interpreten. Es ist wohl dieser Grundkonflikt, der Frauenfeindliche Tiraden waren zu Weiningers Zeit durchaus Weininger auf sein großes Thema bringt. Mann und Frau, das salonfähig. So landet etwa der deutsche Nervenarzt Paul Julius Verhältnis der Geschlechter: Die Frage hat bislang vor allem Möbius mit seiner Abhandlung »Über den physiologischen die Schriftsteller und Künstler beschäftigt. Weininger will sie Schwachsinn des Weibes« einen ähnlichen Bestseller wie philosophisch lösen, zunächst auf der scheinbar soliden Basis Weininger, das Buch erscheint zwischen 1900 und 1908 in neun der modernen Wissenschaft. Der Philosophiestudent, damals Auflagen, Möbius fühlt sich später sogar von Weininger plagiiert. noch strikter Antimetaphysiker und Positivist, liest sich innerhalb Karl Kraus, der große Kämpfer gegen Heuchelei und kürzester Zeit enormes biologisches Wissen zusammen, später Doppelmoral, sah in der Weiblichkeit zwar eine schöpferische gibt er seiner Arbeit eine stärker philosophische Richtung, Kraft. Doch seine Auffassungen vom Charakter der Frau waren inspiriert von Platon und Kant. von jenen Weiningers nicht weit entfernt, wie einer seiner Aphorismen zeigt: »Die Weiber sind nie bei sich und wollen IM JUNI 1902 LEGT ER DEN Wiener Professoren Friedrich darum, dass auch die Männer nicht bei sich seien, sondern Jodl und Lorenz Müllner seine Dissertation mit dem Titel bei ihnen.« Das Neuartige an Weiningers Buch ist allerdings der »Eros und Psyche« vor. Noch fehlen allerdings die berüchtigten drei letzten Kapitel des späteren Buches, unter anderem jenes Ehrgeiz, den »Weiberhass« philosophisch zu begründen. Von über das Judentum. Die Beurteilungen fallen wohlwollend der Bedeutung seines Werks ist Weininger überzeugt. In der kritisch aus. Jodl konstatiert neben »manchem wirklich Zutref- Zeitschrift »Die Zukunft« schaltet er im August 1903 sogar eine fendem« auch anderes, was er »nicht anders als phantastisch Selbstanzeige, um sein Buch zu bewerben: »Ich glaube in diesem bezeichnen« kann, zudem erkennt er »Zeichen jugendlicher Buch das psychologische Problem des Geschlechtsgegensatzes Unfertigkeit«. Müllner sieht in der Abhandlung sogar eine gelöst und eine abschließende Antwort auf die sogenannte »grund- und bodenlose Metaphysik«, die Arbeit mache eher Frauenfrage gegeben zu haben.« den Eindruck einer »durch starke Persönlichkeitsakzente wirksamen Rhapsodie als den einer wissenschaftlichen einingers Theorie liegt eine weigert sich. Immer obsessiver steigert er sich in seine Theorie W hinein, in der Überzeugung, den Schlüssel zur Lösung zu einer auch weiblich, in unterschiedlichen Ausprägungen. Aus seinen Menschheitsfrage in der Hand zu haben. Doch was er gefunden biologischen Studien zieht Weininger den Schluss, dass die habe, so erklärt er einem Freund, werde niemanden so schmer- Bisexualität den gesamten Organismus durchziehe, bis auf die zen wie ihn selbst: »Dieses Buch bedeutet ein Todesurteil; Ebene der einzelnen Zelle. An dieser Theorie wird sich nach entweder trifft es das Buch oder dessen Verfasser.« Weiningers Selbstmord eine bis heute ungeklärte Plagiatsaffäre Gedankenentwicklung«. Dennoch wird die Dissertation platonische Vorstellung zu- angenommen. Weininger wird zum Doktor der Philosophie grunde. Das »Männliche« und promoviert. Kurze Zeit später konvertiert er zum Protestan- das »Weibliche« sieht er als tismus, schon zwei Monate zuvor ist er aus der Wiener psychologische Idealtypen, die Jüdischen Gemeinde ausgetreten. in Wirklichkeit nicht in reiner In Wien spricht sich das Gerücht von der genialen Form vorkommen, sondern nur Dissertation eines Philosophiestudenten herum. Es heißt, es in verschiedenen Abstufungen. handle sich um ein völlig neuartiges, grundlegendes Werk. Das Wesen des Männlichen oder Weiningers Doktorvater Jodl verlangt von seinem »M« liegt in vollkommener Dissertanten allerdings, das Manuskript vor einer etwaigen Rationalität, das »Weibliche« oder »W« hingegen verkörpert Veröffentlichung deutlich zu entschärfen. Doch Weininger den reinen Sexualtrieb – und damit Irrationalität und Chaos. Im Juni 1903 erscheint Weiningers Werk schließlich Jedes menschliche Individuum ist sowohl männlich als entzünden, in deren Mittelpunkt Sigmund Freud steht: Wilhelm im angesehenen Wiener Braumüller-Verlag unter dem Titel Fließ, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der eine ähnliche Theorie »Geschlecht und Charakter – eine prinzipielle Untersuchung«. entwickelt hat, behauptet nämlich, Weininger habe durch einen Das Buch basiert auf Weiningers Doktorarbeit, erweitert um drei Patienten Freuds indirekt von seinen Forschungen erfahren. Kapitel, die später seinen berüchtigten Ruf begründen werden: Weiningers Ansätze bewegen sich durchaus auf der »Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum«, »Das Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. Mithilfe der »sexuellen Judentum« und »Das Weib und die Menschheit«. Zwischenformen« erklärt man damals Phänomene wie Herma- 72 +2+(/8)7 GHUIDOOZHLQLQJHU »DIESES BUCH BEDEUTET EIN TODESURTEIL: ENTWEDER ES TRIFFT DAS BUCH ODER DESSEN VERFASSER.« Otto Weininger ist nichts. Die Existenz der Frau hängt nämlich vom Mann ab, der seine eigene Sexualität bejaht. Erst der Mann, genauer gesagt der Phallus, bringt die Frau überhaupt ins Dasein: »Das Weib ist die Schuld des Mannes.« Die Lösung des Frauenproblems liegt für Weininger in der Überwindung der Weiblichkeit selbst – und damit der Sexualität, die Frauen nach seiner Auffassung instrumentalisiert und in Unfreiheit hält. Manche von Weiningers Sätzen klingen fast feministisch. Doch am Ende zieht er absurde Konsequenzen: »Wenn alle Weiblichkeit Unsittlichkeit ist, dann muss das Weib aufhören, Weib zu sein und Mann werden.« Zugunsten Weiningers muss man sagen, dass es ihm phrodismus und Homosexualität. Allerdings driftet Weininger auch ab ins Pseudowissenschaftliche und Spekulative. Die Theorie der sexuellen Zwischenformen bringt nicht darum ging, die Unterdrückung der Frau zu rechtfertigen, im Gegenteil: »Frau und Mann haben gleiche Rechte.« Weininger etwa auf ein »Gesetz der sexuellen Anziehung«, über Weininger will vielmehr zeigen, dass zwischen Mann und Frau das schon Arthur Schopenhauer spekuliert hat. Die simple Idee ist, keine moralischen Beziehungen möglich sind – und dass ein dass sexuelle Anziehung auf Komplementarität beruht. Die ideale fundamentaler Riss durchs Geschlechterverhältnis geht. Darin Beziehung liegt dann vor, wenn das Weibliche im Mann genau dem besteht eine Parallele zu Jacques Lacans berühmtem Diktum: Männlichen in der Frau entspricht, Homosexualität sieht Weininger »Es gibt kein Geschlechterverhältnis«. Weiningers fataler daher nicht als Krankheit oder Entwicklungsstörung. Nach seinem Fehler bestand jedoch darin, diesen »Riss« in Begriffen von »Gesetz« braucht ein homosexueller, nach damaliger Vorstellung Überlegenheit und Unterlegenheit zu denken – und seine also ein besonders weiblicher Mann einfach nur einen besonders persönlichen Probleme und Konflikte zu verallgemeinern. Eine analoge Rolle zur Frau spielt bei Weininger der maskulinen Partner. Jude. Auch unter dem Judentum, wie unter dem »Weib«, versteht AUS HEUTIGER SICHT kann man nur darüber spekulieren, er eine Geistesrichtung, eine psychische Konstitution, die für was herausgekommen wäre, wenn Weininger seine Theorie der »alle Menschen eine Möglichkeit bildet und im historischen Bisexualität konsequent weiterverfolgt hätte, statt eine obsessiv Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat«. frauenfeindliche Richtung einzuschlagen. Vielleicht wäre Wie das »Weib« hat auch der »Jude« kein Ich, keinen Eigenwert, Weininger der erste »Queer«-Theoretiker geworden. Doch im keine Moral. Der Jude muss daher das »Jüdische« in sich zweiten Teil seines Buches stellt der Philosoph einfach nur lapidar überwinden. Wie der Frauenhass war der Antisemitismus zu fest: »Trotz aller sexuellen Zwischenformen ist der Mensch am Weiningers Zeit auch unter den Intellektuellen salonfähig – Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib.« und auch unter Juden. Zur Modernekritik in Weiningers Zeit Die Geschlechter, so behauptet Weininger, unterscheiden sich in einem entscheidenden Punkt: »Die Frau ist nur sexuell, gehörte eine antisemitische Rhetorik, die das Judentum mit dem Kapitalismus und anderen modernen Phänomenen identifizierte. In »Geschlecht und Charakter« schreibt Weininger der Mann ist auch sexuell.« Das weibliche Bewusstsein geht völlig in der Sexualität auf. Daher kann es auch Denken und grauenvolle Sätze: »Unsere Zeit, die nicht nur die jüdischeste, Fühlen nicht auseinanderhalten, es denkt in »Heniden«, in sondern auch die weibischeste aller Zeiten ist (...): diese Zeit hat undeutlichen psychischen Inhalten, der Mann hingegen in auch den Ruhm, die erste zu sein, welche den Koitus bejaht und klaren, distinkten Vorstellungen. Zu begrifflichem Denken ist das angebetet hat.« »Weib« also nicht fähig, daher habe es auch keine Logik, kein Gedächtnis und kein intelligibles Ich. Der »höchste Wert der SEXUALITÄT IST NEGATION des Ethischen: Das ist Weiningers Frau«, so behauptet Weininger, sei der »Koitus«. Wie vieles bei zentrale Idee. Der junge Denker kann sich auf eine ehrwürdige ihm klingt das zunächst nach einem Witz. Das Furchtbare ist, philosophische Tradition berufen. Bei Schopenhauer manifestiert dass er es offenbar vollkommen ernst meint. In den letzten sich in den Geschlechtstrieben der blinde Wille, der die Welt in Kapiteln des Buches versteigt sich Weininger immer mehr in Chaos und Verderben stürzt. Und Kant hielt Sexualität für die eine völlig irrsinnige Metaphysik, die schließlich in der These »Erniedrigung des Menschen«. Es ist dieser Konflikt, den auch gipfelt, dass die Frau ontologisch gar nicht existiert – das »Weib« Weininger in sich spürt. Der junge Philosoph treibt Kants Ethik 73 +2+(/8)7 GHUIDOOZHLQLQJHU LE K TÜ RE ins Extrem. Der kategorische Imperativ fordert, stets nur so zu handeln, dass wir die Person in uns selbst wie in anderen immer als Zweck, niemals nur als Mittel gebrauchen. Die Sexualität Otto Weininger degradiert aber Menschen zu Sachen, zu einem »Objekt des GESCHLECHT UND CHARAKTER Matthes & Seitz, 1980 Appetits« – und genau deshalb verstößt sie gegen das moralische Gesetz. Für Weininger sind Liebe und sexuelles Begehren Weiningers Hauptwerk sowie sein »Taschenbuch« und einige Briefe sogar Gegensätze: »Es gibt nur platonische Liebe. Denn was sonst noch Liebe genannt wird, gehört ins Reich der Säue.« Der Konflikt zwischen Neigung und Pflicht, zwischen blinden Trieben und moralischen Idealen, tobt nach Weininger in jedem rationalen Wesen. Und da jeder Mensch bisexuelle Anlagen hat, ist in gewisser Weise auch jeder »schuldig«. Nach Kant Otto Weininger ist es »allgemeine Menschenpflicht«, sich zum »Ideal der ÜBER DIE LETZTEN DINGE Matthes & Seitz, 1997 moralischen Vollkommenheit« zu erheben. Für Weininger heißt Weiningers Nachlasswerk, enthält unter anderem die von Wittgenstein geschätzte »Tierpsychologie« das, die Sexualität zu überwinden. »Man könnte sagen: In diesem jungen Philosophen ist Kants Zweiwelten-Theorie verrückt geworden«, bemerkte der deutsch-jüdische Philosoph Theodor Lessing (1872–1933). Weininger hatte sicher viele Fans, die nur ein paar Zitatfetzen von ihm kannten. Doch es gab auch wirkliche Verehrer wie Karl Kraus oder August Strindberg. Sein größter, tiefster Bewunderer war allerdings zeitlebens Wittgenstein, der Jacques Le Rider Weiningers »Geschlecht und Charakter« sogar unter seinen DER FALL OTTO WEININGER Löcker, 1985 Kollegen in Cambridge herumreichte. In einem Brief an den Standardwerk zu Weiningers Leben und Werk, mit einer Rede von Heimito von Doderer englischen Philosophen G. E. Moore aus dem Jahr 1931 schreibt Wittgenstein: »Es stimmt, er ist verschroben, aber er ist großartig und verschroben. (...) Sein gewaltiger Irrtum, der ist großartig.« Aber was verband Wittgenstein mit dem glühenden Antifeministen und Antisemiten Weininger? Und was ist die »wichtige Wahrheit«, die er bei ihm fand? ZUM EINEN SCHÄTZTE WITTGENSTEIN offenbar die David Abrahamsen Wahrhaftigkeit, die Authentizität, mit der Weininger versuchte, THE MIND AND DEATH OF A GENIUS Kessinger Publishing, 2010 sein Denken zu leben. Und es gefiel ihm, dass Weininger über Weininger-Biografie eines norwegischen Psychiaters, mit Briefen von Freud Probleme schrieb, die ihn persönlich derart beschäftigten. Beide quälten vermutlich ähnliche Konflikte. Auch Wittgenstein rang darum, »anständig« zu leben. Womöglich kämpften beide mit ihrer homosexuellen Veranlagung. Doch es gibt auch eine tiefe philosophische Verbindung. Es geht um den Zusammenhang zwischen Ethik und Logik. In seinem »Tractatus« versucht Wittgenstein, eine Grenze zu ziehen zwischen Sachverhalten, die wir in sinnvollen Sätzen (also Propositionen mit einem Wahrheitsgehalt) ausdrücken können, und solchen, bei denen das nicht möglich ist. Zu letzteren gehören für Wittgenstein Fragen der Ethik. »Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen«, sagt Wittgenstein. Denn in der Welt gibt es keinen Wert, sondern nur 74 +2+(/8)7 GHUIDOOZHLQLQJHU Tatsachen. Daher kann es aber auch keine Sätze der Ethik inwendig«, schreibt er im Sommer 1902 an seinen Freund geben. Die Fragen der Ethik lassen sich nur klären durch Gerber. Und in einem Text mit dem Titel »Verdammnis« vom ethisches Handeln. Weininger sieht es ganz ähnlich. 17. August 1902 heißt es: »Meine Seele kann sich nicht befreien »Wahrheit, Reinheit, Treue, Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber: das ist die einzig denkbare Ethik«, schreibt und in eine andere, die mich liebt, eindringen. (...) Der Philosoph: ein Haus mit immer verschlossenen Läden.« Weininger. »Logik und Ethik aber sind im Grunde nur eines und dasselbe – Pflicht gegen sich selbst.« Alle Ethik sei nur nach den ALS ER IM SEPTEMBER von einer Norwegen-Reise zurück- Gesetzen der Logik möglich – und die Logik daher selbst ein kehrt, wirkt er auf seine Freunde düster und gedrückt. Auch ethisches Gesetz. Logik ist normativ, sagt Weininger: »Nicht nur die Eltern sind besorgt. Zu Gerber sagt er einmal: »Ich habe die Tugend, sondern auch Einsicht, nicht nur Heiligkeit, sondern Kälte des Grabes in mir.« Und dann, so erinnert sich Gerber, auch Weisheit ist Pflicht und Aufgabe des Menschen, erst beide habe er feierlich erklärt: »Ich weiß, dass ich der geborene zusammen begründen Vollkommenheit.« Verbrecher bin. Ich bin der geborene Mörder.« Weininger Alles Ringen um Wahrheit ist ein ethischer Kampf. Daran erzählt seinem Freund von der Nacht in einem Münchner glaubte auch Wittgenstein in seinem Bemühen, philosophische Hotelzimmer, als er nicht schlafen konnte. Da habe er einen Konfusionen zu beseitigen. Vielleicht ist das die »Wahrheit«, Hund fürchterlich bellen gehört. Das sei der böse Geist gewesen. die er in Weiningers Werk gesehen hat, trotz aller furchtbaren Er habe mit ihm gekämpft und aus Angst das Kopfkissen Irrtümer: Wenn Logik und Ethik ein und dasselbe sind, dann zerbissen. »Seit dieser Nacht weiß ich, dass ich ein Mörder bin. ist Erkenntnis Pflicht. Deshalb muss ich mich töten.« Zeigte Weininger Anzeichen einer Geistesstörung, wie in wahrhaft moralischer Mensch ist für Gerber denkt? Oder erwog er den Selbstmord tatsächlich aus Weininger daher nur das Genie. Denn Furcht, er könnte ein Verbrechen begehen? Der gute, der edle, nur das Genie habe zu allen Dingen in der der heilige Weininger? Niemand weiß es. E Doch Weininger hat mit der Frage gerungen. In seinem Welt ein Verhältnis, es habe gleichsam »die ganze Welt in sich«. Und genau deshalb Nachlasswerk »Über die letzten Dinge« heißt es: »Der anständige ist es davor gefeit, andere Menschen nur Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, dass er endgültig als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. böse wird; der gemeine Mensch muss zum Tode durch ein Genialität ist daher »höchste Sittlichkeit – richterliches Urteil gezwungen werden.« Nach dem Erscheinen von »Geschlecht und Charakter« und Pflicht eines jeden«. Der Gegenpol zum Genie ist der Verbrecher. Er hat keinen wartet Weininger auf Reaktionen. Doch der große Wirbel um »Willen zum Wert«, sondern folgt nur seinen Trieben; er lebt das Buch bleibt aus. Voller Selbstzweifel fährt er nach Italien. unbewusst, ohne Selbstbeobachtung, ohne Autonomie. Der In einem Brief bittet er seinen Freund Gerber, ihm doch seine Verbrecher ist gleichsam abgestürzt vom »Reich der Freiheit« »wahre Meinung über den Wert des Ganzen« zu sagen. Als ins »Reich der Notwendigkeit«. Er ist der »Gegenpol des sich Weininger im September nach Wien zurückkehrt, versinkt er in schuldig fühlenden Menschen«. Eigentlich ist er ein Fatalist, eine tiefe Depression. Wie er zu seinem Revolver gekommen der darauf verzichtet, in Freiheit eigene Zwecke zu setzen. ist, weiß niemand. »Weininger als Frauenhasser erklären heißt, ihn als Der Mord sei daher die »Tat des schwächsten Menschen«, schreibt Weininger. Weininger grübelt nach über Schuld, über das Böse in sich selbst, das er in der Figur des »Doppelgängers« fasst: Menschen vollständig misszuverstehen«, schreibt Gerber, einer seiner wenigen Freunde, nach Weiningers Selbstmord: »Was an Otto Weininger wie Hass anmutet, war Schmerz.« In seinen nachgelassenen Aufzeichnungen zieht der »Der Doppelgänger ist das Ensemble aller bösen Eigenschaften des Ich. Alle besondere Furcht ist nur ein Teil von dieser Furcht, vermeintliche Frauenhasser Otto Weininger ein überraschendes der Furcht vor dem Doppelgänger.« Überall sieht Weininger Resümee: »Wie will ich es schließlich den Frauen vorwerfen, Symbole des Bösen. So bringt er den Hund mit dem »Verbreche- dass sie auf den Mann warten? Der Mann will auch nichts rischen« in Verbindung, ebenso die Tiere der Tiefsee, die anderes als sie. Es gibt keinen Mann, welcher sich nicht freuen Kraken und Polypen. würde, wenn er auf eine Frau sexuelle Wirkung ausübt. Der Hass In den Monaten nach seiner Promotion verfällt Weininger in eine depressive Stimmung. »Mir geht es gar nicht gut, gegen die Frau ist immer nur noch nicht überwundener Hass gegen die eigene Sexualität.« 75 +2+(/8)7